63,75 Das Buch

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f端r KIKI, ANNA, ANJA, SEBASTIAN und die Liebe


PROLOG „Wir machen ein Buch über Wiesbaden, über die Häuser, den Historismus.“ So schallte es Anfang August 2012 durch die heiligen Räumlichkeiten der Design- und Werbeagentur Stijlroyal. Weil wir die Stadt doch auch irgendwie lieben, weil wir hier doch verwurzelt sind und weil es nun mal so ist, wie es ist. Aber wie ist es eigentlich? Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Was sind denn die definierbaren guten Gründe, warum wir gerne in Wiesbaden leben. Das ist sehr, sehr subjektiv. Es ist kaum möglich, das auf einen Punkt zu bringen, ohne ins immer gleiche Geseier zu verfallen. Ohne, ja, Bowling Green, Wilhelmstraße und den ganzen Zuckerguss wieder und wieder zu zitieren. Wiesbaden ist, was die Wahrnehmung von innen betrifft, ein altes, kultiviertes Städtchen, wo man gut leben kann, die Häuser sind schön, der Mietzins ist allen Unkenrufen zum Trotz irgendwie machbar, die Straßen gefegt, deren Beleuchtung funkelt sachgemäß in der Nacht, es ist schwül im Sommer und meist schneelos im Winter, und dann das alte Hohelied der Wiesbadenkritiker: Es gibt kein Nachtleben. Ja, und es ist langweilig, wenn nicht sogar die langweiligste Stadt Deutschlands. Das sei, so sagt man, wegen der Universität, die Wiesbaden nicht habe, und die Kurgäste seien schuld oder besser gesagt, die Angst der Stadtoberen, die Kurgäste zu verlieren, wenn Subkultur exisitiert. Also muss die Subkultur weg. Einer der wenigen lichten Momente am Jugendkulturhimmel ist dann auch der Schlachthof, der von kilometerweit entfernten „Anwohnern“ auf absurde Weise torpediert wird, wegen Lärmbelästigung. Konzerte im Freien sind kaum möglich. Immer ist irgendwas. Darüber hinaus kann man gut essen gehen. Es gibt natürlich auch immer was zu meckern. Ohne das kommt man hier nicht zurecht. Allerdings: Früher war alles besser. Früher, als die Linie 25 noch Schierstein und Nordenstadt miteinander verband. Als die Wartburg noch einen Namen hatte, als man die Zusammenrottung von einigen ganz netten Kneipen und Etablissements unweigerlich „BermudaDreieck“ nannte. Das wird alle paar Jahre gefeiert, als gäb‘s keine Gegenwart und keine Zukunft. Es ist aber alles ganz anders. Es gibt dieses Jetzt, und zwar jetzt. Und das ist gar nicht mal das Schlechteste. Wenn man den alten Werbeslogan von vor über 100 Jahren mal verinnerlicht, dass Wiesbaden ja auch irgendwie das „Nizza des Nordens“ ist, dann, bei genauerer Betrachtung, fällt dem Besucher und hoffentlich noch rechtzeitig auch dem schon den Umzugswagen nach Berlin gepackt habenden Einwohner auf, es ist nicht schlecht bestellt um diese Stadt. Sie feiert nicht nur als Alterswohnsitz fröhliche Urständ, sie kann auch die Jungen und frischgebackenen Verliebten für sich einnehmen. Nämlich wenn die feststellen, dass man mit z.B. dem Fahrrädchen von quasi jedem Ort in der Stadt zum nahen Wald rauschen kann, und weil man ja doch abends irgendwie gewisse Etablissements aufsuchen kann, um dort dem allgemeinen Abendtreiben beizuwohnen. Im Wiesbadener Westend, in der Nerostraße, Taunusstraße … es gibt sie, die kleinen, schimmernden Orte für die Nacht. Es gibt die Typen, die unermüdlich gegen die Stadtobskuranten kämpfen und manchmal sogar durchhalten bis zum Morgentau. Bis was anderes aufmacht, bis sich die Zeiten geändert haben.

Und dann haben wir uns gefragt, was ist wirklich mit der Stadt? Wie sehen andere, fremde Menschen diese Stadt, was können wir erfahren über uns, die wir hier leben, und die Stadt, die uns eine Heimstatt ist? Wie finden wir das heraus, wo fangen wir an zu fragen, wo sitzt der Hebel? Dann haben wir uns selbst mal gefragt, und wir haben 75 Orte, Objekte, Sachverhalte gesammelt. Dinge, Menschen, Plätze, Häuser, die uns wichtig sind, die uns aufgefallen sind, über die wir nachdenken mussten und die oft, außer uns, vielleicht niemandem so richtig aufgefallen sind. Und dann haben wir diese Dinge fotografiert und die Bilder den Autoren vorgelegt. Sie sollten etwas schreiben über das, was sie da sehen. Sie sollten einfach ihre Geschichte schreiben. Und wir haben lustige Geschichten erwartet, mit Zuckerguss und irgendwie dieser Rund-um-die-UhrWeihnachtsstimmung, die in Wiesbaden allgegenwärtig ist. Romantik pur, solche Sachen. Liebesgeschichten, Märchen, alles ist gut und so. Das haben wir erwartet. Aber es kam ganz anders. Die Autoren haben ein Eigenleben. Sie haben ihre, nicht unsere Gedanken. Die Autoren, denen wir so viel Freiheit gegeben haben, haben diese Freiheit auch wahrgenommen, und so ist aus diesem Buch etwas geworden, von dem wir vorher nicht wussten, dass es das am Ende sein wird. Und der Prozess ist noch nicht beendet. Die Wahrnehmung wird sich entwickeln. Mit jedem Tag, jedem Mal, in dem diese Geschichten gelesen und befunden werden. Jedes Missverständnis, Selbstverständnis, jede Zustimmung, Ablehnung und jede Interpretation dessen, was man selbst sieht, in Kombination mit den Texten und wie man sie wahrnimmt, wird ein anderes Bild von dieser Stadt projezieren. Bis man sich fragen wird, was das eigentlich ist, diese „Wahrheit“, von der immer alle sprechen. Findet man das hier? Haben die Autoren das gewusst? Haben sie uns an der Nase herumgeführt? Haben wir alles verstanden, was es zu verstehen gibt? Jedes Bild hat seine Geschichte und im Anhang dazu einen Versuch, der Wahrheit ein bisschen näher zu rücken. Aber das ist auch nur eine subjektive Wahrheit, mein Erlebnis mit dem Objekt, mit den kleinen Lädchen, Leuten, Lakonien dieser Stadt. Mit etwas Glück findet am Ende ein Bild statt, und daraus folgt ein erster Besuch oder ein anderer Blick zurück auf diese ewige Stadt, die so viel mehr sein könnte, wenn sie nur endlich einfach mal wäre, was sie ist. Nämlich eine im Grunde ihres Herzens liebenswerte Stadt. In Liebe Joerg „Huck“ Haas


PROTAGO NISTEN 63 Autoren und Autorinnen haben dem Buch einen Geist gegeben. Sie sollen gehuldigt und genannt sein. Hier und dann jeweils beim Beitrag sind die Autoren namentlich, inkl. Weblink aufgeführt. Bitte lieben Sie sie, wie wir sie lieben.

Maik Novotny / Architekt / Wien Peter Breuer / Texter, Autor / HAmburg Emma Zissou / Lehrerin / Biberach a. d. RiSS Derek Handwerkmann / Pro-Twitterer / Internet Jessica Tropp / Frau von Klaus Tropp / Hannover Anja Gottschling / Art Direktorin / Köln Katharina Kuhn / Dompteuse / Darmstadt Martin Svitek / Bonvivant / Düsseldorf Robert Stulle / Kreativ-Direktor / Berlin Mischa-Sarim Vérollet / Autor / Wien Erdge Schoss / Autor / Spritztourist / Mainhattan Marion Kuchenny / Radiofrau / Mainz Bernd Ringsdorf / Stratege, Lebemann / Wiesbaden Hendrik Spree / Copywriter / Köln Ilka Müller / Studentin / MARBURG Thomas Ziese / Mediziner / Berlin Ralph Kühnl / Fernsehen / Mannheim Mita VON Gessen / sambal oelek-RINGERIN / SALZBURG Edda Braun / Buchhändlerin / Ochsenfurt Ansgar Oberholz / St. Oberholz / Berlin Fletz von Grotendünk / Himself / HAUST VOR DER HÖHE Robert Crnkovic / Texter, Eintrachtfan / Frankfurt/M Matthias Sachau / Autor / Berlin Hans Hütt / Autor, Blogger / Berlin Dirk Baranek / Online Journalist / Stuttgart Nilz Bokelberg / Fernsehstar, Vaterfigur / Berlin Denise Peikert / Journalistin / Frankfurt/M John Dreimorgen / Kunstfigur / Frankfurt/M Maike Hank / Redakteurin, Poetry Spam / Berlin Sylvia Oberstein / Mediendesignerin / Bonn Dr. Christian Köhler / Leibarzt des Huck Haas / Wiesbaden Jannis Kucharz / Netzfeuilleton / Mainz

