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Alle nach Hause?

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Diskutiert wird die Rückführung industrieller Produktion nach Europa schon seit Jahren. Setzt jetzt durch das Zusammenspiel aus verändertem Konsumentenverhalten, wirtschaftlicher Dynamik und Industrie 4.0 tatsächlich eine großflächige Rückkehr nach Europa ein? Text: Quynh Tran. Illustration: Claudia Meitert@Caroline Seidler

Die Lebensmittelindustrie nahm Trends immer vorweg: Bio oder Fair Trade wurden zuerst beim Essen wichtig. Dieser Trend, der heute mit 4,4 Prozent Marktanteil zwar noch immer eine Nische ist, zwischen 2000 und 2015 aber immerhin von 2,1 Milliarden auf 8,6 Milliarden Euro Umsatz gewachsen ist, gewinnt immer noch an Boden. Inwiefern sich diese Entwicklung in der Modeindustrie spiegelt, ist statistisch noch nicht nachweisbar, aber vor allem nach zahlreichen Horrormeldungen um die Billigproduktion in Fernost beginnt ein Umdenken, das Unternehmen wie auch Konsumenten bestätigen. Analog dazu erfreut sich regional Produziertes wachsender Beliebtheit: In fast jedem größeren deutschen Supermarkt findet man mittlerweile nicht nur Bio-Regale, sondern auch Hinweisschilder, die die Regionalität von Lebensmitteln bewerben. Die Studie „Lebensmittel: Regional ist gefragter als Bio“ der Unternehmensberatung A.T. Kearney aus dem Jahr 2015 ist sogar zu dem Ergebnis gekommen, dass regionale Lebensmittel höher bewertet werden als biologisch angebaute Lebensmittel. Das hat laut Studie zum einen mit dem Nachhaltigkeitstrend zu tun, da regionale Produkte oft als nachhaltig eingestuft werden, zum anderen aber auch mit der Identifikation ihrer Kunden mit der Region und einer immer transparenteren Kennzeichnung regionaler Lebensmittel.

Wie und wo Wenn man auch diesen Trend als Vorboten für die Entwicklung in anderen Branchen betrachtet, lautet die These, dass in Zukunft die Nachfrage nach Konsumgütern, die statt in Fernost im Inland oder innerhalb Europas hergestellt werden, einen ähnlichen Aufschwung erleben könnte. Auf dem letzten Pitti Uomo war das greifbar – beinahe flächendeckend betonten die Aussteller ihr Made in Italy. In Berlin war es zwei Wochen später kaum anders; gerade Marken im mittleren und oberen Preissegment grenzten sich durch „Made in Europe“-Parolen von vertikalen Discountern ab. „Für unsere Kunden ist es sehr wichtig, wo unsere Produkte hergestellt werden. Auf Messen wird natürlich als Allererstes nach dem Preis gefragt. Die zweite Frage aber ist, woher das Produkt kommt“, sagt Andrea Curti, Gründer und Inhaber von P448. Curti hat sein Label, das Sneaker in einem Preissegment bis 200 Euro im Verkaufspreis vertreibt, 2012 gegründet und entschieden, die Schuhe ausnahmslos in Italien herzustellen. „Mit der Produktion in Italien gewährleisten wir die Qualität und gehen sicher, dass wir die Kontrolle über jeden einzelnen Schritt im Produktionsprozess haben“, sagt er.

