![](https://assets.isu.pub/document-structure/230209155110-1301e3cc3006440ba3c027c3b59e2d40/v1/05347ff700c63c0ed99a6432fc466039.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
4 minute read
HOUSE STATT KLASSIK
Von Lea Vaterlaus
Sie hört privat lieber elektronische Tanzmusik als klassische Musik, fertigt in ihrer Freizeit gerne Karikaturen von Dirigent* innen an und hat ihre musikalische Ausbildung auf drei Kontinenten absolviert:
Seit 2012 ist die taiwanesische Cellistin Phoebe Lin
Teil des Sinfonieorchesters
Basel. Musik bedeutet für sie eher Intuition als Hintergrundwissen – ihre Lieblingswerke stammen von rhythmusstarken Komponisten wie Schostakowitsch, Bartók und Strawinsky.
LV Phoebe Lin, vor unserem Interview warntest Du mich, Du seist eine der «unwissendsten klassischen Musiker*innen». Dabei spielst Du Cello, seit Du neun Jahre alt bist!
PL (lacht) Ja, ich spiele zwar schon lange Cello, war auf mehreren Musikschulen und hatte viele Musikunterrichtsstunden. Nach meinem Studium begann ich aber, mich nur noch auf mein Instrument zu fokussieren und die intellektuelle Auseinandersetzung mit Werken und Komponist*innen aussen vor zu lassen. Beim Musizieren vertraue ich auf meinen Instinkt und habe dabei ein ziem lich gutes Gespür dafür, wie ein Stück klingen soll.
LV Hörst Du zu Hause klassische Musik?
PL Wenn mich Komponist*innen neugierig machen oder ich ein neues Werk studiere, das ich noch nicht kenne, schaue ich mir die Stücke an, beschäftige mich aber nicht sehr intensiv damit. Ansonsten höre ich zu Hause eigentlich keine klassische Musik. Als Kind stand die Klassik für mich zwar im Vordergrund, danach habe ich aber viele andere Musikrichtungen entdeckt. Wenn ich gerade nicht im Orchesterdienst bin, höre ich gerne HipHop, Rap oder süd amerikanische Musik. Mein Mann ist ausserdem ein ehemaliger DJ – wir hören deshalb auch viel House.
LV Probierst Du Dich auch mit dem Cello in mehreren Musikrichtungen aus?
PL Vor einigen Jahren gab es beim Sinfonieorchester Basel das Format ‹Cube Sessions›, das in der Kuppel Basel, einem ehemaligen Club, stattfand. Gemeinsam mit meinem Orchesterkollegen Benjamin GregorSmith spielten wir nichtklassische Musik auf elektronischen Celli und arbeiteten mit DJs zusammen. Ansonsten spiele ich auf dem Cello eigentlich nur klassische Musik. Besonders gut gefallen mir Werke mit einem wirklich prägnanten Rhythmus, beispielsweise von Schostakowitsch, Bartók oder Strawinsky.
LV Du bist eine begabte Illustratorin und zeichnest oft Karikaturen von Dirigent*innen und Musiker*innen. Wie kam es zu diesem Hobby?
PL Ich beobachte und zeichne gerne die Menschen um mich herum, weil ich keine besonders gute Rednerin bin. Die Zeichnungen mache ich für mich selbst oder schenke sie Orchesterkolleg*innen zum Geburtstag. Ich habe schon immer gerne gezeichnet – als Kind malte ich immer Papierpuppen zum Ausschneiden. Als ich zum Sinfonieorchester Basel kam, habe ich angefangen, Dirigent*innen zu zeichnen. Jede*r von ihnen ist so besonders und lustig. Ich mag es, meine Kolleg*innen mit meinen Zeichnungen zum Lachen zu bringen.
LV Welche Interessen verfolgst Du sonst noch neben der Musik?
PL Früher habe ich viel Sport getrieben – seit ich Mutter bin, hat sich das auf das Fahrradfahren reduziert. Ausserdem liebe ich gutes Essen und guten Wein. Mittlerweile ist das Kochen mit zwei kleinen Kindern aber eher zur ‹Pflicht› geworden. (lacht)
LV Interessieren sich Deine beiden Kinder für klassische Musik?