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Christoph Wienke / Comicladen Grober Unfug / Berlin Ute Weber / Autorin / Bad Vilbel Eva Neumann / Studentin / Mainz Huck Haas / Designer, Kauz, Bold / K61 Lena Reinhard / Texterin, Autorin / Berlin Anja Bonelli / Internetphänomen / München Jette Kerstin Damrath / Psychotherapeutin / Ulm Alexandra Tobor / Autorin / Augsburg Gerrit Bruce Becht / Kontakter, Astronaut / Wiesbaden Lea Duckwitz / Lehmbruck Museum / Duisburg Mogelpony / GleitzeittwItterer / Köln, Frankfurt/M Karsten Loh / Ruhe & Frieden / Frankfurt/M Claudia Vamvas / Akkordeonistin / St. Gallen Julia Roth / Stijlroyal / Dipl.-Kauffrau / Wiesbaden Honke Rambow / Autor, Journalist / Essen Hagen Terschüren / Redakteur / Oldenburg Florian Blaschke / Kunsthistoriker / Köln, RuhrYork Tanith / DJ, Legende / Berlin Sibylle Berg / Göttin / Schweiz Frédéric Valin / FuSSballauskenner, Blogger, Autor / Berlin Durst / Augsburg Michael Bukowski / Autor, Texter, SM-RedakteuR / Berlin Silke ‚Lu‘ Nolden / Texterin, Bloggerlegende / Düsseldorf Daniela Warndorf / Texterin, Bloggerin / Köln Mareike Ernst / Psychologiestudentin, steiler Zahn / Frankfurt/M Lilian Kura / Texterin, Textzicke / Starnberg Caro Buchheim / Journalistin / Freiburg Isabel Bogdan / Übersetzerin, Autorin / Hamburg Steffi RoSSdeutscher / Juristin, Bein / Berlin Sebastian Baumer / Prof., Elektronensouffleur / Hamburg Piotr PotegEN / Sohn DES Huck Haas / Mannheim


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Neroberg Maik Novotny Autor Maik Novotny — twitter.com/the_maki Wer? Maik Novotny, geboren in Stuttgart, zog vor 12 Jahren nach Wien, weil er nach Osteuropa wollte. Die Wiener finden, das sei ein seltsamer Herziehgrund. Er macht Sachen mit Städten und schreibt für den Standard und den Falter über Architektur und Zeugs.

Der Neroberg von Huck Haas Der Berg sei der Hausberg, sagt man. Als habe jede Stadt ihren Hausberg. Und wenn das so ist, warum heißt es dann nicht Stadtberg? Da stimmt doch was nicht. Früher war der Neroberg noch wer. Er hatte was zu sagen. Man zeigte ihn stolz herum, wenn Besuch aus der Ferne kam. Man fuhr hinauf und blickte hinunter, durch Fernrohre, für 10 Pfennig und dann sagte man: „Wow, habt ihr‘s schön hier oben.“ Und dann sagte man: „Ach das, das war früher noch viel besser.“ Immer war früher alles besser. Das sagt man oft in Wiesbaden. Es gibt ganze Facebookseiten mit Bekundungen, Bildern und Träumen von früher. Früher haben berühmte Punkbands auf dem Neroberg gespielt. Es war ein Treffpunkt. Das alte Hotel, die Opel-Gangs, das Bier, zu Fuß durch den Wald hinaufgeschleppt, weil die Nerobergbahn ja nicht mehr fuhr, in der Nacht. Da war der Neroberg noch wer. Quasi der Werwolf unter den Hausbergen.

Leise glitten die heckflossigen Limousinen in die Schwärze der Spätsommernacht des September 1962 davon. Dr. Schattenkobler schaute ihnen nach, bis sie vom Heckenrosenweg in die Goldregenallee einbogen. Leicht klang noch ein Rest Bedauern in ihm nach, sich ihnen nicht angeschlossen zu haben auf dem Weg in die „Schwarze Dahlie“ in Bad Homburg, deren Adresse er Bryant diskret zugesteckt hatte. Das geschäftige Klirren hinter ihm riss ihn aus diesen Gedanken. „Hildegard“, sagte Dr. Schattenkobler, als er die Tür wieder hinter sich schloss. „Ich glaube, dieser Abend war der Wendepunkt in meiner Karriere.“ Hildegard blickte nur kurz vom Einsammeln der übrig gebliebenen Kanapees auf. „Lass dich nicht wieder über den Tisch ziehen“, sagte sie und verschwand mit den angetrockneten Ruinen der Käsehäppchen in Richtung Küche. Dr. Schattenkobler, so viel war klar, würde sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Seine Karriere bei der Opel AG war steil verlaufen, und er hatte nicht vor, das zu ändern. Denn Dr. Schattenkobler hatte einen Plan, der die junge Bundesrepublik an die Speerspitze katapultieren würde. Darin hatte ihn dieser Abend nur bestärkt. Der Raketenantrieb, getestet in der Wüste Nevadas, würde funktionieren, das hatten ihm Bryant und seine Techniker versichert. Der Vertrag war unterzeichnet. Nun galt es nur noch, einen Namen für das Baby zu finden. Der weltpolitische Gehalt von Opel Admiral, Opel Kapitän und Opel Diplomat war schön und gut, doch ein Raketenwagen musste mehr wollen. Warum nicht royalistisch? Opel Wilhelm? Opel Karl-der-Große? Zu bieder. Opel Ramses? Opel Cäsar? Schon besser. Letztendlich musste auch der Werksstandort in Frage gestellt werden, dachte Dr. Schattenkobler, als er neben Hildegard in die Kissen sank. Er war sich sicher, bei mehreren Mitgliedern der Delegation aus Tschikago ein herablassendes Kichern vernommen zu haben, wann immer er das Wort „Rüsselsheim“ erwähnte. Diese Amis. Seit Kennedy Präsident war, schien ihm, traten sie noch unverfrorener auf. An einem Rüsselsheimer Morgen im Sommer 1963 ergriff Vorstandschef Bleyle im Konferenzsaal im 12. Geschoss das Wort. „Meine Damen und Herren...“ Schattenkobler rutschte zappelig wie ein Kind auf dem Ledersessel hin und her. „Wir stehen an einem Wendepunkt der Geschichte der Bundesrepublik und ihrer Wirtschaft. Morgen schon wird die Welt unterwegs zum Mond sein, und wir sind heute schon dabei! Meine Damen und Herren: Das erste Automobil mit Raketenantrieb, der Opel Nero!“ Staunend beugten sich die Herren über die Entwurfszeichnungen. Der Luxemburger Chefdesigner René Lützinger hatte ganze Arbeit geleistet. Das größte Lob wurde jedoch Dr. Schattenkobler zuteil, der das Projekt unermüdlich vorangetrieben hatte. Man habe bereits Anfragen bekommen, so Bleyle. Ein Herr Broccoli habe angerufen, für seine Filmreihe über einen britischen Geheimagenten käme ihm ein Raketenauto sehr gut zupass. Ein 20-Jahre-Vertrag mit der Firma Opel liege schon auf dem Tisch. Diverse afrikanische Diktatoren hätten Sammelbestellungen angekündigt. Bleyle ließ Champagner kommen. Vor Dr. Schattenkoblers geistigem Auge nahm die Zweitvilla am Lago Maggiore immer schärfere Konturen an. Hildegard vertrug das südliche Klima zwar nicht und bevorzugte kleine Reetkaten auf Amrum im windigen Frühherbst, aber sie würde damit zurechtkommen müssen. Heute Wiesbaden, morgen Lago, 1970 vielleicht schon New York, Los Angeles, Buenos Aires. Dr. Schattenkobler, Bleyle und der Opel-Vorstand fielen in einen mehrmonatigen Zustand ungehemmter Euphorie. Lange Nächte in der „Schwarzen Dahlie“ und bei Anita im Cabaret Monique, Weinbrandbohnen und Schweinskopfsülze bis zum Abwinken im Hinterzimmer des „Frankfurter Hof“, Badewannen voller Äbbelwoi, Exkursionen in den Hochtaunus.

