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Strassenmagazin Nr. 581 9. bis 29. August 2024

davon gehen CHF 4.–an die Verkäufer*innen

Diskriminiert die IV?

Ein Fall aus Zürich zeigt: Wer wegen sozialer Probleme krank ist, hat es bei der IV schwer.

Seite 8

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

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Editorial

Ganz unten

Man rappelt sich auf, kämpft sich zurück, sieht endlich Land, ist wieder bei den Leuten. Unzählig sind die Wendungen für etwas, das wir alle kennen: Man ist ein Weilchen unten und dann geht’s wieder aufwärts.

Ich frage mich oft, wie das sein muss: Wenn man unten ist und unten bleibt.

In diesem Heft erzählen wir gleich zwei Geschichten von Menschen, die ganz unten sind. Die eine spielt in Agbogbloshie bei Accra in Ghana, abSeite 16. Aus allen möglichen Ländern türmt sich hier der Elektroschrott zu Bergen von Plastik, Monitoren, Kabeln und Smartphones, der von Müllsammlern abgetragen wird – eine Drecksarbeit, die die Männer ihre Gesundheit kostet und Accras Küste und Umland mit Schadstoffen belastet. Natürlich gibt es Alternativen wie nachhaltiges Recycling, auch davon ist in der Reportage die Rede, nur: Dafür muss man schon viel weiter oben auf der Leiter sein,

4Presseschau

5Na? Gut! Plattform für Arzt-Suche

5Vor Gericht Für wessen Leben?

6Verkäufer*innenkolumne Faschismus ist ...

7Moumouni antwortet Was hilft an Wochenenden gegen Weltschmerz?

8Gesundheit Veraltetes Krankheitsbild der IV

14Orte der Begegnung Bremgartenfriedhof in Bern

16Müll

Elektroschrott in Ghana

muss Geld haben, Investoren und Maschinen. Für die Müllsammler von Agbogbloshie klingt das wie von einem anderen Stern.

Die andere Geschichte handelt von einer Frau, die seit Jahren geplagt ist von Depressionen und trotz Gutachten keine Rente bekommt. Für die Erkrankung mitverantwortlich sind psychosoziale Faktoren: Die Frau ist Schwarz, Muslima, sie wurde zwangsverheiratet, ist zudem arm – und gehört damit zu denen, die gleich mehrfach diskriminiert werden. Genau solche psychosozialen Faktoren werden von der IV aber weitgehend ignoriert; was im Grunde darauf hinausläuft, dass die Frau in ihrer Erkrankung nicht anerkannt wird. Der Fall wirft eine grundsätzliche Frage auf: Erhält die Betroffene keine Rente, weil sie ganz unten ist? Wir suchen eine Antwort darauf, ab Seite 8.

KLAUS PETRUS Redaktor

22Verein Surprise Neuer Stadtrundgang in Zürich

24Theater Aufwachsen in unsicheren Zeiten

26Veranstaltungen

27Tour de Suisse Pörtner in Luzern

28SurPlus Positive Firmen

29Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30Nachruf Josiane Graner

Presseschau

Zur Ausstellung «Wie Strassenzeitungen Leben verändern» Kornhausforum Bern, 17.5.–13.10.2024 (verlängert), Eintritt frei

«Überblick»

«Sie geben der Armut ein Gesicht: die Verkäufer*innen von Strassenmagazinen. Die Ausstellung ‹Wie Strassenzeitungen Leben verändern. How Street Papers Change Live s› erzählt deren Geschichten und gibt einen Überblick über unterschiedlichste Strassenzeitungsprojekte weltweit.»

WOZ (18.07.2024)

«Es

braucht sie mehr denn je»

«So kommt die Ausstellung im Kornhausforum zu einem interessanten Zeitpunkt. Nicht nur die generelle Krise der Printmedien und der Wandel beim Medienkonsum beeinflussen die Arbeit der Strassenzeitungen, sondern auch der Umstand, dass mit der anhaltenden Teuerung auch die Wahrscheinlichkeit steigt, arm zu werden. Was wiederum unterstreicht, dass es diese Initiativen auch nach 30 Jahren noch braucht, vielleicht mehr denn je.»

Der Bund (17.05.2024)

«Jans wünscht sich, dass die Menschen ihn mögen»

«Beat Jans fällt in die Kategorie ‹gmögiger› Bundesrat. Er mag Menschen, und er wünscht sich, dass sie ihn mögen. Diesen Eindruck hat man an diesem Abend im Berner Kornhaus. Der Verein ‹Surprise›, zu dem das gleichnamige Strassenmagazin gehört, hat zu einer Vernissage eingeladen. Als Jans den Raum betritt, umarmt ihn ein Mann stürmisch, eine Frau ist ganz nervös, als sie mit ihm ein Foto machen darf. Jans war während fünf Jahren Präsident des Vereins ‹Surprise›. Es ist ein Anlass unter Gleichgesinnten.»

NZZ (18.05.2024)

«Genialer Gedanke»

«Obwohl sich journalistische Ansätze und politische Positionen der Redaktionen unterscheiden, bleiben Strassenzeitungen ein genialer Gedanke, der Hoffnung für Menschen mit Obdachlosigkeit schafft.»

Journal B (18.05.2024)

Plattform für Arzt-Suche

Wie überall in der Gesellschaft gibt es auch im Schweizer Gesundheitswesen Diskriminierung, nicht alle Menschen werden respektvoll behandelt und haben den gleich einfachen Zugang (siehe Surprise 554/23 oder Surprise 573/24).

Die Romandie kennt schon länger ein Mittel dagegen: Adopte un.e Gynéco ist eine Online-Plattform, auf der auf Diskriminierung sensibilisierte Gynäkolog*innen gefunden werden können.

Neu gibt es eine ähnliche digitale Gesundheitsplattform auch für die Deutschschweiz. Auf geplaper.ch, das ein Kollektiv entwickelt hat, können Gesundheitsfachpersonen empfohlen sowie gesucht werden. Wer etwa gute Erfahrungen mit einem Hausarzt oder einer Neurologin gemacht hat, kann diese dort teilen.

Mit einer Filterfunktion können die Nutzer*innen nach Empfehlungen für bestimmte Gruppen suchen, etwa nach Empfehlungen für armutsbetroffene Menschen, Sans-Papiers, Migrant*innen, Schwarze Menschen, Rollstuhlfahrer*innen, mehrgewichtige, drogenabhängige oder nonbinäre Menschen.

