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Jede Mahnung wie ein Schlag

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Surprise-Porträt

Surprise-Porträt

Samuel Berger war Anfang zwanzig, als er in die Schulden rutschte und schwer erkrankte. Zehn Jahre später kämpft er sich immer noch zurück.

TEXT SIMON JÄGGI

Samuel Berger ist im zweiten Jahr seiner Lehre zum Metallbauer, als ihn die Kraft verlässt. Schwindelanfälle, Kopfschmerzen, Fieberschübe, sie überkommen ihn plötzlich und ohne erkennbaren Grund. Für ihn ist es das Ende des Lebens, wie er es bisher kannte. Berger heisst eigentlich anders, sein richtiger Name soll hier ungenannt bleiben. Zu gross ist die Scham für das, was folgte.

Bis zu seiner Erkrankung lebte Berger eine weitgehend unbeschwerte Jugend auf dem Land, in einer kleinen Gemeinde im Berner Emmental. Er fährt mit seiner getunten Ciao Piaggio durch die Gegend, macht mit Freunden die Nachbarschaft unsicher. Die Beziehung zu seinen Eltern ist gut. Der Vater arbeitet als Steinhauer, restauriert alte Sandsteingebäude. Die Mutter, eine gelernte Köchin, bleibt nach der Geburt ihres Sohnes zuhause. Als Samuel Berger sechzehn ist, trennen sich die Eltern.

Berger entscheidet sich statt Gymnasium für eine Lehre. Dreimal die Woche spielt er Handball in der interkantonalen Auswahl, er fühlt sich in bester Verfassung. Seiner Lehre geht er mit Ehrgeiz nach. Bis im dritten Lehrjahr eine unerklärliche Krankheit ihren Anfang nimmt. Über ein halbes Dutzend Spezialist*innen untersuchen ihn, eine Ursache für die Symptome findet keiner.

Irgendwann landet Berger verzweifelt in der Praxis eines Alternativmediziners. Diagnose: Metallunverträglichkeit, ausgelöst durch seine Arbeit. Berger hatte schon länger den Eindruck, dass die Metallwerkstatt etwas mit der Krankheit zu tun haben könnte. Die Diagnose erscheint ihm wie eine Erlösung. Er ahnt nicht, wohin ihn sein Weg in den nächsten Jahren führen wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Invalidenversicherung (IV), die Samuel Berger gleich zweimal durch ihre Maschen fallen lässt.

Der Alternativmediziner verordnet Berger eine Entgiftungskur und rät ihm, er solle die Metallwerkstatt meiden. Er arbeitet von nun an viel im Büro und kann so seine Ausbildung trotzdem abschliessen. Doch es ist klar, er kann nicht weiter auf dem gelernten Beruf arbeiten. Berger braucht eine zweite Ausbildung. Ein Verwandter von ihm leitet ein Restaurant in Grenchen und bietet ihm eine Lehrstelle in der Küche an. Er verlegt seinen Wohnsitz an den Jurasüdfuss und beginnt die Ausbildung zum Koch. Er und seine Eltern vertrauen darauf, dass die Unfallversicherung (SUVA) oder die IV aufgrund der Krankheit die Kosten für die Umschulung übernehmen und die Wohnungsmiete decken werden.

Doch das ist ein folgenschwerer Irrtum.

Kurzes, neues Leben

Im Juni 2007, ein halbes Jahr nachdem Berger seine Ausbildung begonnen hat, erhält er Post von der IV. «Die Abklärungen haben ergeben, dass nach schulmedizinischer Erkenntnis keine Erkrankung vorliegt und hat damit das Vorliegen einer Berufskrankheit verneint», heisst es. Weil ein Alternativarzt die Diagnose gestellt hat, erachten die Versicherungen diese als ungültig. Auch der Sozialdienst will die Kosten an die Wohnung nicht übernehmen. Den Eltern fehlt das Geld, um die Miete weiterhin zu bezahlen. Nach einem Jahr muss Berger seine Lehre abbrechen und kehrt zurück ins Emmental. Zum ersten Mal flammt in ihm Wut auf, die ihn über Jahre begleiten wird.

