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DER WILDE KLANG DER VIOLA

VON CORINA KOLBE

Ungestüm beginnt Anders

Hillborgs Bratschenkonzert, das jetzt in Basel seine

Schweizer Erstaufführung erlebt. Der ‹Composer in Residence› des Sinfonieorchesters Basel zeigt aufregende Facetten eines häufig verkannten Instruments – und lädt die Zuhörer*innen zu einem kleinen Ratespiel ein.

Witze über Bratschist*innen sind nicht totzukriegen. Im Alphabet steht ihr Name kurz vor «Bratwurst». Seit Ewigkeiten müssen diese Musiker*innen so viel Spott erdulden wie in der Schweiz die Bewohner*innen des jeweiligen Nachbarkantons. Dabei kommt der Bratsche als Mittelstimme eine wichtige Funktion im Orchester zu. Sie dient als Brücke zwischen den Violinen und den Bassinstrumenten und bezaubert die Zuhörer*innen mit ihrem diskreten, warmen Klang. Tritt sie solistisch in Erscheinung, tönt sie zumeist melancholisch.

Mit einem gewissen Augenzwinkern erweist der schwedische Komponist Anders Hillborg dem oftmals unterschätzten Instrument eine originelle Hommage. Bei ihm darf die Viola auch ihren wilden Charakter zeigen, der ansonsten eher verborgen bleibt. Unter Leitung von Domingo Hindoyan führt das Sinfonieorchester Basel das Bratschenkonzert zum ersten Mal in der Schweiz auf. Wie bereits bei der Weltpremiere im Oktober 2021 in Liverpool übernimmt Lawrence Power den Solopart. Der bekannte britische Bratschist hatte das Konzert über seinen ‹Viola Commissioning Circle› bei Hillborg in Auftrag gegeben. Es ist eines von zehn neuen Werken aus der Feder unterschiedlicher Komponisten, die in einem Zeitraum von zehn Jahren aus der Taufe gehoben werden sollen.

Hillborg schrieb sein Stück während der Corona-Pandemie, die ihn, wie andere Künstler auch, jäh zum Umdenken zwang. «Ich hatte immer viel für grosse Orchester komponiert. Das Violakonzert und das Cellokonzert, das letztes Jahr in Basel aufgeführt wurde, sind dagegen für kleinere Besetzungen konzipiert. Wegen Corona durfte vorübergehend ja nur eine begrenzte Anzahl von Musikern auf die Bühne kommen», sagt er. «Diese schwierige Zeit hatte für mich auch etwas Positives. Denn ich konnte mich stärker auf Kammerorchester fokussieren, die immer flexibel einsetzbar sind.»

Die Vorstellung, der Klang der Bratsche sei von tiefer Schwermut geprägt, hält sich hartnäckig. «Ihre hohen Töne schillern durch ihren traurig-leidenschaftlichen Ausdruck», meinte einst schon Hector Berlioz. Hillborg wollte mit solchen Klischees aufräumen. In dem italienischen AvantgardeKomponisten Luciano Berio fand er einen Verbündeten. Dessen Sequenze -Zyklus hat ihn bei der Arbeit an dem Konzert unüberhörbar beeinflusst. Der erste Teil mit der Bezeichnung Rage (Wut) beginnt mit einem aufwühlenden Tremolo der Violen. «Rasend, ständig zornig», heisst es in den Spielanweisungen. «So geht es eine ganze Weile weiter, bevor die Musik sanfter und melodischer wird», erklärt Hillborg. «Die Viola darf dann auch wieder klagende Töne anstimmen.»

Mit Power stand er während der Komposition die ganze Zeit über in Kontakt, der Solist brachte auch eigene Vorschläge ein. «Manche Musiker*innen wollen das Stück erst sehen, wenn es fertig ist. Andere kommen während der Arbeitsphase häufig mit Anregungen auf mich zu. Beides ist in Ordnung.» Wenn er für ein Instrument schreibe, das er selbst nicht spiele (wie die Bratsche), kämen ihm plötzlich ganz neue Ideen, meint er. «Ähnlich erging es ja Igor Strawinsky mit seinem Violinkonzert in D-Dur. Hätte er selbst Geige gespielt, wären ihm bestimmte Dinge wohl nie eingefallen. Zu viel Wissen kann die Kreativität blockieren.»