PL Leider (noch) nicht! Meine Kinder sind erst zwei und vier Jahre alt und sehr skeptisch, wenn ich ihnen ein klassisches
Stück vorstellen möchte. Ich hoffe, dass sie ein Interesse für die klassische Musik entwickeln und vielleicht auch ein Instrument lernen möchten – im Moment mögen sie es vor allem, zu aller möglichen Musik zu tanzen.
LV Wie bist Du eigentlich zu Deinem Instrument gekommen?
PL Auch diese Entscheidung ist auf meinen guten Instinkt zurückzuführen. Mit drei Jahren hatte ich erst angefangen Klavier zu spielen und wusste im Alter von sieben Jahren bereits, dass ich Musikerin werden will. Im Musikunterricht für musikalisch begabte Kinder, den ich in Taiwan besuchte, musste man sich im Alter von neun Jahren für ein Zweitinstrument neben dem Klavier entscheiden, damit ein Orchester gegründet werden konnte. Meine Mutter wollte erst, dass ich wie die meisten anderen Kinder die Geige wählen würde – ich suchte mir aber das Cello aus. Schon früh mochte ich den war men Klang dieses Instruments, und ich war ausserdem für mein damaliges Alter schon ziemlich gross gewachsen, was das Greifen von Tönen erleichterte.
LV Mit fünfzehn Jahren gingst Du schliesslich in die USA, um dort zu studieren. Gab es in Taiwan damals zu wenig Möglichkeiten für Musiker*innen?
PL Die Ausbildung in Taiwan war eine sehr schwere Zeit für mich. Von allen Kindern wurden Höchstleistungen in allen akademischen und künstlerischen Fächern verlangt – die Prüfungsresultate wurden jeweils öffentlich in den Klassenzimmern ausgehängt. Ich war nie besonders fleissig, und es muss für meine Mutter sehr anstrengend gewesen sein, sich mit den Müttern anderer Kinder in einem dauernden Wettbewerb zu befinden. Ich wollte zwar immer noch Musikerin werden, merkte jedoch bald, dass ich in Taiwan unter diesen Umständen nicht mehr Cello spie len konnte. Meine damalige Cellolehrerin schlug mir schliesslich vor, nach Amerika zu gehen. Dort habe ich dann in Cleveland, New York und Boston studiert. Mein Heimat land zu verlassen, war ein mutiger Ent schluss, aber gleichzeitig die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.
LV Wie bist Du nach Europa gekommen?
PL Nachdem ich etwa zehn Jahre in Amerika verbracht hatte, wollte ich etwas Neues ausprobieren. Durch das SchleswigHolstein Musik Festival lernte ich Deutschland kennen und traf viele europäische Musiker*innen. Ein Dozent aus Hamburg bot mir schliesslich einen Studienplatz für mein Konzertexamen an, und nach meinem Studium erhielt ich in der Stadt auch gleich mein erstes Praktikum – beim NDR Elbphilharmonie Orchester. Die Probespiele für eine Festanstellung danach waren eine harte Zeit. Bevor ich die Stelle in Basel erhielt, hatte ich bereits acht oder neun erfolglose Probespiele hinter mir und hätte beinahe aufgegeben. Die guten Ereignisse treffen aber bekanntlich immer dann ein, wenn man sie am wenigsten erwartet, und so bin ich schliesslich beim Sinfonieorchester Basel gelandet.
LV Deinen Arm zieren kunstvolle Tattoos, die auch auf der Konzertbühne zu sehen sind. Ganz offen gefragt: War das in Deinem Beruf je ein Problem?
PL Nein, ich habe zum Glück noch nie eine negative Reaktion erlebt! Ich muss aber auch gestehen, dass ich zum Zeitpunkt des Probespiels in Basel nur ein kleines Tattoo hatte. (lacht) Alle anderen Motive sind dazugekommen, nachdem ich meine Festanstellung erhalten hatte. In Deutschland sind die Regeln wahrscheinlich strenger – ich bin sehr froh, dass Basel so aufgeschlossen ist und meine Tattoos nie ein Thema waren!
LV Hast Du ein musikalisches Vorbild?
PL Als Cellistin muss ich natürlich YoYo Ma erwähnen, der ein grossartiger Cellist ist und eine wahnsinnige Wärme ausstrahlt, die mich bereits als Kind fasziniert hat. In einem Meisterkurs schüttelte er mir einst die Hand – dieses Gefühl werde ich nie vergessen! YoYo Ma ist sehr vielseitig in allem, was er tut, was mich sehr fasziniert.