davon gehen CHF 4.–an die Verkäufer*innen
Seite 10 Strassenmagazin Nr. 583 13. bis 26. September 2024
Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass
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Bei Cem A. in seiner Beiz in Kreuzlingen kann man erleben, wie gut Inklusion tut.
Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah.
Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang
Editorial
In dieser Ausgabe nehmen wir Sie dreimal mit: in eine WG, nach Brasilien und zu einem Mühlespielfeld in einer Berner Quartierstrasse.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären nach einem Autounfall auf Hilfe angewiesen, weil ihr Gehirn nicht mehr funktioniert wie zuvor. Wie möchten Sie dann leben? «Wenn ich meine Wäsche selbst machen will, muss ich keinen Antrag stellen, sondern spreche mit meiner Betreuerin», sagt Pascale K. Sie wohnt in der WG Landhaus in Kreuzlingen. Sie und ihre Mitbewohner*innen haben eine Hirngewebeverletzung erlitten mit unterschiedlichen Folgen für den Alltag. Wie viel Normalität in diesem Zusammenleben steckt, lesen Sie ab Seite 10.
Jedes Jahr unterziehen sich weltweit schätzungsweise 73 Millionen Frauen einer Abtreibung. Fast die Hälfte findet unter unsicheren Bedingungen statt, denn das Recht auf einen Schwangerschaftsab-
4Aufgelesen
6Recherchefonds Nächste Runde
6Vor Gericht Kein Platz für Frauen wie sie
7Verein Surprise Surprise macht Schule
8Verkäufer*innenkolumne Raus aus der Schweiz
bruch ist vielerorts nicht gewährleistet. Auch Laura Valentes Weg, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, war lang. Brasilien, wo sie lebt, hat ein restriktives Abtreibungsgesetz. Und Verschärfungen werden immer wieder diskutiert. «Ich war so wütend und gleichzeitig hilflos, weil ich keine Kontrolle über mein Leben hatte», sagt sie. Ihre Geschichte lesen Sie ab Seite 16.
Und ab Seite 14 finden Sie nach dem Migros-Restaurant, dem Freibad und dem Friedhof unseren neuesten «Ort der Begegnung». Seit wir darüber schreiben, sehe ich sie überall, die feinen Begegnungen. Ein Blick, mit dem sich zwei Menschen verstehen, ein Schmunzeln, ein Gespräch im Zugabteil. Ich habe einen Hang zum Kitsch, aber ich finde: In diesen Momenten steckt so viel, und ich stelle mir natürlich jedes Mal vor, wie aus der kleinen Begegnung etwas Grosses entsteht.
9Moumouni antwortet Was ist eine oft unterschätzte Kompetenz?
10Gesundheit Inklusive WG in Kreuzlingen
14Orte der Begegnung Mühlespielfeld in Bern
16Abtreibung Eingeschränkter Zugang in Brasilien
24Kino «Ich mag es, diese Absurdität des Krieges zu zeigen»
26Veranstaltungen
27Tour de Suisse Pörtner in Herzogenbuchsee
28SurPlus Positive Firmen
29Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30Surprise-Porträt «Alkohol trinke ich keinen mehr»
Aufgelesen
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
«Die Goldmedaille bei den Paralympics in Atlanta im 100-m-Lauf der Männer war der grösste Erfolg meines Lebens. Bis heute weiss ich nicht, wie ich in meinem Zustand die Goldmedaille gewinnen konnte. Ich hatte Kopfschmerzen und fühlte mich nicht hundertprozentig. Ich bin einfach als Erster ins Ziel gekommen. Das war ein grossartiges Gefühl. Ein Paralympionike zu sein war ein Vollzeitjob. Ich musste morgens früh aufstehen, trainierte sechs Tage die Woche. Leute sagten mir: ‹Du schaffst das nicht.› Sie dachten, weil ich mit einer Behinderung lebe, würde ich mich verletzen. Ich habe ihnen das Gegenteil bewiesen.»
Lachlan verkauft The Big Issue Australia in Melbourne und war drei Mal an den Paralympics – 1996 in Atlanta, 2000 in Sydney und 2004 in Athen.
«Als ich zu den Paralympics nach Sydney fuhr, um im Kugelstossen und Speerwerfen anzutreten, war ich 16 Jahre alt und der Jüngste im Team. Um an Wettkämpfen teilzunehmen, bin ich nach Deutschland, Brasilien, Spanien, Malaysia und Argentinien gereist. Ich habe einen Weltrekord aufgestellt und bei Weltmeisterschaften im Kugelstossen und Diskuswerfen Gold gewonnen. Ich habe es geliebt, bei den Paralympics dabei zu sein. Beim Kugelstossen dachte ich nach dem vierten Wurf: Ja, ich mache das ziemlich gut. Ich wurde Dritter. Meine Medaille entgegenzunehmen, war grossartig – mir fehlen die Worte, um das zu beschreiben.»
Murray verkauft The Big Issue Australia in Canberra und war im Jahr 2000 an den Paralympics in Sydney.
In der Ostsee pflanzen Taucher*innen Seegras an, um den Klimawandel zu bekämpfen. Gemäss einer Studie speichern Seegräser pro Quadratkilometer doppelt so viel Kohlenstoff aus dem die Erde erwärmenden Kohlendioxid (CO 2) wie Wälder. Aber nicht nur das: Die Pflanzen tragen auch zum Fischreichtum bei und schützen die Küsten vor Erosion.
ASPHALT, HANNOVER
Rechte
Gemäss neueren Untersuchungen dominiert die AfD zunehmend die sozialen Medien mit ihren politischen Inhalten. So erreicht sie insbesondere Kinder und Jugendliche über die aus China stammende Videoplattform TikTok. In deren Richtlinien heisst es unter anderem: «Wir erlauben kein hasserfülltes Verhalten, keine Hassrede oder das Bewerben von hasserfüllten Ideologien.» Nun hat die Petitionsplattform Campact mit einer Unterschriftenkampagne reagiert und fordert TikTok Deutschland auf, die «rechtsextremen AfD-Konten» zu sperren.
STRASSENKREUZER, NÜRNBERG
Demonstrieren ist ein bedeutender Teil der Demokratie. Zuletzt gingen in Deutschland Hundertausende gegen Rechtsextremismus auf die Strasse, zuvor waren es Demos im Zusammenhang mit der Pandemie und dem Klimawandel. Wo viele Menschen zusammenkommen und es womöglich noch Spannungen gibt, kann es leicht zu Unfällen oder Verletzungen kommen. Hier sind die «Demosanitäter*innen» gefragt. Es sind dies Freiwillige mit einer medizinischen Ausbildung, die Demos und andere nicht-kommerzielle Veranstaltungen kostenlos oder gegen einen Obolus der Veranstalter medizinisch betreuen.
TROTT-WAR, STUTTGART
Recherchefonds
Unabhängig, kritisch und mit unverkennbarer Stimme – so berichtet Surprise seit Jahrzehnten über Armut, Ausgrenzung, Obdachlosigkeit und Migration. Die Themen sind von hoher gesellschaftlicher Relevanz in Zeiten sozialer Umbrüche, Krisen und Kriege, und sie werden zunehmend komplexer, vieles liegt im Dunkeln, manches wird vertuscht oder totgeschwiegen.
Mit unserem Recherchefonds möchten wir die grossen Geschichten zu diesen relevanten Themen in unserem Magazin fördern – vorzugsweise mit Bezug zur Schweiz, in jedem Fall aber nahe an und mit den Betroffenen. Der Recherchefonds unterstützt Journalist*innen mit finanziellen Beiträgen bis maximal CHF3000.
Dabei obliegt es den Bewerber*innen, welches Format angestrebt wird: Serien, grosse Artikel, Fotoessays, Reportagen, Mischformen–wir sind für alles offen, solange uns das Thema und die Herangehensweise überzeugt. KP
Neue Anträge können bis zum 15. Oktober eingereicht werden.
Weitere Informationen zum Surprise Recherchefonds finden sich unter surprise.ngo/recherchefonds
Die Jahre, sagt die Frau während der Verhandlung, spielten für sie keine Rolle. Sie ist erst 25 – ihr Rücken ist gebückt. Der Blick flackert, ihre Hände sind unruhig, immer wieder ordnet sie den einen Haarbüschel auf ihrem ansonsten kahlgeschorenen Kopf. Was Freiheit ist, hat sie wohl vergessen. Seit bald einem Jahrzehnt lebt sie in «kleiner Verwahrung». Diese stationäre Massnahme wird von Gerichts wegen bei psychisch auffälligen Täter*innen angeordnet, wenn ein Zusammenhang zwischen Erkrankung und Delikt besteht. Dort wird therapiert statt nur bestraft. Die Massnahme kann so lange verlängert werden, bis die Strafvollzugsbehörden zur Ansicht gelangen, dass die Person keine Gefahr mehr ist für die Gesellschaft.
In diesem Fall sind sie zum Schluss gekommen, dass sich keine nachhaltigen Therapiefortschritte feststellen liessen. Deshalb wurde beim Bezirksgericht Bülach der Antrag gestellt, die Frau solle «ordentlich verwahrt» werden. Der Gerichtsvorsitzende lässt die Verwahrte erzählen. Sie schildert ihren Alltag. Um halb acht gebe es Medikamente und Morgeninfo, ab neun Therapien. Am Nachmittag gehe es raus auf den eingezäunten Sportplatz, in den Garten. Zweimal die Woche gehe sie zur Psychotherapie, dienstags und donnerstags. Im Zentrum stünden Deliktsaufarbeitung und die Erstellung von Krisen- und Notfallplänen.
Denn wenn die Frau mit einer Situation nicht zurechtkommt, wird sie gewalttätig. Primär gegen sich selbst. Mehrfach hat sie
sich stranguliert. Sie schlägt den Kopf gegen die Wand. Verschluckt Dinge. Ritzt sich. Manchmal richtet sie ihre Gewalt auch gegen andere. Schon als Jugendliche, berichtet die Jugendstaatsanwältin, zeigte sie fremdgefährdendes Verhalten und ein erhebliches Störungsbild: Borderline, mit dissozialen Facetten. Schon früh wurde die Frau im Rahmen von Schutzmassnahmen immer wieder eingesperrt – einmal brachte sie einen Mitpatienten fast um. Dann eine Oberärztin.
Seit der Versetzung in eine andere Institution vor zehn Monaten aber sieht die Staatsanwältin eine positive Entwicklung. Sie beantragt die Abweisung der von den Strafvollzugsbehörden geforderten «ordentlichen Verwahrung». Auch der Anwalt der Frau sagt, die neue Massnahmestation sei ein Glücksfall. Zuvor habe seine Mandantin sechs Jahre in einer Hochsicherheitsabteilung geschmort mit schwerst psychotischen, schizoiden, männlichen Miteinsassen. Die Frau sei dort fehlplatziert gewesen und zeige nun Haftschäden. Kein Wunder bei wiederholter, teils wochenlanger Isolation sowie wiederholter Fixierung und sedierender Zwangsmedikation. Seine Mandantin, räumt der Anwalt ein, sei ein schwieriger Fall – aber es fehlten einfach auch geeignete Plätze für Frauen wie sie. Sie jetzt zu verwahren, wäre unverhältnismässig.Das Schlimmste sagt die Frau selbst. Man würde sie aufgeben.
