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»An einem schönen Morgen« von Mia Hansen-Løve
Zwei gegensätzliche gefühle
»An einem schönen Morgen« von Mia Hansen-Løve
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Seit »Alles was kommt« im Wettbewerb der Berlinale 2016 lief und Mia Hansen-Løve den Silbernen Bären für die beste Regie erhielt, hat sich die Französin mit dem skandinavischen Namen auch hierzulande einen höheren Bekanntheitsgrad erworben. Das ArthousePublikum schätzt sie für einfühlsam erzählte Geschichten mit autobiographischen Bezügen. Sie weiß, wovon sie erzählt, und das ist schließlich eine gute Voraussetzung für gelungene Filme.
Ihr aktuelles Werk »An einem schönen Morgen« lief unter dem Originaltitel »Un beau matin« im Frühjahr in der Qinzaine de Réalisateurs des Filmfestivals von Cannes. Der Film spielt wieder in Paris mit einem weiblichen Star in der Hauptrolle. Nach Isabelle Hupert, die vor sechs Jahren als PhilosophieDozentin im Mittelpunkt stand, ist jetzt die angesagte Léa Seydoux zu sehen. Sie verkörpert Sandra, eine alleinerziehende Dolmetscherin mit einer achtjährigen Tochter namens Linn (Camille Leban Matins). Erneut geht es um Beziehungen im Intellektuellen-Milieu, um den Verlust von Vater oder Mutter und um eine Neuorientierung der Protagonistin. Sie sei beim Verfassen des Drehbuchs inspiriert gewesen von der Krankheit ihres Vaters, sagt Hansen-Løve, und sie habe erforschen wollen, wie zwei gegensätzliche Gefühle, Trauer und Wiedergeburt, miteinander in einen Dialog treten können, wenn man sie gleichzeitig erlebt. In dem Film muss Sandra mitansehen, wie ihrem Vater Georg (Pascal Gregorry) im Verlauf einer Nervenkrankheit langsam die geistigen Kräfte schwinden. Immerhin erkennt der nahezu erblindete Georg, dass es seine Tochter ist, die ihn häufig besucht. Aber allein zu leben wird für ihn immer schwieriger. Sara steht also ein langer Abschied bevor, mit der Suche nach einem akzeptablen Heim und der Auflösung einer Wohnung, in der Georg einen umfangreichen Bestand an Büchern angesammelt hat. Früher war er ein Philosophieprofessor mit dem Schwerpunkt deutsche Philosophie, was der Produktion deutsches Filmfördergeld eingebracht hat. Als die Kamera am Regal mit der großen deutschen Adorno-Ausgabe entlangfährt, erklärt Sandra, vor der Büchersammlung fühle sie sich heute ihrem Vater näher als in dessen Anwesenheit. Eine burschikos gestylte Léa Seydoux glänzt in der Rolle einer trauernden Tochter, die eben auch eine gestresste Mutter ist. Sie weiß ihre Angespanntheit und ihren Schmerz mitreißend darzustellen. Dieser Erzählstrang überzeugt mich in jeder Hinsicht, weil ich ähnliches erlebt habe. Leider ist mir die Liebesgeschichte zu süßlich geraten. Sie geht so: Sara begegnet an dem schönen Morgen, der den Titel liefert, einem alten Bekannten im Park. Clément (Melvil Poupaud) ist Kosmochemiker, hat also einen Beruf, der exotisch ist und die Regisseurin offenbar fasziniert hat. Wichtiger ist, dass er mit einer Frau zusammenlebt und mit ihr ein Kind hat. Das hindert ihn nicht daran, sich in Sara zu verlieben und ihr nach dem besagten Konzept die Möglichkeit zu geben, eben jene »zwei gegensätzliche Gefühle, Trauer und Wiedergeburt,« gleichzeitig erleben zu dürfen. Sara erwidert Clements Gefühle und schwelgt im Glück, wenn sie nicht gerade bei ihrem Vater die weniger erfreuliche Seite des Lebens erfährt. Der Film macht es sich zu einfach. Er weigert sich, Cléments Situation, seine Treulosigkeit und den Verrat an seinem Kind, zu reflektieren. »Unmoralische Geschichten« haben im Kino eine große Tradition, speziell im französischen Film – doch diese glatte und obendrein auch bieder inszenierte Version greift etwas zu kurz.
Claus Wecker
AN eINeM SCHÖNeN MORgeN (Un beau matin) von Mia Hansen-Løve, F/D 2022, 112 Min. mit Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Camille Leban Martins, Sarah Le Picard Romanze / Start: 08.12.2022