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Theater
Im kollektiven Erwachen
Theater «Nouvelle Nahda», eine internationale Kollaboration zwischen Beirut und Zürich, musste wegen der Corona-Pandemie neue Wege gehen. Aber nicht nur deswegen.
TEXT MONIKA BETTSCHEN
Schmerz fordert ungeteilte Aufmerksamkeit. Ob grell stechend nach einer Verletzung oder erdrückend dumpf nach einem Verlust, es gibt kein Entrinnen. «Ich denke an die Schönheit des Schmerzes und wie Schmerz manchmal das Beste in uns hervorbringt», hört man den libanesischen Autoren, Aktivisten und Kuratoren Ibrahim Nehme im Filmessay «Nouvelle Nahda» sagen, während leichter Wellengang auf einer Wasseroberfläche die gespiegelte Silhouette eines Menschen zerfranst. So, als würde er von seinem Schmerz in Stücke gerissen.
Ursprünglich war «Nouvelle Nahda» für die Bühne gedacht. Vor eineinhalb Jahren begannen eine Gruppe libanesischer Kunstschaffender und das Theater Neumarkt in Zürich eine Kollaboration mit dem Ziel, eine Bewegung für sozialen Wandel aus dem Kunst- und Kulturbereich heraus zu starten. Aber wegen Corona platzten die Premieren, und die Künstler*innen mussten nach neuen Lösungen suchen. Anstelle eines Bühnenstücks veröffentlichte die Gruppe eine umfangreiche Onlinepublikation mit eigenen Texten, Video-Talks und zuletzt eben den dokumentarischen Filmessay.
Im März ist zudem eine Foto-Sound-Textinstallation mit Fotos von den Protesten 2019 und von der Explosionskatastrophe 2020 in Beirut geplant, umgesetzt von Myriam Boulos (Fotos) und Nour Sokhon (Sound). Denn nicht nur die Pandemie überschattete die Entstehung von «Nouvelle Nahda». Auch diese beiden Ereignisse beeinflussten den künstlerischen Prozess, der sich laufend den neuesten Entwicklungen anpasste. «Wir setzten uns nicht nur kreativ mit dem Wandel auseinander, sondern erlebten ihn auch parallel dazu», sagt Ibrahim Nehme im Online-Gespräch.
Im Zürcher Kulturhaus Kosmos ist im Rahmen von «Nouvelle Nahda» ein Gespräch mit dem Filmemacher Samir und Ibrahim Nehme anlässlich des Arabischen Frühlings vor zehn Jahren geplant. In Nehmes Heimat Libanon haben sich innenpolitische Spannungen und Wirtschaftskrisen in den vergangenen Jahren immer wieder in Revolutionen oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen entladen. «‹Nahda› bedeutet Wiedergeburt und bezieht sich auf die Zeit der arabischen Renaissance Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts», sagt Nehme. «Damals herrschte hier ein Klima des Aufbruchs, welches auch mit einer Blütezeit der Kultur einherging. Diese Veränderungen erlaubten es den Menschen, neue Perspektiven zu sehen. ‹Nahda› handelt in diesem Sinn auch vom Erwachen, vom sich Erheben oder auch davon, archaische Systeme, die nicht mehr funktionieren, infrage zu stellen.» Nehme setzt sich auf vielfältige Weise dafür ein, an den progressiven Geist dieser Zeit anzuknüpfen.
Zuhören in einer polarisierten Welt
2012 gründete er das Outpost Magazine, eine politische Publikation, die sich selbst als «Magazin der Möglichkeiten» beschreibt. Aus dem Projekt gingen später auch der Radiosender Mansion und The Output, ein Pop-up-Café im jordanischen Amman, hervor. Nehme interessiert sich für den Zusammenhang zwischen Kulturschaffen und sozialer Wirkung. «Die Geschichte des Libanon ist eine Geschichte des konstanten Wandels und hat die Menschen widerstandsfähig gemacht. Für das Projekt ‹Nouvelle Nahda› haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie sehr Wandel und Traumata uns prägen, welche Veränderungen sie in Gang setzen und dass wir akzeptieren müssen, dass Veränderung die einzige Konstante im Leben ist.»
Im Filmessay zeichnet die Gruppe in einem Prolog und sieben Kapiteln den Prozess des unaufhaltsamen Wandels nach. Es sind kleine Episoden über Schmerz, Verlust und Heilung. «Um Veränderung akzeptieren zu können, braucht es zuerst ein Be-