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Euthanasie

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Aus Gründen der Papierersparnis

Euthanasie Rosemarie Eyrich und Klara Häffelin verbindet nichts miteinander. Ausser eine Unterschrift auf einem Dokument aus der NS-Zeit und die Suche nach der Wahrheit.

TEXT ANNA-THERESA BACHMANN FOTOS LANDO HASS

Noch immer zeigt das Kalenderblatt auf dem Schreibtisch des Berliner Arztes Klaus Eyrich 2013, das Jahr, in dem er starb. Nie wäre es seiner Frau Rosemarie eingefallen, die Schubladen und Regale in seinem Arbeitszimmer zu durchstöbern. Auch jetzt, fünf Jahre nach seinem Tod, fällt es ihr schwer. Die 88-Jährige tritt ans Fenster, durch das kurz vor Weihnachten 2018 fahles Winterlicht scheint, und schliesst die Augen. «Ich bin froh, dass er das nicht mehr erleben muss», sagt sie. «Das» ist die Aufarbeitung von all den Dingen, die Klaus Eyrich seiner Frau Rosemarie in fünfzig Jahren Ehe womöglich verschwiegen hat. Seine Jugend in Stuttgart und das, was seine Mutter, die Ärztin und Kinderbuchautorin Hedwig Eyrich, Kindern und Jugendlichen während der NS-Zeit angetan hat.

Drei Monate später, im Februar 2019, sitzt 650 Kilometer von der Villa der Eyrichs in Berlin entfernt eine zweite Frau in ihrem kleinen Wohnzimmer und drückt die schmalen Lippen zusammen. Vor Klara Häffelin liegt auf der Blümchentischdecke ein Blatt Papier, das sie noch nie gesehen hat. Es ist das einzige Dokument, das Auskunft darüber gibt, wer an der Ermordung ihrer Schwester vor 76 Jahren beteiligt war.

Blaues Minus für Leben, rotes Kreuz für Tötung

Am 30. Januar 1948 schickt Psychiaterin Hedwig Eyrich einen Brief an die Spruchkammer 3 in Stuttgart. Es ist eines von vielen Schreiben, wie sie in jenen Tagen bei den als «Spruchkammern» bekannten Laiengerichten eingehen.

Gegen Eyrich liegen mehrere Anschuldigungen vor. Von einem Ingenieur etwa, dem Eyrich ein Schreiben verweigerte, um seine 35 Jahre jüngere Braut zu heiraten. Oder von einer jungen Frau, die ihr Auserwählter verliess, nachdem ihn Eyrich auf den «stark asozialen Einschlag» seiner Verlobten und ihren «schwachsinnigen» Bruder hingewiesen hatte. Hedwig Eyrich soll nun erklären, was wirklich an ihrer alten Arbeitsstätte geschah. Städtisches Gesundheitsamt – so prangte es in Frakturschrift neben dem Eingang des fünfstöckigen Hauses mit den Giebeltürmchen in der Rotebühlstrasse 43. Am Pförtner vorbei nahm Hedwig Eyrich dort den Aufgang in der Mitte des Gebäudes bis zu ihrem Büro im vierten Stock. Die Baupläne des 1944 zerstörten Hauses zeigen es noch. Hier, in der Abteilung Erb- und Rassenpflege, stellt die Ärztin nicht nur Ehefähigkeitszeugnisse aus. Die Abteilung ist die Schaltstelle der Kindereuthanasie in Baden-Württemberg. Hier landen die Meldebögen, auf denen Hebammen und Ärzte Kinder und Jugendliche mit geistigen und körperlichen Behinderungen erfassen. Eine geheime Anordnung des Reichsministeriums des Inneren in Berlin. Hedwig Eyrich, die die Abteilung Erb- und Rassenpflege in Stuttgart von April 1943 bis Juli 1944 leitet, entscheidet, welche Meldebögen an den «Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden» in die Reichshauptstadt Berlin weitergeleitet werden. Dort vermerken die Gutachter: blaues Minus für Leben, B für Beobachtung, rotes Kreuz für Tötung.