Die Nähe zum Markt ist ausschlaggebend Auch Maximilian Koehler hat sich in Hinblick auf die steigende Konsumentenwertschätzung für europäische Rohwaren und für eine Produktion in Europa entschieden, als er 2013 sein Damenmodelabel Quantum Courage gelauncht hat: „Die Transparenz der Produktionsprozesse ist ein wesentliches Entscheidungskriterium für unsere exklusiven Kunden. Der Begriff ‚Made in Europe‘ unterstreicht den Aspekt der Nachhaltigkeit, die Einhaltung der ethischen Standards und beeinflusst daher auch die Kaufentscheidung unserer Endkunden maßgeblich. Die Handwerkskunst und das Verarbeiten feinster Qualitäten sind in Europa einzigartig“, sagt er. Produktionsstätten in Fernost dagegen würden sich auf Quantität konzentrieren und Großkunden favorisieren. In Europa hingegen sei die Produktion flexibler und die Serviceleistung höher. „Für uns ist der enge und kontinuierliche Austausch mit unseren Lieferanten sehr wichtig. Die Nähe zu unseren Produktionsstätten ist ein absoluter Vorteil. Unsere Qualitätskontrollen können somit einerseits schnell durchgeführt werden und andererseits unsere Lieferwege vereinfacht und verkürzt werden. Dies wirkt sich wiederum sehr positiv auf unsere sehr hohe Kundenzufriedenheit aus. Trotz der entstehenden Mehrkosten in Europa sind wir überzeugt, dass es wirtschaftlich tragbar ist, seine Produktion kurz-, mittel- und langfristig in Europa durchzuführen“, so Koehler.

Schnell reagieren „Der ausschlaggebende Grund für die Kaufentscheidung ist das Made-in-Prädikat zwar nicht, aber es ist ein zusätzliches Argument. Der Endkunde schätzt die Produktion in Europa und im Falle Italiens rechtfertigt es eine Akzeptanz höherer Preise von zehn bis 15 Prozent mehr“, sagt Daniele Fiesole, Geschäftsführer der WoolGroup, die ihre Manufakturen in Italien betreibt. Als Produzent berichtet er auch, dass ihn immer mehr Anfragen von größeren Brands und Private Labels erreichen, die ihre asiatischen Produktionsaufträge nach Italien zurückbringen wollen. „Es gibt eine sichtbare Tendenz Produktion nach Europa – nach Italien, Portugal, Rumänien und so weiter – zurückzuführen. Die Hauptvorteile sind kürzere Lieferzeiten, die Möglichkeit, kleine Volumina in Form mehrerer Bestellungen während der Saison in Auftrag zu geben, um besser auf Kundennachfragen zu reagieren, und das Faktum, dass die steigenden Transportkosten und die sinkenden Lohnunterschiede zwischen Europa und Asien eine lokale Produktion kostenseitig attraktiver machen“, berichtet Fiesoli. „Einer der Hauptgründe für das Erstarken Europas als Produktionsstandort ist natürlich der Logistikvorteil: Europäische Zulieferer reagieren besser und schneller und die Schnelligkeit hilft uns, Kundenerwartungen und Marktnachfragen besser zu bedienen“, bestätigt auch Michael Azoulay, CEO von American Vintage. Aktuell produziert die Marke zu 60 Prozent in Europa und Marokko und zu 40 Prozent in Asien.

