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EIN GEWALTIGER TORSO

VON THOMAS GERLICH

Die Sinfonien von Anton Bruckner (1824–1896) sind nichts für schwache Nerven – sie gehen nämlich aufs Ganze. «Grosse» Sinfonien, die stark besetzt, lang und von emotionaler Tiefe sind, hat es schon früher gegeben, mindestens seit Beethoven und Schubert.

Bei Anton Bruckner aber ist aus der grossen die monumentale Sinfonie geworden. Er hat damit, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Opern Richard Wagners, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Spielart dieser Gattung entwickelt, die gleichermassen eigen wie umstritten war.

Alle musikalisch-technischen und ‹inhaltlichen› Aspekte sind bei Bruckner ins Extrem gesteigert. Die klassischen Formen dehnen sich ins Riesenhafte aus. Das Orchester wächst immens, besonders die Blechbläser-Gruppe, der Klang wird oft massiv und räumlich. Prägend für den formalen Verlauf ist, dass Bruckner die ganze Sinfonie mit einem dichten Netz von dynamischen Steigerungen und klanglichen Kulminationen überzieht, sodass das Publikum fast permanent unter Höchstspannung gesetzt wird. Diese Musik will nicht unterhalten, sondern überwältigen. Sie strömt und wuchert und prunkt. Und auch bei dem, worüber Musik wortlos spricht, hat Bruckner versucht, sinfonisch in neue Dimensionen vorzudringen: hin zu stärkeren Affekten, existenzielleren Fragen, grandioseren Klangbildern. Ob er sich mit alledem nicht künstlerisch übernommen hat, wurde von Anfang an diskutiert. Die Kritiker an seiner letzten Wirkungsstätte Wien, die auf der Seite seines Widersachers Johannes Brahms standen, warfen ihm genau das vor: «Übermächtiges Wollen», «masslose Exaltation», «fieberhafte Überreizung», lauteten ihre Urteile über seine Musik. Bruckner hat sich davon zum Glück nicht beirren lassen. Bester Beweis dafür ist sein letztes Werk, die 9. Sinfonie in d-Moll. Von 1887 an arbeitete er neun Jahre an der Partitur. Mehrfach wurde das Pro- jekt zugunsten der Revision älterer Werke unterbrochen, und bis zu seinem Tod im November 1896 konnte Bruckner nur die ersten drei Sätze vollenden. Trotz ihrer fragmentarischen Gestalt kann die Neunte als Summe seiner Sinfonik gelten, ein radikales Spätwerk, das sich stellenweise kühn der musikalischen Moderne nähert. Und seinen «Willen zur Monumentalität» (Wolfram Steinbeck) hat sich Bruckner bis zuletzt bewahrt.

So ist etwa im 1. Satz das betörend sehnsüchtige Seitenthema der Streicher gewiss der emotionale Attraktionspunkt des Ganzen. Doch dominiert wird dieser Satz von den martialischen Motiven des Hauptthemas, herrischen Klanggesten, die am Anfang, in der Mitte und am Ende im geballten Tutti fortefortissimo zum Ausbruch kommen. Im anschliessenden Scherzo verwandelt Bruckner das komplette Orchester in eine mal grimmig stampfende, mal überdrehte Rhythmus-Maschine. Der eingeschobene Trio -Teil mit seinen witzig-unberechenbaren Flöten-Einwürfen ist dann prak tisch der einzige Moment von Unbeschwertheit im ganzen Stück. Denn was nun folgt, ist einer der kolossals ten und schwerblütigsten Adagio -Sätze der gesamten Sinfoniegeschichte. Bruckner hielt ihn für «das Schönste», das er je geschrieben habe, und selbst einer seiner schärfsten Kritiker musste nach der Urauf führung 1903 zugeben: «Dieser das Zeitliche mit dem Ewigen verknüpfende Satz enthält die schönsten und innigsten Stellen, Melodien, geschwellt von unerfüllbarer Sehnsucht, und Klänge, die ahnungsvoll aus einer höheren Welt der Geister herabwehen.» Auch das Adagio hat sein Ziel wieder in einer gross angelegten Steigerung gegen Ende, und hier nimmt dieser ausserordentliche Satz seine letzte überraschende Wendung: Bruckner lässt ihn spektakulär in einem hochgradig dissonanten Akkord kulminieren. Erst in der Coda findet die 25-minütige Tour de Force zu einem Schluss in verklärendem Dur inklusive Glockengeläut in den Geigen. Mit diesen letztlich durchaus befriedigenden Takten endet die Aufführung der

Neunten im Musiksaal des Stadtcasinos Basel. Dieses Ende entspricht nun allerdings ganz und gar nicht dem eigentlichen Konzept einer Bruckner-Sinfonie. Zu diesem gehört nämlich zwingend ein krönendes Finale, in dem – neben vielem anderen – mit Themen-Zitaten an die zurückliegenden Sätze erinnert und mit einer letzten, maximalen Klangkulmination das ganze Werk ins Gloriose und Erlösende gewendet wird. Bruckner hat ein solches Finale für die Neunte nicht fertigstellen können. Wie soll man mit diesem Problem umgehen?

Eine grosse Zahl von weitreichenden Entwürfen zu dem Satz hat sich glücklicherweise erhalten. Doch hat in den letzten sechzig Jahren keiner der Ver suche, dieses Material zu einer aufführbaren Version zu ergänzen, ein Resultat ergeben, das kompositorisch wirklich auf Augenhöhe mit einem ‹echten› Bruckner ist. Bruckner selbst schlug sein eigenes Te Deum von 1884 als «besten Notschluss» vor, falls das Finale Fragment bleiben sollte. Damit bekäme das Werk immerhin einen Schluss von Komponistenhand, der im Ausdrucksgehalt den formalen Erfordernissen einigermassen entspricht. Im Wissen allerdings, wie ‹massgeschneidert› ein richtiges Bruckner’sches Finale auf die jeweils ganze Sinfonie bezogen ist, wird auch das Te Deum stets wie ein Fremdkörper in der Neunten erscheinen.

Und so ist unter allen imperfekten Lösungen das Schliessen mit dem 3. Satz – wie an diesem Konzertabend – vielleicht doch die beste. Wer mag, kann darin eine Spiegelung des Lebens in der Kunst sehen: So unvollendet das eine am Ende immer sein wird, so unvollendet muss auch das andere wider Willen zuweilen bleiben.

BESETZUNG

3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 8 Hörner (davon 4 Wagnertuben), 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Streicher

ENTSTEHUNG

1887 bis 1896

URAUFFÜHRUNG

11. Februar 1903 in Wien mit dem Wiener Concertvereinsorchester unter der Leitung von Ferdinand Löwe

DAUER ca. 63 Minuten

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