Vorläufig gibt das Bülacher Bezirksgericht ihr noch eine Chance. Sie müsse jetzt nach dem erfreulichen Neustart signifikante Fortschritte erzielen, sagt der Richter, sonst müsse sie damit rechnen, dass die ordentliche Verwahrung wieder Thema wird.
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.
Wie bringt man tabuisierte Themen wie Armut und Obdachlosigkeit ins Klassenzimmer? Ab wann sind Kinder und Jugendliche bereit für eine Auseinandersetzung mit solchen Themen?
Es sind solche Fragen, über die unser Angebot «Surprise macht Schule» entstand: Vor ein paar Jahren hatte eine Primarlehrperson einen TV-Beitrag über die Sozialen Stadtrundgänge gesehen und beschlossen, zwei Stadtführer*innen in ihre Klasse einzuladen. Wir sagten spontan zu, begeistert von der Idee, die Kernthemen der Sozialen Stadtrundgänge – Armut, Obdachlosigkeit und Ausgrenzung – nun auch ins Klassenzimmer zu bringen. Es wurde ein unvergesslicher Vormittag mit hochkonzentrierten Schüler*innen und ohne Berührungsängste.
2020 liess die Pandemie die regulären Stadtrundgänge von heute auf morgen aussetzen. Diese Lücke nutzten wir, um die Idee mit den Schulworkshops weiterzuentwickeln. Da unsere Stadtführer*innen voller Mut und Experimentierfreude sind, waren einige von ihnen sofort mit an Bord – auch, weil ihnen auf ihren Rundgängen schon aufgefallen war, dass es jüngeren Teilnehmer*innen oft an Konzentration fehlte und auch das Zuhören schwerfiel. Folglich haben wir gemeinsam die bestehenden Inhalte der Touren methodisch und didaktisch entlang des Lehrplans 21 aufbereitet.
«Ich habe gemerkt, dass man als Obdachlose*r noch viel mehr Sorgen hat, als man von aussen sieht.»
Kantonsschülerin Ausserschwyz
Während der Pilotphase wurde uns deutlich, dass unsere Themen nicht automatisch in den Unterricht einfliessen und selten besprochen werden, jedoch viele Schüler*innen Berührungspunkte haben und es auch in jeder Klasse Armutsbetroffene gibt. Viele Lehrpersonen kennen Armut oder Obdachlosigkeit nicht aus eigener Erfahrung und verfügen daher über ein anderes Wissen als unsere Stadtführer*innen, die aus erster Hand berichten. Damit holt man die Schüler*innen direkter ab.
Authentisch und interaktiv: Für Schüler*innen ist es besonders interessant, direkt von Betroffenen mehr über die Themen Armut und Obdachlosigkeit zu lernen.
Mittlerweile führen die Stadtführer*innen Hans Peter Meier, Lilian Senn, Heiko Schmitz und Roger Meier engagiert SchulWorkshops in der ganzen Deutschschweiz durch. Ihr Erfahrungswissen und ihre Lebensgeschichten sind dabei ihr wichtigstes Werkzeug. Sie haben keine Mühe, den Halbtag jeweils dem Niveau und den Interessengebieten der Schüler*innen anzupassen. Lehrpersonen erhalten im Vorfeld Material für eine vorbereitende Einstiegslektion und nehmen am Workshop selbst eine aktive Rolle ein.
«Die Workshops sind eine einmalige Sache. Die Schüler*innen waren so aufmerksam wie sonst nie im Unterricht.»
Jürg Eck, Lehrperson aus Egg
Die Workshops sind einzigartig und lebendig. Zentral geht es um die Würde des Menschen, um das Hinterfragen von Vorurteilen und um die Frage des sozialen Zusammenhalts. Die Besonderheit des Angebots liegt darin, dass hier kein rein theoretisches Wissen vermittelt wird, sondern dass die Schüler*innen auch über Emotionen und Betroffenheit abgeholt werden.
Dadurch sind sie engagierter und nehmen die Inhalte merklich besser auf.
«In konzentrierter Atmosphäre können die Themen vertieft werden und die Schüler*innen trauen sich, Fragen zu stellen. Diese Tiefe ist auch für mich eine Bereicherung.»
Heiko Schmitz, Workshopleiter
Aktuell erarbeiten wir auf Wunsch von Lehrpersonen und wegen der häufigen Betroffenheit auch vieler Schüler*innen zusätzliche Inhalte zu den Themen «Armut + Alkoholsucht» sowie «Armut + psychische Gesundheit». So können unsere Workshopleiter*innen in Zukunft noch mehr Schüler*innen aus ihren eigenen Lebenswelten abholen und auf sensible Weise mit ihnen besprechen, welche schwerwiegenden Folgen ein Schicksalsschlag, eine psychische Krankheit oder eine Sucht in der Familie oder für Angehörige haben kann. Themen, die dringend mehr Gehör verdienen.
CARMEN BERCHTOLD, Angebotsleiterin surprise.ngo/surprise-macht-schule
Verkäufer*innenkolumne
Es war am Ende der Sommerferien, nach denen meine Tochter von der dritten in die vierte Klasse wechseln sollte, als wir am Freitagabend ca. um 19 Uhr (es ist alleine schon diese Tatsache eine Frechheit) einen Anruf bekamen. Es war die Klassenlehrerin unserer Tochter, die mir am Telefon mitteilte, sie habe nun Herrn Y in den Ferien getroffen (das war der Erstklasslehrer), und in Übereinstimmung mit ihm sei beschlossen worden, dass meine Tochter die dritte Klasse wiederholen müsse.
Wir alle drei, ihr Vater, sie und ich, fielen aus allen Wolken. Nach langem Seufzen, Nicht-Verstehen und Ärger kam die Lösung von ihr selbst: Dann gehe ich halt nicht mehr in die Schule. Nun ja, ich wusste auch nichts Besseres und meinte ziemlich gelassen, dann machen wir das so!
Nicht so tragisch, denn bis Ende der Unterstufe könnten mein Mann und ich (die Ausbildung hätten wir) ihr den Schulstoff auch selber beibringen. Auch haben wir oft über Pädagogik diskutiert und uns immer gut überlegt, welche Werte wir ihr mitgeben wollten. Oder wann sie für welche selbständigen Handlungen und Entscheidungen alt genug sei. Also ging sie nach den Sommerferien nicht mehr zur Schule. (Freude, Heiterkeit.)
Am Morgen konnten wir alle ausschlafen. Frühstück um 8 bis 8.30 Uhr, dann kam meine Tochter mit mir, unserem Hund und unserer Katze (Gina und Serafino, das ist eine andere Geschichte, die noch folgt) in den Wald. Unterwegs übten wir jeweils das Einmaleins. Mit Stolz haben wir da jeweils in jeder Reihe Gesetze gefunden, mit denen eine jede ganz einfach wird. Noch heute können wir besser und schneller kopfrechnen als manch andere. Am Nachmittag um 16 Uhr, wenn die Schule aus war, ging sie nach draussen, um mit den anderen Kindern zu spielen, bis es fast dunkel wurde. Wie viel Neid das bei anderen hervorrief, haben wir nicht bedacht. Nach zwei Wochen läutete unsere Haustürglocke Sturm. Da ich ein Morgenmensch bin, also schon wach war, schaute ich durch den Türspion und erschrak. Fünf Leute standen dort, drei in Zivilkleidung und zwei uniformierte Polizisten. So ging diese unbekümmerte Zeit in der Schweiz schnell zu Ende.
Die Fortsetzung folgt in Nummer 585.
KARIN PACOZZI, 58, verkauft Surprise momentan nur sporadisch in Zug. Sie ist nach wie vor überzeugt davon, dass Kinder schon früh selber wissen, was ihnen guttut.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Moumouni antwortet
Die Kompetenz des Schweizer Mannes zu morden wird häufig unterschätzt. (Ich meine natürlich nur weisse Schweizer cis Männer. Den anderen (sic!) unterstellt man leichter andere Dinge.) Man traut es ihnen nicht zu: den herzig lächelnden Opis auf der Appenzeller-Werbung, dem süss kichernden Federer oder dem bodenständigen Bobo, dem diskussionsfreudigen Brotz, die heute das Bild vom Schweizer Mann prägen. Nicht mal einem der bekanntesten Armeekorps der Welt, der Schweizer Garde, traut man es zu, weil die wie lustige Gaukler aussehen.
Auch ein Ueli Maurer auf Trump-Besuch im Weissen Haus wird eher ausgelacht und wirkt durch die Grundschulhaftigkeit, mit der er in fehlerhaftem Englisch «together ahead» ins Gästebuch schreibt, eher ungefährlich, obwohl es der Leitspruch des Schweizer Rüstungsunternehmens Ruag ist.
Sogar der verstorbene Gerhard Blocher, irres Maskottchen und Politiker der da-
maligen Blocher-SVP, traute es dem Schweizer Mann nicht mehr zu: In einem Video schwadronierte er davon, dass die meisten nicht mehr wüssten, wie man mit dem Sackmesser zusticht.
Nein, der Schweizer Mann ist nicht so temperamentvoll mordend und vergewaltigend wie die andern. Der Schweizer Mann besteigt lieber einen Berg.
Man könnte meinen, das sei jetzt hier aber ein ganz und gar schweizerhasserischer Text. Aber nein! Es geht um Brüderlichkeit! Männer morden überall auf der Welt. Entweder ein bisschen. Oder ein bisschen mehr. Im grossen Stil oder im kleinen Rahmen. Mit dem kleinen Finger oder dem grossen Hebel, also mit blossen Händen oder über politische Entscheidungen und Unterlassungen.
Ich bin der Auffassung, dass es prinzipiell etwas Gutes ist, wenn sich eine Kultur darüber definiert, dass ihre Männer in erster Linie rational, neutral, besonnen
handelnd, entgegenkommend und rechtschaffen sind, weil das wiederum die Kultur mitprägt. Wenn alle daran glauben, dass diese Eigenschaften die Norm bilden, macht es die Schweiz sicherer. Vor allem für FINTA-Personen und Kinder, also den Gruppen an Menschen, die am häufigsten unter der Gewalt von Männern leiden. Neben den Männern, die selbst oft genug darunter leiden.
Trotzdem glaube ich, dass es ein Problem ist, wenn eben durch das friedliche (Selbst-)Bild des Schweizer Mannes Femizide, rassistische Polizeimorde oder sogar die Teilhabe an Genoziden gar nicht thematisiert werden.
Ein Bereich, wo dies besonders auffällig ist, ist der Umgang mit kolonialer Gewalt. Dass Schweizer Söldner jahrhundertelang in die Welt zogen, um ihre Dienste anzubieten, ist nicht unbekannt. Und trotzdem hielt und hält sich die Auffassung, dass die Schweiz nichts mit kolonialen Verbrechen zu tun habe. Dabei sind Söldner ja unter Umständen einfach bezahlte Mörder! Ein paar historische waren sogar bekannt für ihre Brutalität. Von 1905 bis 1910 leitete zum Beispiel der Graubündner Hans Christoffel eine eigene Brigade in Indonesien, die berüchtigte «Tigerkolonne», die für Folter, Hinrichtungen und Entführungen bekannt war. Auf der Insel Flores liess er über 500 Menschen töten, um den einheimischen Widerstand gegen die Niederländische Kolonialarmee zu brechen.