Teil der Plattform ist auch eine Liste mit Anlaufstellen, an die sich wenden kann, wer schlechte Erfahrungen in der Medizin gemacht hat. Geplaper ist übrigens die Abkürzung für den nicht ganz einprägsamen Namen «Gesundheitsplattform für persönliche Empfehlungen von Gesundheitsfachpersonen». Und spielt mit dem Verb «plappern». Wissen teilen, schreibt das Kollektiv, sei ein Akt der Autonomie. LEA

geplaper.ch adopteunegyneco.wordpress.com

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.

Vor Gericht

Für wessen Leben?

Zwei Jahre ist es her, dass der US-Supreme Court das allgemeine Recht auf Abtreibung aufgehoben hat. Die Richter*innen urteilten, dass die Entscheidung über den Fortgang einer Schwangerschaft nicht bei den Schwangeren liege – sondern beim einzelnen Bundesstaat als Gesetzgeber, bei den vom Volk gewählten Vertreter*innen.

5425 neue Bestimmungen sind nach Angaben des Guttmacher Institute, das die Rechtsentwicklung in den einzelnen Staaten verfolgt, seit 2023 eingeführt worden. Vierzehn Staaten haben fast totale Abtreibungsverbote erlassen; ein Abbruch ist nur bei Lebensgefahr für die Mutter zulässig. Was das heissen kann, zeigte sich bei der Texanerin Amanda Zurawski. Ihre Fruchtblase platzte in der 18. Schwangerschaftswoche. Die Diagnose: Zervixinsuffizienz, eine Öffnung des Gebärmutterhalses ohne Wehen. Ihr Ungeborenes hat keine Chance, da sind sich die Ärzt*innen sicher. Die Standardbehandlung für eine nicht lebensfähige Schwangerschaft wäre der Abbruch – die natürliche Fehlgeburt abzuwarten, setzt die Mutter dem Risiko einer tödlichen Infektion aus.

Die Ärzt*innen wagten nicht einzugreifen. Noch war der Herzschlag des Fötus feststellbar. Solange dies der Fall ist, wäre die Abtreibung ein Verbrechen – ausser im äussersten Notfall. Ärzt*innen in Texas riskieren in solchen Situationen viel: ihre Zulassung, eine lebenslange Freiheitsstrafe. Erst als Zurawski drei Tage später mit einem septischen Schock auf der Intensivsta-

tion liegt, ist sie dem Tod nahe genug für eine eindeutig legale Abtreibung. Dann kämpft das medizinische Personal tagelang um ihr Leben. Später muss massives Narbengewebe operativ aus der Gebärmutter entfernt werden. Es ist unklar, ob sie noch Kinder bekommen kann.

Kein Einzelfall: Mit 20 Leidensgenossinnen verklagte Zurawski den Staat Texas. Andere Fälle: Frauen, die gezwungen waren, ihre nicht lebensfähigen Babys in anderen Staaten abzutreiben. Frauen, denen dafür das Geld und/oder die Zeit fehlte und die Kinder auf die Welt brachten, nur um sie zu beerdigen. Auch zwei Gynäkologinnen klagten. Seit Einführung der extremen Abtreibungsverbote herrsche Chaos und Panik bei Patientinnen und medizinischem Personal. Sie seien nicht mehr in der Lage, ihren ethischen Verpflichtungen als Ärztinnen nachzukommen.

Die erstinstanzliche Bezirksrichterin sah Handlungsbedarf. Mit einer einstweiligen Verfügung stoppte sie im August 2023 die Durchsetzung der texanischen Abtreibungsgesetze, sie müssten präzisiert werden. Dagegen legte der Staat Texas Berufung ein. Die Bezirksrichterin habe ihre Kompetenzen überschritten – und der Staat erhielt vor dem texanischen Supreme Court mit Urteil vom 31. Mai 2024 Recht. Die Oberrichter*innen verweisen auf das legitime, seit langem anerkannte Interesse des Staates Texas, ungeborenes Leben zu schützen. So schmerzhaft die Umstände im Einzelfall seien. Es bleibt dabei: Die Abtreibung als Standardverfahren zur Behandlung gefährlicher Erkrankungen während der Schwangerschaft wird in Texas kriminalisiert.

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Faschismus ist …

Erst waren es «die Juden» und «die Zigeuner», dann, in den 1950er-, 60er- und 70er-Jahren, «die Italiener», in den 80erJahren «die Türken», in den 90ern «die vom Balkan», und in den 2000er-Jahren nun «die Muslime» und «die Afrikaner» und schon wieder und immer noch «die Juden», die man pauschal für alles Schlechte verantwortlich macht. Was ich beobachte ist, dass viele Leute meinen, alles sei die Schuld der Ausländer*innen (dabei sind viele der auf die Art Verunglimpften gar keine). Sei es Stau, zu hohe Mieten, zu viel Beton, zu wenig Platz im ÖV, Kriminalität, Gewalt, Klimawandel, sogar Covid und wenn Schüler*innen zu wenig lernen.

Aber Moment mal: Wer hat mal in Oerlikon probiert, mich zu bestehlen? Ein Schweizer! Wer hat mich telefonisch belästigt? Ein Schweizer! Grossunternehmer, die am meisten Angestellte feuern, sind Schweizer! Wer zockt Mieter*innen am meisten ab? Schweizer! Das alles würde ich vorbringen, wenn ich auf die gleiche pauschale Art kontern würde. Mich hat noch nie einer beklaut. Wenn die einen prügeln, heisst es: «Kosovo-Albaner prügeln». Bei anderen heisst es nur: «Querschläger prügeln».

Es wird mit zweierlei Mass gemessen. So werden Leute manipuliert. Es wird kein Stau um 1 Auto kürzer, keine Miete um 1 Franken billiger, keine Wiese grüner, kein Schüler besser, wenn man «Ausländer*innen» ausschafft oder abschreckt.

Faschismus ist, anderen Menschen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Faschismus ist, andere Menschen nicht als Menschen anzuerkennen, ihnen Grundrechte abzuerkennen. Faschismus ist, das Gefühl zu haben, man sei mehr wert aufgrund seiner Hautfarbe oder der Nationalität. Faschismus ist, sich als Eidgenosse zu betiteln, um diejenigen mit ausländischen Vorfahren nicht als Schweizer*innen anzuerkennen.

Manchmal erinnert die heutige Stimmung an die 1930er-Jahre und an die damalige NSDAP.

MICHAEL HOFER, 44, verkauft Surprise in Zürich Oerlikon. Er hat diesen Text zu schreiben begonnen, weil er in letzter Zeit richtig Angst bekommen hat, dass der Rassismus Oberhand nimmt.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

Moumouni antwortet

Was hil an Wochenenden gegen Weltschmerz?

