Menschen in Meiner Landschaft: August Henning – Sokratische Führung

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MENSCHEN IN MEINER LANDSCHAFT: AUGUST HENNING – SOKRATISCHE FÜHRUNG George Günther Eckstein


August Henning, 1897-1969 George Günther Eckstein, www.archive.org/stream/georgeecksteinco04ecks/georgeecksteinco04ecks_djvu.txt Fotoalbum: August Henning auf IPC (International People's College, Helsingör) Hrsg: Det Springende Punkt, Hillerød, Juni 2015. www.detspringendepunkt.dk


Meinem Mentor Fritz K. (Fritz Kronenberger, red.) verdanke ich auch die Begegnung mit dem zweiten Mentor meiner jungen Jahre. Wann ich August H. zum ersten Mal traf, daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Es muss etwa 1927 gewesen sein, als ich erstmals den durch fröhliche Unordnung verwirrenden Buchladen Henning & Schneider in der Nürnberger Altstadt betrat. In dem dunklen Raum waren die Züge des mittelgrossen Mannes mit einem grossen ovalen Kopf zunächst schwer zu erkennen. Aber selbst im halbdunkel sprühten seine magnetischen Augen unterm hochgewölbten Stirnbogen. Seine ganze Persönlichkeit schien in ihnen konzentriert; ihre humorvolle Wärme war ebenso wohltuend, wie ihre forschende Schärfe dazu zwang, alles Oberflächliche, alles Falsche abzustreifen, und sich dem Wesentlichen zu stellen. August hat diesen tiefgründigen, tief ergründenden, von Güte erfüllten Blick zeit seines Lebens bewahrt, auch als sein Körper krank und müde, sein Antlitz von tiefen Furchen geschnitzt wurde. Ebensowenig wie seinem Blick konnte man sich seinen sokratisch-bohrenden Fragen entziehen. Sie zwangen einen, die Schwächen voreilig übernommener Schlagworte und halbdurchdachter Formeln zu überdenken, aber auch eherne Logik an plastischer Wirklichkeit zu messen. Ein geborener Erzieher, hatte er immer Zeit und Geduld zu Gespräch und Diskussion im Hinterzimmer des Ladens, wo man fast immer Freunde traf oder machte. Und an Stoff fehlte es in jenen Jahren der aufkommenden Wirtschaftskrise und des heranwachsenden Nazismus wahrlich nicht. Henning – es dauerte eine Weile, bis wir um zehn und mehr Jahre Jüngeren vom Nachhnamen zum, gebrauch des familiären "Gustl" übergingen – war ein schlechter Geschäftsmann. Wie oft riet er uns vom Ankauf eines Buches als unwert ab; aber wenn er eines zur Lektüre empfahl, dann konnte man dessen Wertes sicher sein. Er war zwar nicht über die Handelsschulbildung hinausgekommen; aber er kannte und liebte das Buch, und schlug sich mit dem vom Vater übernommenen Laden einigermassen durch. Sein Partner Schneider trug seinen frühergrauten Haarschopf in unseren Augen wie einen Halo zur erinnerung an die Zeit seiner Haft wegen Teilnahme an der romantischen bayrischen Räterepublik von 1919.


Die Periode unserer engsten persönlichen Beziehung war eigentlich kurz – sie fiel in die Jahre von 1930 bis 1933. Wir 16-20-Jahrigen in unserer "Kameraden"gruppe der bewusst assimilatorischen jüdischen Jugendbewegung hatten uns über einen von Gustav Landauer und Martin Buber inspirierten ethischen Sozialismus in diesen aufgeregnen und aufregenden Jahren immer stärker politisiert. August Hennings ebenfalls der Jugendbewegüng zugehörige, parteiunabhängige "Freie Sozialistische Jugend", zusammengesetzt aus jungen Arbeitern, Angestellten, Sozialbeamten, wurde unsere natürliche Brücke zu einer Arbeiterschaft, zu der wir als Sprösslinge des bürgerlichen jüdischen mittelstands sonst wenig Kontakt hatten.