Reshoring ist das Zauberwort Das alles klingt hoffnungsfroh, vor dem rosarot getrübten Blick warnen jedoch die handfesten Zahlen. So hat die Unternehmensberatung A.T. Kearney im U.S. Reshoring Index 2015 festgestellt, dass es zwar punktuell Back-Reshoring (Rückkehr der Produktionen in den Heimatmarkt) und Near-Reshoring (Verlagerung der Produktion in Nachbarländer) gibt, Offshoring aber noch immer den höheren Anteil hält. Doch: Gerade in der Bekleidungsindustrie, die sich immer stärker auf den Kunden konzentriert und schneller reagieren muss, bietet Reshoring enormes Potenzial. „Wir können beobachten, dass vereinzelt deutsche Marken in unserem Verband nach Europa zurückkehren, punktuelle Tendenzen gibt es definitiv. Ob sich das zu einem Trend entwickelt, bleibt abzuwarten, aber ausschlaggebend sind die kürzeren Lieferwege und das Potenzial, durch die Nähe zum Absatzmarkt schneller auf Kundennachfragen reagieren zu können“, sagt Hartmut Speisecke, Sprecher des Gesamtverbands der deutschen Textil- und Modeindustrie. Ironisch: Selbst die Zaras und H&Ms dieser Welt, die die Karawane der Arbeitsverlagerung in Billiglohnländer erst ausgelöst haben, bedienen sich europäischer Produktion – den hohen Lohnkosten zum Trotz. Schnelligkeit ist für sie eben alles. Die Forschungsgruppe UniClub MoRe, ein Zusammenschluss fünf italienischer Universitäten, beschäftigt sich seit 2005 mit dem Thema. Neben dem Vorreiter USA sieht sie seit der Finanzkrise 2009 Italien, Deutschland, Großbritannien und Frankreich als Profiteure des Reshorings. Die Hälfte der Rückkehrer kommt laut Studie aus dem Bekleidungssegment. Die Gründe sprechen Bände: 25,1 Prozent geben kosten- und produktbezogene Aspekte an, 21,9 Prozent Logistikkosten, für immerhin 19,7 Prozent ist der Made-in-Effekt ausschlaggebend, weitere 19,7 Prozent die steigenden Lohnkosten in Fernost, 18,9 Prozent Qualitätsbedenken und 17,8 Prozent Lieferverzögerungen sowie fehlender Kundenservice. Laut der Studie zeichnet sich ab, dass diese Gründe eine höhere Rückkehraktivität in Zukunft befördern könnten.

Lokale Produktion hat Potenzial Eine Befragung der Boston Consulting Group unter US-Großunternehmen im Dezember 2015 kam zu dem Ergebnis, dass 31 Prozent der Firmen in den nächsten fünf Jahren Produktionskapazitäten in den USA ausbauen werden. Die Kehrseite der Medaille: 20 Prozent gaben an, dass sie auch in China Kapazitäten steigern würden. Das lässt schließen, dass es bei Großunternehmen vielmehr um eine geografische Diversifizierung der Produktionsstruktur als um eine pure Rückkehrinitiative geht. Aus der Praxis: Walmarts Reshoring Initiative will bis 2023 Warenproduktionen im Umfang von 250 Millarden US-Dollar aus dem Ausland wieder in die USA bringen. Auch Nike hat angekündigt, bei Inkrafttreten des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP 10.000 Jobs in der Produktion zu schaffen. Ein Beispiel aus Europa: In Großbritannien hat Burberry erst Anfang dieses Jahres verkündet, 50 Millionen Britische Pfund in englische Manufakturen zu investieren.

Kommunikation für „Made in“ bleibt beim Unternehmen Auch wenn vielfältige Gründe das Reshoring begründen, bleibt auf regulatorischer Seite die fehlende Verbindlichkeit von „Made in“-Auszeichnungen und damit verbundene Intransparenz zur wirklichen Herkunft von Waren ein Problem. So kann zum Beispiel eine Sonnenbrille, die in Italien nur zusammengeschraubt wird und sonst in China produziert wird bereits als „Made in Italy“ ausgezeichnet werden. Eine Lösung für dieses Problem ist von öffentlicher Seite nicht in Sicht. „Viele unserer Kunden wissen bis heute noch nicht, welch hoher Wertschöpfungsgrad unserer Produkte noch in Deutschland stattfindet und das wollen wir verstärkt kommunizieren – und zwar auch mit Werbekampagnen, die provokanter sind und die den Kunden dazu herausfordern, sich Gedanken über die Produktionsbedingungen zu machen“, berichtet Matthias Mey von Mey. Woher die Kleidung kommt, muss also auch vom Unternehmen proaktiv kommuniziert werden. „Mey hat ein extrem vertikales Geschäftsmodell, bei dem die Wertschöpfung zu einem großen Teil im Unternehmen liegt: 85 Prozent der Stoffe werden im Haus hergestellt, 100 Prozent selbst zugeschnitten. Im letzten Schritt geht es dann um die Konfektion, welche jedoch in der Regel der teuerste Teil ist“, erzählt Mey. Zusätzlich wurde Mey Story lanciert, das bewusst aktiv mit dem Sigel „Handmade in Germany“ arbeitet: „Es ist wissenschaftlich belegt, dass Kunden handgemachte Sachen mehr wertschätzen. Bei Mey Story haben wir auf Basis unserer Werte eine eigenständige Marke geschaffen. Die Produkte sind vom Faden bis zum fertigen Produkt handmade in Germany. Hierbei geht es um Werte, um Überzeugungen, um die Essenz dessen, wofür Mey auch als Unternehmen steht. Gerade in Japan und Korea ist die Wertschätzung für das Handgemachte und das Interesse an der Geschichte sehr hoch. In Deutschland läuft es sehr gut, es gibt aber auch noch viel Entwicklungspotenzial.“