Seine Geschichte erzählt Berger am Ufer der Aare in Interlaken, wo er inzwischen wohnt. Ein Mann Anfang dreissig von kräftiger Statur, sein dunkler Vollbart reicht fast bis zur Brust. Er spricht mit sanfter Stimme. Es ist ein sonniger Frühlingstag, die Aare fliesst hier in einer streng begradigten Linie aus dem einen See in den anderen. Auf der anderen Seite des Flusses erhebt sich die Bergflanke hoch zum Hardergrat. Die abgebrochene Kochlehre liegt mehr als zehn Jahre zurück.

«Seit dem Abschluss meiner Lehre hatte ich dafür gekämpft, dass ich auf eigenen Beinen stehen kann», sagt Berger rückblickend.

Nach dem Abbruch der Kochlehre braucht Berger Geld. Er versucht es doch noch einmal als Metallbauer, doch bereits nach wenigen Wochen kehren die Symptome zurück. Fieber, Schwindel, Kopfschmerzen. Er kündigt und findet über einen Bekannten eine Anstellung als Finanzberater. Ein neues Leben beginnt. Nach einer kurzen Ausbildung verkauft er auf Provision schweizweit Lebensversicherungen und Anlagemöglichkeiten, trägt jetzt einen Anzug und kommt herum. Berger verdient so viel Geld wie noch nie, bis zu 9000 Franken pro Monat. Er ist zwanzig Jahre alt, ans Sparen denkt er nicht. Er fliegt regelmässig zu seiner Freundin nach Deutschland, geht mehrmals pro Woche ins Restaurant essen und an den Wochenenden feiern. Mit der Arbeit steigen auch die Kosten. Berger braucht ein zweites Telefon, Anzüge und ein Generalabonnement der SBB.

Doch der Höhenflug hält nicht sehr lange an. Nach einigen Monaten geht die Zahl von Bergers Kunden stark zurück und damit auch sein Einkommen. Die Kosten bleiben hoch, Berger nimmt einen Kredit auf – in der Hoffnung, dass es bald wieder besser läuft. Doch die Verkäufe sinken weiter, nach einem Jahr erhält er die Kündigung. Dann wird ihm alles zu viel: die Krankheit während der Lehre, die Versicherungen, die seiner Diagnose keinen Glauben schenken, die abgebrochene Kochlehre, und jetzt noch die Entlassung aus seinem Beraterjob. «Irgendwann war es einfach genug, ich konnte nicht mehr.»

World of Warcraft mit Reis

Berger liegt nur noch zuhause im Bett, in der Wohnung im Emmental, die er von seiner Grossmutter mietet. Er geht nicht mehr vors Haus, öffnet keine Post, meidet das Telefon. Er flüchtet sich in Computerspiele, World of Warcraft, bis zu zwölf Stunden am Tag. Irgendwann ernährt er sich nur noch von Reis. Eines Tages steht seine Mutter vor der Wohnungstür, klopft dagegen. Als er nicht reagiert, versucht sie die Türe aufzubrechen. Schliesslich öffnet er, folgt seiner Mutter ins Auto und fährt mit ihr zum Arzt. Dieser diagnostiziert eine schwere Depression. Die Diagnose trifft Berger nochmal wie ein Hammerschlag. Der

Dann kommen die Rechnungen, die Kosten der Inkassofirmen, die Verzugszinsen. Und schliesslich die Schuldscheine.

Arzt empfiehlt ihm eine stationäre Therapie, doch Berger will nicht – zu sehr fürchtet er sich vor einer Stigmatisierung im Tal. «Dann landete ich, zäck, bei der Sozialhilfe.» Da Berger erst nach Ende seiner Arbeitszeit erkrankt ist, erhält er keine Krankenversicherung.

Aufgrund seiner Depression ist er auch nicht für eine andere Stelle vermittelbar. Deshalb finanziert die Sozialhilfe seine Grundkosten, Wohnen, Essen, Kleider. Was ein Mensch in der Schweiz zum Leben braucht. Seine Rechnungen muss er selber bezahlen, die Steuern, Wehrpflichtersatzabgabe, das GA, die Telefonabonnemente. Doch das Bankkonto ist leer und die Mahnungen stapeln sich. Innerhalb von kurzer Zeit summieren sich die offenen Rechnungen auf über 20 000 Franken. Berger ist erst 21 Jahre alt. Inzwischen hat er die teuren Abonnemente längst gekündigt und seine Lebenskosten auf ein Minimum gesenkt. Doch einmal in Bewegung gekommen, läuft der Apparat immer weiter: Auf Rechnungen folgen Mahnungen mit Mahngebühren. Dann kommen die Betreibungen, dazu die Kosten der Inkassounternehmen, die Verzugs-