Manchmal nichts

Wirklich nichts?

Manchmal ist es die Frage, was es bringt, sich in Weltschmerz zu suhlen.

Manchmal ist es Tatendrang oder Schlaf

Das Kleine

Das Grosse Besserung, auch wenn kaum Besserung in Sicht Zu wissen, dass es weitergeht zu wissen, dass es so nicht weitergeht

Manchmal Sicherheit.

Dass sich was ändert oder auch nur die Sicherheit, dass sich was ändern muss

Manchmal richtig gutes Essen, oder richtig gute Leute

Billard spielen, stumpf mit dumpfen

Schlägen die Bälle in die Löcher

Bewegung, draussen, das ist gut für den Körper, weisst du?

Fernsehen

oder den Fernseher abschalten

Geld

aber woher?

Konsum

und das schlechte Gewissen danach Keine Ahnung, ob eine Jacht hilft oder ein Privatjet. Sieht manchmal so aus.

Manchmal existiert er über Generationen hinweg soll man da überhaupt noch aufhören?

Manchmal hilft der Montag oder den Montag zu verdrängen

die gute Arbeit, die guten Ferien zudröhnen aufwachen

Manchmal ist es sicher kein «ach, nimm’s doch nicht so schwer!»

Manchmal ist es ein «es ist aber schwer»

Manchmal die Ruhe vor dem Sturm und dann der Sturm

Kind sein

Erwachsen sein

Ein Tag zu Hause

Die Sonne, der Schnee, echt oder künstlich

Manchmal merkt man, es war nur PMS

Manchmal ist es schlimmer

Manchmal ist es das Lieben, die Liebe, zu lieben

Manchmal die blanke Wut

Manchmal ist es nah sein oder nicht weit weg manchmal ist es, weit weg zu sein

Manchmal ist es der Frieden da, oder der Krieg dort, manchmal genau und hoffentlich nicht

Manchmal ist es abschalten und Pause machen die Welt schmerzt auch alleine vor sich hin

Manchmal hilft es aufzuhören, nicht mehr darüber nachzudenken

Manchmal ist die Pause so lang und stumpf

Manchmal hilft es, den Weltschmerz zu spüren – warum denn auch nicht?

Die Friends, die Familie, die Mama, Abstand

Manchmal sind es die anderen

Manchmal sind es die anderen nicht

Der Gedanke an Gemeinschaft

Der Gedanke an Einsiedlertum

Die Zeit auch wenn sie viel zu schnell …

MOUMOUNI weiss auch nicht so recht. Manchmal hilft’s.

FATIMA

Gesundheit Nasrin Sharif ist seit fünfzehn Jahren krank. Doch die IV findet, sie könne voll arbeiten. Weil sie Krankheit anders versteht als die moderne Medizin. Ist das diskriminierend?

Stellen wir uns einen Raum vor, in dem viele Menschen stehen. Auf ihren Schultern stehen weitere Menschen. Und auf deren Schultern ebenfalls und so weiter – bis die Menschenpyramide die Decke erreicht. Dort befindet sich eine Luke, durch die die zuoberst stehenden Menschen klettern können. Sie gelangen auf einen Fussboden, auf dem schon andere Menschen stehen: das sind die Privilegierten.

Das Bild stammt von der US-amerikanischen Jura-Professorin Kimberlé Crenshaw und soll illustrieren, dass es Menschen gibt, die mehrfach diskriminiert werden. Diese bleiben meist ihr Leben lang benachteiligt. Denn bei rechtlichen Verbesserungen bekommen nur die obersten der Menschenpyramide die Chance, durch die Luke zu den Privilegierten zu klettern – also beispielsweise reiche, weisse, heterosexuelle Frauen ohne Behinderung.

Nasrin Sharif, die in Wirklichkeit anders heisst, würde in der Schweiz zu jenen zuunterst in der Menschenpyramide gehören. Sie ist eine Schwarze, muslimische Frau, zwangsverheiratet, ihre Verwandten leben in Bangladesch, die Familie ist arm, lebt von Sozialhilfe. Und die 42-Jährige ist krank. Rheuma, Fibromyalgie, Arthrose, der Rücken, das Knie. Die Ärzt*innen nennen das: somatoforme Schmerzstörung. Sie sagt: «Schmerzen, den ganzen Tag und die ganze Nacht.» Sharifs Psychiater diagnostizierte zudem eine mittelschwere Depression.

Dass Sharif krank ist, dass sie leidet, bezweifelt im Prinzip niemand. Da sie seit ihrer Einwanderung vor zweiundzwanzig Jahren regelmässig gearbeitet hat, ist sie gegen Invalidität versichert. Theoretisch. Denn eine Invalidenrente erhält sie nicht, wie sie Anfang Jahr erfahren hat. Nach vier Jahren Warten auf den Bescheid. Die Frage nach dem Warum macht ein Buch auf. Sharifs Dossier bei der Invalidenversicherung (IV) ist über tausend Seiten lang.

Für ihren Psychiater ist der Entscheid der IV unverständlich. Er hält die Praxis der IV für diskriminierend. Vor einigen Monaten ist er deswegen mit dem Fall an Surprise herangetreten. Wir haben mit ihm ausführlich darüber geredet. Mit seinem richtigen Namen möchte er hier aber nicht genannt werden, da er Nachteile für seine Patient*innen befürchtet.

«Die Versicherung ignoriert psychosoziale Faktoren wie Hautfarbe, Geschlecht, Migrationshintergrund oder religiöse Zugehörigkeit systematisch», sagt der Psy-

chiater, der früher auch schon Gutachten für die IV verfasst hat und aus seiner Praxis einige Fälle kennt von kranken Migrantinnen, denen aus diesem Grund eine IVRente verwehrt wurde. Er nennt als Beispiel Schwarze Sexarbeiterinnen mit indigenen Wurzeln, die Partnerschaften eingingen, die sie aus diesem Milieu und der Armut herausbringen sollten.

Gegen die eigene Überzeugung

Im Fall von Sharif argumentiert die Versicherung, dass ihr Leiden in der unglücklichen Zwangsehe, ihre religiös und kulturell bedingten Integrationsprobleme, die Last ihrer Schulden, das schlechte Gewissen ihren Kindern gegenüber oder ihr Heimweh «invaliditätsfremd» seien. Der Psychiater aber sagt: «Für die Diagnosestellung der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung können psychosoziale Faktoren explizit eine Ursache sein.»