Die Frage, warum wir über solche Schweizer Männer weniger wissen als über andere, ist wichtig. Für eine verantwortungsvolle und selbstkritische Geschichtsschreibung und eine konstante Aufarbeitung bis in die Gegenwart. Die Bedeutung dessen für unser Jetzt wird unterschätzt.
FATIMA MOUMOUNI hat die Frauen nicht vergessen. Ausserdem hat sie einen Videobeitrag geschrieben, der im Landesmuseum in Zürich in der neuen Ausstellung zu kolonialen Verstrickungen der Schweiz zu sehen ist.
sich gern als
er
Gesundheit In Kreuzlingen leben neun Menschen mit einer Hirnverletzung zusammen und betreiben gemeinsam ein Beizli mitten in der Stadt.
Mit ein wenig individueller Unterstützung bleiben sie so Teil der Gesellschaft.
Es war ein Tag im Sommer vor fünf Jahren. Pascale K. freute sich auf die Ferien, das Auto war vollgepackt mit Taschen, ihre zwei jüngsten Kinder plauderten auf dem Rücksitz. Sie war frisch verliebt. Hinter ihr lag eine schwere Scheidung, und mit ihrem neuen Partner war wieder Leichtigkeit in ihr Leben gekommen. Der Sommer mit ihm, gemeinsam mit den Kids auf dem Campingplatz, war für Pascale K. die schönste Zeit seit Langem.
Sie wollten weit weg reisen. Wohin, weiss Pascale K. heute nicht mehr. Ihr Partner sass am Steuer, sie fuhren auf der Autobahn irgendwo durch Deutschland. Ebenfalls dort: ein über 80-jähriger Mann auf der falschen Spur. Aufprall. Sekunden in Schwarz. Alles in Dunkelheit – auch die Zeit danach.
Das Erste, woran Pascale K. sich erinnern kann, war der Besuch ihrer Mutter im Krankenhaus. Sie hatte mehrere Wochen im Koma gelegen, ihr Gesicht sei kaum wiederzuerkennen gewesen, hatte man ihr gesagt. Die Kinder hatten den Unfall mit Verletzungen überlebt. Ihr Partner war nach einer Woche im Krankenhaus gestorben. «Ich konnte mich nicht von ihm verabschieden, das ist das Schlimmste», erzählt Pascale K. im Garten vor dem Landhaus. «Jeden Abend schicke ich einen Kuss Richtung Himmel und sage: ‹Gute Nacht, mein Chäfer›.»
Pascale K. ist eine von neun Bewohner*innen im Kreuzlinger Landhaus, sie alle haben eine sogenannte Hirngewebe-
schädigung erlitten. Das Landhaus, ein ehemaliges Gasthaus, liegt wenige Meter vom Bahnhof entfernt zentral im Stadtkern. Im Obergeschoss befinden sich vier Kleinwohnungen für je zwei Bewohner*innen. Darunter, im Beizli und im Garten, gibt es Kaffee, Cicchetti – das sind belegte Brote venezianischer Art – und freitags einen Mittagstisch, der von den Menschen in Kreuzlingen gerne besucht wird. Die Bewohner*innen sind ein sichtbarer Teil der Gesellschaft.
Jedes Jahr erleiden laut der Patientenorganisation Fragile Suisse über 26 000 Menschen eine Hirnverletzung in der Schweiz. Oft betreffen Hirnverletzungen das Erinnerungsvermögen oder das Sprachzentrum, auch kann der ganze Körper halbseitig gelähmt sein. Viele von ihnen können nach der Reha wieder selbständig leben. Doch 4000 bis 5000 Patient*innen pro Jahr finden nicht mehr in ihren Alltag zurück. Diese Betroffenen werden nach der Reha in der Regel auf gemischte Stationen untergebracht, zusammen mit Menschen, die beispielsweise kognitiv eingeschränkt, demenzkrank und psychisch erkrankt sind. «Dort fühlen sich Menschen mit Hirntrauma meist fehl am Platz. Die Krankheitsbilder sind zu unterschiedlich, um alle gleich zu behandeln», erklärt die Ärztin und Gründerin des Landhauses Gudrun Heck.
Pascale K. lebte zuvor in einer solchen Einrichtung. «Dort musste ich den ganzen Tag Dinge basteln, die dann verkauft wur-
den. Als ich meiner Mutter einen Korb schenken wollte, den ich aus Baumnüssen gemacht hatte, wurde mir gesagt, dass ich ihn abkaufen müsse. Für 50 Franken!» Die strengen Regeln, der starre Tagesablauf und die damit verbundenen Einschränkungen machten ihr das Leben schwer. Im Landhaus aber fühlt sie sich wohl: «Wenn ich meine Wäsche selbst machen will, muss ich keinen Antrag stellen, sondern spreche mit meiner Betreuerin und wir finden eine Lösung.» Pascale K.s Kinder kommen jedes zweite Wochenende zu ihr, haben hier sogar ein eigenes Zimmer – in der Institution, in der sie vorher lebte, war das nicht möglich. Am Ende unseres Gespräches sagt sie lachend: «Gut, dass du alles aufgeschrieben hast. Ich weiss in fünf Minuten nicht mehr, worüber wir uns unterhalten haben – aber hey, es gibt Schlimmeres.»
Störungen oft unsichtbar
Lange hat Gudrun Heck in der Reha-Klinik Zihlschlacht mit Menschen mit Hirnverletzungen gearbeitet. Um die Lücke in der Anschlussbetreuung zu schliessen und eine individuell angepasste Wohnsituation zu schaffen, gründete sie vor zwanzig Jahren eine Stiftung und eine WG, die heute das Landhaus bilden und die sie nun in die Hände ihrer Nachfolgerin Sandra Akman übergibt. Diese sagt: «Unsere Bewohner*innen sind hirngesund wie du und ich –es ist nur ein Teil, der nicht funktioniert. Bei sogenannten unsichtbaren Störungen, wie sie Menschen mit Hirnverletzungen häufig
haben, haben die Betroffenen aber oftmals keine Krankheitseinsicht, die Beeinträchtigungen sind für sie kaum spürbar.»
Cem A. kommt an den Tisch. «Brauchst du noch einen Kaffee?», fragt er, «ein Wasser? Nussecken? Oder einen Martini, gerührt und nicht geschüttelt?» Cem A. wollte Schauspieler werden, oder Bodybuilder. Mit 20 Jahren fuhr er als Beifahrer ein Autorennen mit Freunden im Appenzell. Auf einer Brücke verlor der Fahrer die Kontrolle über den Wagen, sie knallten durch die Leitplanke und stürzten in eine Schlucht. Es dauerte mehrere Stunden, bis der Wagen gefunden wurde.
Cem A. ging gerne in den Ausgang, zum Tanzen und Flirten. Heute ist er 50 Jahre alt und nennt sich den «Chef im Landhaus». Entsprechend begrüsst er alle Gäste und Passant*innen mit einem freundlichen Gespräch und zeigt seine strahlend gute Laune. «Aber ich kann auch anders», sagt er. «Manchmal bin ich wie ein Vulkan und explodiere einfach. Das tut mir danach leid.» Durch den Unfall wurde der Frontallappen seines Gehirns geprellt, seine Impulskontrolle ist gestört. An zwei Vormittagen pro Woche arbeitet er zu seinen Aufgaben im Landhaus dazu noch extern in einer Tankstelle. Zwar ist das eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt, doch das Geld, das Cem A. verdient, wird mit den Leistungen verrechnet, die er bezieht. Sein Einkommen setzt sich zusammen aus der IV, seiner Unfallversicherung und der Pensionskasse.
Kleinkind und Pflegebedürftiger Neben unfallbedingten Schädel-HirnTraumata können auch andere Ursachen einer Hirnverletzung zugrunde liegen. Andi Müller, der im Beizli, im Garten oder in der Werkstatt des Landhauses arbeitet, kam eines Tages von seiner Arbeit als Kriminalkommissar nach Hause, ging unter die Dusche und erlitt dort eine spontane Hirnblutung. Licht aus. Dunkelheit. Damals war er 35 Jahre alt. Heute ist er 60. Drei Monate lag er im Koma. In dieser Zeit arbeitete seine Frau Irene Müller vormittags als Coiffeuse, nachmittags war sie bei ihrem Mann im Spital. Sie hatte erst nach der Hirnblutung erfahren, dass sie schwanger ist. Als ihr Mann wieder aufwachte, war sein Sprachzentrum stark beschädigt, der Körper halbseitig gelähmt. Die Prognose: lebenslang pflegebedürftig. Kurz vor der Geburt des Sohnes wurde Andi Müller aus dem Spital entlassen. Acht Jahre
lang pflegte seine Frau ihn zuhause – mit Hilfe ihrer Eltern und Schwiegereltern. «Heute weiss ich nicht mehr, wie ich das gemacht habe. Luca, unser Sohn, war ein Schreibaby und Andi konnte sich kaum bewegen. Wenn wir spazieren gingen, schob ich Andi im Rollstuhl und er schob Luca vorneweg im Kinderwagen», erinnert sich Irene Müller. Irgendwann war klar, dass der Druck zuhause für alle zu gross wurde – und Andi Müller zog ins Landhaus. Die finanzielle Situation des Ehepaares ist angespannt. «Wenn Andi einen Unfall gehabt und eine Unfallversicherung gezahlt hätte, würden wir finanziell wesentlich besser dastehen», erklärt seine Frau. Die IV-Rente und die Zahlungen der Pensionskasse reichen bei vielen Betroffenen nicht aus, und bei Heimaufenthalten entsteht eine finanzielle Lücke, die durch private Mittel oder staatliche Ergänzungsleistungen geschlossen werden muss. Inzwischen arbeitet Irene Müller, neben ihrer Tätigkeit als Coiffeuse, auch noch als Betreuerin im Landhaus. Sie begann als Springerin und absolvierte dann zusätzlich eine Ausbildung zur Fachfrau Betreuung. Die Heimleitung war zunächst skeptisch: Die Ehepartnerin eines Bewohners als Betreuerin? «Irene Müller bewies jedoch ein besonders ausgeprägtes Einfühlungsvermögen», sagt Ärztin Gudrun Heck. Und Andi Müller machte Heilungsfortschritte, die niemand erwartet hatte. Er lernte wieder laufen, kann alleine mit dem Bus fahren und kümmerte sich liebevoll um seinen Sohn. Vater und Sohn entwickelten sogar eigene Ausdrücke. «Bälleli» hiess Minigolf, «Guggus» Verstecken spielen. Bis heute ist Andi Müllers Sprache auf einzelne Worte reduziert. Die Einschränkung betrifft aber nur das Sprachvermögen, nicht die Wahrnehmung. «Er merkt sofort, wenn es mir nicht gut geht», sagt Irene Müller. «Und wir haben eigentlich auch Glück. Denn welches Ehepaar sieht sich schon so oft? Und in welcher Kindheit ist der Papi immer daheim?»
Für Pascale K. ist das selbständige Wäschewaschen ein Stück Unabhängigkeit.
MÜHLESPIELFELD Der Vormittag gehört denen, die arbeiten. Dem Pöstler, der seinen Elektroroller kurz hier parkiert, auf diesem Stück Quartierstrasse in Bern, wo statt eines Parkplatzes ein Mühlespielfeld auf den Boden gemalt ist. Wenig später dem städtischen Müllmann, der den Mülleimer leert und die Dosen vom Boden aufhebt. Den Sanitär- und Malerfahrzeugen, der Spitex und der DHL, den Velos. Und hin und wieder sogar einem gewöhnlichen Auto. Der einzige Lastwagen, der sich durch diese Strasse wagt, ist die Kehrichtabfuhr.