Ein halbes Jahr später, in Halle 11, die Vorstellung des Prototyps. Mit einem hintergründigen Lächeln, das Schattenkobler nicht ganz einordnen konnte, reichte ihm Lützinger die Schlüssel des Erlkönigs. „Wer sonst als Sie, der Vater des Nero, könnte die Jungfernfahrt absolvieren!“ Im Nu lag Rüsselsheim hinter ihm, wie an der Schnur gezogen durchmaß er die stillen Handkäsedörfer der Rhein-Main-Ebene. Die Wiesbadener Alleen mit ihrem bedächtigen Kurstadt-Tempo wurden erfüllt von kaiserlichem Röhren. Gichtgeplagte Greisinnen griffen entsetzt ihre in Panik verfallenen Schoßhündchen. Hinter den offenen Fenstern der Anwaltskanzleien wurden wichtige Ferngespräche unterbrochen. Dr. Schattenkobler nahm die Abzweigung zum Hotel Waldesruh, hoch über der Stadt, die Serpentinen hinauf. Kurz vor dem Gipfel kam der Moment auf den er gewartet hatte. Er legte den Schalthebel auf „R“, wie es ihm Lützinger erklärt hatte. Das war das Letzte, an das er sich erinnern konnte. Dem außergewöhnlich feuchten hessischen Herbst 1963 war es zu danken, dass er nur mit Prellungen, Schürfwunden und Gehirnerschütterung davon kam, denn aus dem sich binnen Mikrosekunden zu Nichts zusammenfaltenden Nero wurde er in ein erst eine Woche zuvor entstandenes sumpfiges Feuchtgebiet katapultiert, das seine Flugbahn erheblich schonender dämpfte, als es der felsige Untergrund ein paar Meter weiter getan hätte. Das Wrack wurde in einer Nacht- und Nebelaktion von zu ewiger Verschwiegenheit verpflichteten Akkordarbeitern an Ort und Stelle im Boden versenkt. Um die peinliche Episode der Firmengeschichte ein für alle Mal vor der Geschichte zu verbergen, ließ Bleyle seine Verbindungen zur Wiesbadener Stadtregierung spielen. Ein dreieinhalb Tonnen schwerer Löwe, der ursprünglich vor dem Eingang der städtischen Wasserwerke gestanden hatte, bevor diese einem zwölfgeschossigen Neubau weichen mussten, wurde von drei taubstummen Gehilfen des Denkmalamts exakt auf dem Grab des zertrümmerten Raketenwagens abgesetzt. Ob die Wahrheit in Wiesbaden oder Rüsselsheim durchgesickert war, wird wohl nie geklärt werden, aber jemand muss sein Schweigen gebrochen haben, denn der Name „Neroberg“ tauchte nur wenig später im Wiesbadener Lokaljargon auf. Bei der Opel AG wurden alle Spuren des Nero entfernt, inklusive Dr. Schattenkobler. Hildegard reichte die Scheidung ein, wortlos packte sie ihre Sachen, viel war es nicht, die Koffer passten in den Fond von Lützingers Mercedes Cabrio, das vor dem Haus wartete, vollgetankt für die Fahrt nach Sylt. Dr. Schattenkobler musste die Villa versteigern lassen, doch er gab nicht auf. 1975 wechselte er in die Hotelbranche, ein günstiger Kredit, den ihm Professor Berzelmeier, sein Golfclubkollege von der Commerzbank, eingefädelt hatte, ermöglichte ihm den Kauf des Hotels Waldesruh. Das Glück war nicht von langer Dauer. Die Nähe zur Stelle seines automobilen Scheiterns zermürbte sein Gemüt, und kaum waren die Grünen 1984 in der Landesregierung, wurde in ganz Wiesbaden Tempo 30 eingeführt. Über Nacht blieb die cabrioaffine Kundschaft dem Hotel Waldesruh fern. Die Champagnervorräte verstaubten im Keller, und es fiel Dr. Schattenkobler persönlich zu, sie zu vernichten. Davon sollte er sich nicht mehr erholen. Bald darauf brannte das Hotel unter ungeklärten Umständen bis auf die Grundmauern nieder. Von Dr. Schattenkobler sah und hörte man nie wieder. Heute trifft sich die behütete Jugend des Taunus an dieser Stelle, um aus hochgeklappten Polohemdkrägen auf die Stadt zu blicken, bevor sie zum Gartenfest der Jungen Union aufbricht. Die Erdbeerbowle auf FantaBasis, sagt man, sei legendär dort. Kurz nachdem sie verschwunden sind, pflegt die weniger behütete Jugend aufzutauchen. Diese räkelt sich hier auf den tickenden Motorhauben ihrer verbrauchsarmen Kleinwägen. Aus den Boxen tönen Westcoast-Walkürenritt und Industrieschlager. Dann zünden sie ihre Crackpfeifchen an und träumen, dass die Stadt unter ihnen in Flammen aufgeht.


02 Autor Peter Breuer — twitter.com/peterbreuer Wer? Peter Breuer ist Kommunikationsdesigner, 47, r.-k., geschieden. Er hat an der Folkwangschule in Essen studiert und lebt in Hamburg. Als er merkte, dass er Buchstaben lieber hintereinander reiht, als ihre perfekte Position auf einem leeren Blatt zu suchen, begann er zu schreiben. Über Möbel, Fotoapparate, Autos und Fleischsalate. Unter anderem. www.peterbreuer.de

Als beim Umzug der Versicherung der letzte Möbelpacker mit einem Karton aus dem Hochhaus trat, kamen sie. Blitzschnell huschte einer von ihnen aus dem gebäudeflankierenden Rhododendron, stellte einen Fuß quer in die zufallende Tür und winkte die anderen heran. 19 leere Etagen warteten auf sie, ein komfortabler Aufzug und etliches an vergessenem Mobiliar. Strom und Wasser waren von einem anonymen Immobilienfonds im Voraus bezahlt. Freispiel. Sie trugen Kapuzenjacken und zerschlissene Anzüge, hatten sich aus gutbürgerlichen Elternhäusern davongestohlen oder freuten sich, endlich nicht mehr unter der Brücke des Autobahnzubringers campieren zu müssen. Was sie vereinte, war die Freude an der Inbesitznahme einer eigenen Riesenimmobilie im besten Viertel Wiesbadens. Einem baulichen Bastard, dessen abweisende Architektur wie ein Sinnbild für ihr eigenes Outlaw-Dasein stand. Auch ohne Absprache einer Hausordnung war ihnen instinktiv klar, was ging und was tabu war: Nachts waren nur diffuse Teelichter erlaubt, tagsüber mussten die Fenster geschlossen bleiben. Männer bezogen Büroräume mit männlichen Namensschildern, Frauen orientierten sich an Büros mit Doppelnamen und Paaren standen die etwas größeren Abteilungsleiter-Zimmer zu. Dass dieses Arrangement nicht ewig dauern könnte, war ihnen ohnehin klar. Aber bis dahin sollte es eine herrliche Zeit werden. Schreibtische wurden zusammengeschoben und bildeten komfortable Betten. Besenstiele machten die Registraturen der ehemaligen Versicherung zu Kleiderschränken, auf Konferenztische malten sie Dame- und Mühlefelder und in der ehemaligen Kantine fand sich ein Zweiplattenherd, auf dem sie mittags gemeinsam Ravioli kochten. Sie genossen die Aussicht über Wiesbaden und freuten sich über den Weitblick, den ihnen die Höhe des Hauses gab. Weil es ihnen verdächtig erschienen wäre, hätten sie das Haus zu häufig über den Haupteingang verlassen, wurden die nötigsten Einkäufe nur nachts von kleinen Delegationen erledigt. Entsprechend viel Zeit hatten sie, um das Versicherungs-Hochhaus zu erkunden, und sie entdeckten Winkel und Abstellkammern, die selbst in vierzig Jahren als Bürogebäude niemand betreten hatte. Aber bei aller Freiheit: Ihnen wurde ihr Dasein nach einigen Monaten langweilig und es häuften sich Momente der Gleichgültigkeit und Gewohnheit, die langjährige Paare in die Feindschaft getrieben hätten. Die Intimität der Büros wurde aufgebrochen durch achtlos aufstehende Türen, der Kleidungsstil wurde nachlässiger, und der fehlende Außenkontakt machte die Bewohner merkwürdig aggressiv. Bei einem ihrer gemeinsamen Mittagessen lag plötzlich ein grauer Leitz-Ordner auf dem Tisch. Eine der neuen Hochhaus-Bewohnerinnen war in das zweite Kellergeschoss vorgedrungen und hatte vergessene Akten der Versicherung gefunden: Ungeklärte Schadensfälle, bizarre Ereignisse, an denen Sach-

