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»EO« von Jerzy Skolimowski
Fotos © Aneta Gebska/Filip Gebski
Auf Bressons Spuren
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»EO« von Jerzy Skolimowski
Der Esel ist der große Stoiker unter den Säugetieren. Mit ruhigem Blick schaut er auf seine Umwelt, und hin und wieder gibt er ein »IA« von sich, das wie ein Klagelaut klingt und im Polnischen »EO« geschrieben wird. So hat der polnische Altmeister Jerzy Skolimowski auch seinen Film genannt, in dem er vom Weg eines Esels durch Polen und Italien erzählt.
Skolimowski, der am Drehbuch zu Polanskis Spielfilmerstling »Das Messer im Wasser« mitgearbeitet und für »Der Start« den Goldenen Bären auf der Berlinale 1967 erhalten hat, erklärt, er habe sich von seinem Lieblingsfilm »Zum Beispiel Balthasar« aus dem Jahr 1966 inspirieren lassen, dem einzigen Film der ihn zu Tränen gerührt habe. Robert Bresson habe ihn gelehrt, dass es möglich sei, nicht nur ein Tier zu einer Filmfigur, sondern auch zu einer Quelle von Emotionen zu machen. Der Vergleich zwischen beiden Filmen zeigt, wie sich Europa in den letzten 50 Jahren verändert hat. War es in den 60er Jahren noch möglich, einen tief religiösen Film in die Kinos zu bringen, der die Zuschauer bewegt hat, so taucht in einer Episode von »EO« ein zweifelhafter Priester (Lorenzo Zurzolo) aus aristokratischer Familie auf. Er rettet zwar den Esel aus einem verunglückten, illegalen Viehtransport, kann sich aber nicht länger um ihn kümmern, weil er Spielschulden hat. Seine Mutter (Isabelle Huppert), die in einem herrschaftlichen Anwesen residiert, verweigert ihm jede weitere finanzielle Unterstützung. Auch EO hat am Anfang eine Beschützerin und Trösterin, wenn er misshandelt wird. Was bei Bresson Marie war, verkörpert von Anne Wiazemsky, der späteren Ehefrau von Jean-Luc Godard, ist jetzt Kasandra (Sandra Drzymalska). Sie tritt mit EO im Wanderzirkus auf und geht einmal dazwischen, als ihr Schützling Schläge erwartet. In den Szenen mit Kasandra und EO kommen die Bilder von Kameramann Michal Dymak dem großen Vorbild am nächsten. Skolimowsky hat sich aber von der strengen Form des französischen Regisseurs gelöst. Er hat realistische und surrealen Sequenzen nebeneinander gestellt. Das Rot in der Zirkus-Manege und im Tiertransport scheint nicht von dieser Welt. Sehr real sind wiederum andere Stationen in diesem tierischen Roadmovie, etwa wenn Tierschützer den Abtransport der Zirkustiere durchsetzen und EO sein ziemlich sicheres Zuhause verlassen muss, auch wenn er in einem Streichelzoo für therapiebedürftige Kinder landet oder wenn er Zeuge wird, wie mit kirchlichem Segen eine riesiger Stall eingeweiht wird, der vermutlich der Massentierhaltung dienen soll. Was EO fühlt, bleibt sein Geheimnis. Da hilft es nichts, wenn die Kamera in seinen Augen immer wieder sein Befinden zu ergründen versucht. EO bietet vielmehr eine Projektionsfläche für unsere Gefühle an. Und andererseits fördert er den Charakter der Menschen zutage, denen er begegnet. Eben weil er so passiv, so unbeteiligt wirkt. Skolimowski zeichnet ein düsteres Bild Polens und Italiens, wofür er in diesem Jahr den Jurypreis in Cannes bekam. Und EO landet am Ende wie das junge Rind in Pietro Marcellos »Bella e perduta – Eine Reise durch Italien« – im Schlachthof.
Claus Wecker
eO von Jerzy Skolimowski, PL/I 2022, 86 Min. mit Sandra Drzymalska, Lorenzo Zurzolo, Mateusz Kosciukiewicz, Isabelle Huppert Drama / Start: 22.12.2022