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Mein Kadaver ist deine Augenweide

The Critics Company – »one can only hope and wonder« im Zollamt

Das, was das junge nigerianische Kulturkollektiv The Critics Company in seiner ersten und eigens für das Zollamt geschaffenen Ausstellung zeigt, ist ein aufrüttelnder Beitrag zur kolonialen Geschichtsschreibung, zur Bewertung der postkolonialen Aufarbeitung und – noch aktueller – zur Standortbestimmung der eigenen Kunst. Genau an dieser Schnittstelle türmen sich Ungenauigkeiten auf, die das Kollektiv benennen will: denn Restitution – das ist nicht die ganze Wahrheit. Es muss auch die Frage aufgeworfen werden, inwieweit aktuelle afrikanische Regierungen, deren Staatsgrenzen zum überwiegenden Teil auf dem Reißbrett entworfen worden sind, westliche Kulturnormen weiter transportieren, indem sie – ein Beispiel, aber wohl das wichtigste – die afrikanischen Sprachen dem Englischen unterordnen. Wer die Macht hat, bestimmt und verfügt über Kultur? Der Name: The Critics Company – ist Programm. Sie fragt: Aus welcher Vergangenheit beziehen wir unsere Identität? Was aus unserer Vergangenheit verspricht, unsere Zukunft zu sein, wenn wir nicht einmal mehr unsere eigene Stammessprache sprechen und sie unseren Kindern nicht weitergeben können? Sollte man nicht neu beginnen? »Denn unser wirkliches Kulturerbe ist quasi nicht existent.« Diese Perspektive lässt aufhorchen.

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Ausgangspunkt ist die menschenverachtende, brutale, verbrecherische, versklavende Kolonialisierung. Als im Februar 1897 britische Kolonialtruppen das 500 Jahre alte Königreich Benin im heutigen Nigeria zerstörten, wurden etwa 4000 Kunstwerke geraubt, 40 Prozent davon gelangten in den Besitz des

British Museum, und ein Großteil ersteigerten Museen in Deutschland. Nach Nigerias Unabhängigkeit 1960 wurden immer wieder Restitutionsforderungen gestellt, doch bis ins vergangene Jahr verweigerten die Museen die Rückgabe. Die Forderungen schließen aber viel mehr ein als nur den materiellen Wert der Kunstwerke; es geht auch um Geschichte, die in ihnen festgeschrieben ist, um den Schatz an Mythen, die sie symbolisieren. Eine Geschichte ohne Referenzpunkte wieder herzustellen, daran kann man verrückt werden, sagt das Künstlerkollektiv. Denn wie soll das gehen, wenn nicht einmal mehr Trümmer davon vorhanden sind?

Von der Debatte um die BeninBronzen hatten die Mitglieder noch nicht gehört, als sie diese Ausstellung konzipierten. Ihr Ideen- Raum materialisiert sich aber auch auf anderen künstlerischen Feldern: Video-Thriller, Science-Fiction- Filme, YouTube- Clips, Musik. Damit wurden sie international bekannt, der Ruhm ist noch ganz frisch. Godwin Gaza Josiah, Victor Josiah, Raymond Yusuff, Richard Yusuff und Ronald Yusuff – Brüder und Cousins – aus Kaduna im Süden Nigerias sind eigentlich selbst nur halb verwurzelt, ihre Familien stammen aus dem Norden, wo Yoruba gesprochen wird und nicht Hausa wie im Süden. Im Zollamt beginnen sie ihre Ausstellung mit Leerstellen. Koloniale Unterwerfung, Raub und Schändung nationaler Heiligtümer – entsprechende Texte sind auf Stelen nachzulesen, die in einem großen Halbrund im ersten, rot ausgeschlagenen Raum im Zollamt angeordnet sind. Die Texte verdichten sich zu Merksätzen, auch zu Rätseln, zu Denk-Impulsen an den Lesenden.

»Wieso ist mein Kadaver für Dich zur Augenweide geworden« ist so ein Satz. Über den Stelen sind Videos mit Tanzperformances zu sehen. Auf dürrer Steppen-Erde sucht ein Tänzer den Weg, strauchelt, strauchelt an sich selbst, versucht wegzugehen, dazubleiben – eine wortlose und doch so wortreiche Symbolsprache für den Verlust dieser Kunstgüter, für den Verlust von etwas so Selbstverständlichem wie Heimat.