Hedwig Eyrich und ihre Mitarbeiter weisen die Minderjährigen daraufhin in eine der über dreissig Kinderfachabteilungen ein. So nennen die Nazis die abgegrenzten Bereiche in Psychiatrien und Krankenhäusern, in denen Mediziner Kinder und Jugendliche vergiften, sie verhungern lassen oder in eine von sechs Tötungsanstalten im gesamten Reichsgebiet überstellen, um sie zu vergasen. Darunter auch Minderjährige, die keine Behinderung haben, aber als schwer erziehbar gelten. Euthanasie heisst wörtlich übersetzt «guter Tod» oder «Sterbehilfe». Damit hat das alles aber nichts zu tun. Etwa 5000 Minderjährige werden in den Kinderfachabteilungen umgebracht, insgesamt fallen den Euthanasiemorden 300 000 Menschen zum Opfer.

Mit alledem will Hedwig Eyrich nichts zu tun gehabt haben. So behauptet sie es zumindest in ihrem Brief an die Spruchkammer von 1948: «Rassenpolitik haben weder das Amt noch ich betrieben», schreibt sie. Rassenhygiene, also Eugenetik, sei das gewesen, eine anerkannte Wissenschaft. Eyrich habe beraten und geholfen. Und überhaupt: Die Ärztin habe viele jüdische Freunde gehabt, sich

Hedwig Eyrich leitete von 1943 bis 1944 die Abteilung Erb- und Rassenpflege in Stuttgart. Sie entschied, welche «erb- und anlagebedingten schweren Leiden» erfasst wurden.

bis 1933 in einem Frauenrechtsverein engagiert, sei nie in der Partei gewesen. Rechtfertigungen auf zwei A4-Doppelseiten, getippt mit Schreibmaschine und unterschrieben mit krakeliger Unterschrift. «Dr. Hedwig Eyrich». Sagt sie doch die Wahrheit? Es ist der Beginn einer neunmonatigen Spurensuche.

Der Professor lehrt Rassenhygiene

Die Suche beginnt mit einer Zeitreise in die Weimarer Republik, in die Hörsäle der Universität Tübingen. Dort lauscht ab 1918 eine 25-jährige Fabrikantentochter aus Reutlingen den Medizin-Vorlesungen. Hedwig Braun heisst sie, so prangt es in Schnörkeln auf ihrer Studienakte. Später steht darauf der Zusatz «Eyrich», die Studentin heiratete 1924 ihren Kommilitonen Max, einen wohlhabenden Arztsohn mit schweren Augenlidern. Einer ihrer Professoren ist Robert Gaupp, Leiter der Tübinger Nervenklinik und Vordenker jener «Wissenschaft», die sich anmasst, über Leben und Tod zu entscheiden.

Gaupp gehört seit 1910 der Gesellschaft für Rassenhygiene an, die ausgehend von Charles Darwins Selektionstheorie nun auch Menschen in schwache und starke Gruppen einteilen will. Doch sie wollen noch mehr: Gaupp und seine Mitstreiter wollen Menschen, die sie für «lebensunwert» halten, weil sie Krankheiten wie Epilepsie oder «Schwachsinn» vererben könnten, daran hindern, sich fortzupflanzen. «Ohne ihre Sterilisierung kann der eugenische Gedanke einer Reinigung des ganzen Volkes von seinen minderwertigen Elementen niemals verwirklicht werden», erläutert Gaupp in einem Vortrag von 1925. Sowohl Herr als auch Frau Eyrich sind da gerade als Gaupps Assistenzärzte angestellt. Was sie von ihm lernen, wenden sie schon bald an.

Nur einmal deutete er etwas an

Anfang 2019 welkt Laub in den gepflegten Hecken, hinter denen sich die Villen am Rande Berlins verschanzen. Wer hier lebt, gehört laut Statistik zu den wohlhabendsten und gesündesten Bewohnern der Stadt. Ein elektronisch gesichertes Metalltor führt zur Villa, in der Rosemarie Eyrich wohnt. Seitdem ihr Mann Klaus tot ist, lebt sie hier allein mit Stinkebein, einer Collie-Hündin. Die döst neben ihrem Frauchen auf dem Wohnzimmerteppich, umgeben von farbenfrohen Gemälden. Eines sticht besonders hervor: eine rotschwarze Gestalt über dem Sofa. «Die Last des Menschen» lautet der Titel des Bildes. Erst jetzt fällt der Witwe auf, dass sie nur wenig über die Kindheit und Jugend ihres Mannes Klaus weiss. Nur einige Anekdoten.