bearbeiter verzweifelt waren. Sie, die vom elterlichen Bauernhof nach Wiesbaden gekommen war, hatte sich in die Akte eines landwirtschaftlichen Unfalls vertieft. Es ging um einen Gewässerschaden, und sie kannte die Tücken von Güllefässern. Ihr landwirtschaftlicher Hintergrund ließ sie klar erkennen, dass es kein Eigenverschulden war, das den Bauern in den Ruin getrieben hatte. Mit wenigen Worten konnte sie das Plenum überzeugen: Eine Versicherungsleistung wäre angebracht gewesen. In den kommenden Monaten verwandelte sich das anarchistische Bohémien-Leben im Hochhaus in die emsige Betriebsamkeit einer großen Versicherung. Akte um Akte wanderte aus dem Tiefkeller in die höher gelegenen Büros. Es wurde gewissenhaft geprüft, Experten zu verschiedenen Lebensbereichen fanden sich in den 19 Etagen reichlich: Brandsachverständige, Unfallgutachter aus Opferund Täterperspektive und Leidende unter widrigen Umständen waren reichlich vorhanden. Jede Akte musste sich einer erneuten Untersuchung stellen. Sehr oft waren die Ergebnisse anders als die der Vorgängerorganisation. Der Stapel der Schadensfälle, in denen die Bewohner abgewiesene Ansprüche zugunsten der Antragsteller entschieden, wuchs. Der Kleidungsstil wurde gepflegter und plötzlich gab es wieder Hierarchien. Je mehr jemand erlebt hatte, desto wichtiger wurde er für die Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Altlasten aus dem Tiefkeller aufzuarbeiten. Es gab Zuarbeiter, die nur sortierten und dokumentierten und Experten, die durch ihre Erfahrungen Entscheidungsbefugnis erhielten. Das Haus selbst bekam eine Struktur, die sich nicht mehr wesentlich von der unterschied, die es zuvor einmal hatte. Etagen wurden getauscht, die Abteilungsleiter-Zimmer mussten von den Paaren für Entscheider geräumt werden. Die Kleider lagen nun auf sauber geschichteten Stapeln, weil die Registraturen für Akten gebraucht wurden. Trotzdem war die Arbeitsatmosphäre gut und jeden Abend wurde bei Teelichtern der Tag rekapituliert. Irgendwann waren alle Akten bearbeitet. Die Bewohner feierten ein Fest im Gemeinschaftsraum, der ehemaligen Kantine des Hochhauses an der Taunusstraße. Sie wussten, der Traum war vorbei, niemand würde sich je für ihre Ergebnisse interessieren. Aber jeder von ihnen war zum ersten Mal im Leben wichtig gewesen: Für Menschen, denen in einer kurzen Sekunde ihr Leben aus der Hand geglitten war. So wie ihnen selbst. Ihre Arbeitsergebnisse deponierten sie im Foyer des Hochhauses, säuberlich dokumentierte Aktenvermerke in den verstaubten Leitz-Ordnern des Tiefkellers. Einer nach dem anderen schlüpfte aus dem Haupteingang des Gebäudes und verschwand in den Straßen von Wiesbaden. Ob ihre Untersuchungen an die Versicherung weitergeleitet wurden, war ihnen egal. Sie hatten ihre Arbeit gemacht.

hochhaus taunus-str. 1 Peter Breuer Die Recherche von Peter Breuer Betrachtet aus der 681 Kilometer hohen Umlaufbahn, auf der GeoEye-1 um die Erde kreist, sieht der Bürokomplex am Kureck wie die Flächenberechnungsseite in einem Geometriebuch aus. Ineinander verschachtelte Trapeze, die jeden Zentimeter des Grundstücks auszunutzen scheinen, und eher am Rand ein schlichtes Quadrat. Das aus der Vogelperspektive pfannkuchenplatte Viereck ist das R+V Hochhaus, das seit 40 Jahren das Gesicht des Kurecks an der Taunusstraße prägt. Nie unumstritten, nie leise – was auch nicht zu seinem trotzigen Stahlgittergesicht passen würde – aber Wiesbadens alleiniger Rekordhalter im 71-Meter-Hochsein. Hochhäuser, fand Andrew Lawrence als Volkswirt bei Dresdner Kleinwort Benson kurz vor der Jahrtausendwende heraus, werden kurz nach den Höhepunkten wirtschaftlicher Boomzeiten geplant und unmittelbar vor der Krise fertig. Sicher, er sprach vom Metropolitan-Life-Gebäude und vom Chrysler Building, aber auch die Fertigstellung des R+V Hochhauses 1972 fiel in den Vorabend der Ölkrise, die das deutsche Nachkriegs-Wirtschaftswunder zum ersten Mal kurz grübeln ließ. Geplant in einer Zeit, in der das Wort „Altbau“ noch mit dem Klo auf halber Treppe und längst nicht mit gegenderter Luxussanierung assoziiert wurde, bemühte sich die Fassade gar nicht erst besonders, dem Altbau-Bestand auf der anderen Straßenseite schön zu tun. Und so wird der reiche Bauschmuck der Hessischen Staatskanzlei von Süden aus betrachtet von einem schlichten Schuhkarton mit 19 Stockwerken überragt. Für Architekten und Planer der sechziger Jahre war die Vertikale natürlich auch der Wunsch „Leuchttürme“ und „Landmarken“ zu hinterlassen. Aber vor allem war ein hohes Haus ein Symbol für Modernität und Urbanität, das sich mit rapide steigenden Bodenpreisen wirtschaftlich begründen ließ. Schließlich sollte das R+V Hochhaus kein Solitär in dieser Toplage bleiben. Im Architekturbüro Kammerer + Belz hat vermutlich niemand damit gerechnet, dass sich die gewundene Prinzessin-Elisabeth-Straße auch noch nach vierzig Jahren durch ein grünes Niemandsland winden würde. Inzwischen kreist sie sogar nur noch um den leeren Parkplatz eines leeren Gebäudes – hinauf zu den Gründerzeitvillen, deren Preise sich wegen ihrer urbanen Verdichtungsverweigerung vervielfacht haben. Im Inneren des R+V Hochhauses gab es große Zeiten. 700 Mitarbeiter sahen nicht von außen auf ein Hochhaus, sondern von innen auf eine Welt, in der es viel zu tun gab: Sie bearbeiteten Blechschäden, Beinbrüche und abgebrannte Scheunen. Sie sprachen in orange Telefone und trugen Aktenmappen, Lochkarten und später Disketten durch die Flure. Sie regelten die Dinge, wenn Kyrill, Emma und Lothar über das Land fegten. Für einige war das Haus keine Immobilie, sondern ein komplettes, vierzig Jahre langes Berufsleben. Als die R+V Versicherung aus dem Turm aus- und in einen deutlich flacheren Neubau am John-F.-Kennedy-Platz einzog, gingen der

A-K-Meyer, die Kasko-Birgit und der Brand-Rainer. Das Haus, das ganz ohne Versicherungsschaden zur Ruine wurde, übt seit seinem Leerstand eine magische Anziehungskraft aus. Leere Flure, Reste eines magischen 70er-Jahre-Ambientes und eine Eigentümergesellschaft, die noch in der Planungsphase über eine Umnutzung, eine Entkernung oder einen Rückbau ist. Obwohl Wachdienste auf den Betonplatten Streife laufen, gibt es Wege in das Haus. Immer mal wieder gerät ein Shisha-Feuerchen zwischen den alten Schreibtischen außer Kontrolle, oder die Hydrokultur-Kügelchen verteilen sich auf wundersame Weise unter frischen Graffitis. Kein gutes Ambiente mehr für die Treppenläufer des Wiesbadener Skyruns. Noch streiten sich Wiesbadener Kommunalpolitiker über Architekten-Entwürfe für eine neue Fassade. „Einfallsreich“ soll sie sein, energetisch auf dem Stand eines Passivhauses, regenerative Energien nutzen und aus heimischen Baustoffen bestehen. Schließlich steht das R+V Hochhaus in exponierter Lage. Aber möglicherweise ist das Problem einfach die Höhe eines Hauses, das sich zwar neben dem 260 Meter hohen Frankfurter Commerzbank Tower mickrig ausnehmen würde, für Wiesbaden aber den Gulliver gibt. Gesucht wird – natürlich – ein Entwurf mit menschlichem Maß. Aber den glaubte man schon 1972 gefunden zu haben. Schließlich lobten Architekturkritiker am R+V Komplex besonders die überschaubare Struktur, die sich „an städtebaulichen Prinzipien“ orientiere und Mitarbeitern und Besuchern Überschaubarkeit und Orientierung garantiere. Wie auch immer die neue Fassade wird, gut ist sie nur, wenn sie auch in vierzig Jahren noch für Debatten sorgt.



Zum Spazierengehen lädt es nun ja wirklich ein, bei aller Liebe, es ist eine Spazierstadt. Das alte Wiesbaden und wie es zum Teil in die Gegenwart hinübergerettet wurde. In diesem Städtchen tun wir dies, nämlich nun spazieren. Folgen Sie uns unauffällig.