In der ungezwungenheit gemeinsamer Fahrten lernten wir uns auch menschlich näher kennen; in von Henning organisierten Diskussionsabenden trafen wir neben den FSJ-lern auch Angehörige anderer sozialistischer gruppen. Gelegentlich arbeitete ich auch an der von ihm redigierten Monatsschrift "Freie Sozialistische Jugend" mit. Je mehr sich Anfang der dreissiger Jahre die Fronten zwischen rechts und links zuspitzten, je stärker nationalistische und antisemitische Stimmungen gelegentlich selbst in die Reihen der Arbeiter und der Erwerbslosen eindrangen, desto pessimistischer wurde August über die inneren Zwistigkeiten und die mit sozialistischer brüderlichkeit oft unvereinbare persönliche Haltung. Desto wirksamer erwiesen sich aber auch die damals gesäten menschlichen Beziehungen, die in vielen Fällen das Dritte Reich, Krieg und Emigration überdauerten. Typisch für Henning war zum Beispiel die Gegenaktion, die er am 1. April 1933 dem "Boykott-Tag" gegen jüdische Geschäfte organisierte, in den er seine Genossen ostentativ in die von NS-Posten umgebenen Geschäfte entsandte.


Unser persönliches Verhältnis hatte sich in diesen letzten Jahren vor dem Verhängnis zu echter Freundschaft vertieft, in der der Jüngere nun auch gelegentlich zum Gebenden, zum Anregenden wurde. Dabei unterschieden wir uns nicht nur im Alter, sondern in mancher Hinsicht auch in Temperament. Die damalige Neigung des Jüngeren zu überspitzten Schlussfolgerungen wurde zwar vom vorsichtigeren älteren geschätzt, aber doch gleichzeitig einen scharfen Verhör unterzogen. Umso unnachsichtiger war er dagegen, wenn es um menschliches Verhalten ging. Allmählich erfuhr ich auch etwas mehr über Augusts Herkunft und Vergangenheit. 1897 geboren war er der sohn eines sozialdemokratischen Vaters, der ihn nach dem frühen Tod der Mutter recht autokratisch aufzug. Im vorletzten Jahr des Ersten Weltkriegs kam er an die Front, wurde bald verletzt und desertierte kurz vor Kriegsende aus dem Lazarett. Denn inzwischen war er, der aus Trotz gegen den Vater dem Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband beigetreten war, zum Sozialisten und Antimilitaristen geworden. (Ähnlich hatte er, der jugendbewegte Nicht-raucher, sich im Lazarett in Auflehnung an das Rauchverbot zum heftigen Raucher entwickelt, der er bis ans Lebensende verblieb.)

Damals lernte ich auch Frau Gertrud kennen, Augusts getreue Lebensgefährtin, und den 1930 geborenen blonden Buben, der später ein dunkelbärtiger, sanfter Gärtner und Erzieher werden sollte. Die Beiden bildeten ein sowohl nach Herkunft wie im Aussehen recht verschiedenes Paar: August, der bäuerliche Franke mit markantere grobgeschnitzten Kopf; Gertrud, die mit ihrer straffen Haltung August um einen halben Kopf überragte und deren herbe Schönheit ihre Herkunft aus einem alten deutsch-baltischen Geschlecht verriet.


Der auf den ersten Blick in sie verliebte August hatte die Durchreisende durch einen schlauen Trick in Nürnberg festgehalten; sie aber wollte ihre Unabhängigkeit nicht so rasch aufgeben schliesslich aber kam es zu einem tiefen und dauerhaften wenn auch gewiss nicht immer einfachen Lebensbund der beiden. Für Gertruds im Grunde zurückhaltende natur ist übrigens bezeichnend, dass sie mir und meiner eigenen Lebensgefährtin erst zwei Jahrzehnte später das vertrauliche Du anbot und damit eine persönliche Beziehung festigte, die sich nach Augusts Tod im Jahre 1969 eher noch vertiefte und entfaltete. Ich habe immer die Selbstverständlichkeit bewundert, mit der sie ihre so anders geprägte Lebensweise mit einer in vieler Hinsicht bescheideneren vertauschte, die jahrelang mit grosser materieller und politischer Unsicherheit verbunden war.