Die Frage ist darum: Schliesst die IV just jene Faktoren aus, unter welchen die in der Gesellschaft am meisten Diskriminierten ohnehin leiden? Und: Erhält Nasrin Sharif keine IV-Rente, weil sie zuunterst in der Menschenpyramide steht?

Sharifs Psychiater sagt: «Eine Schweizer Frau, die Schweizerdeutsch spricht, mit einem Schweizer verheiratet ist und ihre Familie im Dorf wohnen hat, die sich als Schweizerin kleidet und ihre Religion ausüben kann, ist bei der gleichen Diagnose mit Sicherheit geringer belastet.» Und hätte damit bessere Chancen auf eine IVRente. Ignoriere man die Auswirkungen der psychosozialen Belastung a priori, so der Psychiater, würden Menschen wie Sharif benachteiligt. «Das beschreibt für mich das Wesen der Diskriminierung.»

Sharif trägt ein langes Seidenkleid, Brille und Kopftuch, als sie in ihre Wohnung am Stadtrand von Zürich bittet. Sie bete fünfmal pro Tag, und wenn sie nach draussen gehe, trage sie eine Abaya. Sharif

ist sehr religiös und sie kämpft seit Jahren mit einem inneren Zwist: Um überleben zu können, musste sie gegen ihre religiösen Überzeugungen handeln. Sie ging arbeiten, obwohl dies in ihrer strengen Auffassung Aufgabe ihres Mannes wäre. Sie verkaufte Alkohol, obwohl dieser «haram» ist, also verboten. Sie musste aufs Beten verzichten, weil sie keine Pause machen konnte. Sie durfte ihr Kopftuch bei der Arbeit nicht tragen und musste sich für die Untersuchung des IV-Gutachters bis auf BH und Unterhose ausziehen. Der Gutachter notierte: «Die Versicherte verhielt sich grenzwertig kooperativ im Untersuch.»

Sharifs psychische Probleme begannen bereits kurz nach ihrer Einwanderung in die Schweiz. Noch in Bangladesch wurde sie wenige Tage nach ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Ihren Mann, 17 Jahre älter und seit 1990 als Gastarbeiter in der Schweiz, hatte sie zuvor noch nie gesehen. Sie wurde sofort schwanger. Als Sharif zwanzig war und die Tochter zwei, zog die Familie in die Schweiz. Das war 2002.

Zwei Jahre später war sie erneut schwanger. Doch das Kind kam zu früh und starb – für Sharif ein traumatisches Ereignis. Wenig später lag ihr Mann mit einer Lungenentzündung sechzehn Tage lang im Koma. 2008 starb ihr Vater, mit dem sie eng verbunden war, mit 63 an einem Herzinfarkt. Bis 2010 gebar sie drei weitere Kinder, ihr Mann wurde arbeitslos, die Familie hatte Schulden von einigen Tausend Franken. «Es war alles zu viel für mich. Ich dachte, es wäre besser zu sterben», sagt sie rückblickend.

Heute lebt die Familie von etwa 3200 Franken Sozialhilfe, Sharifs Mann ist ebenfalls erkrankt und steht kurz vor der Pension. Die beiden mittleren Kinder beteiligen sich mit ihrem Lehrlingslohn an den Mietkosten und haben ihren Eltern je 1000 Franken geliehen, für Flüge nach Bangladesch, als Sharifs Bruder starb. Die älteste

Tochter ist ausgezogen, sie hat einen dreieinhalbjährigen Sohn. Die jüngste Tochter ist vierzehn und geht noch zur Schule. Vielleicht, sagt Sharif, werde sie nach Bangladesch zurückgehen, sobald diese achtzehn wird. «Wenn ich dann noch lebe.»

Seit etwa 2008 hat Sharif neben ihrer mittelschweren Depression Schmerzen am ganzen Körper. Dass sie krank ist, steht zwar auch im Schreiben der IV, das sie Anfang Jahr erhielt. «50 Prozent arbeitsunfähig», so das Fazit der psychiatrischen Untersuchung. Trotzdem wurde ihr Antrag auf eine IV-Rente abgewiesen. Der Grund: Die IV bezweifelt, dass Sharif dauerhaft krank bleibt und sie wirklich auf keine Therapie anspricht. Schliesslich habe sie ihre Medikamente nicht pflichtgemäss genommen. Darum das Fazit: «Das psychische Leiden wird mit einer adäquaten psychiatrisch-psychotherapeutischen und medikamentösen Behandlung abklingen. Nasrin Sharif kann damit eine vollständige Arbeitsfähigkeit erreichen.»

Für Sharif fühlen sich diese Zeilen an wie Hohn. Sie nimmt seit fünfzehn Jahren regelmässig Medikamente, trotz aller Nebenwirkungen: Saroten, Mirtazapin, Venlafaxin, Surmontil. Einzig für einen Aufenthalt bei ihrer Familie in Bangladesch habe sie die Tabletten kurzzeitig abgesetzt, weil es ihr im Kreis der Familie besser ging. Sharif besucht wöchentlich ihren Psychiater, macht Psycho- und Physiotherapien, lässt sich von der Hausärztin untersuchen und war für weitere Untersuchungen in der Schulthess Klinik, im Universitätsspital, in der Psychiatrischen Universitätsklinik und so weiter. Und sie arbeitete trotz Schmerzen, hielt zuhause alle Bälle in der Luft. Und nun sollen ihre schwerwiegenden psychischen Probleme einfach so, innerhalb von kurzer Zeit, wieder «abklingen», wie es im Gutachten der IV heisst?

Sharifs Mann trägt an diesem heissen Tag ein Tanktop und Flipflops, sitzt auf dem Sofa und tippt auf sein Handy. Am Gespräch nimmt er nicht teil. Er spricht deutlich weniger gut Deutsch als seine Frau, obwohl er zwölf Jahre länger in der Schweiz lebt. Nur am Schluss erkundigt er sich, wie es weitergeht, wozu eigentlich das Ganze, und bestimmt, dass keine Fotos von seiner Frau gemacht werden dürfen. Nasrin Sharif presst die Lippen zusammen, sie kämpft mit den Tränen.

Um festzustellen, dass die Zwangsehe keinen der beiden glücklich macht, muss man kein Psychiater sein. «Er hat nicht al-

les gut gemacht», sagt sie, während ihr Mann teilnahmslos auf dem Sofa sitzt, er habe nie richtig Deutsch gelernt, schlechte Arbeitszeugnisse erhalten und habe Schulden gemacht. «Er müsste eigentlich die Familie ernähren, nicht ich.» Da das Geld nicht reichte, gingen beide arbeiten – sie Frühschicht, er Spätschicht. Fortschrittlich ja, aber nur von einer Seite. Für die Erziehung der Kinder und den Haushalt war lange sie alleine zuständig.