Nerotal


Arcadaş Ansgar Oberholz

Autor Ansgar Oberholz / twitter.com/oberholz Bio Ansgar Oberholz gründete mit Koulla Louca 2005 das St. Oberholz am Rosenthaler Platz. Das Studium der Physik, der Mathematik, der Informatik, der Philosophie und leider auch der Forensik brachte er zu keinem erfolgreichen Abschluss; zu groß die Ablenkungen jener Zeit – Nebentätigkeiten als Musiker und Modelagenturbetreiber nahmen einfach zu viel Raum ein. Heute gilt Oberholz als Veteran der Berliner Entrepreneur-Szene und als Experte für Phänomene des neuen Arbeitens. Niemand weiß aber, ob er es auch tatsächlich ist. Im November 2012 erscheint sein Roman „Für hier oder zum Mitnehmen?“ bei Ullstein. „Blauer Zweigelt“ ist eine Rebsorte aus Österreich. Vor zehn Jahren war noch nicht einmal Rotweinkennern diese damals seltene Art geläufig. Dann begann der Blauer-Zweigelt-Hype. Vor allem Weinlaien und Hobbytrinker verlangten nach ihm. Wenn man sie gefragt hätte, ob es sich bei dieser bildhaften Bezeichnung um einen Winzer, ein Anbaugebiet, eine Lage oder Rebsorte handelte, so hätte man sicherlich sehr unterschiedliche Antworten erhalten. Die kleinen Jahresproduktionen der österreichischen Winzer waren in kurzer Zeit ausverkauft. Heute ist es die meistangebaute Rotweinrebe in der Heimat des „Grünen Veltliners“. „Blauer Zweigelt“. Das klingt nach einem Versprechen. Und ein wenig schmeckt der Wein auch so, wie er klingt. Ein gutes Produkt. Aber niemand hat jemals eine Werbekampagne dafür gestartet: „Trinkt mehr Blauen Zweigelt!“ Es gibt noch nicht einmal einen einheitlichen Markenauftritt. Alle Versuche von großen Weinanbaugebieten, solche Effekte durch aktives Marketing zu steuern, sind erfolglos geblieben. Der Siegeszug basiert auf einem guten Produkt und Mundpropaganda. In den zwanziger Jahren war „Riesling“ ein Synonym für Weißwein in Deutschland, so wie heute „Tempo“ für Taschentuch. „Googeln“ hat es in den Duden geschafft und „Xerox“ steht in den USA für Kopie. Allen gemein ist ein wohlklingender Name, aber das alleine kann es auch nicht sein, sonst wäre der „Gutedel“ sehr viel erfolgreicher, der Misserfolg der „Scheurebe“ hingegen erwiesen. „Döner Kebap“ unterliegt ähnlichen magischen Marketingeffekten. Nie gab es eine Werbekampagne für das Produkt: „Esst mehr Döner Kebap!“ Der Jahresumsatz des Dönersegments in Deutschland schlägt mittlerweile den von McDonald’s. Wenn man diese Zahlen in Relation zu den investierten Werbebudgets setzt, bekommt selbst der hartgesottenste Werber schweißnasse Handflächen beim Gedanken an das nächste Kundenmeeting, in dem er seinen Etat verteidigen soll. „Döner Kebap.“ Auch ein wohlklingender Name. Er hörte sich mal exotisch und avantgardistisch an. „McDonald’s“ erfüllte das nie. Das Produkt hat es, wie Google, zu einem eigenen Verb gebracht. Ich dönere, du dönerst, er, sie, es dönert. Lass uns dönern gehen. Das hat McDonald’s nie geschafft. Ich donalde, du donaldest, er, sie, es donaldet. Die Wareneinsatzquote bei Döner Kebap ist betörend, sie wird lediglich von Bubble Tea übertroffen. Er, sie, es bubblet. Arcadas am Michelsberg hat den Ruf des besten Döner-Kebap-Ladens in Wiesbaden. Zum eigenen Verb hat es nicht gereicht, aber immerhin lassen die Wiesbadener die Präposition weg, wenn sie von diesem Ort sprechen. Lass uns Arcadas gehen. Das Arcdas in „echt“ von Huck Haas Einmal, ich bestellte İskender Kebap aus Versehen und, ohne darüber nachzudenken, ohne Tomatensoße, da ging die Welt unter. „Ich kann nicht glauben, was Sie da von mir verlangen, Herr.“ sagte der Kebapwirt. „İskender Kebap ohne Tomatensoße, das kann nicht recht sein, ich bitte Sie, sich das noch einmal zu überdenken.“, fuhr er fort, und ich glaube, dann hat er geweint. Ich sagte: „Okay, das leuchtet mir ein, dann bitte einmal İskender Kebap mit Tomatensoße, die Tomatensoße aber extra in einem Schälchen“, meinte ich ahnungslos sagen zu müssen. Da zappelte der Kebapmann und sprach zu mir: „Noooain, auch das ist leider nicht möglich, mein allerliebster Arkadaş. Ich werde wenigstens ein klitzekleines bisschen am Boden der Schale verteilen. Der Herr İskender Efendi hat doch extra verfügt, so und nicht anders soll es sein. Ich muss meinem inneren Drang und den Worten des İskender Efendi Folge leisten und wengistens den Boden der Schale mit Tomatensoße benetzen.“ „Okay“, gab ich nach, „aber nur ein bisschen. Ich werde Ihr Tun und Lassen aufmerksam, guten Mutes und einigermaßen verblüfft verfolgen!“ Der Kebapmann schüttete sodann einen gefühlten Liter Tomatensoße in die İskenderschale, packte mir einen geschätzten Eimer davon dazu und schaute mich selig an. „Es ist gut so, glauben Sie mir.“ „Ich weiss“, sagte ich und der Arkadaş am Michelsberg zu Wiesbaden war mir alsbald ein Freund.

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Der Keller Ein Stück Jazzgeschichte – Der Keller am Geisberg

Autor Dr. Christian Köhler — twitter.com/derkoehler Wer? Dr. med. Christian Köhler ist AllgemeinMediziner, WiesBadener, InterNetzer, EintrachtFanatiker, HobbyMusiker und JazzLiebhaber. Und Letzteres schon seit seiner frühen Jugend. Ende der 80er Jahre begann er, Miles Davis & seiner Band hinterherzureisen und beschloss damals, dereinst seinen erstgeborenen Sohn nach ihm zu benennen. Was er dann auch tat.

„Man bedarf in Wiesbaden nur eine Viertelstunde Steigens, um in alle Herrlichkeit der Welt zu blicken.“ So schrieb Johann Wolfgang von Goethe nach dem Erklimmen des Geisbergs im Jahre 1814 auf Twitter. Das war kurz nach der Völkerschlacht zu Leipzig und lange vor der Markteinführung des neuen iPhone. Aber hätte der feine Herr Goethe dieses Wiesbaden nicht 1814, sondern in den 60er Jahren besucht, und wäre er kein Dichterfürst, sondern ein Jazzfan gewesen und hätte sich statt mit 2-hebigen Jamben lieber mal mit mixolydischer Pentatonik beschäftigt – er hätte gar nicht so weit laufen müssen! Denn am Fuße des Geisbergs hat er gelegen, dieser Jazzkeller, dieser Tempel der treibenden Grooves und der Improvisation, der irgendwann in den 60er Jahren die Jazzgeschichte dieses Planeten unbemerkt revolutionieren sollte. Das war damals was ganz was Neues war das, schwadronieren alte Wiesbadener Jazzchronisten noch heute schwärmerisch verglänzt. Scheiß auf Peter Kraus, Conny Froboess und Rex Gildo! Zur Hölle mit den knöcheltief in Ponykacke stehenden Mädels vom Immenhof und ihrem sabbernden Grinsefratz Ethelbert. Nein, das hier, das war Jazz! Das war John Coltrane und Miles Davis, das war Charles Mingus und Chet Baker, das war Coolness, Rhythmus, Bluenotes, Zigaretten und die 52nd Street. So war das. Und in Wiesbaden, da wurde der Jazz gelebt in diesem Keller am Geisberg. Es muss eine von feuchten Ziegeln flankierte schmale, steile Stiege hinab in diese Kathedrale der Akustik geführt haben. Die hippen Typen von damals trugen schmal geschnittene DreiknopfAnzüge von Brooks Brothers und die Mädels eindrucksvolle Hochsteckfrisuren. Die Luft war zum Schneiden vom Zigarettenqualm der Revals, der Ernte 23s und den Lord Extras der Damen. Zu trinken gab es neben Hektolitern Bier vom Fass auch Asti Spumante, eimerweise Eierlikör und Lufthansa-Cocktails. Ganz manchmal auch einen Onko-Kaffee. Ausgeschenkt von einer Bardame, die tagsüber im Latscha arbeitete und sich abends „Debby“ nannte, denn das klang für sie irgendwie exotisch. Nach Südsee und Palmen und dem Strand von Capri. Ihre gigantische Frisur hatte sie mit dem Onduliereisen zu einem beachtlichen Bienenkorb geformt und so hochtoupiert, dass jeder Mauersegler mit Kinderwunsch sofort Richtfest feiern wollte. Häppchen gab es auch im Keller. Russische Eier (mit Lachsersatz), Toast Hawaii, Würstchen im Speckmantel und Fliegenpilze (hartgekochte Eier, halbe Tomate drauf, oben Pünktchen gemacht mit Remoulade aus der Garniertube fertig). Hinterher gab‘s darauf einen Dujardin. Und diese Akustik! Es war diese einzigartige Raumakustik, die den Keller zur Carnegie Hall des Jazz machte. Da sich der Raum infolge der Bomben-