Diesem Präludium folgt der Film »One can only hope and wonder«. Man wird von einem intensiven Blick empfangen: Odili, der die Kunst symbolisiert, blickt zurück auf den Betrachter, verletzt, stolz, zweifelnd, sein zerschundener Körper ist schon zum Gehen gewandt. In den nächsten 15 Minuten wird ein performatives Stationendrama in expressiver Form aufgeblättert: Verschleppung, Wind, Eis, Regen, Sturm, Tod, Ritual, Geister, Liebe, Aufnahme in die Gemeinschaft, ein schwarzer Jesus. Am Schluss lächelt uns ein Mädchen an, die blühende Hoffnung. Eine pathetisch-esoterische Musikwolke hüllt die Erzählung ein. Emose, Odilis Erschafferin, spricht dazu einen eindrücklichen Text auf Yoruba: »Wenn wir nicht weiter gehen, wenn wir uns nicht bewegen, bleiben wir in den Gräbern«.

Es ist ein Spiel mit Blicken, welches The Critics Company hier so eindrücklich inszeniert hat, dass es nachhallt: schaut hin, schaut und hört einfach genau hin.

Susanne Asal

Bis 30.7.: Di., Do.–So., 11–18 Uhr; Mi., 11–19 Uhr www.mmk.art

Ansichtssachen

>> Notizen gesucht. Was treibt den Menschen an, seine Gedanken und Gefühle in einem Buch festzuhalten? Fragt das Klingspor Museum in Offenbach. Für eine im Juli zur Eröffnung stehende Ausstellung über die Motive, ein zunächst leeres Buch mit Notizen und Erinnerungen zu füllen, sucht das Museum Notizbücher, Tagebücher und Journale von analog schreibenden Autoren in Bild und real. www.klingspormuseum.de

>> Kiebitz-Blick ins Innere: Das Historische Museum schließt zur Vorbereitung der neuen Ausstellung »Inflation 1923« die Ebene »Frankfurt Jetzt!« bis zum 12. Mai. Über den jeweiligen Stand der Aufräumarbeiten wird das Stadtmuseum über seine Social Media-Kanäle informieren. www.historisches-museum-frankfurt.de

>> Maler-Blick ins Innere: »Besuch in der Anstalt« – Christian Schad malt 1918 im Genfer »Asile de Bel Air« lautet der Vortrag des Leiters der Heidelberger Sammlung Prinzhorn, Thomas Röske, über die Charakterstudien, die der in Aschaffenburg mit einem Museum gewürdigte Künstler auf Einladung des Anstaltsleiters fertigte. Die Lesung findet am 2. Mai um 17.30 Uhr im Stadttheater Aschaffenburg im Kontext des dort gezeigten Musicals »Fast Normal –next to normal« statt. www.museen-aschaffenburg.de

>> Beitrag zum Jubiläum: Anlässlich des 175. Jahrestags der Nationalversammlung in der Paulskirche legt das Städelmuseum zum 1. Mai digital die sechsteilige Filmreihe »Meinungsbilder« auf, die jeweils aus subjektivem Blickwinkel historische Zusammenhänge von ausgewählten Kunstwerken der Städel-Sammlung, mit aktuellen politischen Diskursen zu verknüpfen sucht. www.staedelmuseum.de

Die Sucht, nach der man sich sehnt

»Italien vor Augen« – Frühe Reisefotografien im Städel

Eine Sehnsucht ist eine Sucht, nach der man sich sehnt? Im Falle von »Italien vor Augen«, kann man diese Diagnose vermutlich hundertprozentig stellen. So überlaufen, so verunstaltet, so zum Billigreiseziel herabgewürdigt kann Italien gar nicht sein oder werden, als dass da nicht doch der reine schöne Kern des Landes wie eine Verheißung schillern würde, ein Sehnsuchtsort für alle –und aus jedem erdenklichen Grund. Für den Ausbruch dieser Sucht in deutschen Landen zeichnete Johann Wolfgang von Goethe verantwortlich, mit seiner Italienischen Reise und seinem Porträt in der römischen Campagnia, für den britischen Adel gaben die vollendet gestalteten Villen von Palladio im Veneto den Ausschlag. Und kaum waren demokratische Zugverbindungen über die Alpen etabliert, so möchte man folgern, reisten auch schon die ersten Gäste an. Diese völlig nachvollziehbare und gerechtfertigte Sehnsucht hat bis heute Bestand. Hinter dem Plakatmotiv des Städel – etwas zwischen Catarina Valente und Pizzakarton, wie es Direktor Philipp Demandt ziemlich salopp formuliert – verbergen sich 90 Reise-Fotografien von italienischen Landschaften und Kulturdenkmälern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die den ersten touristischen Erkundungsbewegungen einer breiteren bildungsbürgerlichen Mittelschicht ein verführendes Futter gaben. Wie nun war die frühe Reisefotografie mit ihren Abbildungen von Kunstschätzen und Stadtansichten daran beteiligt, diese Sehnsüchte zu schüren? Welches Bild des Landes reproduzierten die Fotoaufnahmen? Wie stellten sie die Italiener*innen dar, fremd, nah,