Wie die vom Ford Eifel, dem Kassenschlager des Dritten Reiches. Einmal sei Klaus Eyrich mit seinem Vater Max damit unterwegs gewesen. Bei Glatteis, beide konnten kaum noch bremsen. Was in dieser Erzählung fehlt, sind die Dienstfahrten, die Psychiater Dr. Max Eyrich mit dem Ford unternahm. 1933 wurde er zum Landesjugendarzt Baden-Württembergs ernannt. Eine Arbeit, die er als «erbbiologisches Sieb» beschrieb. Und Max Eyrich siebte. Von 1934 bis 1939 stellte der Arzt mehr als 800 Anträge auf Zwangssterilisation, für die sich sein früherer Professor Gaupp eingesetzt hatte. Das «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» erlaubte sie nun. Schon Schulkinder rechneten da aus, wie viel Geld der Staat für «Geisteskranke und Krüppel» ausgeben müsse, das in der Folge der gesunden «Volksgemeinschaft» fehle. 1933 zieht die Familie Eyrich nach Stuttgart. Unter den neuen Machthabern vollendet sie ihren gesellschaftlichen Aufstieg. Dazu gehört nicht nur der Ford Eifel. Auf dem Stuttgarter Sonnenberg, einer damals neu entstehenden Nachbarschaft für Wohlhabende, baut die Familie ein Haus. Zwei Stockwerke, dahinter ein Garten. Während ihr Mann «siebt», verbringt Hedwig Eyrich die meiste Zeit hier mit den beiden Kindern und veröffentlicht 1938 ihr erstes Kinderbuch, «Die Mädchen vom Sonnenberg».

Darin spielt ihre Tochter Beate die Haupt-, ihr Sohn Klaus die Nebenrolle. Wie auch im wahren Leben. Als Schauplatz dient das Haus der Autorin. Und auch sie selbst und ihr Mann kommen darin vor. Auf 190 Seiten beschreibt die Ärztin die Sommerferien und stilisiert sich selbst zur NS-Vorzeigemutter, die es geniesst, Wildblumen im Wald zu pflücken.

An einer Stelle wandert ihr Mann mit den Kindern durch den Schwarzwald. Tochter Beate im Arm «wie zwei wackere Kameraden», Sohn Klaus hinterhertrottend. Als die Wandernden ein Dorf passieren, schaut eine Frau aus dem Fenster ihres Hauses, das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzogen. Die Kinder haben Angst. «Das ist eine Kranke, die hat vor Jahren eine Gehirngrippe gehabt, Kinder, das sind arme bedauernswerte Geschöpfe, die nie mehr gesund werden können», sagt der Vater: «Und nun vergesst diesen traurigen Anblick.» Zwischentöne, die mit heutigem Wissen eher nach Schauermärchen als Ferienidyll klingen.

Hedwig Eyrichs Schwiegertochter Rosemarie kennt das Buch vom Sonnenberg. Gelesen hat sie es nie. In ihren hohen Bücherregalen in Berlin reihen sich Werke über Bauhaus-Architektur an Bände des persischen Dichters Rumi. Das Lesen, sagt sie, sei ihr Ersatz für die Klinik gewesen. Sie war selbst Ärztin. Anfang der 1960er Jahre ist sie die Vorgesetzte eines zurückhaltenden jungen Arztes mit schweren Lidern: Klaus Eyrich. Als die drei gemeinsamen Kinder auf die Welt kommen, beendet sie ihre Kariere. Erziehung, Literatur, immer habe die Schwiegermutter Hedwig alles besser gewusst und Rosemarie Eyrich kleingeredet.