nächte im Zweiten Weltkrieg nach hinten trichterförmig verbreitert hatte, war die Akustik so fantastisch und laut, dass Toningenieure an den Mischpulten reihenweise in Ohnmacht fielen. Auf der kleinen Bühne spielten die Mangelsdorffs und Doldingers dieser Republik ihre Jam Sessions. Jeden Abend ein schweißtreibender Groove, der die unklimatisierte Raumluft in feuchtwarme Nebelschwaden verwandelte und den Sauerstoffgehalt nahe Null drückte. Berühmte Aufnahmen entstanden hier. Einfach mitgeschnitten, zack auf Vinyl gepresst, noch ein Label mit was Amerikanischem drauf und fertig war wieder ein neues Stück Jazzgeschichte. Viele Jazzalben dieser Zeit tragen Titel wie „Live at the Village Vanguard“ , „A Night at Birdland“ oder „Live at Newport“. Die meisten davon sind in diesem Keller eingespielt worden. Auch Miles Davis war häufiger mit seinem genialen Quintett zu Gast im Keller. Oft blieb er dabei unerkannt. Da er meistens mit dem Rücken zum Publikum spielte, wussten sowieso nur sehr wenige Menschen zu dieser Zeit, wie er überhaupt aussah. Das kam natürlich seinem Management und seiner Plattenfirma zugute, die damals Dutzende von Jazzcombos als „Miles Davis Quintett“ durch die Welt touren ließen – immer mit der Auflage, sich beim Spielen vornüber zu beugen, dem Publikum den Rücken hinzuhalten und vorher und nachher ordentlich Heroin in die Venen zu pumpen. So der Authentizität wegen. (Ein ähnliches Konzept versuchte man Jahrzehnte später noch mit einem begabten peruanischen Panflötisten, der mit seiner Band in deutschen Fußgängerzonen populär gemacht werden sollte. Das lief aber nicht so gut. Auf den internationalen Durchbruch wartet er bis heute, trotz ohne Heroin. Aber das nur am Rande.) Der echte Miles spielte einige seiner berühmtesten Alben in dieser Kathedrale der Akustik am Geisberg ein. Und noch heute klatschen die greisen Veteranen der Wiesbadener Jazzszene begeistert auf die Schenkel ihrer Pflegerinnen bei dem Gedanken an die sagenhafte Nacht, in der Miles Davis, John Coltrane, Cannonball Adderley, Phil Chambers und Bill Evans das epochale Album „Kind of Blue“ in nur einem Take pressfertig einspielten. Als Bill Evans anschließend seine vierte Portion Russische Eier aufgegessen hatte und sich ein opulentes Völlegefühl einstellte, durchfuhr ihn plötzlich eine fröhliche Walzermelodie. Und ihm schoss gleich ein Titel in den Sinn: „Waltz for Debby“. Benannt nach dieser wundervollen Bardame mit dem exotischen Namen und diesem ... Ding auf dem Kopf. Und er erzählte Miles, dass er gerade einen neuen Song erfunden hatte, den er nach der Bardame benennen würde. Miles, dem das Heroin gerade löffelwarm durch die Adern floss, schlug vor, das Stück doch besser „Waltz for Russische Eier mit Lachsersatz“ zu nennen. Nach vier Portionen von diesem Eiergedöns

hätten die es verdient, fand er. Schließlich waren es die Russischen Eier, weswegen Bill zu pfeifen angefangen hätte, nicht die Tussi mit dem Vogelnest auf dem Kopf. Außerdem fand sein drogenvernebeltes Hirn den Titel ein bisschen europäischer. Und Europa war damals schwer angesagt, gerade bei drogenabhängigen Musikern. Europa war irgendwie cool, und Coolness war Miles generell wichtig. Ja, wenn schon drogenabhängig, dann doch bitte mit einer lässigen Attitüde! Er bot Bill Evans eine Wette an: Wenn Bill die Eier hätte, einen Song nach einem Eiergericht zu benennen, würde er die stinkige Eierbrühe da draußen „auf ex“ saufen. Womit er den Kochbrunnen meinte. Bill Evans schlug ein. Miles stieg also die Treppe hinauf und wankte raus Richtung Kranzplatz. Dort angekommen, legte er sich bäuchlings auf den Kochbrunnenspringbrunnen und setzte an. Dabei schaffte er es – als weltweit erster Trompeter überhaupt – die Stimmbänder an 70 Grad heißem Wiesbadener Thermalwasser so zu verbrühen, dass er nur noch ein heiseres Krächzen zustande brachte. Der anschließende Sturz in den Brunnen bereitete ihm ebenso wenig Schmerzen wie die schlimmen Brandblasen, da das Heroin („3 x täglich vor und nach dem Essen und bei Bedarf“) jede Schmerzfaser betäubte. Nach Wiesbaden kam er anschließend nie wieder. Und so begann der Niedergang des Jazzkellers. Die Avantgardisten in ihren bunten Hemden und dem nervigen Free-Jazz-Gedudel fingen immer öfter an zu maulen, sie wollten auch mal mitspielen. Die Gäste wurden älter, und irgendwann ging man lieber ins Café Blum auf der Rue. Da war die Luft besser und man wurde auch besser gesehen, was dem Wiesbadener schon immer eine Herzensangelegenheit war. Der Keller geriet langsam in Vergessenheit. Bill Evans nannte seinen Song schließlich doch „Waltz for Debby“, weshalb ihn Miles Davis kurze Zeit später aus der Band schmiss. Aber ihm haftete eben die Bardame mit der tollen Frisur besser in Erinnerung als die opulenten Hühnerfrüchte. Er gründete seine eigene Band, wurde einer der berühmtesten Jazzpianisten aller Zeiten und „Waltz for Debby“ einer seiner größten Hits. Miles Davis‘ Stimme erholte sich nie wieder. Er blieb Zeit seines Lebens heiser. Aber er fand das cool. Den Keller gibt es heute nicht mehr – aber es gibt die Geschichten. Und es wurde Geschichte geschrieben, im Keller am Geisberg. Nur eine Viertelstunde des Steigens von aller Herrlichkeit der Welt entfernt. Ein bisschen Wahrheit Den Keller gab es tatsächlich am Geisberg. Es war jene Zeit, als man noch Jatz sagte wenn man Jazz meinte. Und im Grunde unseres klammen Herzens sind alle Geschichten wahr, die sich um den Keller ranken.