Neue Ausstellungen im Mai

03.05.–10.09.2023

Historisches Museum Frankfurt

INFlATION 1923:

Krieg, Geld, Trauma historisches-museum-frankfurt.de

05.05.2023–31.03.2024

Stoltze-Museum

DEM VOlKE SEI DER SIEG GEBRACHT – Friedrich Stoltze und die Nationalversammlung in der Paulskirche 1848/49 https://www.frankfurter-sparkasse. de/de/home/ihre-sparkasse/termine-und-events/Stoltze.html

11.05.2023–14.01.2024

Struwwelpeter Museum

STRUWWElPETER AlS RADIKAlER. Politische Karikaturen der Paulskirchen-Zeit www.struwwelpeter-museum.de

12.05.–05.11.2023

Städel Museum

PHI lIPP FÜRHOFER. Phantominseln www.staedelmuseum.de

12.05.–30.07.2023

Deutsches Romantik-Museum

ROMANTIK UND

PARlAMENTARISMUS deutsches-romantik-museum.de fern, exotisch? Auch wenn man das Glück hatte, Gemälde Venedigs von Tintoretto und Canaletto zu kennen, Bilder von William Turner oder Gaspar van Wittel, Gemälde von wildromantischen Schluchten des Südens oder Ansichten des Vesuv – so vermittelte eine Fotografie doch scheinbar eine objektive Ansicht, die man selbst beurteilen konnte, und rückte das Ferne ganz nah heran.

Den Bestand an italienischer Reisefotografie verdankt das Städel seinem damaligen Leiter Johann David Passavant, der bereits in den 1850er Jahren Fotografien für die hauseigene Sammlung erwarb, zum einen, diese einem interessierten Publikum zu präsentieren, sie aber auch den Schülern der Kunstakademie zu Studienzwecken zur Verfügung zu stellen, denn mit diesem neuen Medium der Kunstre-

13.05.2023–14.04.2024

Historisches Museum Frankfurt

DEMOKRATIE: Vom Versprechen der Gleichheit historisches-museum-frankfurt.de

13.05.–02.07.2023

DAM Ostend

PROVISORIUM | STOPGAP.

Europäischer Architekturfotografie-Preis architekturbild 2023 www.dam-online.de

14.05.–04.06.2023

Weltkulturen Museum

SHIPIBO POT STORIES. Muster des Universums www.weltkulturenmuseum.de produktion erhielt auch die Kunstgeschichte eine neue Basis. Und es verwundert kein bisschen, dass die Reisegesellschaften damals wie heute genau diese Ansichten auch zu sehen wünschten, die sie dann von den Reiseaufnahmen kannten: den schiefen Turm von Pisa, den Markusdom, den Palazzo Pitti und den Palazzo Vecchio in Florenz, Pompeji und Rom.

Und auch wenn damals die Fotografie als Reproduktionsform und nicht eigentlich als Kunst betrachtet wurde, sprechen die Bildkompositionen mit ihren kostbar schillernden schwarz-weiß-Abstufungen doch eine andere Sprache, denn wie jemand wann etwas ins Bild setzt, folgt seiner eigenen (Licht)-Dramaturgie. Die Fotografen damals waren auch oftmals selbst Maler und suchten den einzigartigen Blick, den besonderen Bildausschnitt. Sehr eindrucksvoll zu sehen an den Rom-Fotografien Gioacchino Altobelli, auch an der römischen MosesSkulptur von Adolphe Braun. Etwas ganz Besonderes schuf der Frankfurter Fotograf Georg Sommer, der in halbstündlichen Intervallen einen Ausbruch des Vesuvs aufnahm. Neapel war ihm sein liebstes Sujet. Er nannte sich, wen wundert’s, im Künstlerleben sehr bald: Giorgio.

Susanne Asal

Bis zum 3.9.: Di., Mi., Fr., Sa., So., 10–18 Uhr; Do., 10–21 Uhr www.staedelmuseum.de

16.05.2023–07.01.2024

Jüdisches Museum

METAll & GESEllSCHAFT www.juedischesmuseum.de

18.5.–01.10.2023

Archäologisches Museum

ZWISCHEN RÖMERN UND GERMANEN. www.archaeologisches-museumfrankfurt.de

20.05.–17.09.2023

Fotografie Forum Frankfurt ABE FRAJNDlICH. Chameleon www.fffrankfurt.org

24.05.–17.09.2023

Städel Museum

HERAUSRAGEND! Das Relief von Rodin bis Picasso www.staedelmuseum.de

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