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Georg von Wallwitz: »Die große Inflation« Nachruf auf Günther Rühle
Mehr als spannend
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Ein Buch mit unverhofft verschärfter Aktualität, noch geschrieben, als die aktuelle Wasserstandsmarke die zwei Prozent kaum zu überschreiten versprach, das ist »Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war«. Autor Georg von Wallwitz arbeitet im Brotberuf als Fondsmanager und ist Mitinhaber einer Vermögensverwaltung, hat bereits einige populärwissenschaftliche Bücher geschrieben, darunter eine »fröhliche Einführung« in die Geschichte der Finanzmärkte und eines über die Dogmengeschichte der Ökonomie. Sein Stil ist geschmeidig, er kann wirtschaftshistorische Zusammenhänge verständlich machen. Das finanzielle Gedächtnis eines Landes begreift er als Teil des kulturellen, das Geld als Ordnungsfunktion. Zerfällt und zersetzt es sich, wirkt das wie ein Krebsgeschwür in die Gesellschaft. Denn »Inflation bedeutet das Ende aller Planung und Hoffnung, sie reduziert den Zeithorizont auf dem täglichen Überlebenskampf … Der Verlust der Ersparnisse ist ein existentielles Erlebnis. Diese Erfahrung lässt sich nicht wieder abschütteln. Generationenlang.« Den Deutschen steckt das immer noch in den Knochen. Jede Familie hat ihr eigenes finanzielles Gedächtnis, kollektiv bleibt der enorme Vertrauensverlust in Staat und Banken. Wallwitz seziert die Mythen, Tatsachen und Falschheiten, die hier seit nun hundert Jahren wirken, zieht Schlüsse für die Gegenwart. Das Buch ist kenntnisreich und anschaulich, eine mehr als spannende Lektüre. Und es hat – Gestaltung Antje Haack, Satz Beate Zimmermanns, Bindung Beltz/ Bad Langensalza – eine überaus angenehme Haptik, liegt schön in der Hand. Beim Verlag Berenberg weiß man, wie man Bücher macht.
Alf Mayer
Georg von Wallwitz: Die große inflation. als Deutschland wirklich pleite war. Berenberg verlag, Berlin 2021. 320 Seiten, Halbleinen, fadengeheftet, 25 €. Günther rühle: ein alter Mann wird älter. ein merkwürdiges Tagebuch. alexander verlag, Berlin 2021. Gebunden, 232 Seiten, 22,90 €.
Nachruf auf einen der Großen des Theaters
Günther Rühle mit 97 in Bad Soden gestorben
Aus dem Interview, das ich mit ihm zu seinem letzten Buch machen wollte, ist nun nichts mehr geworden. Jetzt muss es ein Nachruf sein. Günther Rühle, der seinen Alterswohnsitz in Bad Soden am Taunus hatte und, was das deutsche Geistesleben angeht, dort einer der prominentesten Bürger war, ist am 10. Dezember im Alter von 97 Jahren verstorben. Im September war noch im Alexander Verlag, Berlin, sein letztes Buch erschienen. Der Titel gibt den Inhalt prägnant wieder: »Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch«, herausgegeben von Gerhard Ahrens. Es ist ein schlankes Buch, gut lesbar. Schonungslos. Tröstlich. Ein wichtiges Werk über das hohe Alter, das nur Manchen zu erreichen vergönnt ist. (Mein Vater ist 101.) Der Publizist Günther Rühle, Jahrgang 1924 und in Gießen geboren, leitete von 1974 bis 1985 das Feuilleton der »FAZ«, dann wagte er als Kritiker einen großen und unüblichen Schritt: Er wurde Theaterintendant des Schauspiels Frankfurt, dies in bewegten Zeiten. In seine Anfangszeit fiel der Skandal um Rainer Werner Fassbinders Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod«, dessen Aufführung 1985 von Demonstranten verhindert wurde. Auch der von ihm geförderte Regisseur Einar Schleef stand oft im Mittelpunkt der Kritik. Rühle ließ sich davon nicht beirren, er ging als Theaterdirektor nie auf Nummer sicher. Für seine Eröffnungspremiere etwa besetzte er kurzfristig den Hamlet mit einem Anfänger und entdeckte einen der besten Schauspieler seiner Generation: Martin Wuttke. 1990 ging Rühle nach Berlin, wo er Feuilletonchef des »Tagesspiegel« wurde. Er gilt als Wiederentdecker von Alfred Kerr, edierte dessen Briefe und Schriften, gab das Werk von Marieluise Fleißer heraus, wurde vielfach auszeichnet, etwa 2010 mit dem Binding-Kulturpreis. Sein zweibändiges Buch »Theater in Deutschland«, 2.800 Seiten stark, gilt als Standardwerk. Einen dritten Band, der die Jahre 1966 bis 1995 betrachten sollte, konnte er wegen fortschreitender Erblindung nicht mehr vollenden. Das Schreiben »mit überalterten Augen, denen die Wirklichkeit zerschwimmt« wurde ihm zunehmend unmöglich. Stattdessen verlegte er sich auf ein Tagebuch, wieder etwas völlig Neues für ihn, wie das Öffnen eines Tresors, einer Verschlusssache. Sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, das wäre ihm früher frivol erschienen. »Als ich diese Tagebuchnotizen begann, wollte ich wissen, wer ich bin. Ich treffe immer öfter auf einen Unbekannten, der doch Ich war.« Er schreibt »ins Blinde«. Lesen kann er seine Zeilen nicht mehr. In seinen siebzig Arbeitsjahren hat er zigtausend Sätze von mindestens 900 Kilometer Länge hingetippt, rechnet er aus. Jetzt trifft er die Tasten nicht mehr, »jeder Buchstabe hat mindestens zwei, meist vier Nachbarn. Ich werde ein Hersteller von Wortsalat«. Seit er nicht mehr lesen kann, haben die Tage mindestens 47 Stunden, schreibt er. »Man wird zum Selbstunterhalter und damit eine Art Alterskünstler.« Älter werden als alt, das hat für ihn viele Facetten. Er erforscht sie, kämpft mit Mikrowelle, Spülmaschine, dem Computer, dem eingeschränkten Bewegungsradius. Im Januar 2021 zählt er die Anzüge, die er noch hat. Jahrelang war er ein Anzugsmensch, ein Dutzend hat er noch, alle lange schon nicht mehr getragen. Eigentlich, findet er, reicht so eine Zahl für drei Leben. Im Schwarzen, den er zuletzt getragen hat, für Oper und Beerdigungen, findet er noch Tickets: am 29.11.2015 »Der fliegende Holländer«, am 8.10.2017 »Peter Grimes« von Britten. »Belegte Daten, vergessene Aufführungen«, notiert er. »Es ist alles vorbei.« Oft denkt er an seinen Abgang aus dieser Welt: »Man stirbt in seinen Gedanken länger als in seinem Körper. Der Tag beginnt mit dem täglichen Wunder, dass man überhaupt lebt.« In seinen Gedanken und Notizen durchwandert er sein Leben. Fürs Protokoll bezeugt er seinem Tagebuch »hier schon mal seinen Lebensdank«. Es wird der letzte Eintrag.
Alf Mayer