«Hypertroph» ist das Wort, das Rosemarie Eyrich benutzt, wenn sie über ihre Schwiegermutter spricht – überzogen, eingebildet. Ein Begriff abgeleitet aus der Medizin. Ein Foto von ihrem Hochzeitstag zeigt Klaus Eyrich am Esstisch sitzend, seinen Schwager und seine Mutter Hedwig neben ihm. «Da haben sie ihn wieder in die Zange genommen», sagt Rosemarie Eyrich. Die beiden Frauen geraten immer öfter aneinander: «Erst kurz vor ihrem Tod hat mir die Schwiegermutter dafür gedankt, was ich aus ihrem Sohn gemacht habe.»

Klaus Eyrich war ein erfolgreicher Anästhesist, der sich bereits in den 1980er-Jahren öffentlich im Tagesspiegel gegen den Sparzwang in Kliniken aussprach. Im wiedervereinigten Berlin arbeitete er zuletzt an der Charité, rezitierte vor seinen Studierenden Goethes «Faust» und

empfing Kollegen aus der ganzen Welt in seiner Berliner Villa. «Höflich unverbindlich», sagt seine Frau über ihn. «Distanziert, aber nicht kalt», sein Sohn Christoph. «Konservativ, aber nicht rechts», sagen sie beide.

Christoph Eyrich war der erste gewesen, den seine Mutter kurz vor Weihnachten mit neuen Erkenntnissen über die Familie angerufen hatte. Nun sitzt er in den Sessel versunken neben ihr. Fast scheu beginnt er zu erzählen. Natürlich habe ihn all das überrascht. Aber seien nicht die meisten Deutschen damals zu Tätern geworden? Bei seiner Geburt war Grossvater Max bereits tot. An seine Grossmutter Hedwig erinnert sich der 54-Jährige nur schemenhaft. Viel über die Vergangenheit gesprochen hatten er und sein Vater nicht. Ohnehin: «Richtig präsent war er nicht», sagt Christoph Eyrich.

Kinderwagen schieben, zusammen blödeln. Das Vatersein war nichts für den Arzt Klaus Eyrich. Wie für viele Männer seiner Generation. Morgens um sieben verliess der Anästhesist das Haus, kehrte erst spät zurück an den Familienesstisch. Selbst dann gab es vor allem ein Thema: die Klinik.

«Er hat euch geliebt, Christoph», sagt Rosemarie Eyrich.

«Das schliesst sich ja nicht aus», entgegnet ihr Sohn.

«Aber er konnte nicht zärtlich mit den Kindern sein», sagt sie. «Wegen der Mutter», glaubt sie.

Was genau Klaus Eyrich über seine Eltern wusste, können weder seine Frau noch sein Sohn sagen. Beide hatten bisher angenommen, dass Hedwig Eyrich während des Krieges nicht berufstätig war. Und über seinen Vater hatte Klaus Eyrich nur erzählt, dass er Kinder vor der Euthanasie gerettet habe. «Wieso habe ich nicht gedacht, dass da etwas nicht stimmen kann?», fragt sich sein Sohn Christoph heute. Dass sein Vater etwas wusste, ist wahrscheinlich. Bei Kriegsende war Klaus Eyrich immerhin schon achtzehn Jahre alt und die meisten Bekannten seiner Eltern waren überzeugte Nazis.

Nur einmal deutete Klaus Eyrich seiner Frau gegenüber etwas an, wenige Jahre vor seinem Tod. Es ging um die Diagnosen, die sein Vater stellte. Damals wehrte sie ab, wollte nichts vom Krieg hören. Zu schmerzhaft waren die eigenen Erinnerungen: Hunger, Kälte, die endlose Flucht vor den russischen Truppen aus Ostpreussen, als sie vierzehn Jahre alt war. «Wir waren Dreck», sagt Rosemarie Eyrich.

Vielleicht sei es ihre grosse Wut auf die Nazis gewesen, weswegen ihr Mann sich nicht traute, die Vergangenheit seiner Eltern anzusprechen. Jetzt, da sie die Wahrheit kennt, sucht Rosemarie Eyrich nach Bruchstücken in ihrer Erinnerung. Aber der, der ihre Fragen beantworten könnte, ist nicht mehr da. Und die Familie ihrer Schwägerin Beate – Hedwig Eyrichs geliebter Tochter –, will von alledem nichts hören. Rosemarie Eyrich verärgert diese Reaktion so sehr, dass sie beschliesst, den Kontakt zur Familie ihres Mannes abzubrechen.

