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Jean Malaquais: »Planet ohne Visum«

Nach 75 Jahren endlich auf Deutsch

Der große Exilroman von Jean Mallaquaiw

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»Das Melodram ist überfrachtet mit suggestiven Bildern: Expresszüge, Antriebsräder in Großaufnahme, zischende Dampffontänen, Pullmanwagen, Spione reisen ja nur im Pullman, heiße Nächte, Halbmonde, Minarette … Die Handlung schnurrt dahin, wie vorgesehen und vorberechnet, es fehlt nur noch der letzte Akt, die Szene mit dem Champagner, Spione trinken ja nur Champagner, die Heldin hat bereits das Geheimfach in ihrem Siegelring aufschnappen lassen, sie hat bereits das Gift in den Kelch des Verräters gestreut … aber im letzten Moment gibt es ein Erdbeben in Anatolien, der Champagner wird auf dem Teppich verschüttet, und die Spionin, die sich nie, nie, nie vor irgendetwas fürchtet, sinkt ohnmächtig in die Arme des Verräters, der daraufhin erkennt, dass er die Heldin immer, immer, immer geliebt hat; und als sie aus der Ohnmacht erwacht, da sagt er …« Im Schnelldurchlauf persifliert hier Jean Malaquais, des Broterwerbs wegen selbst gelegentlicher Drehbuchautor und ausgerechnet zu Hochzeiten des HUAC (Komitee für unamerikanische Umtriebe) zusammen mit dem jungen Norman Mailer an den Pforten Hollywoods rüttelnd, einen Film Noir wie etwa Jacques Tourneurs »Berlin Express«. Überhaupt lässt in diesem Roman zum Beispiel auch »Casablanca« an mancher Straßenecke grüßen, nur ein Lidschlag liegt zwischen screwball comedy, Kolportage, Thesenroman, Reportage, Bewusstseinsstrom, Chronik, Essay, Rhapsodie und großer Literatur, so oft wechseln die Tonlagen. Was für ein wildes, modernes Buch. 75 Jahre alt. Der 1908 in Warschau geborene Autor, keiner körperlichen Arbeit fremd, selbst ein Flüchtling und Staatenloser, ein unbehauster »Internationaler« und einer jener »Menschen, die niemand sieht, Menschen ohne Pass und Heimat«, verdichtet im Marseille des Jahres 1942 mehr als zwei Dutzend Flüchtlingsschicksale, porträtiert Verzweifelte und Stoische, Aktivisten der Résistance, Vertreter internationaler Hilfsorganisationen, Devisenschieber, Spitzel und Mitläufer und Militärs. Zum Teil sind sie an historische Figuren wie Victor Serge, Walter Benjamin oder Varian Fry angelehnt, das Nachwort der Übersetzerin geht auf manche dieser Verästelungen ein. Nur zwei Tore, so David Rousset (»Das KZ-Universum«), gab es damals aus Europa hinaus: Marseille oder Auschwitz. »Planet ohne Visum« (Planète sans visa) ist ein Meisterwerk der französischen Exilliteratur, das wunderlicher Weise jetzt erst erstmals auf Deutsch vorliegt und dessen großartig flüssige Übersetzung wir Nadine Püschel zu verdanken haben. Mit diesem Juwel kann sich die kleine, feine Hamburger Edition Nautilus auf Jahre schmücken – echtes Verleger*innen-Herzblut.

Alf Mayer

Jean Malaquais: Planet ohne Visum (Planète sans visa, 1947, vom Autor überarbeitet 1999). Aus dem Französischen von Nadine Püschel. edition Nautilus, Hamburg 2022, 664 Seiten, Hardcover, 32 euro.

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Das Literaturhaus Frankfurt im Dezember

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Junges Literaturhaus Frankfurt / Ab 4 Jahren Sonntag 04.12.22 / 15.00 h Saalticket 5 Euro Hans-Christian Schmidt und Andreas Német: Es begab sich aber …

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