Und wenn erledigt ist, was erledigt werden musste, sitzt ein junger Mann im Schneidersitz auf der Holzkiste, in der die Spielsteine lagern, rauchend und auf dem Handy tippend. Neben ihm auf dem Spielfeld jongliert ein zweiter mit Keulen. Hin
und wieder gehen ein paar Worte hin und her. Auftritt eines verwuschelten Hundes mit seinem Besitzer. Mann eins und zwei sind begeistert, streicheln und – jöö! –kommen mit dem Hundehalter ins Gespräch. Die Magie der Zufallsbekanntschaft. Und dann ist da diese Freund*innengruppe, die ihren Sommer neben dem Mühlespielfeld zu verbringen scheint. Ein Handschlag, wenn jemand dazustösst, und einer, wenn sich jemand verabschiedet, auf einem E-Scooter oder mit einem Basketball unter dem Arm.
Gestern hätten zwei Musiker mit ihren Gitarren gejammt, erzählt meine Mitbewohnerin. Am offenen Küchenfenster lauschte sie dem Blues, am Ende applaudierte sie. Auch vis-à-vis klatschte jemand aus dem Fenster. Die beiden Männer schauten überrascht hoch, gaben ein
schüchternes «Thank you!» zurück. Auch Grillfeste, erzählt eine Nachbarin, seien auf dem Mühlespielfeld schon gefeiert worden. Ein früher Nachmittag ein paar Tage später, die Musiker sitzen auf der Bank und spielen wieder. Ein Mann auf dem Velo hält schwungvoll vor ihnen an. «So nice, guys!» Handschläge auch jetzt. «Have fun!», schon fährt er weiter. Ihre Stücke werden zum Soundtrack meines Sommers.
Wenige Meter weiter ist die Quartierbeiz. Trotzdem trinken viele ihre Cola oder ihr Bier lieber hier, allein auf dem Bänkli und im Treiben der Quartierstrasse eben vielleicht doch nicht einsam. Manchmal picknickt und döst dort eine Frau, ihr Hab und Gut dabei, das Zuhause immer da, wo sie gerade ist.
Eines der Geheimnisse ist die Nähe von Bank und Spielfeld. An einem frühen
Sonntagabend mitten im Sommer, eine Gruppe beim Bänkli, daneben verschieben ein Mann und eine Frau die schwarzen und weissen Spielsteine. Das Nebeneinander geht in ein Miteinander über, als sich seine Niederlage abzeichnet. Er will das Spiel mit lauten Argumenten abbrechen, doch sie bleibt ruhig. Und bekommt Unterstützung von der Frau vom Bänkli. Kurz darauf ruft die Spielerin: «Gewonnen!» – «Ja, wer hätte das gedacht?» Gespielter Ärger beim Mann, vielstimmiges Lachen. Zwei Freund*innen der Mühlespieler*innen stossen mit Gebäck und Bier dazu. Apéro auf der Holzkiste. Stunden später, die Apéröler*innen sind weg, da steht die Bänkli-Gruppe mit den Spielsteinen auf dem Feld, erklärt sich gegenseitig die Regeln.
Der Zauber des Mühlespiels ist seine Einfachheit. Anders als beim Schach kön-
nen alle über den nächsten Zug mitdiskutieren und über die beste Strategie fachsimpeln. Und anders als beim Mühlebrettspiel können auf der Strasse nicht nur zwei, sondern vier, fünf, sechs Leute zusammen spielen. Und nachher stellen immer alle die Steine zurück in die Holzkiste. Für die nächsten, die kommen.
Eines Abends spiele ich eine Partie Mühle mit meinem Vater. Nach vielen Jahren mal wieder. «Sieht nicht gut aus für dich», ein Mann auf dem Bänkli fühlt mit mir mit. Und wie ich so auf der Strasse stehe, einen meiner Spielsteine in der Hand, erinnere ich mich an die Unbeschwertheit der endlosen Abende in der Kindheit. Statt meines Vaters, der mich nun fragt: «Noch eine Runde?», war es damals in einem anderen Quartier ein «Chunsch o no use cho spiele?» von anderen Kindern.
Meistens war irgendein Kind aus der Nachbarschaft sowieso schon draussen. Schutte auf der für Autos gesperrten Seitenstrasse, Röiber u Poli rund um die Häuser, Velorennen und Lütistreiche. Und heute? Wann erlaube ich mir schon zu spielen auf der Strasse? Aus dem Moment und der Lust heraus?
Ich möchte es viel öfter tun.
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein leiser, selbstverständlicher, informeller Austausch stattfindet.
Aktivist*innen und Politiker*innen debattieren in São Paulo über die Abschaffung des legalen Abtreibungsdienstes eines Krankenhauses.
Abtreibung In Brasilien sind Schwangerschaftsabbrüche eine Straftat, selbst bei einer Vergewaltigung ist der Zugang nicht garantiert. Nun soll das Gesetz weiter verschärft werden. Drei Frauen erzählen.
TEXT UND FOTOS MANUELA ENGGIST
«Ich wollte mich umbringen», sagt Sophia da Silva. Sie wiederholt diesen Satz immer und immer wieder. Sie sagt ihn zu Beginn und sie sagt ihn am Ende des Gesprächs. Da Silva ist 45 und trägt wie alle Betroffenen in diesem Artikel eigentlich einen anderen Namen. Sie ist verwitwet und zweifache Mutter. Beinahe hätte sie ein Gift eingenommen, das sie auf dem Schwarzmarkt organisiert hatte. Weil sie sich nicht anders zu helfen wusste. Weil sie tot sein wollte.
Alles begann an Ostern vor einem Jahr. Da Silva wollte Ostereier kaufen für ihre beiden Töchter. Normalerweise hatte dies immer ihr Mann gemacht, doch er war kürzlich verstorben. Also machte sie sich selbst auf den Weg in den Supermarkt am Stadtrand von São Paulo. Zu Fuss, nach der Spätschicht im Krankenhaus, wo sie als Reinigungskraft arbeitet. Auf dem Heimweg hält ein Auto neben ihr. Ein Mann fragt sie zunächst nach dem Weg, drängt sie dann mit dem Fahrzeug gegen eine Hauswand, schliesslich zerrt er sie ins Auto und vergewaltigt sie.
Da Silva schleppt sich ins nächstgelegene Krankenhaus, erzählt der dortigen Pflegefachfrau, dass sie vergewaltigt worden ist und der Täter in ihr ejakuliert hat. Brasiliens Abtreibungsgesetz stammt von 1940. Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Brasilien eine Straftat, ausser in Fällen von Vergewaltigung, wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben der Mutter darstellt, und im Fall einer schweren Fehlbildung des Fötus.
Die Pflegefachfrau sagt da Silva, dass sie mit der Polizei sprechen müsse, um Anzeige zu erstatten. Doch das will da Silva nicht. «Ich hatte Angst, dass mein Vergewaltiger davon erfahren könnte und sich an mir oder meinen Kindern rächt.» Sie glaubt, dass die Polizei ihr die Schuld am Übergriff geben würde. Sie kennt viele solcher Geschichten. «Sie hätten mich gefragt, was ich getragen habe, sie hätten gesagt, dass ich es provoziert hätte – schliesslich habe ich Tattoos und Piercings.»
Dann solle sie zumindest in einem Monat für weitere Untersuchungen wiederkommen, sagt die Pflegefachfrau. Vier Wochen später erfährt da Silva dort, dass sie schwanger ist. «Ich bin in Tränen ausgebrochen – und habe eine Abtreibung verlangt.» Daraufhin kommt eine Sozialarbeiterin vorbei, die sie stattdessen zur Schwangerschaftsvorsorge anmelden will. «Ich sagte, dass sie nicht verstehe: Ich sei vergewaltigt worden. Doch die Sozialarbeiterin sagte nur: ‹Nein, Sie verstehen nicht! Es gibt viele Frauen wie Sie. Ich kann Sie zu einer Selbsthilfegruppe schicken, Sie können lernen, dieses Kind zu lieben. Für eine Abtreibung können Sie ins Gefängnis kommen.›»
Weil das brasilianische Gesetz Abtreibungen bei Vergewaltigung erlaubt, besteht da Silva darauf, diesen Weg gehen zu dürfen. Dafür brauche sie jedoch einen Polizeibericht, sagt die Sozialarbeiterin. Da Silva fühlt sich machtlos. «Wie sollte ich dieses Kind lieben? Ich fühlte mich so schmutzig, dass ich nicht mal mehr in der Nähe meiner Töchter sein konnte.» Da Silva versucht im Internet Abtreibungspillen aufzutreiben. Sie hat aber kaum Geld und Angst, dass die Tabletten nicht wirken. Es gelingt ihr jedoch, sich das Gift illegal zu beschaffen, welches sie fortan im Badezimmerschrank aufbewahrt. «Ich dachte, wenn ich sterbe, dann stirbt auch der Fötus.» Sie wusste schon, was sie in den Abschiedsbrief schreiben würde: «Lieber bin ich tot als schwanger.»
Die Angst sich jemandem anzuvertrauen Zum Glück erkundigt sich wenig Zeit später eine Arbeitskollegin bei da Silva, ob alles in Ordnung sei. Sie hatte bemerkt, wie oft da Silva weinte. «Eigentlich hatte ich Angst, mich jemandem anzuvertrauen, aber als sie mich so direkt fragte, hatte ich das dringende Bedürfnis, mein Leid zu teilen.» Die Kollegin bringt sie in Kontakt mit der Organisation Projeto Vivas. Rebeca Mendes, Mitgründerin und Anwältin, kontaktiert da Silva und bietet ihr an, einen Abtreibungstermin in einer Klinik zu besorgen, die nicht auf einem Polizeibericht besteht. Das Gift in ihrem Badezimmerschrank aber wirft sie erst weg, als sie sich ganz sicher ist, dass die Abtreibung erfolgreich war.
Da Silva hatte Glück, mit einer Organisation vernetzt zu werden, die ihr helfen konnte. Vielen ungewollt Schwangeren fehlt dieser Zugang. Laut einer Studie von Debora Diniz, Anthropologin und Professorin an der Universität Brasília (siehe auch Interview S. 23), stirbt in Brasilien alle fünf Tage eine Frau nach einer Abtreibung. Die Zahl der illegalen Abtreibungen wird auf über eine Million pro Jahr geschätzt. Der Fall ist zudem ein Beispiel dafür, wie die Kriminalisierung der Abtreibung Angst und Stigmatisierung erzeugt, was wiederum zu Verunsicherung und Fehlannahmen führe, wie Rebeca Mendes von Projeto Vivas erklärt. «Bei Vergewaltigungen sind ausser der Aussage des Opfers keine weiteren Beweise gesetzlich vorgeschrieben», sagt sie. «Krankenhäuser dürften keinen Polizeibericht verlangen.»
Laut der Studie von Diniz sind Vergewaltigungen der Grund für 94 Prozent der legalen Abtreibungen in Brasilien. Im Jahr 2022 wurden fast 75 000 Vergewaltigungen gemeldet. Bei den rund 211 Millionen Einwohner*innen bedeutet das, dass in Brasilien jeden Tag 192 Menschen
vergewaltigt werden. Das brasilianische Forum für öffentliche Sicherheit schätzt, dass nur 8,5 Prozent der Vergewaltigungen überhaupt den Behörden gemeldet werden. In der Schweiz mit ihren 8,9 Millionen Einwohner*innen wurden im vergangenen Jahr 839 Vergewaltigungen, inklusive Vergewaltigungsversuche, angezeigt. Das entspricht rund 2,2 Vergewaltigungen pro Tag.