Seit der Uraufführung durch das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Leitung von Andrew Manze hat Hillborg das Bratschenkonzert mehrmals überarbeitet. «Keines meiner Stücke ist bei der Uraufführung endgültig fertig. Mir wird dann immer klar, dass ich noch etliches verbessern kann.» Hillborgs Verlag Faber Music hat inzwischen die dritte Version des Violakonzerts veröffentlicht, die bei den Aufführungen 2023 zu hören sein wird. Ohne einen Gruss an die Beatles wäre eine Uraufführung in Liverpool für Hillborg kaum denkbar gewesen. «Mit den Beatles hat für mich ja alles angefangen. Als Teenager spielte ich erst Keyboard in einer Popband, bevor ich mich mit anderen Musikstilen beschäftigt habe.» In das Violakonzert hat Hillborg ein paar Takte eines Beatles-Songs eingearbeitet. «Den Titel möchte ich nicht verraten. Ich bin gespannt, ob das Publikum in Basel von selbst darauf kommt», schmunzelt er. Ein Wink mit dem Zaunpfahl: Die betreffende Passage trägt – nicht ohne Ironie – den lateinischen Titel Odobenus Lachrymae .

Konzert für Viola und Orchester

BESETZUNG

Viola solo, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, Sopransaxofon, 2 Hörner, 2 Trompeten, Klavier, Streicher

ENTSTEHUNG 2021

URAUFFÜHRUNG

21. Oktober 2021 in Liverpool mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Andrew Manze mit Lawrence Power als Solist

DAUER ca. 20 Minuten

DOMINGO HINDOYAN im Gespräch

SCHAU MIR IN DIE AUGEN!

Von Christa Sigg

In Liverpool hat man ihn gleich ins Herz geschlossen. Und das, obwohl Domingo Hindoyan beim letzten Champions-League-Finale ganz offen für Real Madrid war – und die Engländer 0:1 verloren. Aber Leidenschaft zurückhalten? Das geht gar nicht. Genau deshalb ist der 43-Jährige ein idealer Vermittler. Wobei man das mit der Leidenschaft nicht im klassischen Sinne verstehen darf.

Hindoyan ist keiner, der wie wahnsinnig mit dem Taktstock fuchtelt. Viel wichtiger seien die Augen, sagt er. Und das funktioniert längst nicht nur beim Liverpool

Philharmonic, dessen Chef- dirigent der Venezolaner ist. Wie Gustavo Dudamel und Rafael Payare kommt

Hindoyan aus dem Talentpool des Orquesta Sinfónica Simón Bolívar. Ein

Gespräch über das Geheimnis von El Sistema, seine erstaunlich frühe Liebe zu Bruckner und dessen unerhörte Spätphase.

CS Domingo Hindoyan, was ist das Besondere an der letzten Sinfonie Bruck ners, die ja angeblich dem «lieben Gott» gewidmet ist?

DH Anton Bruckner wirft mit allen seinen Sinfonien einen sehr persönlichen Blick auf die Welt, und ich meine, dass ihn sein tiefer Glaube an Gott beim Komponieren inspiriert hat. In die Partituren fliesst seine umfassende, ehrliche Spiritualität. Er war immer auf der Suche nach etwas Transzendentem, nach dem Dahinter. Das steigert sich im Laufe der Jahre, und in der Neunten scheint er es endlich gefunden oder zumindest berührt zu haben. Die Widmung an Gott zeigt, dass Bruckner das gespürt haben muss. Nur konnte er die Sinfonie nicht vollenden, weil er leider schon zu krank war.

CS Dabei hat er fast zehn Jahre an der Neunten geschrieben. Denken Sie als Dirigent über die Vollendung nach?

DH Eher frage ich mich, wie es überhaupt weitergegangen wäre, wenn Bruckner noch zehn Jahre gelebt hätte. Das betrifft genauso Schubert, Beethoven, Mahler und alle Grossen. Im Fall von Bruckner wäre das besonders spannend, weil er uns in der 9. Sinfonie überrascht und seine eigene Tradition der alles bestimmenden Ordnung verlässt. Gut, er hat seine Werke immer wieder überarbeitet, sei es aus Unsicherheit oder um sie weiterzuentwickeln. Mit seinen Ansprüchen hat er sich selbst extrem gefordert. Dieses Mal blieb ihm keine Zeit mehr, doch er hätte ganz sicher einiges verändert.

CS In der Neunten gibt es neue harmonische Spannungen, Dissonanzen, aber auch diese unfassbaren Steigerungen, die dann in gewisser Weise zerfallen. Demontiert Bruckner sich selbst?