Im Sommer 1933, als seine Sicherheit in Nürnberg gefährdet wurde, folgte August Frau und Kind zu ihrer Familie ins damals noch unabhängige Baltikum nach. Ich sehe uns beide noch kurz vor seiner Abreise in meiner Wohnung. Ich war erst vor kurzem aus einer mehrmonatigen Nazihaft entlassen worden und wir überlegten meine eigene Flucht, die ich ein paar Monate später verwirklichen konnte. Denn so wenig wir damals voraussahen, welch bestialisches Ausmass die Mischung von Hass und Gehorsam in den nächsten zwölf Jahren in Deutschland noch erreichen würde – wir hatten keinen Zweifel, dass man in dieser Luft nicht leben konnte. Über die Zukunft – unsere persönliche wie die allgemeinpolitische – waren wir beide nicht eben optimistisch. Irgendwie werden wir uns wohl durchschlagen; aber der Zusammenbruch der Linken machte uns aber die politischen Perspektiven pessimistisch, Der Gedankenaustausch darüber durchzog unsere Korrespondenz während meiner Emigration nach Frankreich und Amerika bis zum Einmarsch der Hitlertruppen in Dänemark. Dort hatten August und Familie am International People's College, einer pazifistischen Volkshochschule, erst unterschlupf und bald auch Anstellung gefunden.


Ein paar Zitate aus seinen in winziger Schrift engbeschriebenen Briefen gehen die Stimmung jener Zeit wieder; dabei hegte er weit weniger Illusionen als die Emigranten im allgemeinen. Die ersten Briefe im aus dem Baltikum illustrieren seine schwierige Situation als Gast einer menschlich sympathischen, aber gesinnungsmässig grundverschiedenen Familie, und deren zunehmend vom Nationalsozialismus infizierten milieu: 13.11.1932: "Mir kommt es darauf an, meine Bewegungsfreiheit wieder zu erlangen. Hier habe ich sie nicht. Denn bei der gesellschaftlichen Lage meiner Gastgeber, bei ... der ehrlichen und grossen Achtung, Freundschaft und Verehrung, die ich für die Menschen verbinde, habe ich tausend Hemmungen ... Ich bin wie ausgedörrt nach Aussprache mit einem vernunftigen Menschen." Dezember 1933: "Einen noch trostloseren Eindruck macht mir die Lage im gesamten Marxismus. Lernt man denn nicht und nichts? Aber vielleicht und hoffentlich sehe ich da doch zu schwarz ... In den Grübeleien darüber, was man machen könnte ... kam ich schon auf den Gedanken einer Art Brüderschaft. Zuverlässsige, positiv-kritische Leute mit nüchternem Blick, die sich regelmässig a) unterrichten b) versuchen, an der Bildung neuer sozialistischer Einstellung mitzuwirken. Ist das eine Spintisiererei?"


Februar 1934 (nun aus Dänemark): "Ich sehe (an der Schule) Arbeit und Aufgaben die mir wert sind, und hoffe zu leisten, was ich unter den Umständen leisten kann. Es gibt hier viel Gelegenheit, aufzuklären und Köpfe zu säubern ... Ich war wirklich sehr froh (von Kautsky im Neuen Vorwärts) endlich einmal etwas Zusammenhängendes, etwas neue Wege Weisendes zu hören. Wer das macht und wie das geht, ist mir sekundär, Hauptsache ist und bleibt, dass wir endlich den Sumpf wieder schiffbar machen, in dem die marxistischen Frösche der verschiedensten Observanz ihre monotonen Geräusche machen." April 1934: Typisch für Augusts Neigung zum Grübeln sein Bericht über ein Gespräch mit einem Trotzkisten aus Hamburg: "Wir hatten ziemlich gleiche Ansichten über die Fehler der KP. Später ergaben sich Dissonanzen zwischen ihm und mir in der grundsätzlichen und taktischen Behandlung der Fragen 'Nation' und 'Religion'. Seine Einstellung zu beiden Themen war internationalistisch im Stil 1900. Reine Abstraktion ... bewundernswert konsequent in der Theorie. Absolut logisch – aber für meine Einsicht und meine Erfahrung eben praktisch widerlegt. Nach solchen Diskussionen habe ich tagelang Stoff zum Grübeln. Ich suche nach reaktionären elementen in mir und bin unglücklich, dass ich die Theorien nicht widerlegen (logisch!) aber einfach nicht akzeptieren kann – grund meiner praktischen erfahrung." November 1936: "Meine Hoffnung auf einen Sturz des (Nazi)Systems in absehbarer Zeit wird immer kleiner und kleiner. Das Bündnis der führenden Betrüger mit der Reaktion stabilisiert sich nach innen und nach aussen ... Selbst die Aussichten für einen Sieg im nächsten Krieg steigen mehr und mehr. .. Warum ich nicht über Spanien schrieb? Weil es mich quält, immer nur pessimistische Ansichten ausdrücken zu können ... Das ist ja auch mit das Fürchterliche in meiner Situation kein Sieg der Linken kann mich mehr freuen. Erheben sich die Spanier, so sehe ich das faschistische Ende, bildet man in Frankreich eine Volksfront, so spüre ich das üble fände eines Experiments, das mein Herz eigentlich die ganze Zeit ersehnt und meine Vernunft für notwendig gehalten hat..." An der Schule ist er "anscheinend eine Art 'Kristall für Menschen mit Problematik und menschlichen Nöten. Sie kommen alle zu mir und ich bin froh darum, aber das ist eine zeitraubende, anstrengende Tätigkeit, die meine Menschenkenntnis vermehrt, aber an meinen Kräften zehrt. Man gibt und stösst immer wieder an die eigene geistige und menschliche unzulänglichkeit. Man sucht zu lenken und zu leiten und das alles vermehrt die Sehnsucht ... einmal selbst wieder sich auszusprechen und Rat zu holen." Wieweit mag wohl bei solcher Stimmung Hennings sich verschlechternder Gesundheitszustand, seine sich mehrenden Magenbeschwerden mitgespielt haben?


