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Südtirol für Anfänger

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Ganz im Norden

Ganz im Norden

In meinen ersten Jahren hier in Südtirol habe ich langsam begonnen, den Zeigefinger vom Lenkrad zu nehmen. Ich habe es den Autofahrern, die mir entgegenkamen, einfach nachgemacht. Manchmal war das Zeigefingerheben ein „Hallo“, manchmal ein „Danke für die Vorfahrt“. Bald wurde es auch bei mir zum automatischen Reflex. Eigentlich war ich 2016 ja nur für sechs Monate hierhergezogen, um meine Doktorarbeit zu schreiben. Aber ich verliebte mich in diese faszinierenden Berge und ihre Bewohner – und in dieses Gefühl der Zugehörigkeit, immer dann, wenn ich einen Fremden per Zeigefinger grüßte.

Jetzt, sieben Jahre später, hege ich eine tiefe Wertschätzung und Zuneigung für die Grußarten der Einheimischen. Ich entdeckte ihre Vielfalt beim Spazieren im Dorf, auf den vielen Tausend Kilometern von Wanderwegen, beim Betreten der Bar oder des Lebensmittelgeschäfts; dieses immer vertrautere „Hoila!“ oder „Griaß di“! Mittlerweile grüßen die Dorfbewohner und ich uns mit Vornamen – die Messlatte liegt jetzt also noch höher.

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Ich merkte bald: In dieser winzigen Region ist das Netz, das Gemeinschaftsgefüge, dicht gewebt. Der Zeigefingergruß war nur mein erster naiver Einblick in das Leben und die Regeln des kleinen Dorfes, das bald mein Zuhause sein sollte – ein Zuhause, das ich mir weder in meiner Stadtgören-Jugend in Amerika hätte vorstellen können noch als ich später in Tel Aviv direkt am quirligen Strand wohnte und mit meinem treuen Singlespeed-Fahrrad durch den dichten Verkehr flitzte.

Grüßen wie eine echte Einheimische ist weit mehr als eine komplexe Kulturtechnik –es ist eine Eintrittskarte.

Doch selbst für eine wie mich, die schon in fünf Ländern gelebt hatte und sich gern als Kosmopolitin sah, war der Umzug nach Südtirol gar nicht so einfach. Hier wollte ich mich niederlassen, Winzerin werden, schreiben und die Berge genießen. Aber ich war auf einer kleinen Insel gelandet, mitten in den Alpen. An einem Ort, wo der Abstand zwischen meiner kulturellen Herkunft und jener der Einheimischen gefühlt Welten betrug. Mit fremder Sprache, fremden Codes. Es galt so viel zu lernen: Wie man auf engen, kurvigen Bergstraßen schnell und sicher Auto fährt. Wie man Knödel kniggekonform teilt, um die Wirtin nicht zu beleidigen. Nie mit dem Messer! Stets mit dem Löffel! Zu welcher Tageszeit man Weißwein und wann man Rotwein trinkt. Weißwein immer. Rotwein eher nur abends. Aber wofür ich Jahre gebraucht habe – und ich sehe kein Ende in Sicht –, war das Grüßenlernen. Grüßen wie eine echte Einheimische ist weit mehr als eine komplexe Kulturtechnik: Es ist die Eintrittskarte, um in der lokalen Community aufgenommen zu werden. Und glücklicherweise erhält man als Neu-Südtirolerin ganz automatisch einen Crashkurs.

Es gibt hier zwei grundlegende Arten, Freunde, Familienmitglieder oder Bekannte zu begrüßen. Die eine ist der Wangenkuss: für Europäer – vor allem Südeuropäer – eine vertraute Geste, aber als HalbAmerikanerin, Halb-Israeli musste ich mich von meiner üblichen Begrüßung, einer herzlichen Umarmung, verabschieden und mich daran gewöhnen, dass ein anderer Mensch meine Wange mit seiner berührte. Und zwar nicht nur einmal, nicht zweimal, sondern bei den großzügigen Südtirolern gleich dreimal! Das läuft leider nicht immer in einer perfekten Choreografie ab, sondern erzeugt mitunter SlapstickMomente: Die Uneinigkeit, ob das erste Bussi auf die linke oder auf die rechte Backe soll, hat im Laufe der Jahre zu vielen Fast-Knutschereien geführt. Eine Komplikation, die bei Umarmungen übrigens nicht auftritt. Ich sag ja nur.

Die andere Grußform ist der Handschlag. Nicht das dezente Händeschütteln einer neuen Bekanntschaft oder der bestimmte Business-Händedruck. Sondern auch zu Feiertagen oder gar Familienfeiern. „Frohe Weihnachten“? Händeschütteln. „Alles Gute zum Geburtstag“? Händeschütteln. Soeben vermählt? Händeschütteln. Und zwar für Männer wie Frauen. Manchmal sogar in Kombi mit Küsschen, nur um mich auf Trab zu halten! Ich brauchte gute sieben Jahre, um mich an diese Formalität zu gewöhnen – aber nun initiiere ich sogar selbstbewusst ein Händeschütteln, wenn es zum Anlass passt. Und meine Südtiroler Freunde lassen gutmütig meine Umarmungen über sich ergehen.