Nachforschungen laufen ins Leere

Karl-Horst Marquart weiss, wie schwer es ist, einen schriftlichen Beweis zu finden, der Hedwig Eyrich mit den Stuttgarter Euthanasiemorden in Verbindung bringt. Der Mediziner im Ruhestand arbeitete in den 1990erJahren im Stuttgarter Gesundheitsamt und trug nach Feierabend Beweise für die NS-Verstrickung seiner Behörde zusammen. Bis heute kämpft er gegen das Schweigen.

Von den 74 Stuttgarter Opfern der Kindereuthanasie wurden die meisten, 39, im hessischen Eichberg ermordet. Mindestens elf Minderjährige wurden zwischen April 1943 und Juli 1944 in die Tötungstrakte der Kinderfachabteilungen eingewiesen. Also zu jener Zeit, zu der Hedwig Eyrich die Abteilung Erb- und Rassenpflege des Gesundheitsamtes leitete. Was fehlt, um die Mitschuld der Ärztin zweifelsfrei zu beweisen, ist ihre Unterschrift.

Geografische Distanzen, verschachtelte Bürokratie und die gezielte Vernichtung vieler Akten durch Mitarbeiter des Stuttgarter Gesundheitsamtes kurz vor Kriegsende seien einige der Gründe, weswegen Nachforschungen oft ins Leere liefen, sagt Marquart. Für andere Opfergruppen des NS-Regimes war die öffentliche Aufmerksamkeit grösser. Um die Ermordeten und Zwangssterilisierten aus dem Euthanasie-Programm der Nazis blieb es lange ruhig. Noch immer ist es schwer, Entschädigungszahlungen einzufordern. Und das Stigma «lebensunwert» oder «asozial» lastet teilweise bis heute auf den Familien. Vielen fällt es schwer, über das zu sprechen, was ihnen und ihren Angehörigen angetan wurde. Eine von jenen, die sich trauen und Karl-Horst Marquart von ihrem Schmerz erzählt haben, ist Klara Häffelin.

Ein Stolperstein für Gerda

An einem Tag im Juli 2019 ächzt Klara Häffelin einen kurvigen Weg zur Anhöhe einer Psychiatrischen Klinik hinauf. In der Ferne reifen an Weinhängen Trauben in der stechenden Sonne. Selbst die Kronen der Bäume, die der Psychiatrie ihren Namen geben, spenden nur wenig Schatten: Eichberg. Die Rentnerin hat lange auf diesen Tag gewartet. Seit mehr als sieben Jahrzehnten ist ihre Schwester Gerda tot. Jetzt trennen die 82-jährige nur noch wenige Meter bis zu einem Stück Wiese, unter dem Gerda begraben liegt. Klara Häffelin war noch nie zuvor hier.

Karl-Horst Marquart ist heute mitgekommen, genau wie Inge Möller von der Stolperstein-Initiative in Häffelins Geburtsort Stuttgart-Zuffenhausen. Und Siglinde Ulmer, Klara Häffelins jüngere Schwester, die Gerda nie kennenlernen durfte. Sie alle bilden 76 Jahre später den Trauerzug, den das Kind nicht hatte.

Fünf Monate zuvor sass Klara Häffelin 300 Kilometer entfernt in ihrem kleinen Wohnzimmer in Vaihingen an der Enz. Einem Städtchen in der Nähe von Stuttgart, dessen Häuser verstreut um ein Bergschloss liegen. Im Wandschrank der pensionierten Verkäuferin jagen sich Rehlein auf Zinnkrügen, ein hölzerner Jesus hängt über der Wohnzimmertür. Vor ihr auf der Blümchentischdecke liegt ein Foto. Darauf: Klara Häffelins Mutter und Tante, sie selbst und vier ihrer insgesamt sieben Geschwister. Auf dem Bild hat Gerda den Kopf zur Seite gedreht, ihr Kleidchen weht ihm Wind. Das Foto diente einer Künstlerin als Vorlage für ein Porträt des Kindes, das in Klara Häffelins Schlafzimmer hängt. Neben dem Foto liegt ein Schreiben, das Klara Häffelin noch nie zuvor gesehen hat. Es ist ein auf Schreibmaschine verfasster Brief des