zinsen obendrauf. Schliesslich die Schuldscheine. «Etwa ein Viertel der Gesamtschulden setzte sich aus solchen zusätzlichen Kosten zusammen. Alle diese Kosten werden auf die Leute abgewälzt, das macht die Verschuldung noch viel schlimmer», sagt Berger. Für ihn beginnt ein jahrelanger Kampf gegen die Schulden und ein weiter Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben. Der Arzt diagnostiziert eine rezidivierende depressive Störung. Hat sich Berger etwas stabilisiert, folgt die nächste grosse Krise. Eine langjährige Beziehung, die er trotz allem hatte aufrechterhalten können, zerbricht. In Phasen, in denen es ihm besser geht, sucht er Arbeit. Zuerst in einer Autogarage, dann beginnt er auf Anraten seiner Sozialarbeiterin eine Lehre als Metallbaukonstrukteur, wo er am Computer Baupläne zeichnet. Nach einem Jahr aber bricht er wieder ab.

«In dieser Zeit habe ich nach jedem Strohhalm gegriffen, der sich angeboten hat. Und doch kam es nicht gut. Die Schulden hängen an Berger wie ein Anker, der ihn an Ort und Stelle festhält. Jede Mahnung ist ein zusätzlicher Schlag, sein Selbstvertrauen sackt ins Bodenlose. Berger denkt, er komme aus den Schulden nie mehr heraus. Immer wieder zieht er sich von der Aussenwelt zurück, denkt über Suizid nach. Der Kontakt zum letzten übriggebliebenen Freund bricht ab.

Eine Therapeutin hält fest: «Deutliche Überlagerung der ‹ursprünglichen› psychiatrischen Krankheit durch die fatalen Folgen seiner nun langdauernden regressiven ‹Immobilisierung› im sozialen Rückzug.» Oder anders gesagt: Verschuldung und Arbeitslosigkeit verschlimmern seine Erkrankung.

In einer Tagesklinik verliebt sich Berger in eine andere Patientin. Sie beginnen eine Beziehung. Erst als diese zerbricht, willigt er in eine stationäre Therapie ein. Vier Monate bleibt Berger in der Klinik. Hier lernt er sich selbst besser kennen. «Ich merkte, dass ich nicht mehr im handwerklich-technischen Bereich arbeiten möchte. Stattdessen zog es mich zum Sozialen hin.»

Berger würde gern Arbeitsagoge werden oder einen Pflegeberuf lernen. Seine Hoffnungen setzt er erneut auf die IV. Es ist Februar 2014, als er sich dort anmeldet und ein Gesuch um berufliche Massnahmen stellt. Berger leidet da bereits seit vier Jahren unter Depressionen. Was ihm am meisten zusetzt – immer noch –, das sind seine Schulden und die ungewisse Zukunft. Er weiss: Will er einen Ausweg aus seiner Erkrankung finden, braucht er eine Perspektive. Berger hofft, dass die Versicherung eine Umschulung finanziert. Doch die IV lässt sich Zeit. Über ein Jahr später lehnt sie sein Gesuch um berufliche Eingliederungsmassnahmen mit der Bemerkung ab: «Unsere Abklärungen haben ergeben, dass auf Grund der aktuellen gesundheitlichen Situation keine stabile Belastbarkeit vorhanden ist und Eingliederungsmassnahmen nicht angegangen werden können.»

Berger weiss, was er will

«Von der IV erwarte ich gar nichts mehr», sagt Berger rückblickend. «Bei meiner ersten Erkrankung sagten sie, dass diese nicht existiert. Als ich während der Depression um Hilfe anfragte, sagten sie, ich sei zu krank.»

Berger arbeitet weiter an sich. Er besucht über Monate eine Therapie in einer Tagesklinik, langsam verbessert sich sein Zustand. In all dieser Zeit lebt er von der Sozialhilfe. Eigentlich möchte er wieder arbeiten und seine Schulden abbezahlen. Stattdessen wächst Bergers Schuldenberg täglich weiter, denn auch die Sozialhilfegelder sind im Grunde aufgenommene Schulden. Ende 2015 stimmt die IV schliesslich einer arbeitsmarktlich-medizinischen Abklärung zu.