Nach Argentinien für die Abtreibung
Als Laura Valente, 30, im Frühjahr vergangenen Jahres erfuhr, dass sie wieder schwanger ist, war das «ein schlimmer Schock», sagt sie. Es ist ein Sonntag, die Familie ist wie jedes Wochenende bei Valentes Mutter zusammengekommen, um am Nachmittag gemeinsam zu essen. Valente sitzt auf dem Bett ihrer Mutter, als sie diese Geschichte erzählt. Das Haus liegt in einer der ärmeren Gegenden von São Paulo, ganz im Osten der Stadt. Valente hat bereits ein elf-, ein fünf- und ein zweijähriges Kind. Valente hatte nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter versucht, über den öffentlichen Dienst der Familienplanung ein Rezept für die Antibabypille zu bekommen. Zudem versuchte ihr Mann einen Termin für eine Vasektomie zu erhalten. Wegen der Überlastung des Systems dauerte aber beides lange. Und dann ist Valente trotz Kondom wieder schwanger.
Also recherchiert sie. Im Internet findet sie eine Frau, die Abtreibungspillen verkauft. Sie ist sich nicht sicher, wie sie die Tabletten anwenden muss. Oral einnehmen oder vaginal einführen? Da sie niemandem von ihrer Schwangerschaft erzählen will, kann sie niemanden fragen. Eine ihrer Cousinen verblutete mit sechzehn, weil sie mit Pillen versucht hatte abzutreiben. Valente zögert, zu ihrem Glück. Einige Tage später stösst sie auf die Webseite «Safe2choose», die Frauen mit Informationen zu Abtreibungen unterstützt. Von dort erhält sie eine Liste mit Namen von Betrüger*innen, die Pillen verkaufen, die nicht wirken oder abgelaufen sind. Auf der Liste sieht sie den Namen der Frau, von der sie sich Pillen organisieren wollte.
«Ich war so wütend und gleichzeitig hilflos, weil ich keine Kontrolle über mein Leben hatte.» Sie sieht sich als verantwortungsbewusste Frau und gute Mutter. «Aber ich kenne auch meine Grenzen.» Sie hätte ihre Ausbildung zur Medizintechnikerin abbrechen müssen und weder genug Platz gehabt in ihrem Haus noch Geld für ein grösseres. Via «Safe2choose» erfährt Valente auch von Projeto Vivas und Rebeca Mendes. Sie berichtet ihr von der Möglichkeit, ins Nachbarland Argentinien zu reisen, um dort eine Abtreibung zu erhalten. Im Dezember 2020 hatte Argentinien Schwangerschaftsabbrüche in den ersten vierzehn Schwangerschaftswochen legalisiert. Eine zeitliche Begrenzung entfällt, wenn die Gesundheit oder das Leben der Schwangeren gefährdet ist oder die Schwangerschaft Folge von sexuellem Missbrauch ist.
Nach eigenen Angaben hat Projeto Vivas im vergangenen Jahr 247 Frauen bei legalen Abtreibungen in Brasilien und 255 bei der Ausreise aus dem Land unterstützt. Die Hauptfinanzierungsquelle des Projektes ist Fòs Feminista – eine Organisation, die sich vor allem in lateiname-
rikanischen Ländern für die sexuelle und reproduktive Gesundheit einsetzt und sich über private sowie institutionelle Spenden finanziert. Eine Reise von São Paulo nach Argentinien kostet laut Rebeca Mendes um die 6000 Reais. Das sind umgerechnet fast 1000 Franken, rund viermal mehr als der gesetzliche Mindestlohn. Bei Bedarf kommt Projeto Vivas für die Kosten auf. Valente sagt: «Ich habe Brasilien noch nie verlassen, sass noch nie in einem Flugzeug. Trotzdem habe ich keine Sekunde überlegt.» Nach der Abtreibung fühlt sie sich erleichtert.
Vor Gericht wegen einer Abtreibung
Juliana Martins, 32, sitzt in einem Hotelzimmer in São José do Rio Preto, rund 440 Kilometer entfernt von São Paulo. Martins hat nur unter der Bedingung in das Interview eingewilligt, dass es an einem sicheren Ort stattfindet, nicht an ihrem Wohnort, der nochmal knapp zwei Stunden Autofahrt entfernt liegt. Zu gross ist ihre Angst, dass die Menschen sie wieder ein Monster nennen, wenn sie erfahren, dass sie über ihre illegale Abtreibung spricht.
«Ich war so wütend und hilflos, weil ich keine Kontrolle über mein Leben hatte.»
LAURA VALENTE
«Krankenhäuser dürften keinen Polizeibericht verlangen.»
REBECA MENDES (PROJETOS VIVAS)
Tiefe Abtreibungsrate in der Schweiz:
Pro 1000 Frauen im gebärfähigen
Alter entscheiden sich in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik 6 Frauen für eine Abtreibung In Frankreich sind es 14, in Brasilien 32 und in Indien 48.
Jährliche Schwangerschaften weltweit
davon sind nach Angaben der WHO ungewollt
Legal auf Anfrage, innerhalb einer bestimmten Frist.
77 Länder
Bei den meisten Ländern dieser Kategorie liegt die Frist bei zwölf Wochen, so auch in der Schweiz. Die weiteren Fristen gehen von fünf Wochen (Turkmenistan) oder zehn Wochen (z.B. Kroatien, Kosovo, Portugal) bis 22 Wochen (Island) oder 24 Wochen (Kolumbien, Singapur).
Legal, wenn soziale oder wirtschaftliche Gründe vorliegen.
12 Länder/Gebiete
Das Umfeld sowie die sozialen und wirtschaftlichen Umstände der Schwangeren werden berücksichtigt. In Fällen, in denen die Gesundheit oder das Leben der Schwangeren gefährdet ist, ist ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt.
Zustimmung des Ehemannes erforderlich: Türkei, Japan, Taiwan, Kuwait, Marokko, Saudi-Arabien, Indonesien, Syrien, Vereinigte Arabische Emirate, Jemen
Legal, um die Gesundheit der Schwangeren nicht zu gefährden.
47 Länder
Dazu gehören Länder, die den Schwangerschaftsabbruch nur dann ausdrücklich erlauben, wenn die psychische Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist. Andere erlauben den Eingriff nur, wenn die körperliche Gesundheit gefährdet ist. Erlaubt ist ein Abbruch, wenn das Leben der Schwangeren gefährdet ist.
47 000
Mädchen und Frauen sterben jährlich nach einer Abtreibung
Legal, um das Leben der Schwangeren zu retten.
43 Länder
Abtreibungen pro Jahr (schätzungsweise)
45% der Abtreibungen sind gefährlich
In jedem Fall verboten. 22 Länder
Nicht im ganzen Land einheitlich.
2 Länder
In Mexiko und in den USA sind die Abtreibungsgesetze auf subnationaler Ebene sehr unterschiedlich, sie reichen von «auf Anfrage» bis «legal, um das Leben zu retten».
«Dank all diesen Frauen realisierte ich, dass ich nicht das Monster bin, das mich andere nannten.»
Als Martins im Herbst 2016 realisiert, dass sie schwanger ist, ist ihr sofort klar, dass sie dieses Kind nicht bekommen kann. Sie hatte sich erst einige Monate zuvor von ihrem Mann getrennt und kannte ihren neuen Partner kaum. «Ich hatte bereits zwei Kinder. Und meine ältere Tochter hat gesundheitliche Probleme.» Sie spricht langsam und leise. Manchmal sinken ihre Schultern nach vorne. Sobald sie es merkt, richtet sie sich wieder auf. Auch sie recherchiert zunächst im Internet. Sie bestellt teuren Tee, der helfen soll abzutreiben. Doch nichts passiert. Die Beziehung zum Mann, von dem sie schwanger wurde, ist sehr instabil, Martins will ihm nichts davon sagen, weil sie selbst entscheiden will. Sie ist so verzweifelt, dass sie ihrem Ex-Mann von der ungewollten Schwangerschaft erzählt. Dieser organisiert ihr auf dem Schwarzmarkt Tabletten, einige davon führt Martins vaginal ein, andere löst sie in Wasser auf und trinkt davon. Sie weiss bis heute nicht, was das genau für Tabletten waren. Wenige Stunden nach der Einnahme bekommt sie starke Krämpfe, kämpft mit der Ohnmacht. Sie hat Todesangst, bittet ihren Ex-Mann, sie ins Krankenhaus zu fahren.
«Dort begann meine Folter.» Der Arzt führte seine Hand vaginal ein, um den Uterus abzutasten, und findet dabei Reste der Pillen. Er habe zu Martins gesagt, er sei hier, um ihr zu helfen und nicht, um über sie zu urteilen. Er würde alles tun, um dieses Kind zu retten.
Martins wird von einer Pflegefachfrau in einen anderen Raum gebracht. «Sie hat sich zu mir heruntergebeugt und gefragt, ob ich versucht hätte, die Schwangerschaft zu beenden. Immer und immer wieder.» Martins schweigt und sie hat starke Schmerzen, während der Fötus abgeht. Danach lässt die Pflegefachfrau Martins allein. Wenig später treten zwei Polizisten ein. «Sie sagten, ich sei eine Schande für meine Kinder. Ich solle gestehen, dann könnte ich die Kaution bezahlen, um wieder freizukommen. Sie sagten immer wieder, dass es besser sei, wenn ich gestehe. Also gestand ich.» Martins muss die Nacht in einer Zelle im Gefängnis verbringen. «Es hat sich niemand um mich gekümmert, obwohl ich weiterhin starke Blutungen hatte.» Am Morgen wird sie gegen Kaution entlassen. Das Geld leiht sie sich von der Familie.
Das Fernsehen berichtet über Martins’ illegale Abtreibung. Zwar wird ihr Gesicht nicht gezeigt, aber ihre Initialen werden genannt. «Nach wenigen Stunden wussten alle, dass ich es bin.» Im Supermarkt verlassen die Menschen das Geschäft, wenn sie sich an der Kasse in die Schlange einreiht. «Sie sagten, sie wollten nicht mit einer Mörderin gesehen werden. Manche nannten mich ein Monster und schauten mir dabei in die Augen.»
Einige Tage später nimmt eine Mitarbeiterin von «Anis – Instituto de Bioética» Kontakt mit Martins auf, man habe aus den Medien von ihrem Fall erfahren. Sie organisieren einen Termin in einer Klinik, damit Martins eine seriöse Nachuntersuchung erhält. Der brasilianische Staat verfolgt Martins wegen ihres Schwangerschaftsabbruchs, und zwar aufgrund einer Anzeige des Arztes, der sie behandelt hat. Das Verfahren stützt sich auf das Wort des Arztes; es gibt keinen Beweis dafür, dass die Medikamente, die Martins eingenommen hat, die Abtreibung verursacht haben. «Dank all diesen Frauen, die mich unterstützt haben, realisierte ich, dass ich nicht das Monster bin, das mich andere nannten.»