In jenen dunklen Jahren von Krieg und Holocaust (die auch unsrer brieflichen Verbindung ein Ende bereiteten) war für unsereinen die Versuchung, am deutschen Volk zu verzweifeln, oft gross. Wenn ich, im Gegensatz zu vielen meiner Glaubensgenossen, ihr dennoch nie erlag, so war dafür das Bild August Hennings, und einiger anderer Freunde, ausschlaggebend. Jeder in seiner Art verkörperte für mich in seiner Person, bis hinein in seine Gesichtszüge, die Quintessenz dessen, was im deutschen Charakter positiv und edel sein kann. Deshalb wunderte es mich eigentlich später, das August offenbar tiefer als ich am deutschen Volk zweifelte und verzweifelte. Dass er sich nicht entschliessen konnte, nach dem Krieg nach Deutschland zurückzukehren und seine menschenbildende Arbeit dort wieder aufzunehmen. Gelegenheit dazu hätte gewiss nicht gefehlt. Aber was er ein paar Jahre nach dem Krieg bei einer sondierenden Reise durchs Adenauersche Nachkriegsdeutschland sah, das überzeugte ihn, dass hier mehr ein Wiederaufbau des alten Deutschland vor sich ging, als der Aufbau eines neuen. Der kränkelnde Fünfziger fühlte sich auch wohl einer erneuten Umstellung nicht gewachsen, und der oft ausgesprochene dankbare Widerhall, den seine Tätigkeit und seine Person bei vielen Schülern aus allen Landern fand, hielt ihn trotz mancher Scherereien am People's College fest.

August unterichtet auf IPC


Nach der Besetzung Dänemarks durch die Deutschen hatte er, wie ich später erfuhr, zunächst ziemlich unangefochten an der Schule weitergearbeitet. 1944 musste er dann mehrere Monate lang illegal im "Untergrund" leben, bis er dann noch in Schweden Zuflucht fand. Von seiner damaligen trüben Stimmung zeugt ein Gedicht vom Februar 1945: Die Stunden gehn, die Tage gehn, die Wochen gehn. Es regnet, es schneit, es wird warm, es wird kalt, und dazwischen ist manchmal die Sonne zu sehn. Dein Gesicht, im Spiegel, wird älter, wird alt. Menschen fallen, Städte fallen, Grenzen fallen. Man redet, man tagt, und man schreibt, und man droht. Welchen Anteil hast du denn noch an dem allen? Du bist verjagt, einsam, ja eigentlich schon tot.