Und dann gibt es da noch das komplexe Regelwerk zum Thema „Begrüßung am Berg“. Den Unterschied zwischen dem formellen „Sie“ und dem informellen „Du“ im Deutschen, diesen Knackpunkt der germanischen Sprachkompetenz, den ich mir in unendlichen Kursen und Seminaren mühsamst beigebracht hatte, konnte ich – kaum auf über 1.000 Meter Meereshöhe angelangt – gleich den nächsten Abgrund runterwerfen. Entgegenkommende Wanderer mit einem formlosen „Griaßt enk!“ anzusprechen, ist in den Bergen Südtirols nicht nur völlig in Ordnung, sondern gar erwünscht.

Mein Tipp: Man sollte viel ausprobieren, um zu lernen, wie man seine Mitmenschen in Südtirol richtig grüßt. Im Laufe der Jahre habe ich zahlreiche seltsame Blicke geerntet, oft genug begegnete liebevolles Gelächter meinen mutigen, aber gescheiterten Versuchen, ein Regelwerk zu meistern, das es eigentlich gar nicht gibt. Die einzige sichere Lernmethode? Geben Sie sich Zeit – und üben Sie fleißig, indem Sie regelmäßig Bauernmärkte, Dorfbars und Skihütten besuchen. Dabei immer grüßen. Und die Verabschiedung? Ist noch mal eine Geschichte für sich. Ciao. Pfiat enk!

SüdtirolLexikon, das

Dialekt verständlich gemacht

Schmirber, Schmirberin

[ˈʃmɪʁbʁ], [ˈʃmɪʁbʁɪn]

So wurden in früheren Zeiten teils misstrauisch, teils ehrfürchtig die mysteriösen Medizinmischer und Kräuterfrauen mit ihren wundersamen Heilsalben und Tinkturen genannt: „schmirben“ ist Südtiroler Dialekt für „schmieren, ölen“ und die feuchtigkeitsspendende Hautcreme – so wie sie die Naturkosmetik-Hersteller von S. 34 heute produzieren – nennt man mitunter ganz ungerührt „die Schmirb“.

Pfiati!

[ˈpfiːatɪ]

Kein „Tschüss“, kein „Auf Wiedersehen“, und –außer man spricht Italienisch – auch kein „Ciao!“: In Südtirol wirft man sich zum Abschied stattdessen ein freundliches „Pfiati!“ zu. Der Gruß ist über die Jahrzehnte als verkürzte Form von „Pfiat di Gott“, also „Behüte dich Gott“ entstanden.

Amy

Kadison

Die Winzerin, Zoologin und Texterin ist in den USA geboren und hat in fünf Ländern gelebt, bevor sie 2016 für ihre Diplomarbeit nach Südtirol kam und blieb – wegen der Berge. Kadison übernimmt die Kolumne an dieser Stelle von ihrer Vorgängerin Cassandra Han. Für COR erforscht sie ihre innere Südtirolerin – und erzählt, wie sie sie gefunden hat.

Instagram @travelalltheroads

Brintschelen

[ˈpʁɪnt ʃələn]

Wenn es in Südtirol „brintschelet“, sollte man die Feuerwehr rufen: „Do tuats brintschelen!“ heißt so viel wie „Hier riecht es nach Verbranntem!“

Der Verbzusatz „-elen“ funktioniert übrigens auch für andere unwillkommene Gerüche: Wenn es irgendwo „mistelet“, dann stinkt es nach Kuhmist, und wenn beispielsweise ein Keller „tebelet“, dann riecht er muffig.

Die Option

Nachdem Südtirol 1919 dem Kriegsgewinner Italien zugefallen war, begann mit der faschistischen Machtergreifung in den 1920erJahren die „Italianisierung“ Südtirols. Italienische Ortsnamen wurden eingeführt, Vereine aufgelöst, die deutsche Sprache wurde verboten, die neue Industriezone in Bozen schuf Arbeitsplätze für Zuwanderer aus dem Süden.

Das Projekt drohte aber zu scheitern – eine andere Lösung für das Südtirolproblem musste her. Im Juni 1939 vereinbarte Benito Mussolini mit Adolf Hitler die Umsiedlung der Südtiroler, der Pakt ging als „Option“ in die Geschichte ein: Deutschsprachige Südtiroler standen vor der Wahl, ins Deutsche Reich zu übersiedeln oder als Italiener in der Heimat zu bleiben.

85 bis 90 Prozent sprachen sich fürs Gehen aus, bis Kriegsende verließen rund 75.000 Optanten ihre Heimat. Man versprach ihnen ein geschlossenes Siedlungsgebiet, lockte mit materiellem Wohlstand. Die Realität sah anders aus: Wehrfähige Männer wurden an die Kriegsfronten geschickt, Bauernfamilien in den besetzten Gebieten verteilt.

Der Kriegsverlauf brachte die Umsiedlung 1943 zum Erliegen, erst nach 1948 konnten die ausgewanderten Südtiroler legal in ihre Heimat zurückkehren, in der sie nichts mehr hatten. Nur ein Drittel kehrte zurück – das Bild zeigt die Ankunft der Rückkehrer am Bahnhof Brixen. Der Fotograf Hermann Frass hielt die bewegenden Momente mit seiner Kamera fest.

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