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Beate von Lötzebach atmet schwer. Es geht wieder los, sie muss die Isolationskleidung anziehen. Beate hasst die Isolationskleidung. Lagen dicken, beschichteten Gummis, mit garantierter 100 % Abwehr von Strahlen, Isotopen und Keimen. Eine Fabrik in Herrenhut hat sie hergestellt. Beate fragt sich, was sie in Herrenhut von Isotopen verstehen. Rudolf ist natürlich schon bereit, mit einem Trommeln seiner Fingerknöchel, wenn sie trommeln könnten und nicht in Herrenhuter Gummi steckten, zeigt er seine totale Bereitschaft an, Beate stöhnt, es geht los. Bereitschaft. Am Arsch. An der Knatter vorbei. Es ist ein warmer Tag, das Gummi erzeugt eine gewisse Wässrigkeit im Schritt , die Gasmasken wären noch drollig, fast niedlich, ameisenbärengleich, und nun geht es den Mumpelhügel hoch in Richtung Freudenberg. Hohn und Spott. Beate denkt, jede Woche dasselbe. Jede Woche das Pilgern, das Wasser, die Maske und wofür. Wofür tun wir das, Rudolf? Rudolf hört sie nicht, er hat das Absingen einiger Psalmen begonnen. In der Kapelle, endlich in der Kapelle, dieser kleine, muffige, doch gleichsam mosebachisch erleuchtete Ort, mit denen, die jede Woche hier sitzen, in Gummi und mit Gasmaske. Die Meiers, die von Lavenseins, der Buzzinger und Frau Heta von Löwenried, von der es hieß, sie würde mit einem toten Hund zusammenleben, saßen in der Kapelle. Ein erkennendes Nicken, die Gasmaskenrüssel wippten. Schweigen. Punkt zwölf erreichte die Sonne genau das kleine, von außen nicht erkennbare Oberlicht der Kapelle, und auf dem Boden schien der Lichtstrahl, in dem Staubpartikel oder Isotonen tanzten, wie ein Laserstrahl. Frau von Löwenried warf sich auf den Boden, die Hände weit ausgebreitet, jeder im Raum erwartete die Außerirdischen auf seine Weise, manche weinend, andere singend, sich wiegend oder gleichgültig wie Beate. Seit zehn Jahren kamen die Außerirdischen jeden Tag um Punkt 12 in die Kapelle. Und die Aufgabe der kleinen Gruppe war es, die mit Respekt zu empfangen, um Böses von Wiesbaden und Umgebung abzuwenden. Es war gelungen bislang. Die Stadt florierte, den Bürgern ging es prächtig, und allein die Atmosphäre, die einer Narkotisierung nicht unähnlich war, ließ auf den Einfluss der Außerirdischen schließen. Vor der Kapelle verabschiedeten sich die Gruppenmitglieder mit einem leichten Nicken, und jeder ging zurück, in sein von Außerirdischen unangetastetes Leben. Zur Wallfahrt mit Huck Haas Da wir als Kinder weder Gräber schändeten, noch Gleichaltrigen die Jacken abnahmen und auch dem Alkohol nur in Form von Weinbrandbohnen verfallen waren (das aber richtig), wussten wir oft vor Langeweile nichts mit uns anzufangen. So schnürten wir uns gerne ein Päcklein mit Proviant (Tiefkühlpizza, Weinbrandbohnen, JA-Chips) und zogen hinüber ins Feld. Im Feld waren wir die Könige. Wir ließen uns dort fallen, zündeten es an, pinkelten hinein, und manchmal saßen wir einfach nur so da. „Schau“, entfuhr es uns dann meistens gleichzeitig, wie aus einem Kindermaul: „Die Wolke sieht aus wie die Frau Schiller vom Tengelmann.“ „Quatsch!“, widersprachen wir uns dann selbst, „das ist doch eindeutig Jürgen Grabowski“, meinten wir zu wissen, doch Eckes, der größte Querflötenspieler des ganzen Viertels, wofür er auch viel und reichthaltig verprügelt wurde, wusste es am besten: „Das ist nicht die Frau Schiller, das ist auch nicht Jürgen Grabowski, das ist die Oma von Jürgen Grabowski!“ Wir warfen uns weg vor Lachen. Eckes war der mit Abstand witzigste Junge der ganzen Hood. Ich erzähle diese Geschichte, die von schlechtem Kinderhumor zeugt, nur deshalb, weil wir in der Wirklichkeit damals keine andere Wahl hatten. Die Tür der Schönstatt-Kapelle, um mal auf das eigentliche Thema dieses Artikels zu sprechen zu kommen, erlebte ich nur ein einziges Mal offen stehend. Es war wie ein Wunder, und ich schlich sofort hinein, um zu schauen, ob dort nicht etwa Obladen herumlagen, denn ich hatte oft Hunger. Was ich aber sah, ließ mir die Adern im Gefrierschrank bluten. Vor mir stand ein leibhaftiger Geist. Er war ca. 1,82 m groß, hatte lichtes, weißes Haar, ein weißes Kleid an, und er rieb an einer Ikone. Meine Mutter meinte später, die Vermutung läge nahe, dass es sich bei dem Geist schlicht und ergreifend um einen Geistlichen gehandelt habe. Na also, hab ich doch gleich gesagt.



62 Autor Frédéric Valin — twitter.com/freval Wer? Frédéric Valin, Berlin. Bloggt regelmäßig über Fußball auf zumblondenengel.de und schreibt kaum was bei Twitter (freval). Im Verbrecherverlag erschien sein Kurzgeschichtenband „Randgruppenmitglied“, im Frühjahr 2013 folgt das zweite Buch. Frédéric Valin war noch nie in seinem Leben auf diesem Bolzplatz und kennt auch nur nebenstehendes Bild.

bolzplatz freudenberg strasse frÉdÉric valin

Jemand aus Wiesbaden sagte mir, er habe auf diesem Platz nie Fußball, immer Baseball gespielt, das glaube ich sofort. Erstens ist es sehr unerquicklich, auf Ascheplätzen das Bolzbein zu schwingen, weil man nach einer einzigen Grätsche tagelang genötigt ist, mit der Pinzette in den Niederungen der lateralen Oberschenkelmuskulatur herumzustochern, um wenigstens die gröbsten Gesteinsbrocken zu entfernen. Und zweitens wird in Wiesbaden ohnehin kein Fußball gespielt. Mit Ausnahme Jürgen Grabowskis hat kein Fußballer dieser Stadt ähnliche Virtuosität in der Ballbeherrschung erreichen können wie die Gabelstapler des Industrieparks Kalle-Albert, fast 300.000 Einwohner und keiner darunter, auf den man sich etwas einbilden könnte. Vielleicht sieht deswegen das Stadion des örtlichen Vorzeigevereins, des SV Wehen-Wiesbaden, aus wie ein zu klein geratenes Lagerhaus. „Brita-Arena“ heißt das Rund, nach dem Wasserfiltersystemhersteller, und genau so schmeckt auch das Bier dort. Auf meinem letzten Wiesbaden-Besuch, im Oktober 2011, habe ich das feststellen müssen. Damals ging es für den SVWW gegen Preußen Münster. Um die 3000 Zuschauer verloren sich – es war einer der letzten sonnig-warmen Tage – zwischen den leeren Sitzen, jemand hatte eine Trommel mitgebracht, es herrschte angenehm unaufgeregtes Flair. Vor mir saß ein junger Vater mit seinem Sohn, dem es zu anstrengend war, der Atmosphäre wegen immer nach Mainz oder Frankfurt zu fahren, neben mir ein alter Mann, offenbar Bierliebhaber, denn er hatte einen Flachmann dabei, an dem er andächtig nippte, anhand der von mir über die Dauer des Spiels beobachteten fortschreitenden Rötung der kleinen Äderchen auf seiner Nase traue ich mir die Schätzung zu: Der Inhalt war wohl so 60-prozentig. Es hätte ein geruhsamer Nachmittag werden können, mit nichts als 22 bolzenden Vollprolls auf dem Rasen, wenn da nicht Kai Völker gewesen wäre. Kai Völker, so sagte es mir später der Vater, war früher einmal Stadionsprecher bei Wehen-Wiesbaden und half aufgrund einer Erkrankung seines Nachfolgers an diesem Tag aus. Ich weiß nicht, ob man ihm gesagt hat, dass er an einem ruhigen Sonntag hier ein Drittligaspiel zu kommentieren hat, aber wenn, dann muss er es in der Sekunde selbst wieder vergessen haben. Mit der Begeisterung eines 15-Jährigen, der sich zum ersten Mal auf die Schaumparty der örtlichen Großraumdisse geschlichen hat, jubelte und frohlockte und proletete er seine Halbsätze zusammen, das alles in einer nervenzerreißenden “Guten Morgen”-Moderatorenstimme, voller aufgesetzter, frisch lackierter Fröhlichkeit, die Idioten für ansteckend halten, jedem normal empfindenden Menschen aber direkt das Gefühl geben, jemandem mit der Axt den Kopf spalten zu müssen oder sich mindestens flüssiges Plastik in die Gehörgänge zu schütten. Bei Völker klingt alles noch ein wenig grauenhafter als normalerweise, auch sein Liederprogramm, so standardmäßig wie von einem Marktforscher ausgekungelt. Anfangs dröhnt „Wovon sollen wir träumen” über die Lautsprecher, dann schreit Völker: „Von drei Punkten!“ Keine Reaktion. Völker brüllt: „Seid ihr da?”, aber Wiesbaden hat die nicht genug zu lobende Contenance, ihm nicht zu antworten. Völker ändert die Taktik, mit seifiger Stimme grüßt er „die geilste und lauteste Haupttribüne in Wiesbaden”. Der Lärm ist unbeschreiblich. Sagen wir so: Wenn mein Nachbar zu viele Bohnen gegessen hat, ist in meiner Wohnung mehr los. Völker gibt auf, er lässt die Musik jetzt durchlaufen. Natürlich, Seven Nation Army und You never walk alone. Dann die Einlaufmusik: Eminem. Viele der Zuschauer sehen inzwischen so aus, als hätten sie Erfahrungen mit Einläufen. Ich habe Wiesbaden bis dahin für eine Stadt gehalten, in der wenig geraucht wird, und war deswegen auch bis auf mir persönlich bekannte hier Heimische voreingenommen gegenüber seinen Bewohnern; ich muss aber sagen, dass ich demnächst eine Initiative für mehr Wiesbadener ins Leben zu rufen gedenke. Der alte Mann neben mir beispielsweise gibt sich nach und nach als Archiv althergebrachter Spielerbeschimpfungen zu erkennen („Was willsten du mit dem Ball? Aufpumpen oder was?”), und der kleine Junge, vielleicht sieben Jahre alt, kann es nicht fassen, dass Nico Roth Gelb sieht. „Aber der heißt doch ganz anders!” Recht hat er. Leider ist das Spiel öde, Preußen Münster wehrt sich kaum, zur Pause steht‘s drei null. Danach passiert überhaupt nichts mehr. Der alte Mann („Du läufst wie‘n Geldschrank!”) schreit kaum noch. Der Junge schläft irgendwann. Die Stimme Kai Völkers fährt Karussell; es müssen grundsätzlich glückliche und ausgeglichene Menschen hier leben, andernorts hätte man den längst erschossen. Ich gehe zehn Minuten vor Schluss, um noch ein bisschen Konferenz sehen zu können, ich hab meinen Bierbecher noch in der Hand, als ich vor dem Ausgang stehe, da ruft mir ein Ordner in formvollendeter Höflichkeit zu: „Das gehört zurück, bitte!” Niemals bin ich fürnehmer dazu aufgefordert worden, mein Pfand abzugeben. Ich tippe mit dem Finger gegen meine Hutkrempe; Wiesbaden, denke ich, du Buckingham Palace unter den deutschen Städten. Kein Wunder ist dein Ascheplatz unbespielt. Den hat man doch sicher nur deswegen da an den Stadtrand gebaut, damit die Bäume im Hintergrund besser zur Geltung kommen. Nirgendwo hat man besser verstanden, dass ein Fußballfeld nichts anderes ist als ein hässlicher Park; mithin der perfekte, weil eleganteste Übergang zwischen Stadt und Land. Das hat Stil, man sollte Kai Völker hier festbinden, dann wäre Wiesbaden noch schöner. Wie es wirklich war: Es waren die frühen achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als alles geschah. Wir, von der amerikanischen Soldatenschaft veramerikanisiert und fasziniert, schwangen die Keule lieber, als dem Fußball hinterherzulaufen. Noch lieber spielten wir Basketball, aber das war damals, mangels Platz und Korb, nahezu unmöglich, also Baseball, weil schon die Attitüde mehr hergab als die Frisurenträger der nicht nur im Rückblick geradezu stümperhaft anmutenden teutonischen Fußballspieler im Gary Linneker‘schen Sinne. Und weil wir nur einen Ball hatten, verbrachte ich von den wenigen Jahren meiner Jugend acht Jahre im Gebüsch. Dazu schreibe ich eines Tages ein eigenes Buch. (Huck Haas – Baseballhandschuhbesitzer)