DH Er baut eine grosse Struktur auf, die immer auch an Beethoven erinnert und in der er sich seinem mächtigen Vorbild annähert. Er demontiert sich selbst, da stimme ich zu, aber trotzdem bleibt es bei der Verbindung zum Allerhöchsten. Bei Bruckner gibt es eine immense Spannweite zwischen den tiefsten Tiefen der Erde und dem Himmel. Das können wir spüren, auch in musikalisch-technischer Hinsicht. Ganz am Anfang haben wir dieses berühmte Tremolo der Violinen, überhaupt diese riesige Einleitung über unzählige Takte – das ist einmalig!

CS Obwohl man für Bruckner heute keine Lanze mehr brechen muss, gilt seine Musik immer noch als überbordend, mächtig und undurchdringlich. Wie sehen Sie das?

DH Ich kann diese Frage kaum beantworten, weil ich Bruckner schon immer gemocht habe. Und das seit meiner Kindheit, was durchaus seltsam klingt. Aber seine Harmonien berühren einfach das Herz. Manche Leute haben vielleicht ein bisschen Angst vor der Länge der Sinfonien, für mich sind sie nicht lang genug!

CS Wie kommt es, dass Sie schon so früh Bruckner gehört haben?

DH Mein Vater war Geiger im Orquesta Sinfónica de Venezuela in Caracas. In jungen Jahren wurde er ausgewählt, um im World Philharmonic Orchestra in Stockholm zu spielen. Carlo Maria Giulini dirigierte damals Bruckners Achte . Von dieser Aufführung gab es ein Video, das ich wieder und wieder angeschaut habe, so kam ich in einen regelrechten Bruckner-Swing. Und was soll ich sagen, diese Musik hat mir vom ersten Moment an gefallen! So ging das los, und dann kam immer mehr von Bruckner dazu. Klar, als Teenager habe ich das dann mit höchster Lautstärke in meinem Zimmer gehört. Ja, ich bin schon lange ein grosser Bruckner-Fan! Mit Giulini begann übrigens auch meine Bewunderung fürs Dirigieren.

CS Im Gegensatz zu Anton Bruckner haben Sie früh Karriere gemacht.

DH Nicht wirklich, ich habe erst mit achtundzwanzig oder neunundzwanzig mit dem Dirigieren begonnen. Heute sehe ich Kollegen, die mit Anfang zwanzig überall auf der Welt am Pult stehen. Ich dagegen wusste mit zwanzig gar nichts.

CS Sie untertreiben.

DH Ich habe Tonleitern auf der Geige geübt. Okay, Violinkonzerte.

CS Sie haben in Venezuela eine sehr fundierte Musikausbildung erhalten. Was ist das Besondere an El Sistema?

DH Jeder hat zu jeder Zeit Zugang. Es interessiert nicht, wie viel Geld die Eltern besitzen, denn weder das Instrument noch der Unterricht kostet etwas. In fast jeder Stadt des Landes gibt es ein Sistema-Zentrum. Und die zweite Sache ist fast noch wichtiger: Die Kinder werden sofort mit grosser Musik konfrontiert. Sie spielen mit den anderen zusammen und verlieben sich unwillkürlich in diese Musik. Ich sehe das an meinem Sohn. Er ist fröhlich, wenn er zum Fussball geht. Die Klavierstunde gefällt ihm schon auch, aber nicht so sehr wie Fussball. Warum? Weil Fussball eine kollektive Sache ist und man die Gefühle mit den anderen teilt. Spielt man Geige, Klavier oder Cello, fühlt man sich anfangs allein im Raum. Eine gewisse Befriedigung zu finden, ist da viel schwieriger. Bei El Sistema ist man Teil eines Ozeans von Musiker*innen und lässt sich von den anderen anstecken, von der Lehrerin, vom Lehrer – und vom Ziel, in einem Monat beim Kon zert mitzuspielen. Das ist eines der Geheimnisse von El Sistema.

CS Haben Sie nicht auch Ihre Frau Sonya Yoncheva am Konservatorium in Genf kennengelernt?

DH Ich habe sogar bei ihrer Diplomprüfung dirigiert.

CS Was für ein dramatischer Auftakt!

DH Es hat aber noch eine Weile gedauert, bis wir uns wieder trafen und dann in Berlin zusammen ausgegangen sind.

CS Das ist die klassische Kombination: Sängerin und Dirigent.

DH Ja, wie Torero und Flamencosängerin, toll!

CS Die Schweiz spielt eine besondere Rol le in Ihrem Leben.

DH Ja, ich habe in Genf Dirigieren studiert. Dann bin ich am Konservatorium Assistenzlehrer geworden. Die Schweiz ist meine zweite Heimat, ich bin sozusagen angepasster Schweizer und lebe hier nach wie vor mit meiner Familie.

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