Die Industrie 4.0 als Treiber Ist die Produktion in Europa und die Zurückverlagerung von Produktionen im Ausland nach Europa in der Modeindustrie also nur für Marken im mittleren und gehobenen Preissegment sinnvoll? Innovationen aus der digitalen Technologie verheißen andere Möglichkeiten: Unter dem Stichwort Industrie 4.0 arbeiten immer mehr Forschungsgruppen und Unternehmen an der Vernetzung industrieller Produktion mit modernen Informations- und Kommunikationstechniken. Vorreiter in diesem Bereich sind Sportbekleidungshersteller. So arbeitet Adidas gerade intensiv an der Speedfactory, die mit 3-D-Druck Sportschuhe lokal in kürzester Zeit auf den Fuß maßgeschneidert herstellen soll. „Derzeit nimmt der Prozess bis ein Produkt im Laden steht bis zu 18 Monate in Anspruch – einschließlich Design, Entwicklung des Produkts, Hineinverkauf in den Handel, Produktion, Versand etc. Dieser Zeitraum könnte mit Hilfe der Speedfactory deutlich reduziert werden – damit können wir nicht nur schneller auf Trends reagieren, sondern dem Wunsch der Creator nach Schnelligkeit, Ästhetik und Performance noch besser nachkommen“, sagt Katja Schreiber, Pressesprecherin des Unternehmens. „Als ich zu Adidas kam, wanderte die Produktion ab. Jetzt kehrt sie nach Deutschland zurück“, sagt Vorstandsvorsitzender Herbert Hainer dem Handelsblatt im September 2016. Bereits diesen Herbst soll die Speedfactory in Ansbach die ersten 500 Paar Schuhe produziert haben. Perspektivisch sollen die Fabriken aber integraler Produktionsbestandteil werden: „Im Jahr 2015 haben wir insgesamt 301 Millionen Paar Schuhe produziert. Basierend auf unserem strategischen Geschäftsplan Creating the New rechnen wir bis 2020 mit einem jährlichen Umsatzwachstum im zweistelligen Bereich. Im Zuge dessen werden wir im Jahr zusätzlich etwa 30 Millionen Paar Schuhe produzieren. Die Speedfactories bieten daher zusätzliche Produktionskapazitäten. Für Sie als Vergleich: In jeder der Fabriken sollen mittel- bis langfristig 500.000 Paar Schuhe jährlich hergestellt werden“, sagt Schreiber. Es ist eine Entwicklung, die die Stärkung Europas als Produktionsstandort aus einem ganz anderen Blickwinkel sieht, und die nicht, wie so viele hoffen, Arbeitsplätze schafft, sondern sie durch maschinelle Innovationen wie dem 3-D-Drucker ersetzt. Die Boston Consulting Group prognostiziert, dass bis 2025 25 Prozent der Produktionen in Deutschland von Maschinen bewerkstelligt wird, 2015 waren es zehn Prozent. Doch immerhin, die Wertschöpfung kehrt zurück: Unter den von der Boston Consulting Group befragten US-Großunternehmen gaben 71 Prozent der Manager an, dass neue Fertigungstechniken die Produktion im Westen wirtschaftlicher machen.

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