«Ich verstehe dieses System nicht» Sharif arbeitete als Kassiererin in Restaurants und Läden, an einem Buffet, bei einem Catering, in einer Cafeteria. Zuletzt bereitete sie in einer Kinderkrippe den Mittagstisch vor und betreute die Kinder, zwei Stunden pro Tag. Doch immer wieder verlor sie die Arbeit wegen langer krankheitsbedingter Abwesenheiten. Sie würde gerne wieder arbeiten, womöglich wieder in einer Krippe, aber es sei für sie als Ungelernte nicht einfach, eine Teilzeitstelle zu finden, bei der sie ihr Kopftuch tragen, genügend Pausen zum Beten machen könne und keinen Alkohol verkaufen müsse. Komme dazu, dass sie ohnehin den ganzen Lohn dem Sozialamt abgeben müsste, wenn sie nur zwanzig oder dreissig Prozent angestellt ist. Sie sagt: «Ich verstehe dieses System nicht.»

Einem IV-Gutachter gegenüber sagte Sharif über die schwierige Familiensituation, die Kinder würden den Ehemann «in seiner unerbittlichen Wut und aggressiven Impulsivität besänftigen und sie so vor Gewalttätigkeiten des Ehemanns schützen». Sie könne sich aus religiösen Gründen aber nicht von ihm trennen und hoffe, «im Leben nach dem Tod für die schwierige Ehe entschädigt» zu werden.

Sharifs Geschichte zeigt, wie soziale Probleme die psychische Gesundheit beeinträchtigen – gerade weil sie in mehrfacher Hinsicht diskriminiert wird. Denn bei

dieser Intersektionalität wirken verschiedene Diskriminierungsmerkmale gegenseitig verstärkend: Wäre sie Christin, würde sie kein Kopftuch tragen. Glaubte sie zwar an den Islam, wäre aber ein Mann, auch nicht. In beiden Fällen würde ihr die Stellensuche leichter fallen. Das heisst: Die Kombination von Geschlecht und Religion verstärkt die Diskriminierung.

In der Medizin ist es seit vielen Jahren Konsens, dass Gesundheit etwas Ganzheitliches ist. Vereinfacht gesagt sind Körper und Seele eine Einheit. Dass also psychische Probleme reale Schmerzen auslösen und umgekehrt Schmerzen zu psychischen Problemen führen können. Man spricht deswegen von einer «biopsychosozialen Medizin». «In der Medizin gilt dieses Krankheitsmodell. Krankheit wird medizinisch als Gesamtgeschehen betrachtet und psychosoziale und soziokulturelle Faktoren wie Migrationshintergrund, Gewalt in der Ehe, Entwurzelung und soziale Isolation werden mitberücksichtigt», sagt Myriam Schwendener, Juristin bei Pro Mente Sana. Die IV jedoch, das zeigen die Akten zu Sharifs Fall deutlich, stützt sich auf einen veralteten Krankheitsbegriff, der versucht, psychosoziale Faktoren aus dem objektivierbaren Leiden herauszufiltern. Immer wieder taucht in den Akten der Begriff «invaliditätsfremd» auf – vor allem in den entscheidenden Stellen, wo es darum geht, Sharifs Arbeitsfähigkeit zu bewerten. «Es handelt sich beim Störungsbild der Versicherten um eine komplexe Beschwerdelage, in welche somatische, psychische und zahlreiche IV-fremde Belastungsfaktoren einfliessen», schrieb der psychiatrische Gutachter, der Sharif im Auftrag der IV untersuchte. Der IV-interne Arzt des Regionalen Ärztlichen Diensts (RAD) wiederum, der den Fall nur aus den Akten kennt, kritisiert die Berichte von Sharifs Ärzt*innen: «Es stellt sich die Frage, ob psychosoziale Belastungsfakto-

ren ausgeklammert wurden.» Kurz: Man kann gemäss modernster Medizin krank sein. Gemessen am juristisch gefärbten Krankheitsbegriff der IV ist man trotzdem gesund.

Vor einigen Jahren keimte unter Patientenvertreter*innen Hoffnung auf, dass die Situation sich verbessern würde. Denn das Bundesgericht hatte die IV angewiesen, ihre Praxis zu ändern. «Depressive erhalten bessere Chancen auf IV-Rente», schrieben die Medien. Jahrelang hatte es für gewisse Diagnosen so gut wie nie eine Rente gegeben. «Ein Gutachten liefert die medizinischen Grundlagen für die Beantwortung von Rechtsfragen durch die IV-Stelle oder durch die Gerichte. Das Recht aber hat seit eh und je ein Problem mit psychischen Erkrankungen, weil diese nicht objektivierbar sind und sich rechtlich die Frage stellt, wie die Beeinträchtigungen bewiesen werden können», so Myriam Schwendener von Pro Mente Sana.

Wer ist mitverantwortlich?

Und so fiel, was nicht etwa durch Röntgenaufnahmen objektivierbar war, durch die IV-Beurteilungen – eine Folge der jahrelangen Sparpolitik der IV, die darauf abzielte, die Anzahl Renten zu reduzieren. Zu diesen Diagnosen gehört auch die anhaltende somatoforme Schmerzstörung, die bei Sharif 2009 diagnostiziert wurde. Sie stellte damals und später ein zweites Mal ein Rentengesuch – beide wurden abgewiesen.

Doch die Ernüchterung folgte bald, die Praxisänderung bewirkte wenig: Eine Studie zeigte, dass durch die neue Praxis kaum mehr IV-Renten bei psychischen Krankheiten gesprochen wurden als zuvor – auch nicht für Nasrin Sharif. Auch ihr drittes Gesuch wurde Anfang 2024 abgewiesen, mit Verweis darauf, dass eine Therapie baldige Besserung bringt. Dass bei leichten und mittelschweren Depressionen – wie Sharif

eine hat – praktisch nie alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind, kritisieren Patientenvertreter*innen schon länger.

Der Fall von Sharif ist komplex. Grosse Fragen tun sich auf: Wer ist mitverantwortlich dafür, dass sie so krank geworden ist? Ihr Ehemann, der sie im Stich gelassen, zeitweise gar bedroht hat? Die fremde Kultur und Religion, welche ihr durch starre Regeln die Integration verunmöglichen? Die Gesellschaft, die zu wenig tolerant ist, etwa weil geeignete Arbeitsplätze fehlen? Sie selbst, weil sie nicht wagt, trotz allem auszubrechen? Doch Moral ist keine Medizin: Die Schmerzen sind real. Eine Depression bleibt eine Depression.

