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Johannes Groschupf »Die Stunde der Hyänen«

Kolumne: Alf Mayers Blutige ernte Diesem Autor kann man sich anvertrauen

Johannes Groschupf und sein Berlin-Roman »Die Stunde der Hyänen«

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Wie brav die Kriminalliteratur anno 2022 geworden ist – und wir mit ihr? –, lässt sich am Schock ermessen, den eine Abweichung vom Gewohnten und Erwarteten auslöst. Wenn die Erzählung aus der Spur springt. Wenn Figuren plötzlich etwas ganz anderes tun, als sie sollen. Wenn das moralische Gleichgewicht kippt. Wenn die Lektüre zur Achterbahnfahrt wird. In »Die Stunde der Hyänen«, dem drittem Thriller von Johannes Groschupf, geschieht dies. Mehrere Male. Seine Figuren und er als Erzähler machen einfach nicht, was die Konvention erwartet. Und plötzlich hält man ein ganz anderes Buch in der Hand .

Ja klar, den Anfang kennen wir: Berlin. Stadtroman. Kreuzberg. Kiez. Autos brennen. Bürgerwehr. Ängste. Spaziergänge besorgter Bürger. Wann brennt der erste Kindergarten?

Johannes Groschupf jedoch macht daraus etwas, was den Vergleich mit den Klassikern innovativer Kriminalliteratur nicht scheuen braucht: den dokumentarischen Zugriff von George V. Higgins, den existentialistischen Daseinswitz von Charles Willeford, die moralischen Abgründe von Jim Thompsons Figuren und die Dialogkunst von ElmoreLeonard, dazu den Drive und die ›in your face‹-Erzählung des ehemaligen Zeitungsreporters Samuel Fuller. »Slam-Bang, I’m Your Man.«

Das alles freilich wäre nichts ohne das, was nach George V. Higgins (1939 – 1999) den Künstler vom Dilettanten unterscheidet: Milieu- und Ortskenntnis. »Data is what distinguishes the dilettante from the artist«, dekretierte der Anwalt und Unterweltskenner Higgins, der alleine mit dem ersten Satz von »Die Freunde von Eddie Coyle« (1971) eine neue, realitätstüchtige Erzählrichtung in der Kriminalliteratur begründete: »Jackie Brown war sechsundzwanzig und verzog keine Miene, als er sagte, er könne ein paar Waffen besorgen.« Johannes Groschupf hat schon in »Berlin Prepper« und »Berlin Heat« gezeigt, dass Berlin seine Stadt ist. Verweise auf Ulf Miehe sind hier obligat, ich würde auch noch Pieke Biermann nennen. Der Buchkenner Gerhard Beckmann sieht sich bei Groschupf gar an Alfred Döblins Berlin »Alexanderplatz« erinnert. Groschupf kennt sein Berlin, das von heute. Ungeschminkt. Jeder könnte ihn hier besserwisserisch korrigieren, aber Satz für Satz, Blick für Blick und in jedem von ihm aufgesuchten Milieu trifft er es richtig. Diesem Autor kann man sich anvertrauen.

Zuerst begegnen wir mit ihm dem Polen Radek, hier der erste Absatz des Buches: »Radek Malarczyk drehte die Flasche Rachmaninoff auf und nahm einen Schluck. Er saß in seinem alten VW Bulli in einer Parkbucht am Rande Kreuzbergs, nicht weit vom Landwehrkanal. Am anderen Ufer lag Treptow. Er war erschöpft von seinen Wanderungen. Seit drei Wochen stand er hier mit seinem Wagen, tagsüber war er draußen unterwegs, nachts schlief er in seinen Schlafsack eingerollt auf der Rückbank. Das störte niemanden. Auch andere hatten ihre Camper Vans in der Parkbucht abgestellt, doch jetzt im Februar war Radek der Einzige, der hier lebte.«