3

1 Max Eyrich wurde 1933 zum Landesjugendarzt in

Baden-Württemberg ernannt. 2 Städtisches Gesundheitsamt in Stuttgart: An der Rotebühlstrasse 43 befand sich die Abteilung Erb- und Rassenpflege. 3 Eine Gruppe vom «Bund Deutscher Mädel» zieht durch die damalige Adolf-Hitler-Strasse in Stuttgart Sonnenberg. 4 Familie Wild mit Mutter und Tante in den 40er-Jahren in

Zuffenhausen. Klara Wild, spätere Häffelin, ist das Mädchen rechts aussen. Auch Gerda ist dabei: links aussen.

4

Gesundheitsamts Stuttgart an die Kinderfachabteilung in Eichberg am Rhein.

Betreff: «Kind Gerda Wild, geb. 26.05.1940 gest. 5.10.1943»

«Auf Ihr Schreiben […] das heute hier einging, verweisen wir auf den [vorherigen] Schriftwechsel […]. Demnach wird aus Gründen der Papierersparnis u. der Arbeitsvereinfachung auf das Ausfüllen der Fragebogen verzichtet.»

Unterschrieben in krakeligen Buchstaben von «Dr. Hedwig Eyrich».

Die dem Schreiben vorausgegangene Anfrage der Anstalt fehlt. Wahrscheinlich wollte das Klinikpersonal weitere Informationen über Gerda oder eine Kostenabrechnung einholen. Für Klara Häffelin ist das unwichtig. Sie wendet den Blick nicht von dem Dokument, streicht mit ihren faltigen Händen darüber. Immer und immer wieder.

«Aus Gründen der Papierersparnis». Dass ihre Schwester in den Augen der Ärztin Eyrich nicht einmal ein Blatt Papier wert war, Klara Häffelin kann es nicht begreifen. Kriegsknappheit hin oder her. Ein Jahr zuvor, 1942, hatte das Papier noch für den zweiten Roman der Unterzeichnerin gereicht: «Inge und der verlorene Prinz». Eine Mädchengeschichte, in der eine Puppe zum Leben erwacht. Da schlagen in Stuttgart längst Bomben ein.

Klara Häffelin hat die Bombennächte selbst erlebt. Sie und ihre Geschwister mussten immer mit Trainingsanzügen ins Bett gehen, für den Fall, dass es Fliegeralarm gab. Einmal, während eines Alarms, rannte Gerda aus dem Luftschutzbunker, der 700 Meter vom Haus der Familie entfernt lag. Sie alle suchten das kleine Mädchen und fanden Gerda vor der Haustür. «So behindert kann sie nicht gewesen sein, wenn sie den Weg allein gefunden hat», sagt Klara Häffelin. Mit drei Jahren konnte Gerda noch nicht sprechen. Sie hatte ihre eigene Weise, sich mitzuteilen. «Gerda hat uns immer ihren Schnuller hingehalten», erzählt Klara Häffelin, «damit wir ihr Zucker drauf machen.»

Eine offizielle Diagnose gab es nie. Doch für das Gesundheitsamt Stuttgart war Gerda «lebensunwert». Eines Tages holte eine Krankenschwester das Kind ab. Die Mutter war zu diesem Zeitpunkt allein zu Hause mit den jüngeren Kindern. Der Vater arbeitete auf einer Baustelle. Als er zurückkam, war das Kind weg. Die Krankenschwester hatte der Mutter gesagt, dass Gerda an einen Ort käme, wo sie sprechen lerne. Zwei Wochen später war das Mädchen tot, offiziell gestorben an einer Lungenentzündung, in der Kinderfachabteilung Eichberg.