Als wir dann sofort nach dem Krieg den Briefverkehr wieder aufnahmen, gab es natürlich viel aufzuholen und zu diskutieren. Im Vordergrund stand zunächst die Frage der Denazifizierung und der Deutschland politik der Sieger. Den Betriebsarbeitern unter unsern alten Nürnberger Freunden war – ausser der Kollektivmitgliedschaft in der Arbeitsfront – die eigentliche politische Gleichschaltung erspart geblieben. Anders bei den höheren Angestellten, Beamten und freien Berufen. Ein Zahnarzt zum Beispiel hatte noch 1938 jüdischen Freunden Unterschlupf gegeben; nun stellte sich heraus, dass er damals schon seit Jahren aus Gründen des beruflichen Fortkommens Parteimitglied war. Da war aber auch der aufrechte Anwalt, wegen illegaler Tätigkeit zeitweise in Zuchthaus, der danach die Landarbeit beim Bauern einer seiner Ausbildung mehr entsprechenden Tätigkeit vorzog, die ihn zu Konzessionen gezwungen hätte. Schwer zu wissen, wie standhaft man selbst sich in ehrlicher Lage verhalten hätte. Auch August hatte zwei enge Freunde in exponierten "Muss-Nazis" wie mein Zahnarzt-Bekannter. Im März 1946 antwortet er auf meine Frage: "Was tun? Strafen? Nicht strafen? Ich würde in beiden Fällen für Arbeitserlaubnis in bisheriger Weise plädieren. Meine Auffassung des Problems: jedes Parteimitglied nach dem Grad seines Nazismus in irgendeiner Weise zu strafen. Von ganzer und zeitweiliger Eliminierung bis zu Extra (Wiedergutmachung)-Steuern. Wo aber mildernde Umstände vorhanden sind, keine Existenzzerstörung und keine Diskriminierung. Wo nur möglich, individuelle Behandlung der Fälle."

Das Problem der Behandlung Deutschlands ist für ihn an die gleichen moralischmenschlichen Erwägungen geknüpft: "Als das einzige völlig Positive, das der Frieden mir bisher gebracht hat, empfinde ich, dass ich seit ca. einem Jahr ziemlich frei geworden bin von jenem verzehrenden Kollektivhass der viele Jahre meines Lebens mehr oder weniger zerstört oder unproduktiv gemacht hat ... Ich glaube förmlich zu fühlen, dass ich anständiger und ruhiger geworden bin, seit ich nicht mehr zu hassen brauche und einfach nicht mehr kann ... Ringsumher sehe ich, wie dieser Hass noch lebt, die vernunft lähmt, die Menschen zerstört und die Lösung der wirklichen Probleme hemmt, ja verunmöglicht ... Das Problem von nun an ist nicht mehr, Deutschland und die Deutschen zu bestrafen, sondern sie zu verändern in unserm Sinn ... Dies nicht allein vom deutschen Standpunkt aus gesehen, sondern vom übergeordneten Europas, der Zukunft und der Wiederherstellung von Vernunft und Gerechtigkeit."


Der Pessimismus verlasst ihn nicht: 11.2.1947: "1945/46 waren – in bezug auf die besiegten Länder – die Jahre der verpassten Gelegenheiten, 1947 wird das Jahr des Bankrotts der Nachkriegs-Friedenspolitik werden ... Diese Friedensverträge sind diktiert und hervorgegangen aus den einander widerstreitenden politischen und ökonomischen Grossmachtinteressen ... und ich sehe auch keine Idee oder Organisation oder Bewegung, die in absehbarer zeit etwas Positives aufbauen könnte. Die Sozialisten sind keine Sozialisten, die Christen keine Christen, die Liberalen keine Liberalen. Zu pesimistisch?"

Mit dem Tod Schumachers verschwindet für Henning die letzte Hoffnung, dass die Restaurierung der alten Sozialstruktur in Deutschland verhindert werden könnte. An den deutschen Jugendlichen, die nun regelmässig an der Schule auftauchen, fällt ihm neben ihrer Beflissenheit auch der Überrest eines Nationalismus auf, und erfüllt ihn mit Sorge. Ähnliches beobachtet er später auf zwei Deutschlandreisen, die ihn mit den verschiedensten Menschengruppen im Westen in Kontakt bringen: mit aufrechten, aber müden alten Freunden; mit jungen Erziehern voll guten Willens; mit Besitzbürgern, die im Suff ihre nazistischen Gefühle enthüllen.