In einer Plastiktüte hat er sein Frühstück und Abendessen. Brot, Wurst und Käse, Apfel und Banane, außerdem seinen Chesterfield-Tabak, Filter und Blättchen, dazu zwei Flaschen Rachmaninoff. Der brennt in seiner Kehle, das tut ihm gut. Und brennen muss es, damit die Erinnerungen aufhören. Jeden Tag ist Radek wieder an der Oberbaumbrücke, beim weißen Rad. Jeden Tag erinnert er sich an den Unfall, mit zitternden Händen. »Er hatte die Radfahrerin zu spät gesehen, als er abbiegen wollte. Ein halbes Jahr war das jetzt her, doch es hörte nicht auf. Immer wieder trat Radek auf die Bremse.« Er war Fernfahrer gewesen, quer durch Europa (auch dieses Milieu trifft Johannes Groschupf genau). Jeden Tag kniet Radek vor dem weißen Rad und spricht mit schwerer Zunge zu Gott. »Hör mir zu. Ich habe die Frau nicht gesehen, hörst du, ich habe sie nicht gesehen. Vergib mir. Lass mich hier nicht allein. Zrobie ̨ wszystko, co chcesz. Ich mache alles, was du willst.« Aber Gott gibt ihm keine Antwort. Gott schweigt auch beim 20-jährigen Briefzusteller Maurice Jaenisch, der in Britta verliebt ist, die Serviertochter im Gemeindehaus der Jünger Jahwehs. 530 Euro, seine ganzen Ersparnisse, hat er für den Verlobungsring ausgegeben. Aber so einfach wird das nicht. Seinem Glück steht der ganze Gemeindevorstand entgegen. »Es gibt etwas, das du nie erfahren darfst«, sagt Britta. Und er, er kann niemand sagen, dass er jener Brandstifter ist, der ganz Kreuzberg in Aufruhr bringt. Wir Leser wissen davon schon seit Seite 59. Die Journalistin Jette Geppert schweigt über etwas anderes, nämlich die Gewalt in ihrer Beziehung. Lieber ist sie eine der Frauen, die halt gegen den Türrahmen gelaufen sind. Die strafversetzte Polizistin Romina Winter hingegen würde gerne reden, aber die acht Kollegen vom Branddezernat schneiden sie, zeigen ihr deutlich, dass sie nicht willkommen ist. Diese fünf Schicksale und Personen führt Johannes Groschupf in schnellem Tanz zusammen. Radeks Bulli wird in Brand gesetzt, Jette macht den Überlebenden zu einer Zeitungsgeschichte. Der sieht sich von Gott gerettet, schwört dem Alkohol ab, wird zum »polnischen Messias«, der weißgekleidet und mit Mission durch die Berliner Kneipen zieht. (Ich muss immer noch grinsen, wenn er im »Elefanten« am Heinrichplatz ausruft: »Sperrstunde von jetzt sofort. Ist Befehl von ganz oben.«) Romina vom Branddezernat zieht bei Jette ein, um nachts besser im Kiez ermitteln zu können. Eine Polizistin in einem Hausprojekt in Kreuzberg? Auch, da sprühen schöne Funken. Radek hat seinen Brandstifter erkannt. Jette ist eine Super-Recognizerin, vergisst nie ein Gesicht, auch wenn sie Pixelmatsch auf Überwachungsbändern sichtet. Rominas Polizeimethoden sind unorthodox. Ein Panzerband und die Jagdmethoden der Hyänen kommen zum Einsatz. Und dann gibt es immer noch den Gemeindevorstand bei den Jüngern Jahwehs, gibt es den Satan in der Stadt. Dazu einen Brandstifter, dem man ein Happy End wünscht ... Not your normal Kriminalroman. Sie sind gewarnt. Und eingeladen. Zum Beispiel zum vielleicht schönsten Billardturnier jenseits von Walter Tevis und seinem von Martin Scorsese verfilmten Roman »Die Farbe des Geldes«. Jette spielt es gegen ihren Wohngenossen Laszlo – ja, der mit dem Türrahmen. Die zehn Spiele gehen darum, ob die Polizistin bei ihnen einziehen kann.

»Das Lokal war leer bis auf drei Männer am Tresen. In der Mitte des Schankraums stand ein abgehalfterter Billardtisch. Er hatte leichte Schlagseite nach links, das Tuch war an drei Stellen eingerissen. Ein alter Gaul, der hier sein Gnadenbrot verzehrte. Kaum jemand spielte noch auf ihm, doch Jette liebte den Tisch. Sie strich über das grüne Tuch, fuhr mit dem Daumen an der Bande entlang, holte einen Zigarettenstummel aus einer Ecktasche. Der Wirt kannte sie noch aus dem Billardsalon ihres Vaters. ›Braucht ihr Queues?‹, fragte er und schaltete die Lampe über dem Tisch ein. ›Spielt mal eine Runde, da freut er sich.‹«

Und dann gibt es ein Spiel für Profis. Billard kann Johannes Groschupf nämlich auch. Diesem Autor, ich wiederhole es, kann man sich anvertrauen.

© Mike Auerbach/Suhrkamp Verlag

Johannes groschupf: Die Stunde der Hyänen. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 265 Seiten, 16 euro.

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