Seit 2013 erinnert ein Stolperstein im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen an Gerdas Schicksal. Manchmal fährt Klara Häffelin mit ihrem Auto die dreissig Minuten von ihrer Wohnung bis zu dem Stein, um ihn zu putzen. Wenn das Messing anläuft, könne man den Namen nur noch schlecht lesen. Ihr Weg führt dann vorbei an einem Bach, an dessen Uferpfaden sie mit ihren Geschwistern spielte. Heute wehen im Gestrüpp Fetzen aus Plastiktüten wie Fähnchen im Wind. «Hier wohnte Gerda Wild. Eingewiesen 21.9.1943, Heilanstalt Eichberg, ermordet 5. Oktober 1943, Kinder-Aktion», steht ein paar Meter weiter auf dem Stolperstein. Vom Ort, an dem ihre Schwester umgebracht wurde, erfuhr Klara Häffelin erst durch den Stein. Ein richtiges Grab gibt es für Gerda nicht. Ihre Leiche wurde direkt auf einer Wiese der Anstalt vergraben. Namenlos, in einem Massengrab mit vielen der anderen 400 Kinder und Jugendlichen, die dort ermordet wurden.

Als man Gerda dorthin brachte, war Walter Schmidt Direktor der Anstalt. Beim Personal trug er den Namen «Massenmörder». Weil er im Gegensatz zu vielen anderen NS-Anstaltsleitern Kinder und Erwachsene eigenhändig zu Tode spritzte. Von etwa 200 Klinikopfern entnahm Schmidt Gehirne. Getränkt in Formaldehyd, schickte er sie für «Untersuchungen» an die Universität Heidelberg. Schmidt wurde 1946 zwar zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, aber schon 1953 war er wieder frei. Später arbeitete er wieder als Arzt.

Kaum jemand, der an dem Euthanasie-Programm beteiligt war, wurde nach dem Krieg zur Rechenschaft gezogen. Auch die Eyrichs aus Stuttgart nicht. Max Eyrich wurde 1949 im Grafeneck-Prozess angeklagt. Dort erzählte er seine Version der Geschichte. Es ist jene, die seine Familie bis zum Dezember 2018 glaubt: Er habe alle Möglichkeiten genutzt, um Kinder vor der Euthanasie zu retten. Auch das Gericht glaubte ihm. Unterstützung bekam er von seinem ehemaligen Universitätsprofessor Robert Gaupp, der ihn mit einem Schreiben entlastete.

Unterdessen war auf dem Sonnenberg eine Antwort auf Hedwig Eyrichs Brief vom Januar 1948 eingetroffen: «Formell ist die Betroffene nicht belastet», schrieb die Stuttgarter Spruchkammer: «Es war nun einmal ihre Aufgabe, rein ärztlich-sachlich Feststellungen zu treffen.» Von Euthanasie ist darin keine Rede, angeklagt wurde Hedwig Eyrich nie. Nach dem Tod von Max Eyrich brachte sie 1963 ein letztes Buch heraus: «Schulversager», ein unvollendetes Werk ihres Mannes. Es steht bis heute unkommentiert in den Regalen der Universität Tübingen. Dort, wo für beide alles begann.

Klara Häffelin läuft im Juli 2019 die letzten Meter bis zur Wiese im hessischen Eichberg, unter ihren Sandalen knirscht der Kies. Ein paar Patienten der Psychiatrie kommen ihr entgegen. Die Klinik ist noch immer in Betrieb.

Vor einer kleinen Kapelle erstreckt sich die Wiese am Hang, auf dem wilde Erdbeeren und Rotklee blühen. Ein namenloses Mahnmal gegenüber ist die einzige Erinnerung an Gerda und die anderen Ermordeten. «Glauben Sie, ein Pfarrer war dabei?», fragt Klara Häffelin. Dann geht sie ein Stück allein über das Gras, ihre jüngere Schwester schaut ihr nach. Unter einer Konifere bleibt Klara Häffelin stehen. Efeu schlängelt sich um einen Grabstein, eine rote Kerze lehnt daran. Es ist das Grab eines Vorgängers von «Massenmörder» Walter Schmidt. «Direktor der Anstalt 1911–1931», lautet die Inschrift. «Dem Doktor haben sie ein Denkmal gesetzt», sagt Klara Häffelin. Wo man ihre Schwester Gerda genau verscharrt hat, kann niemand sagen.

Hintergründe im Podcast:

Die Autorin Anna-Theresa Bachmann spricht mit dem Radiomacher Simon Berginz über die aufwändige Recherche und ihren Umgang mit dem Thema. Mehr auf: surprise.ngo/talk

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