DER Schlachthof von

piotr potegen

Autor Piotr Potegen — twitter.com/falscherbart Wer? Der Autor ist laut Facebook eine Frau, in der Wirklichkeit ein Bär und trotz oder gerade wegen der liebevollen Aufnahme in die Stijlroyal-Familie in die Popmusik abgedriftet. Als ich im Zug saß Richtung neuer Heimat im Süden, mein geliebtes Wiesbaden verlassend, schaute ich nochmal ein wenig wehmütig auf das alte Schlachthofgebäude, während das neue gerade erbaut wurde. Schließlich gab es da einige Erinnerungen an diesen Ort, die vielleicht mit dem alten Gebäude verschwinden würden. Wer weiß. Zu Zeiten, als wir Ravioli-Dosen (natürlich die von der Eigenmarke des Supermarktes, die Markenprodukte konnte man sich nicht leisten!) im Kochbrunnen aufgewärmt haben, war, neben der „Fastbreak“ im Kulturpalast „Bastard Rocks“ im Schlachthof absolut der Ort, an dem wir sein mussten. Also nicht ganz. Schließlich konnten wir uns nicht einmal die Markenravioli leisten, wie sollten wir uns dann den Eintritt leisten? Ein gelungener Abend war aber schon mit 7 Euro finanzierbar (eine Packung Zigaretten und ein Sechserpack Bier), und so verbrachten wir ihn im Grunde eigentlich nur vor dem Schlachthof, statt in ihn reinzugehen. Wenn wir aber mal drin waren, dann lief gute Musik, es wurde getrunken und damals noch drin geraucht. Liebe Eltern, ich war 16, ich durfte das. Zumindest behaupte ich das mal. Als jemand, der Anfang der 90er Jahre geboren wurde, habe ich gleichzeitig nicht verstanden, warum viele höhere Generationen sich nach den älteren Zeiten sehnten. Für mich war es eine Oase der guten Laune und der guten Freunde. Und dann wurde der Kulturpark gebaut. Für mich und meine Freunde hieß es deswegen, sich einen anderen Ort zu suchen, denn während der Bauarbeiten waren Sitzgelegenheiten eher knapp und das Ambiente auch nicht mehr wirklich schön. Also war ich fast gar nicht mehr am Schlachthof, habe auch die ganzen Partys verpasst (bis auf einen Silvesterabend vielleicht, an den ich mich aber auch nicht mehr ganz so erinnern kann). Den Kulturpark selbst habe ich dann zum ersten Mal so wirklich gesehen, als ich eines warmen Frühlingstages zum Flohmarkt in der alten Schlachthofhalle

ging. Endlich mal Bäume, eine Wiese, ein Beachvolleyball-Feld! Das alles gemischt mit einer ungewohnter Ruhe und Lässigkeit. Wie geil ist das denn? Kein Wunder, ich war auch Samstagmorgen da. Abends jedoch verwandelte sich der Schlachthof zu einem Zusammentreffen sämtlicher Sub-, Pop- und Hochkulturen, weswegen es zwar teils sehr chaotisch wurde, aber dafür nicht minder spannend. Man kam in Kontakt mit neuen Leuten, neuen Gedanken, neuen Ansichten – und neuen Sorten verschiedener Alkoholika, was man natürlich nicht verleugnen kann. Obwohl ich die Atmosphäre damals nicht als sonderlich bedrohlich empfand, sondern als freundlich, kam der Kulturpark leider aufgrund von ein paar Idioten in Negativschlagzeilen. Es kamen aber immer mehr Menschen abends vor den Schlachthof, und ich, als kleiner Musiker auf kleinen Bühnen, scheue große Menschenmassen und ging erneut nicht mehr so häufig dahin, nur noch auf Konzerte. Und die waren fast immer sensationell. Im Schlachthof selbst, oder genauer gesagt in der Räucherkammer, zu spielen ist übrigens eine verdammt tolle Sache. Es soll Leute geben, die sich über die Akustik beschweren, aber für mich war es eines der schönsten Erlebnisse für Live-Konzerte. Vielleicht war es nicht das Beste, was ich je gespielt habe, aber selten habe ich mich auf einer Bühne so wohl gefühlt. Genauso war es übrigens bei Folklore, das schönste Festival der Welt. Auch wenn das Klientel gefühlt immer jünger wird (Ich werde schließlich nicht älter!), werde ich es, glaube ich, noch in Jahren regelmäßig besuchen. Weil es einfach zu einem schönen Stück Heimat gehört. Besonders jetzt, als nicht mehr Wiesbadener. Vielleicht werden die alten Erinnerungen doch nicht ganz verschwinden (wahrscheinlich auch, weil ich einige davon hier gerade niedergeschrieben habe und hoffentlich ein Exemplar vom Buch bekomme). Mit der neuen Halle werden sicherlich noch ein paar neue Erinnerungen blühen. Spätestens nächstes Jahr bei Folklore.

Huck Haas schlachtet das Thema aus Ich habe mal eine Sendung im Fernsehen gesehen, da ging es um ein paar Typen, die für ein Wochenende in den Hunsrück gefahren sind, um dort zu lernen, wie man ein Schwein fachgerecht schlachtet, um daraus Wurst zu machen. Das sollte unbedingt jeder mal gemacht haben, der sich sein Toastbrot mit Gesichtswurst belegt. Der Schlachthof zu Wiesbaden als Kulturzentrum hat sich zum Beispiel um die Graffitikunst, einer der wichtigsten Kunstformen der letzten Jahrhundertwende, verdient gemacht, und die Typen vom Schlachthof haben Motörhead nach Wiesbaden geholt und dort auf die Bühne gestellt. Und mal abgesehen davon, dass bei Engländern der Humor in Sachen Deutsche Diktatoren und Vergangenheit anders funktioniert und anders funktionieren kann als hierzulande, ist der Kopf von Motörhead, Ian „Lemmy“ Kilmister, der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der aufrecht geht, wenn auch nicht körperlich. Vielleicht kämen noch Neil Young, Olympe de Gouges und Joan Harris diese Auszeichnung zuteil. Aber das sind ganz andere Geschichten.




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