Für die IV ist lediglich relevant, ob die betroffene Person «aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft erwerbsunfähig» bleibt, also voraussichtlich nicht mehr gesund wird. Da sollte es egal sein, ob die Schmerzen durch die schwierige Ehe, In-

Das sagt die IV

tegrationsprobleme oder Schulden verursacht werden. Trotzdem ist all das für die IV «invaliditätsfremd».

Eine Anwältin hat in Sharifs Namen gegen den Entscheid der IV Beschwerde eingelegt. Der Fall ist nun beim Sozialversicherungsgericht hängig. Damit ihr dort keine Nachteile entstehen, hat Surprise auf Anraten ihrer Anwältin ihren richtigen Namen durch ein Pseudonym ersetzt – sie selbst hätte kein Problem damit, ihren Fall an die Öffentlichkeit zu tragen. Zu verlieren hat sie nichts.

Unterstützt wird Sharif von ihrem Psychiater. Der sagt, dass sie sich durch Disziplin und ein grosses Verantwortungsgefühl auszeichne. «Sie kann sich richtig durchbeissen.» Selbst der IV-Gutachter schreibt: «Die Versicherte hat trotz ihrer Schmerzen immer wieder versucht, ihre Familie bei Unzuverlässigkeit ihres Ehemanns und der widrigen Umstände mit Mehrfachverlusten ihrer Stellen zu ernähren. Sie hat im Verlauf Durchhaltevermögen bewiesen.»

Doch nun sagt Sharif, sie könne nicht mehr. «Ich habe die Hoffnung verloren, den Spass verloren, das Lachen verloren.» Sie weint. «Eine Krankheit geht weg, die nächste kommt. Wie soll ich die Sonne je wieder sehen?»

Auch der Arzt, der Sharif für die IV untersucht hat, bemerkte die Verschlechterung ihres Zustands. In seinem Gutachten nannte er das: «Rückzug in die Krankenrolle».

Surprise hat die für Nasrin Sharif zuständige IV-Stelle Zürich mit den Vorwürfen konfrontiert. Da Sharif eine Auskunftsvollmacht erteilt hat, darf die IV zum konkreten Fall Auskunft geben. Dennoch hält sich die zuständige Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich (SVA) in ihrer schriftlichen Antwort vorwiegend allgemein. Die SVA Zürich bestätigt, dass die IV einen anderen Krankheitsbegriff verwendet als die Medizin: «Das bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen auf IV-Leistungen zu berücksichtigende Krankheitsmodell entspricht tatsächlich nicht dem biopsychosozialen Krankheitsmodell, welches für die medizinische Behandlung eines Leidens von Bedeutung ist», so Sprecherin Daniela Aloisi. Ob ein Krankheitsbild zum Bezug von IV-Leistungen berechtigt, sei durch das Gesetz und die Rechtsprechung des Bundesgerichts vorgegeben. Dass psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren (wie bei Sharif Zwangsehe, Integrationsprobleme oder Schulden) als «invaliditätsfremd» ausgeklammert werden, sei darum richtig. Sie würden aber «nicht losgelöst, sondern im Gesamtkontext gewürdigt». Übersetzt heisst das: Sie werden dann berücksichtigt, wenn sie ein Leiden verst ärken. Nicht aber, wenn sie die Krankheit direkt oder alleine verursachen. Im Fall von Nasrin Sharif sei eine solche «Gesamtwürdigung» erfolgt, so die SVA Zürich. AE

Orte der Begegnung

FRIEDHOF Der Ort: der Bremgartenfriedhof Bern um die Mittagszeit an einem warmen Sommertag. Er ist mit circa 16 Hektaren der zweitgrösste von drei Friedhöfen in der Stadt. Warum, sinniere ich geerdet und beflügelt zugleich auf einer der Bänke sitzend, bin ich in all den Jahren noch nie hierhergekommen? Die Hauptfiguren: Personal aus dem benachbarten Inselspital, eine Kita-Gruppe, eine Herde Engadinerschafe. Die Handlung: steht so gut wie still.

Die Menschen sind hier einzeln unterwegs. Mal mit Hund an der Leine oder mit Kinderwagen, auch joggend oder gemächlich auf dem Velo. Erlaubt ist Fahrrad fahren zwar nicht, doch stören tut es im Moment auch niemanden wirklich. Jemand im weissen Kittel. Kurz darauf zwei weitere im weissen Pflegepersonal-Shirt. Die Menschen schlendern und wandeln, niemand hastet, niemand eilt. Kaum auf einer der Alleen aufgetaucht, verschwinden sie wieder hinter der nächsten Hecke, der nächsten Föhre. Oder sonnen sich irgendwo in der Ferne auf einem Badetuch im Gras. Eine junge Frau geht vorüber. Was sie wohl hierher führt? Besucht sie einen Verstorbenen, den sie liebt und der hier ruht? Der Wind raschelt durch die Linden und Sträucher. Es fehlte nicht viel, und die durcheinander zwitschernden Vögel (über fünfzig Arten sollen hier leben) würden das gelegentliche Tuten einer Ambulanz und das Donnern der Lastwagen auf der Murtenstrasse übertönen.

Hinter einem Zaun weiden und grasen die Schafe. Vor dem Zaun: staunende Kita-Kinder. «Eins, zwei, …», zählt eine vor-

Weiden und grasen

beigehende Frau, «acht!» Die Kinder begeistern sie mehr als die Schafe. Ein paar Minischritte weiter wird die Schar schon von der nächsten Spaziergängerin gegrüsst. «Grüessech mitenang!» – «Haaallo!», rufen die Kinder mit fröhlichen Stimmen zurück. Gerade steht keine Gruppe von Trauernden um ein Grab, verabschiedet einen Verstorbenen und würdigt sein Leben. Die Gräber stehen für sich alleine. Sie tragen Namen von Menschen, die vor wenigen Wochen oder Monaten gestorben sind, andere vor Jahren und Jahrzehnten. Am Wegrand ein Schild. «Ho detto agli altri morti: avviciniamoci, non ha senso stare pure qui ognuno per conto suo.» Übersetzt schreibt der italienische Poet Franco Arminio hier: «Ich sagte den anderen Toten: Lasst uns näher rücken, es macht keinen Sinn, dass sogar hier jede*r für sich bleibt.» Anscheinend hat er das schöne Ritual, auf den Friedhof in seinem Dorf zu gehen und dort eine oder einen Toten für einen Spaziergang abzuholen. Sie unterhalten sich dann über dieses und jenes, bevor Arminio ihn zurück auf den Friedhof begleitet und wieder seiner Totenruhe überlässt.