Jetzt öffnet sich die Tür zur erhofften Umschulung, denkt sich Berger. Während insgesamt vier Wochen muss er in beobachtetem Rahmen seine Arbeitsfähigkeit unter Beweis stellen. Er schraubt Solarmodule zusammen, formatiert Excel-Tabellen, wechselt Velo-Pneus, reinigt Seminarräume, bedient eine Kasse im Betriebsrestaurant. Zudem muss er verschiedene Eignungs- und Interessentests durchlaufen. Zwischendurch fragt sich Berger auch mal, wozu das alles gut sein soll. Er weiss ja, was er will: einen Beruf im Sozialbereich. Am Ende der Abklärung stellt ihm der Leiter ein gutes Zeugnis aus. Er empfiehlt, die IV solle Berger bei der Berufswahl unterstützen: «Vorzugsweise in einem Tätigkeitsbereich, der Herrn Berger interessiert und in dem eine berufliche Zukunft vorstellbar ist.»

Doch die IV ignoriert diese Empfehlung. Sie lässt Berger erneut fallen. Ein IV-Mitarbeiter teilt der zuständigen Sozialarbeiterin per Mail mit: «Auf Grund der Persönlichkeitsstruktur von Herrn Berger wird eine Umschulung in einen sozialen Beruf als nicht geeignet beurteilt. Die IV wird eine Umschulung zur Pflege deshalb nicht unterstützen. Herr Berger kann auf eigene Faust eine Ausbil-

dung zum Pfleger beginnen.» Und das tut er dann auch. Berger nimmt sein Leben in die Hand, beginnt eine Ausbildung zur Fachperson Betreuung in einem Heim für Menschen mit einer Behinderung. Er ist weiterhin auf die Sozialhilfe angewiesen, die einen Teil seiner Lebenskosten bezahlt. Die Arbeit im Heim ist anstrengend, körperlich wie physisch, es gibt Nachtschichten, Wochenenddienst inklusive. Trotz der Arbeitsbelastung findet er seine Lebensfreude wieder. Die IV-Gutachter*innen hatten behauptet, er sei einem solchen Beruf nicht gewachsen. Berger beweist sich selbst das Gegenteil. Nach drei Jahren beendet er die Lehre. Abschlussnote 5.5.

«Jetzt bin ich am Abbezahlen», sagt Berger. Seit dem Lehrabschluss vor zwei Jahren arbeitet er weiterhin auf dem Beruf, zu hundert Prozent. Ein kleineres Pensum ist für ihn keine Option: Er will die Schulden tilgen. Er hat zusammen mit der Schuldenberatungsstelle Bern aufgestellt.

Berger hat jetzt neue Freunde, einen neuen Wohnort, eine Freundin, mit der er inzwischen verlobt ist. Die Schulden betragen noch 12 000 Franken, jeden Monat werden es 2000 weniger. So viel geht von Bergers Lohn jeweils weg, knapp die Hälfte seines Einkommens. Insgesamt hatte er sich auf rund 50 000 Franken verschuldet, bis in einem Jahr sollte er auf Null sein.

Wenn denn wirklich alles so läuft, wie Berger sich das erhofft. Denn in den 50 000 Franken nicht eingerechnet ist all jenes Geld, das er von der Sozialhilfe erhalten hat. Berger kann nur schätzen, wie viel das ist. Es müssen mehr als 100 000 Franken sein, die über die Jahre zusammengekommen sind. Auch diese Gelder können von der Behörde zurückverlangt werden. Im Kanton Bern macht sie das besonders häufig. Ab einem Jahreseinkommen von mehr als 36 000 Franken ist die Sozialhilfe im Kanton Bern nämlich berechtigt, die Gelder zurückzufordern.

«Dann bezahle ich bis zu meinem Lebensende ab.»

Doch Samuel Berger ist zuversichtlich. Er hat Pläne. Er wünscht sich eine Familie. Ein Haus. Ein Auto. Und endlich wieder Urlaub. In den Ferien war er zuletzt vor mehr als zwölf Jahren.

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