Seit den Gesprächen mit den Aktivistinnen und Ärztinnen weiss Martins, wie schlecht sie Bescheid wusste. «Mir war nicht klar, dass die Wirkung der Antibabypille eingeschränkt werden kann, wenn ich Antibiotika nehme.»
Dies war wegen einer Weisheitszahn-OP notwendig gewesen. Mit 16 war sie von der Mutter aus dem Haus geworfen worden und zu ihrem gläubigen Vater gezogen. Regulär aufgeklärt wurde Martins nicht, weder von ihm noch in der Schule. «Als ich meine erste Periode hatte, dachte ich, ich hätte mich verletzt.»
Das Verfahren gegen Martins wurde diesen Sommer vom Obersten Gerichtshof mit der Begründung abgewiesen, dass es rechtswidrig eingeleitet worden war, da der behandelnde Arzt seine Schweigepflicht verletzt hatte. Der Richter erklärte, dass ihr Geständnis nicht verwertet werden könne, da Martins zu diesem Zeitpunkt unter starken Schmerzen gelitten habe. Martins musste fast neun Jahre auf diesen Freispruch warten. Sie hofft, dass die
Regierung und die Gesellschaft einsehen, dass allein die Frau entscheiden soll, ob sie Leben in die Welt setzen will und kann. «Hätte ich dieses Kind bekommen müssen, wäre ich für den Rest meines Lebens eine gebrochene Frau gewesen.»
Im Juni gingen in Brasilien Menschen auf die Strasse und protestierten gegen einen Eilantrag für einen neuen Gesetzesentwurf. Vertreter*innen der wachsenden evangelikalen Fraktion hatten ihn dem mehrheitlich konservativen Parlament vorgelegt. Kommt er durch, werden Abtreibungen nach der 22. Schwangerschaftswoche als Mord geahndet werden – auch bei Vergewaltigung. Geplant sind Haftstrafen von sechs bis zwanzig Jahren. Damit würden Vergewaltigungsopfer härter bestraft als ihre Vergewaltiger, denen maximal fünfzehn Jahre drohen.
«Wir müssen die Rechte schützen, die wir haben»
Die Anthropologin Debora Diniz setzt sich für die Entkriminalisierung von Abtreibungen ein.
INTERVIEW MANUELA ENGGIST
Debora Diniz, Sie mussten Ihre Heimat wegen Ihrer Forschung zu Abtreibungen verlassen. Wie gefährlich ist es, sich für das Recht auf Abtreibung einzusetzen?
Debora Diniz: Man wird schnell zur Zielscheibe von Fanatiker*innen. Dies geschieht aber nicht nur in Brasilien. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist auch in den USA, in Polen oder Italien ein Wahlkampfthema.
Abtreibung ist in Brasilien ein kontrovers diskutiertes Thema. Selbst der linke Präsident Lula da Silva wagt nicht öffentlich darüber zu sprechen. Warum?
Lula da Silva fürchtet sich davor, es anzusprechen, weil er mit Unterstützung von Evangelikalen gewählt wurde. Er hat Angst, seine Position damit zu schwächen.
In Brasilien sind es vor allem konservative Kreise, allen voran die radikalen Evangelikalen, die Abtreibungen weiter erschweren wollen. Sehen sich diese als Teil einer weltweiten Bewegung?
Die reproduktive Freiheit ist weltweit ein politisches Mittel, um religiöse Überzeugungen und moralische Gemeinschaften zu aktivieren. So ist auch das evangelikale Narrativ gegen die Abtreibung grenzübergreifend. Die religiösen Wurzeln sind jedoch auch politische Wurzeln: Es ist die gleiche rechtsextreme Bewegung, die auch in anderen Ländern wächst. Und die sich einer religiösen Erzählung bedient, wenn es darum geht, den Körper der Frauen zu kontrollieren und die Abtreibung zu regulieren.
Aktivistinnen in Brasilien müssen Verschärfungen abwehren, statt dass sie sich für eine Legalisierung einsetzen könnten. Ist das nicht frustrierend?
Es ist leider tatsächlich so, dass wir stets auf der Hut sein müssen, um die Rechte zu schützen, die wir haben. Das kostet Kraft. Es gibt aber gleichzeitig einen Zusammenschluss von Generationen und Frauenbewegungen im Land. Das gibt mir Hoffnung.
Und sind diese ebenfalls international vernetzt? Absolut. Ich arbeite eng mit Fòs Feminista zusammen, einer Organisation, die sich für die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzt. Das ist eine internationale Allianz von über 200 Organisationen in mehr als 40 Ländern, vor allem in Amerika.
Es gibt also einen intensiven Austausch unter den Aktivistinnen?
Ja. Die Zusammenarbeit von Feministinnen in Brasilien und in Argentinien ist ein gutes Beispiel dafür. Es gibt eine grosse Solidarität. Wir Aktivistinnen lernen voneinander: Argentinien hat uns alle mit der Gesetzesreform zur Zulassung der Abtreibung inspiriert. Seit der Wahl von Javier Milei orientieren sie sich an uns, um zu lernen, wie man mit einer autoritären rechtsextremen Regierung umgeht.
Wie zeigt sich diese Solidarität unter Aktivistinnen?
Die Mitglieder von Fòs Feminista kommen regelmässig zusammen, um Ideen auszutauschen. Zu wissen, dass wir nicht allein sind, hilft. Wir gehen aber auch konkret Dinge an. Weil viele brasilianische Frauen für eine sichere und legale Abtreibung nach Argentinien reisen, organisieren argentinische Kliniken nun portugiesisch sprechendes Personal. Das haben wir mit angeregt.
Wie kann Brasilien bei der Legalisierung der Abtreibung vorwärtskommen?
Lula da Silva und der Oberste Gerichtshof müssen erkennen, dass dies ein dringendes Anliegen der Bevölkerung ist, und endlich offen über Abtreibung sprechen. Ich habe Hoffnung, dass der Wahlkampf in den USA Auswirkungen haben wird. Es gibt eine Szene von der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, in der sie die Wichtigkeit von legalen Abtreibungen betont. Die archaische Vorstellung, wonach Abtreibung ein gefährliches Thema für politische Kampagnen ist, wird von ihr widerlegt. Kamala Harris zeigt, dass es beim Recht auf Abtreibung, um Gleichheit und Demokratie geht.
DINIZ, 54, ist eine brasilianische Anthropologin und Professorin der Universität in Brasília. Sie setzte sich vor dem Obersten Gericht jahrelang für das reproduktive Selbstbestimmungsrecht ein. Dafür erhielt sie Morddrohungen und stand 24 Stunden am Tag unter Polizeischutz. 2018 emigrierte sie in die USA. Sie ist eine der Mitgründerinnen von Projeto Vivas.
«Ich
Kino Das Roadmovie «Riverboom» von Claude Baechtold erzählt eine persönliche Geschichte vom Krieg in Afghanistan und dem westlichen, journalistischen Blick darauf – und davon, wie eine Reise dorthin dem Filmemacher half, sich einem persönlichen Verlust zu stellen.
TEXT MONIKA BETTSCHEN
Als der Lausanner Grafiker Claude Baechtold ein Jahr nach dem 11. September 2001 vom Journalisten Serge Michel angefragt wurde, ob er ihn nach Afghanistan begleiten wolle, befand er sich in einer persönlichen Krise: Wenige Jahre zuvor waren seine Eltern ums Leben gekommen. Ohne lange zu überlegen, fuhr er mit.
Mit dem Nahost-Experten Michel, später unter anderem stellvertretender Direktor von Le Monde, und mit dem Fotografen Paolo Woods, dessen Bilder weltweit veröffentlicht wurden, durchquerte er 2002 die sogenannte Red Zone, wo Warlords das Sagen hatten. Zwar blieben nach der Vertreibung der Taliban US-amerikanische Streitkräfte von 2001 bis 2021 in Afghanistan stationiert. Man nannte dies Pax Americana – unterstützt durch die sogenannte internationale Koalition im Krieg gegen den Terror. Doch Baechtolds Film zeigt, dass diese keineswegs so gut funktionierte, wie damals behauptet wurde. Fernab der Städte dokumentierte er zudem den harten Alltag der ländlichen Bevölkerung.
20 Jahre später entstand daraus der Film «Riverboom», der –hier dem Genre des Roadmovies entsprechend – auch thematisiert, wie Baechtold und seine Reisegefährten an persönliche Grenzen stossen und sich mit eigenen inneren Konflikten konfrontieren.
Claude Baechtold, wenn man sich die Pressebilder von «Riverboom» anschaut, sieht man Serge, Paolo und Sie in afghanischer Kleidung. Ihr selbstironisches Posieren lässt vermuten, dass Sie lediglich Stereotypen bedienen. Wie bewusst waren Sie sich dieses Effektes? Denn im Film zeigt sich ja, dass Sie diese Kleider tragen, um in gefährlichen Gebieten nicht aufzufallen.
Claude Baechtold: Unser Übersetzer riet uns dringend dazu, normale afghanische Kleidung zu tragen, um nicht von Scharfschützen der Taliban bemerkt zu werden. Es mag etwas unbeholfen aussehen, aber es war ganz normal, dies zu tun. Es gibt viele Momente, in denen ich mich im Film über uns lustig mache, aber afghanische Kleidung zu tragen, gehört nicht dazu. Ich folgte zwei Reportern, deren Job es war, zu verstehen, was damals vor sich ging. Dieser Film erzählt die Geschichte einer Reise mit tragischen, glücklichen und lustigen Momenten. Das meiste, was man über Afghanistan lesen kann, ist tragisch. Aber wer denkt, Afghan*innen hätten keinen Sinn für Humor, macht einen grossen Fehler. Ich wollte solche Momente nicht zensurieren.
In einer Szene besuchen Sie eine Pressekonferenz bei einem Militärstützpunkt, wo ein amerikanischer Colonel die Grossoffensive gegen koalitionsfeindliche Kräfte beschreibt. Was hat Sie daran fasziniert?
Ich bin kein Analyst, aber in seinen Ausführungen war keine Absicht der USA und ihrer Verbündeten erkennbar, das Land wirklich verstehen zu wollen oder zu versuchen, aus Afghanistan einen funktionierenden Staat zu machen. Wenn man Bomben auf Hochzeitsgesellschaften abwirft, weil man meint, es handle sich um eine Gruppe Taliban, zeigt dies, dass man das Land nicht verstanden hat. Es ist keine gute Idee, Demokratie mit Bomben zu etablieren. Es gibt viele Gründe, warum die Pax Americana nicht funktionierte. Einer ist die Tatsache, dass das Land von Männern regiert wurde und auch heute noch wird, die seit Jahrzehnten für das Kriegführen bezahlt werden. Männer wie Aman-
Während die Kollegen Serge Michel (Mitte) und Paolo Woods (rechts) mit journalistischem Blick unterwegs sind, entdeckt Claude Baechtold (links, plus auf dem rechten Bild) leise menschliche Momente sozusagen am Wegesrand.
ullah Khan, dem wir während der Reise begegneten und der trotz der Abrüstungskampagne der internationalen Koalition Munition und Waffen hortete. Ich mag es, diese Absurdität des Krieges zu zeigen. Daran erkennt man, dass sich eine Katastrophe anbahnt.
Fernab der Zentren zeigen sich diese Vorläufer einer Katastrophe besonders drastisch.