Auf dem Bremgartenfriedhof gibt es Orte, um die so viele Sträucher, Hecken und Bäume wachsen, dass das Einzige, das von den Menschen hin und wieder leise wahrnehmbar ist, ihre Stimmen sind. Es duftet üppig nach Garten, nach so vielen verschiedenen Blumen und Pflanzen, die es zu kennen gäbe. Und nach frisch gemähtem Gras. Nur die Gärtner*innen mit ihren Strohhüten, verstreut über die vielen Ecken des Friedhofs, sind hier wirklich beschäftigt.

Sie transportieren das gemähte Gras auf Anhängern ab und wässern den Rasen. Ein Gärtner stoppt den Rasentrimmer, wenn jemand vorübergeht, um innezuhalten und zu grüssen. Irgendwann verstummen sie dann ganz, die Rasenmäher. Mittagspause. Ein Mann lässt Wasser in eine Giesskanne laufen und giesst bei ein paar Gräbern die Blumen. Alle sind mit sich alleine da und doch irgendwie zusammen. Wir erholen uns zusammen von der Hitze der Stadt, hängen zusammen den Gedanken nach und lassen zusammen die Seele baumeln. Wir blicken ziellos in die Ferne und dann auf die Biene direkt vor uns, die um den Lavendel fliegt, und zu der Amsel, die über die Wiese hüpft und einen Wurm im Schnabel trägt. Oder doch nur ein verdorrtes Blatt? Die wenigen Menschen, die nicht mit sich alleine hier sind, sind zu zweit oder zu dritt da. Sie sitzen auf Stühlen auf der Wiese, vertieft in ein Gespräch. Oder sie essen ihr Mittagessen aus der Tupperware. Wir alle teilen uns diesen verschlungenen und verwunschenen Garten mit den pompösen Alleen und schmalen Kieswegen, wo sich die Orientierung leicht verlieren lässt. Aber vielleicht auch so gut wie kaum sonstwo auch wieder finden lässt.

In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein leiser, selbstverständlicher, informeller Austausch stattfindet.

TEXT LEA STUBER ILLUSTRATION PIRMIN BEELER

Berge von Müll: Am Stadtrand von Accra in Ghana leben tausende Menschen davon, was andere wegschmeissen.

«Willkommen in der Hölle, Bruder»

Müll Das Geschäft mit Elektroschrott ist lukrativ. Doch wer auf einer Müllhalde nahe der ghanaischen Hauptstadt Monitore und Smartphones aus aller Welt zerlegt, hat davon nichts.

In Agbogbloshie scheint an keinem Tag die Sonne. Wie eine Gewitterwolke hockt der Qualm auf Bergen von Plastik, Metall, Kleidern und Kuhfladen, es ist schwül, es windet und müffelt. Männer, die meisten jung, zertrümmern Kühlschränke, sie hämmern Bildschirme entzwei, ziehen Kabel aus Gehäusen, als wären es Därme von frisch geschlachteten Ziegen. Sie singen Lieder und reissen Sprüche. Ihre Augen sind gerötet, die Gesichter ölverschmiert, verätzt und verbrannt. Wer hier ist, sagen die, die hier sind, ist verloren für die Ewigkeit und einen Tag, denn hier ist Sodom und Gomorrha, sagen sie, oder auch: Willkommen in der Hölle, Bruder!

Wobei: Viele Fremde kommen nicht hierher, nach Agbogbloshie, eine der grössten Müllhalden der Welt an der Korle-Lagune von Accra, Ghanas Hauptstadt.

«Willst du Bilder machen, musst du zahlen», sagt Jack. «Und genau dort laufen, wo ich laufe. Es ist gefährlich hier.» Als vor ein paar Jahren westliche Medien über die «Hölle von Agbogbloshie» berichteten, fürchtete die Stadtverwaltung um den Ruf der Hafenmetropole Accra und liess die Deponie vorübergehend räumen. Doch die Müllsammler kehrten zurück, hämmerten weiter. Seither wollen sie keine Journalisten mehr hier. «Zum Teufel mit ihnen», sagt Jack, der eigentlich anders heisst und der, durchaus mit Pathos, dem Journalisten aus der Schweiz erzählt, wie er sich hochgearbeitet hat an diesem Unort: von einem, der jahrelang Goldstaub, Silber und Kupfer von Metallplatten kratzte, zu einem, der das Edelmetall derer einsammelt, die es von den Platten kratzen, der ihnen abends ein paar Cedi in die vernarbten Hände drückt – umgerechnet einen Franken Tageslohn, wenn es gut läuft – und die Ware für das Zehnfache an einen Händler verkauft.

Ein Grossteil des Elektroabfalls, der in Agbogbloshie landet, kommt aus aller Welt in Schiffscontainern im Hafen von Accra an, der Rest stammt aus den Haushalten der Millionenstadt oder der umliegenden Region und wird von den Männern von Agbogbloshie mühsam gesammelt und in Schubkarren auf die Deponie gebracht.

Die Ärmsten der Armen

Wie viele, die auf der Müllhalde von Agbogbloshie ihr Geld verdienen – von 4000 ist die Rede, manche schätzen ihre Zahl auf das Doppelte –, kommt Jack aus dem Norden, aus der Region um die Stadt Tamale, wo die Ärmsten der fast 34 Millionen Einwohner*innen von Ghana leben. Jacks Vater war Landarbeiter, er schuftete auf Kakaoplantagen, pflügte Felder, soff Unmengen, seine Frau gebar elf Kinder, nur fünf überlebten. Kein Jahr war der kleine Jack in der Schule, dann musste er Tomaten ernten. Lesen und Schreiben lehrte ihn seine Grossmutter, mit der er, als der Vater an Wundbrand verstarb, nach Accra zog. Dort verkaufte sie Wasser, Nüsse und Brote an die Müllsammler von Agbogbloshie. Und so lernte Jack, ein Bub von zwölf Jahren, schon früh, wie man aus Schrott das Allerletzte herausholt. Mit seinen Kinderhänden zerlegte er Monitore, Smartphones und Laptops, um an Röhren, Drähte, Bleche und Platinen zu kommen. Er brannte über dem offenen Feuer das Plastik von den Kabeln, schabte das Kupfer zusammen. Und atmete diesen russschwarzen Rauch ein für drei Stunden am Tag, später wurden es zehn oder mehr. «Schon als Teenager hatte ich grosse Punkte auf meiner Lunge, heute pfeife ich aus allen Löchern», sagt Jack. «Das geht hier jedem so, ein einziges Konzert.» Er lacht.

