Auf der anderen Seite des Zauns TEXT SERAINA KOBLER
Am Rande der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter, verwahrloster Garten. Beinahe hätte Emil ihn vergessen. Und mit ihm ein halbes Leben, welches langsam vom Loch in seinem Bauch gefressen wurde. Wenn er die Augen schloss, dann konnte er spüren, wie es wuchs. Bis es so gross war, dass es seine ganze Körpermitte, die früher einmal voll und massig gewesen war, ausfüllte. Das Geräusch des Regens, der auf das Blechdach trommelt, holt ihn zurück. Fahles Morgenlicht dringt durch das dünne Glas des Fensters in die Hütte. Irgendwo weit weg bellt ein Hund. Er friert in seiner feuchten Jacke. Schnell steht er auf, nimmt den Plastikeimer voller Wasser, den er unter die undichte Stelle des Daches gestellt hatte, und geht hinaus. Das Loch war seit jenem Tag da, an dem sie ihm das gesagt hatte, was sein Leben in ein Vorher und in ein Nachher unterteilen sollte. Er war mit den Kindern im Schwimmbad gewesen. Das Mädchen hüpfte vom Sprungbrett und der Junge wollte seine Haare nicht föhnen, weshalb Emil ihm seine eigene Wollmütze aufsetzte. Danach hatten sie Pommes frites aus dem Automaten gegessen, mit roter Sauce, die immer noch ein bisschen an seinen Fingern klebte. Ich habe mich verliebt, sagte sie. Er packte weiter die Badetasche aus, als könne er das Gehörte ungeschehen machen, wenn er sich nur genug auf etwas anderes konzentrierte. Dann hängte er die feuchten Sachen auf. Zuerst das Badetuch aus den letzten Herbstferien am Meer. Er hatte es von einem marokkanischen Strandverkäufer gekauft, der eigentlich mit seinem Bruder in einer grossen, schmutzigen Stadt in einem winzigen Zimmer lebte. Nur im Sommer nicht, dann zog er mit seinen bunt gewebten Stoffen vom Norden der Insel hinunter in den Süden. Es war das letzte Stück gewesen, das er verkaufte, bevor er auf die Fähre stieg, die ihn am Ende der Saison wieder zurück in die Stadt brachte. Emil griff nach dem winzigen Bikinioberteil des Mädchens und fi-
ANZEIGE
10
xierte die Tupfen darauf so lange, bis ihm schwindlig wurde und sie zu flimmern begannen. Es roch nach Chlor in dem engen Raum. Hörst du mir überhaupt zu?, fragte sie. Er murmelte etwas. Doch sie zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. Er konnte nichts Vertrautes mehr darin erkennen, ausser vielleicht das Blau rund um die Iris. Danach war alles schnell gegangen. Sie verlangte von ihm, dass er die Wohnung verliess, und weil er keine bessere Idee hatte, erfüllte er ihr den Wunsch. Noch ehe der Frühling kam, war Emil verschuldet. Zwar zahlte das Amt immer noch pünktlich seinen Lohn. Doch die Rechnungen auf seinem Schreibtisch stapelten sich. Er legte sie mit dem Briefkopf nach unten, sodass er nicht sehen konnte, wer sie ihm geschickt hatte. Seine Klienten merkten nicht, dass er selbst immer mehr wurde wie sie. Er überwies ihnen den monatlichen Betrag zum Leben und hörte sich ihre Ausreden für versäumte Treffen an. Eines Morgens bemerkte er beim Blick in den Kalender, dass es nun exakt sechs Wochen her war, seit er das Mädchen und den Jungen zum letzten Mal gesehen hatte. Das war ebenso lange, wie die grossen Ferien dauerten – und länger, als er sich je hätte vorstellen können, von ihnen getrennt zu sein. Er erinnerte sich, wie er abends, bevor er selbst ins Bett ging, im Kinderzimmer ihren regelmässigen Atemzügen gelauscht und dabei in der Luft den leisen Duft von warmem Heu wahrgenommen hatte. Da bemerkte er, wie das Loch zu wachsen begann. Und er wusste, dass es ihn ganz auffressen würde, wenn er hierbliebe. Hier, in diesem Leben: Emil Brunner, 44 Jahre alt, Sozialarbeiter und zweifacher Vater ohne Kinder, ohne Frau, ohne Zuhause. Früher war er einer, der Dinge mochte wie belgisches Bier mit gezupftem Schweinefleisch, oder sein Rennrad aus Aluminium, die marokkanischen Platten, mit denen er seine Küche gefliest hatte, und dänische Serien. Er wohnte in einer Strasse, in der bunte Wimpelgirlanden zwischen den Häusern wehten und die Menschen im Sommer an langen Bänken unter den Bäumen sassen. Und da, kurz bevor er fürchtete, ganz von der Leere verschluckt zu werden, da erschien ihm das Bild des alten, verwahrlosten Gartens. Nur ganz kurz, aber lange genug, um ihn daran zu erinnern, dass es einmal eine andere Zeit gegeben hatte. Eine ohne die Frau, und eine ohne die Kinder. An jenem Abend verliess er das Büro exakt um fünf nach fünf. Wie jeden Tag von Dienstag bis Freitag. Der Montag, der seit der Geburt der Zwillinge sein Familientag gewesen war, war zu einem Mahnmal geworden. Am Anfang hatte er das nur mit grossen Mengen von billigem Wein ertragen. Er trank so lange, bis seine Zunge pelzig war und er zuschauen konnte, wie seine Gedanken zu einem flauschigen Knäuel wurden und immer langsamer an ihm vorbeizogen. Als sein Kopf sich irgendwann wie ein vollgesogener Schwamm anfühlte, begann er zu Surprise 504/21