Serge und Paolo gehörten zu den Ersten, die der Welt zeigen konnten, was 2002 in Afghanistan wirklich schieflief. Wir sahen Mohnfelder zur Herstellung von Drogen, obwohl die internationale Koalition schöne Power-Point-Grafiken einer gewaltigen Anti-Drogen-Kampagne präsentierte. Wir sahen überall die Waffen und die leidende Bevölkerung in den ländlichen Regionen. Niemand sonst aus dem Westen kam damals hierher. Sobald wir grössere Städte wie Kabul, Herat oder Masar-e Scharif verliessen, begegneten wir keinen anderen «Westlern» mehr. Die Soldaten blieben in ihren Quartieren und die NGOs hielten sich an ihre Sicherheitsvorgaben. Im Journalismus geht es aber darum, Orte aufzusuchen, wo niemand sonst hingehen würde, und die Geschichten von dort zu erzählen. Andernfalls können Warlords machen, was sie wollen, und niemanden ausserhalb würde das kümmern.
Wie präsent war Ihnen unterwegs die allgegenwärtige Gefahr durch Checkpoints und Minen? Angst ist etwas, das übertragen wird, man kann sie in den Augen anderer sehen. Doch während dieser Reise war ich umgeben von Verleugnung. Niemand sprach über die Gefahr, und so dauerte es eine Weile, bis ich realisierte, dass eine Mine hochgehen könnte, sollten wir von der Strasse abkommen. Kriegsreporter*innen gehen unterschiedlich mit der Gefahr um. Serge ist ein Pragmatiker, der Berechnungen über die tatsächlichen Risiken macht und zum Schluss kommt, dass er damit leben kann. Paolo hingegen wird von der Gefahr angezogen, und in mir löst es Angst aus, in der Nähe von Minen zu sein.
In «Riverboom» geht es also darum, was geschieht, wenn man während einer Reise die Kontrolle abgibt?
Ja. Wenn man an einen solchen Ort reist, bereitet man sich normalerweise sorgfältig vor. In meinem Fall war es umgekehrt. Als würde man zuerst ein Foto machen und danach darüber nach-
denken. Serge wusste, dass ich kein Entscheider bin. Darum packte er mich, sagte «Jetzt und nicht erst morgen» und spickte mich wie eine Rakete ins All. Aus meiner Sicht gibt man beim Reisen die Kontrolle ab und legt sein Leben in die Hände anderer.
Ist «Riverboom» ein Film über Afghanistan oder ist es ein Film über Sie selbst?
«Riverboom» ist kein Dokumentarfilm über Afghanistan. Es ist die Erinnerung an diese Reise. Und bei jeder Reise lernt man etwas über sich selbst. Eines Tages schnitt uns an einem Fluss schwerer Niederschlag den Weg ab. Wir mussten die Nacht in einer sehr gefährlichen Situation verbringen. Dann kamen Dorfbewohner und retteten uns. Jahre später, als ich den Film schnitt, erkannte ich, dass im Material von diesem Tag jener Moment festgehalten ist, in dem ich der Trauer um meine Eltern ins Gesicht schauen konnte.
Im Film erwähnen Sie mehrere Male, dass Sie und Ihre Reisepartner einen protestantischen Hintergrund haben. Weshalb? Wenn wir Menschen aus anderen Weltregionen treffen, definieren wir diese oft über deren Religion, ohne gleichzeitig auch über unseren eigenen religiösen Hintergrund zu sprechen. Doch wir sollten dies tun, um anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Die Tatsache, dass man in einer weissen, westlichen und protestantischen Gesellschaft aufgewachsen ist - wie Serge, Paolo und ich - sagt etwas darüber aus, wie wir die Welt sehen und warum.
FOTO: ZVG
Claude Baechtold, Westschweizer Grafikdesigner und Fotograf (*1972), hat als investigativer Journalist u.a. für L’Hebdo und die NZZ am Sonntag gearbeitet. Heute ist er auch als Regisseur tätig. «Riverboom» ist sein erster Film.
«Riverboom», Regie: Claude Baechtold, Dokumentarfilm, CH 2024, 95 Min. Läuft zurzeit im Kino.
St. Gallen
«ALL I EAT IN A DAY», Ausstellung, bis So, 1. Dez., Di bis Fr 12 bis 18 Uhr; Sa/So 11 bis 17 Uhr, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstrasse 40. k9000.ch
Es gab einmal die Pop Art, die mit dem Wesen von und Elementen aus Werbung und Konsumwelt spielte. Heute ist es irgendwie umgekehrt, weil Konsumkultur, Entertainment- und Tourismusindustrie immer stärker in den Bereich bildender Kunst vordringen. Fashionbrands kollaborieren mit Künstler*innen, Luxusmarken beanspruchen Kunstwerkstatus für ihre Produkte, immersive Videoprojektionen verbinden klassische Kunstgeschichte mit spektakulärem Marketing, und Influencer*innen bevölkern die Instagram- und TikTok-Feeds etablierter Institutionen. Zeit, dass sich mal ein Museum dieses Phänomens annimmt: Die Gruppenausstellung «ALL I EAT IN A DAY», die von Giovanni Carmine zusammen mit dem Medienkünstler Cory Arcangel kuratiert wird, widmet sich dem zunehmenden Spektakel-Charakter aktueller Kunstformate und vereint hybride Erfahrungswelten, Werbeästhetik, Streaming und klassische Kunstgeschichte. DIF
Zürich
«Fünf Uhr morgens», Theater, So, 15. Sep., 17 Uhr; Mi+Do, 25.+26. Sep., 19 Uhr; Sa, 28. Sep., 17 Uhr, sogar theater, Josefstr. 106. sogar.ch
Die Öffnung der Grenzen und des Arbeitsmarkts für Menschen aus der Ukraine war ein bisher nicht dagewesener Akt der Solidarität. Andere, nicht-europäische Asylsuchende erfahren nicht in gleichem Umfang Unterstützung. Die Autorin Lubna Abou Kheir kam als Asylsuchende aus Syrien in die Schweiz (und hat für eine unserer letztjährigen Literaturausgaben einen poetischen Text geschrieben). In «Fünf Uhr morgens» spürt sie ihren Gefühlen nach, die sie in Anbetracht dieser Ungleichbe-
hen. Das Team um die künstlerische Leiterin Sarah Hänggi stellt den mehrtägigen Anlass (20. bis 22. Sep.) jedes Jahr in der Überzeugung auf die Beine, dass eine gestärkte Gesangskultur nicht nur Einzelnen zugutekommt, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes nachhaltig bereichert und zur vielbeschworenen Resilienz beiträgt. Das zeigt sich auch im reichhaltigen Programm, das vom klassischen Konzert bis zum Beatbox-Workshop für Kinder reicht. Ein perfekter Rahmen für den Surprise Strassenchor unter der Leitung von Rhea Hinter-
mann: Zusammen mit den Kinderund Jugendchören der Musikschule Riehen laden sie zum offenen Singen ein! Anforderungen gibt es keine, alle Chor- und Laiensänger*innen sind herzlich willkommen. NFU
Zürich
handlung durchströmen. Und erschrickt. Denn sie, die sich bisher aktiv für Menschenrechte eingesetzt hat, beobachtet an sich selbst ein Unbehagen. «Fünf Uhr morgens» ist die Geschichte einer persönlichen Retraumatisierung. Zwei geflüchtete Frauen begegnen sich in der Schweiz, die eine aus Syrien (Lubna Abou Kheir selbst), die andere aus der Ukraine (Yulianna Khomenko). Sie treffen aufeinander, trinken miteinander Kaffee und beginnen zu sprechen, mitund gegeneinander, und zu singen – bis sich ihre Sprachen und Klänge in der Regie von Ursina Greuel zu einem überraschenden Sound verbinden. Auf Deutsch, Arabisch und Ukrainisch. DIF
Riehen
«enchanté Singfestival Riehen», Offenes Singen, Sa, 21. Sep., 13 bis 15 Uhr, Webergässchen, Dorfzentrum Riehen. enchante-riehen.ch
Dass «Singen wirkt», weiss nicht nur unser Strassenchor, sondern auch das enchanté Singfestival Rie-
heilt (party)» begibt sich eine Frau auf die Suche nach Heilung im Medizinbetrieb. Sie rast durch die jahrhundertealte Geschichte des männlichen Blicks auf den weiblichen Körper. Und durchpflügt die westliche Medizin, die bis vor Kurzem kein Interesse und keine Forschungsgelder für Krankheiten nicht-männlich-gelesener Körper hatte. Der Theatertext legt die Absurditäten in wissenschaftlichen Mythen offen und guckt hin, bis es schmerzt. Im Körper. Im System. Regie führt Marie Bues, Co-Intendantin am Schauspielhaus Wien, die bereits Haennis Erfolgsstück «frau im wald» für Bühnen Bern inszenierte. DIF
Online
«Norient City Sounds series: Bogot á Voices», Ausstellungsplattform. norient.com/norient-citysounds
«frau heilt (party)», Theater, Sa, 28. Sep.; Mo, 30. Sep.; Do, 3. Okt.; So, 20. Okt.; Mi, 30. Okt.; Fr, 1. Nov.; Mo, 4. Nov., wochentags 20 Uhr, sonntags 16 Uhr; Theater Winkelwiese, Winkelwiese 4. winkelwiese.ch
Die Medizin orientierte sich in der (nicht allzu fernen) Vergangenheit ausschliesslich am männlichen Geschlecht. In Julia Haennis «frau
«Bogotá Voices» ist eine virtuelle Ausstellung: 21 Künstler*innen, Kollektive und Aktivist*innen haben zu einer vielfältigen digitalen Sammlung experimenteller Kompositionen und Mixtapes, Interviews, DJ-Sets, Essays, Kurzfilmen und Fotoserien beigetragen. Zwischen sprudelndem Wasser, Hügeln, Strassenverkehr und kollektiven Aktionen und Protesten setzt die Hauptstadt Kolumbiens eine rebellische Energie frei. Dieses Online-Special der Reihe Norient City Sounds wurde von der in Bogotá lebenden Anthropologin, Soziologin und Kulturmanagerin Luisa Uribe kuratiert. Alle Beiträge sind auf Spanisch und Englisch verfügbar. (Bogotá ist die vierte Folge, zu finden sind online auch Nairobi, Beirut und Delhi.) DIF
Peterstrasse 16 8001 Zürich
Tour de Suisse
Surprise-Standort: Coop
Einwohner*innen: 7647
Sozialhilfequote in Prozent: 4,7
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 20,4
Länge der Trottoirs in km: 16
Bekanntlich gibt es den namengebenden See gar nicht, was daran liegt, dass der Name des Ortes von Buchsbäumen herstammt, wie auf der Infotafel zu erfahren ist.
Die Gemeinde existiert schon seit sehr langer Zeit, sie ist gut gelegen zwischen Bern, Luzern und Solothurn. Dieses Jahr fand das Bernische Kantonal-Musikfest hier statt, überall waren kleine Wegweiser angebracht, die auf verschiedene dazugehörige Orte hinweisen: «Festgelände», «Parademusik», «Einspiellokal A1/A2».
Ebenfalls viele kleine Wegweiser liess der Gewerbeverband aufstellen, damit das lokale Gewerbe Beachtung findet. Es scheint zu funktionieren, es stehen weniger Läden leer als andernorts. Der Verein bietet auch Unterstützung,
wenn jemand eine Geschäftsidee hat. Ein Laden für Selbstgemachtes, der «Self Made Shop» findet sich hier, und für jene, die lieber selber machen als Selbstgemachtes zu kaufen, gibt es die «Bastlerei».