Lehrerschaft vor dem IPC. Gertrud und August in der Mitte


Im Frühjahr 1951 besuchen meine Frau und ich zum ersten Mal wieder Europa; Helsingör wird eine unserer ersten Stationen. Nie werde ich vergessen, wie rührend mich die Freundesarme umschlangen und wieviel in diesen Sekunden wortlos ausgedrückt wurde. Am nächsten Morgen fand ich zu meiner grössten Verlegenheit, dass August meine Schuhe geputzt hatte; aber die Geste war typisch. Es folgten Spaziergänge im nasskalten Vorfrühling, gute Gespräche, Anknüpfung der Freundschaft mit Frau Gertrud – aber auch ein etwas bedrückendes Gefühl von der Enge des Lebens an der Schule. Ich begann zu verstehen, wie sehr die in der Insel einer engen Gemeinschaft unvermeidlichen Reibungen an der Schule einen Menschen belasten mussten, der ohnedies an Selbsthader und Selbstzweifel litt. Das lebenslang wirksame Echo, das er in so vielen seine Schüler weckte, bildete da nicht immer ein ausreichendes Gegengewicht. Seiner natur nach ein Haderer und Zauderer, konnte er sich aber auch nie entschliessen, die Schule zu verlassen, so oft er sich auch mit diesem Gedanken herumschlug und herumquälte. Der seelische Druck verschlechterte noch seinen körperlichen Zustand; dieser wiederum färbte auf seine Einstellung zu den Menschen und auf seine Einschätzung der politischen Entwicklung ab. Seine lähmenden Krisen werden häufiger und länger. Seine nun seltener werdenden langen Briefe sind nun noch mehr als früher erfüllt vom Zweifel an sieh selbst – sogar als Erzieher empfindet er sich als "Versager" – und seine weltpolitische Perspektive verdüstert sich. Selbst den ihm der USA zu nahestehenden Willy Brandt und die durch Gustav Heinemann symbolisierte Demokratisierung im neuen Deutschland, sowie die Weltpolitische Entspannung der späten 50er und frühen 60er Jahre betrachtet er mit Misstrauen, Aber er macht sich keine Illusionen über sich selber: 21.10. 1956: "Was ich will ist: die letzten Jahre meines Lebens und – vielleicht – einiger erfahrung sinnvoll ganz auf dem politischen Feld einsetzen zu können, am liebsten natürlich auf politisch-pädagogischem Gebiete, es halte ich wichtigsten Arbeitsgebiet unserer Zeit. Die Möglichkeit dazu habe ich nach 1945 feige schwankend versäumt. So bleibt letzten Endes der Wunsch allein zu sein mit mir selbst und einer Arbeit, die keine kompromissen, keine Anpassungen, keine Deklamationen verlangt. Natürlich spricht alle vernunft gegen Pläne. Es ist das Denken eines alten narren." Seine Wirkung auf andere ist unvermindert stark: unsere Tochter, die wir ihm beim nächsten Besuch im Jahre 1956 vorführen, ist aber alle Sprachgrenzen hinweg tief beeindruckt; ähnlich später ein befreundetes amerikanisches Ehepaar während eines längeren dänischen Aufenthalts. Und in Gesprächen der noch folgenden drei


Besuche versteht er es so gut wie je, nicht durch bohrenden Fragen in die Enge zu treiben und zu Selbstverständigung zu zwingen – aber nun ist es nicht mehr meine allzu radikale Logik, sondern meine mit Alter und der Erfahrung des amerikanischen Lebens wachsende Genügsamkeit der Erwartungen. Aber Ich ahne auch die Belastung, die sein Zustand im täglichen umgang für Gertrud bedeuten muss. Zu seinen 70. Geburtstag im Jahre 1967 konnte ich ihm noch mit der Sammlung von Zeugnissen der alte Freunde die Tiefe und Nachhaltigkeit seiner menschlichen Wirkung spürbar machen und ihm damit eine grosse Freude bereiten. Aber bei unserm letzten Besuch im Herbst 1969 fanden wir ihn auch körperlich verfallen – abgemagert, müde, die Wangen gehöhlt, das Antlitz tief gefurcht. Nur die nun immer tiefer liegenden augen glänzten noch in alter Wärme, Forschung und Schalkheit. Als wir uns zum Abschied umarmen und küssen, wissen wir beide, es werde der endgültige Abschied sein. Zwei Monate später schliessen sich seine Augen für immer.



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