Surprise 495/21

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Aus Gründen der Papierersparnis Euthanasie Rosemarie Eyrich und Klara Häffelin verbindet nichts miteinander. Ausser eine Unterschrift auf einem Dokument aus der NS-Zeit und die Suche nach der Wahrheit. TEXT  ANNA-THERESA BACHMANN FOTOS  LANDO HASS

Noch immer zeigt das Kalenderblatt auf dem Schreibtisch des Berliner Arztes Klaus Eyrich 2013, das Jahr, in dem er starb. Nie wäre es seiner Frau Rosemarie eingefallen, die Schubladen und Regale in seinem Arbeitszimmer zu durchstöbern. Auch jetzt, fünf Jahre nach seinem Tod, fällt es ihr schwer. Die 88-Jährige tritt ans Fenster, durch das kurz vor Weihnachten 2018 fahles Winterlicht scheint, und schliesst die Augen. «Ich bin froh, dass er das nicht mehr erleben muss», sagt sie. «Das» ist die Aufarbeitung von all den Dingen, die Klaus Eyrich seiner Frau Rosemarie in fünfzig Jahren Ehe womöglich verschwiegen hat. Seine Jugend in Stuttgart und das, was seine Mutter, die Ärztin und Kinderbuchautorin Hedwig Eyrich, Kindern und Jugendlichen während der NS-Zeit angetan hat. Drei Monate später, im Februar 2019, sitzt 650 Kilometer von der Villa der Eyrichs in Berlin entfernt eine zweite Frau in ihrem kleinen Wohnzimmer und drückt die schmalen Lippen zusammen. Vor Klara Häffelin liegt auf der Blümchentischdecke ein Blatt Papier, das sie noch nie gesehen hat. Es ist das einzige Dokument, das Auskunft darüber gibt, wer an der Ermordung ihrer Schwester vor 76 Jahren beteiligt war. Blaues Minus für Leben, rotes Kreuz für Tötung Am 30. Januar 1948 schickt Psychiaterin Hedwig Eyrich einen Brief an die Spruchkammer 3 in Stuttgart. Es ist eines von vielen Schreiben, wie sie in jenen Tagen bei den als «Spruchkammern» bekannten Laiengerichten eingehen. Gegen Eyrich liegen mehrere Anschuldigungen vor. Von einem Ingenieur etwa, dem Eyrich ein Schreiben verweigerte, um seine 35 Jahre jüngere Braut zu heiraten. Oder von einer jungen Frau, die ihr Auserwählter verliess, nachdem ihn Eyrich auf den «stark asozialen Einschlag» seiner Verlobten und ihren «schwachsinnigen» Bruder hingewiesen hatte. Hedwig Eyrich soll nun erklären, was wirklich an ihrer alten Arbeitsstätte geschah. Städtisches Gesundheitsamt – so prangte es in Frakturschrift neben dem Eingang des fünfstöckigen Hauses mit den Giebeltürmchen in der Rotebühlstrasse 43. 16

Am Pförtner vorbei nahm Hedwig Eyrich dort den Aufgang in der Mitte des Gebäudes bis zu ihrem Büro im vierten Stock. Die Baupläne des 1944 zerstörten Hauses zeigen es noch. Hier, in der Abteilung Erb- und Rassenpflege, stellt die Ärztin nicht nur Ehefähigkeitszeugnisse aus. Die Abteilung ist die Schaltstelle der Kindereuthanasie in Baden-Württemberg. Hier landen die Meldebögen, auf denen Hebammen und Ärzte Kinder und Jugendliche mit geistigen und körperlichen Behinderungen erfassen. Eine geheime Anordnung des Reichsministeriums des Inneren in Berlin. Hedwig Eyrich, die die Abteilung Erbund Rassenpflege in Stuttgart von April 1943 bis Juli 1944 leitet, entscheidet, welche Meldebögen an den «Reichs­ ausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden» in die Reichshauptstadt Berlin weitergeleitet werden. Dort vermerken die Gutachter: blaues Minus für Leben, B für Beobachtung, rotes Kreuz für Tötung. Hedwig Eyrich und ihre Mitarbeiter weisen die Minderjährigen daraufhin in eine der über dreissig Kinderfachabteilungen ein. So nennen die Nazis die abgegrenzten Bereiche in Psychiatrien und Krankenhäusern, in denen Mediziner Kinder und Jugendliche vergiften, sie verhungern lassen oder in eine von sechs Tötungsanstalten im gesamten Reichsgebiet überstellen, um sie zu vergasen. Darunter auch Minderjährige, die keine Behinderung haben, aber als schwer erziehbar gelten. Euthanasie heisst wörtlich übersetzt «guter Tod» oder «Sterbehilfe». Damit hat das alles aber nichts zu tun. Etwa 5000 Minderjährige werden in den Kinderfachabteilungen umgebracht, insgesamt fallen den Euthanasiemorden 300 000 Menschen zum Opfer. Mit alledem will Hedwig Eyrich nichts zu tun gehabt haben. So behauptet sie es zumindest in ihrem Brief an die Spruchkammer von 1948: «Rassenpolitik haben weder das Amt noch ich betrieben», schreibt sie. Rassenhygiene, also Eugenetik, sei das gewesen, eine anerkannte Wissenschaft. Eyrich habe beraten und geholfen. Und überhaupt: Die Ärztin habe viele jüdische Freunde gehabt, sich Surprise 495/21


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