Die Frauen haben ihr eigenes Sportstudio. Überhaupt ist der Sport gut vertreten, die Turnhalle Burg ist ausgeschildert, es gibt Fussballplätze, eine Sportsbar und auf einem Brunnen kniet ein mit Turnhose bekleideter Knabe, der einen Ball in den Händen hält. Ein schönes Ensemble bilden das Gemeinde- und das Kornhaus. In letzterem ist der Sozialdienst untergebracht, zudem gibt es zwei Mehrzweckräume.
Eine prächtige Linde steht auf dem Hof, der Mani-Matter-Platz heisst. Dieser wurde in Herzogenbuchsee geboren.
Ein Stein erinnert nicht an ihn, sondern an die Bauernkriege von 1653. Dass es hier aber keinesfalls nur volkstümlich und rückwärtsgewandt zugeht, zeigt das Plakat für ein Konzert mit dem Luzerner Duo Siselabonga, das westafrikanische Melodien und Rhythmen spielt. In dem Park befindet sich auch die Hafenbar, obwohl es, wie gesagt, keinen richtigen See hat, nur einen künstlichen, auf dem aber keine Schiffe fahren.
Neben dem Mani-Matter-Platz gibt es auch ein Jakob-Weder-Haus, benannt nach einem 1990 verstorbenen Kunstmaler. Ein eher unauffälliger Wohnblock, in dessen Eingang sich sein abstraktes Wandgemälde «Integration» befindet. Neben diesem Wohnblock aus den 1970er-Jaren sind aber auch viele alte Häuser zu sehen, teils mit den typischen tief gezogenen Dächern und den langen Holzbalkonen, für die es gewiss eine Fachbezeichnung gibt, sowie das schöne Hotel du Soleil.
Vor einer Scheune ist das Holz in Form eines Smileys aufgeschichtet, eine geschnitzte Zimmermannsskulptur bewacht etwas weiter vorne den Weg. Vor einem Bauernhaus tummeln sich Ziegen und Hühner, das Bergpanorama im Hintergrund ist allerdings auf einen Wohnblock aufgemalt. Ebenfalls gemalt ist der Schriftzug «Metzgerei» auf einem alten Haus, das entsprechende Geschäft ist schon lange verschwunden. Vereinzelt stehen ältere, verwitterte, schmucklose Gebäude herum, was selten geworden ist. Daneben stehen die zu erwartenden perfekten Vorgärten mit Aufstellpool und Carport. In einem alten Industriebau ist das Jugendhuus untergebracht, davor steht ein bunt bemalter Bus auf der Strasse mit dem schönen Namen «Drangsalengässli».
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher
Schriftsteller Stephan Pörtner besucht
Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
TopPharm Apotheke Paradeplatz Zürich
Automation Partner AG, Rheinau
Anyweb AG, Zürich
Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich
Gemeinnützige Frauen Aarau
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich
Beat Hübscher – Schreiner, Zürich
KMS AG, Kriens
Brother (Schweiz) AG, Dättwil Coop Genossenschaft www.wuillemin-beratung.ch
Stoll Immobilientreuhand AG movaplan GmbH, Baden
Maya Recordings, Oberstammheim
Madlen Blösch, Geld & so, Basel onlineKarma.ch / Marketing mit Wirkung
Scherrer + Partner GmbH www.dp-immobilienberatung.ch
Kaiser Software GmbH, Bern
Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf Heller IT + Treuhand GmbH, Tenniken
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
Bodyalarm GmbH – time for a massage
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Das Programm
Wie wichtig ist Ihnen Ihre
Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Eine von vielen Geschichten Lange bemühte sich Haimanot Mesfin um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam für sie nie in Frage – sie wollte stets selbstständig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkauft Haimanot Mesfin seit über zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits früh morgens und verkauft ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstützt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-Büro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.
Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus
Derzeit unterstützt Surprise 30 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
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· ¼ Jahr: 1500 Franken
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Im Artikel «Ungewisse Zukunft» war auf der Karte zwar der Gazastreifen eingezeichnet, nicht aber das Westjordanland noch die Golanhöhen. Zudem kam es zu Fehlern in der Namensgebung. Da in Gaza die Frauen nicht den Nachnamen ihres Mannes annehmen, die Kinder aber schon, heisst Ali mit Nachnamen Jeneineh und seine Mutter Mai Zain Al-Din. Und Amira heisst mit Nachnamen Sabbagh und ihre Mutter Eman Sharif Alashy. Wir bitten um Entschuldigung.
#579: «Jetzt schauen die Leute zu mir auf»
Herr Paul Shawdover ist stolz drauf, ein Schwarzer zu sein. Das schockiert mich. Wie kann man nur stolz sein auf seine Hautfarbe? Jeder Mensch hat die Hautfarbe, die seine Eltern ihm vererbt haben. Wo ist da die Heldentat? Oder braucht es, um stolz zu sein, gar keine Heldentat, sondern nur eine bestimmte Abstammung? Was für ein Horrorgedanke!
FARINA HIROSHIGE, Basel
Anm. d. Red.:
Der Megaphone-Verkäufer Paul Shawdover aus Vancouver verweist im Porträt auf Seite 30 auf mehrere, verschiedene Identitätsmarker: Er sei stolz drauf, Schwarzer jamaikanischer Kanadier zu sein. Damit bezieht er sich nirgendwo auf die Pigmentierung seiner Haut – denn das wäre wie vermutet rassistisch –, sondern auf politische Kategorien sowie auf weitere kulturelle und soziale Aspekte von Identität.
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Surprise-Porträt
«Im Frühling hatte ich das Gefühl, ich brauche eine Veränderung. Ich will wieder mehr raus aus Biel, wo ich wohne, ich will etwas machen, das sinnvoll ist und mir guttut, und dann ist mir Surprise in den Sinn gekommen. Vor etwas mehr als neun Jahren habe ich schon mal für ein paar Monate Surprise verkauft, und zwar in Bern, unten in der Altstadt, an der Kramgasse, bei der Post, manchmal auch vis-à-vis der Rathaus-Apotheke. An diesen Verkaufsort konnte ich zum Glück zurückkehren, das passt mir dort. Die Leute, die vorbeikommen, haben zum Teil noch Zeit zum ‹Tampe›, um es mit einem alten berndeutschen Wort für Plaudern zu sagen.
Das Plaudern und das Hören von Geschichten haben mir schon als Kind gefallen. In Laupen, wo ich aufgewachsen bin, habe ich auf dem Heimweg von der Schule oft einen Abstecher ins Altersheim gemacht und den Bewohnerinnen zugehört, wenn sie von früher erzählten. Später, als es dann um die Berufswahl ging, erinnerte mich mein Vater an diese Zeit und meinte, eine Lehre im Pflegebereich könnte doch etwas für mich sein. Und damit lag er völlig richtig. Nach einem Jahr im Welschland bei einer Bäckerfamilie fing ich an, zuerst als Hilfspfleger zu arbeiten und absolvierte später, weil mir der Beruf so gefiel, in Bern im Diakonissenhaus die Lehre zum Krankenpfleger.
Ein paar Jahre nach der Lehre zog es mich wieder in die Romandie. In La Chaux-de-Fonds fand ich im Kantonsspital eine Stelle als Pfleger – und lernte meine Frau kennen, eine Walliserin. Zusammen zogen wir ins Wallis und wurden Eltern von zwei Söhnen und einer Tochter. Wir hatten eine schöne Zeit. Neben der Arbeit habe ich zu unserem Gemüsegarten geschaut oder ging mit den Kindern fischen. Doch mit der Zeit gelang es mir immer weniger, genügend Erholung und Ausgleich zur anstrengenden Arbeit in der Pflege zu finden. Ich fühlte mich dauernd überlastet und ausgelaugt und bat deshalb um eine Pensumsreduktion. Doch die wurde mir nicht gewährt – im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, sie luden mir noch mehr Arbeit auf. Das führte dazu, dass ich am Abend immer länger in der Beiz sitzen blieb und versuchte, den ganzen Stress runterzuspülen. Ich war mir völlig bewusst, dass ich meine Familie zunehmend vernachlässigte, fand aber die Kraft nicht, mit dem Trinken aufzuhören.
Nach Klinikaufenthalten, der attestierten Arbeitsunfähigkeit und dem gescheiterten Versuch, wieder ein normales Familienleben zu führen, trennten sich meine
Bern und ist ungemein an Geschichten interessiert, unter anderem an solchen von früher.
Frau und ich schliesslich, und ich zog nach Biel. Ausschlaggebend für die Trennung war sicher auch, dass ich mich eigentlich schon immer mehr von Männern angezogen gefühlt hatte. Aber zu der Zeit, als ich meine Frau kennenlernte, glaubte ich noch, dass Liebe zwischen Männern nicht sein dürfe, und so hatte ich meine Gefühle jahrelang unterdrückt.
Bis heute habe ich Kontakt zu meiner Familie. Am häufigsten sehe ich meine Tochter, weil ich ab und zu meine Enkelkinder hüte. Alkohol trinke ich keinen mehr. Ich mag auch gar nichts mehr zu tun haben mit Leuten, die viel trinken – ihr Geschwätz nervt mich, und sie ziehen mich runter.
Und so bin ich letzten Frühling über die Bücher und habe mich gefragt, was mir guttäte. Im Moment ist es das, was ich mache: Unter der Woche fahre ich, wenn ich keine anderen Verpflichtungen habe, mit dem Zug nach Bern und verkaufe Surprise. Als IV- und baldiger AHV-Bezüger muss ich aufs Geld schauen, aber das Unterwegssein, der Kontakt zu den Menschen, die Gespräche in der Kramgasse und auch im SurpriseBüro Bern, wo ich fast jeden Morgen kurz reinschaue –das ist es, was mich vor allem aufstellt.»
Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN
Hörkombinat : Politik – ein Podcast von Elvira Isenring und Dominik Dusek, jeweils im Hintergrundgespräch mit Journalist:innen von der WOZ, «Tsüri.ch», «Das Lamm», «Surprise» und WAV.
Entlastung
Zur Migrationsagentur ICMPD
Zu Gast: Lorenz Naegeli und Reto Naegeli ( WAV )
79 Millionen Euro Budget, ein Engagement in einem viel und heiss diskut ierten Bereich, der Leiter ist ein ehemaliger österreichischer Vizekanzler –und trotzdem kennt kaum jemand die ICMPD. Die Agentur dient als Schaltstelle zur Abwicklung von Aufträgen im Migrationsbereich. Sie arbeitet mit hoch bedenklichen Körperschaften wie dem libyschen Grenzschutz zusammen, jüngst wurden Korruptionsfälle aufgedeckt. Es gibt also eine Reihe von Gründen, die Tätigkeit des «International Center for Migration Polic y Development» zu durchleuchten.
Überall, wo es Podcasts gibt.
Ausserdem zu hören auf:
→ Radio Rasa → Radio RaBe
Radio LoRa
Kultur
CHOR
LebensfreudeZugehörigkeitsgefühl
Solidaritätsgeste
Entwicklungsmöglichkeiten Unterstützung
Expertenrolle
Perspektivenwechsel
Erlebnis
Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer
Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.
Alle
Ein
Strassenmagazin kostet Franken.
Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.
Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.
Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.
info@surprise.ngo