Der 26-Jährige lebt mit seiner Frau und den drei Söhnen in einem Holzverschlag in der Siedlung Old Fadama, die an Agbogbloshie grenzt und seit den späten 1980er-Jahren zu einem vierzig Hektaren grossen Slum herangewachsen ist – zwischen 30000 und 80000 Menschen sollen hier leben. Arbeit gibt es kaum, Hoffnung genauso wenig und, je länger man in diesem Drecksloch bleibt, auch keine Zukunft. Der älteste von Jacks Söhnen, knapp acht ist der Kleine, stopft schon in den Morgenstunden Plastik in eine übergrosse Tasche, die er hinter sich herzieht. «Kinderarbeit?», wiederholt Jack die Frage und winkt ab. Dreimal die Woche schicke er seinen Sohn in die Schule, das sei ihm wichtig. Damit später etwas Gescheites aus ihm werde. «Ingenieur oder Unternehmer.»

Eine schmutzige Arbeit zwar, doch das Geschäft mit dem Elektroschrott rentiert. Ein paar Zahlen: 1 Tonne Handyschrott enthält 240g Gold, 2,5kg Silber, 92g Palladium, 92g Kupfer und 38g Kobalt, das macht beim momentanen Marktpreis alles in allem: um die 10000 Franken. 2022 wurden weltweit 22 Millionen Tonnen Elektroschrott produziert, der ökonomische Wert wird auf 62,5 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Allein nach Accra gelangen jährlich schätzungsweise 340000 Tonnen. Man liest oft, es seien allein die reichen Länder des Westens, die so ihren Abfall loswerden wollen, per Container und in Richtung Afrika. Doch das stimmt nicht. Ein Drittel des «E-Waste» in Accra – und dazu zählt offiziell alles, was einen Stecker hat

Entlebucher

oder Batterien –, stammt aus afrikanischen Ländern; und es wird mit jedem Jahr mehr, denn der Markt für Handys und Laptops explodiert.

Kommt hinzu, dass es auch für den Export von kaputten Elektrogeräten aus westlichen Ländern vergleichsweise hohe Auflagen gibt. Sie sind in der «Basler Konvention» niedergeschrieben, einem internationalen Abkommen, das 1989 in Basel beschlossen wurde, drei Jahre später in Kraft trat und seither von über 190 Staaten unterzeichnet wurde. Es regelt den Export gefährlicher Abfälle und verpflichtet die Vertragsparteien, dafür zu sorgen, dass diese umweltgerecht behandelt und entsorgt werden. Beim E-Waste handelt es sich um solch gefährliche Abfälle (sie enthalten Schwermetalle wie Blei, Cadmium und Quecksilber), die nur mit Papieren ausser Landes geschafft werden dürfen – fehlen diese, ist der Export illegal. Wie zum Beispiel die 150000 Tonnen, die angeblich jedes Jahr ohne Bewilligung aus Deutschland nach Afrika und Asien verschifft werden.

Exkurs über Mensch und Müll

An dieser Stelle ein paar grundsätzliche Gedanken über unser Verhältnis zum Müll und wieso es für das weltweite Geschäft eine Rolle spielt, dass nicht jeder Müll auch Schrott ist.

und Alpkultur erleben

Salopp gesagt ist Müll alles, was nutzlos (geworden) ist. Es heisst, bereits die Neandertaler hätten Dinge weggeworfen, die sie nicht mehr brauchen konnten. Als der Mensch sesshaft wurde, wurden daraus Berge – oder auch Mulden –, und mit dem Müll kamen die hygienischen und ökologischen Probleme. Doch ist eine Geschichte des Mülls nicht nur eine, die davon handelt, was wir als nutzlos (oder störend oder gefährlich) erachten. Genauso aufregend ist, was Menschen – auch dies offenbar seit alters her – aus dem Müll holen, sortieren und reparieren. Heute nennt man das «Recycling», und es gehört in manchen Ländern wie der Schweiz zum guten, bewussten Leben. Trotzdem hat der Müll immer noch eine soziale Komponente. Aufs Recycling waren die Reichen nämlich nie angewiesen, sie können sich, da wohlhabend, immerzu das Neue leisten. Müll, ein wenig gestelzt ausgedrückt, liefert deshalb auch Anknüpfungspunkte für eine Konsumgeschichte von unten. Denn es sind, wie in Agbogbloshie, der Hölle von Accra, stets die armen Leute, die im Dreck wühlen müssen.

Anders als Müll lässt sich Schrott nicht mehr renovieren. Was zwar bedeutet, dass er definitiv keinen Nutzen mehr hat, nicht aber, dass er wertlos ist. Wenn Jack diesen Satz sagt, den er gerne sagt – «Wir machen aus allem Geld, vor allem aus Schrott» –, dann meint er genau das: In Agbogbloshie wird kein Laptop repariert und secondhand verkauft, in Agbogbloshie wird ein Laptop zu Kupfer, Silber und Gold verschrottet. Der Rest wird verbrannt, verscharrt oder aufgetürmt zu diesen Bergen von Plastik, Metall, Kleidern und Kuhfladen, auf denen der Qualm hockt wie eine Gewitterwolke. Inzwischen hat das sogar hat einen wohlklingenden Namen: «urban mining», die Gewinnung von wertvollen Rohstoffen durch Verschrottung.

Die Nuancen um die Begriffe Müll und Schrott haben Konsequenzen für Abkommen wie die Basler Konvention. Wenn Jack aus einem unbrauchbaren Handy noch wertvolle Rohstoffe herausholt, die dann zurück nach Europa, Asien oder in die Staaten verkauft werden, verschwimmen die Grenzen zum Wiederwertbaren wie einem Handy, das repariert und verkauft werden kann. Darin sehen Expert*innen einen der Gründe, weshalb im Detail

Wer in Agbogbloshie landet, ist ganz unten angekommen, sagt Jack (rechts), der als Müllsammler und Händler zu überleben versucht und mit seiner Familie im Slum lebt.

Nana Yaw Konadu (rechts) in seiner Firma am Stadtrand von Accra: «Recycling ist keine Hexerei. Man muss wissen wie, braucht aber vor allem Geld.»

schwierig zu unterscheiden ist zwischen verwertbarem Müll, der zwar gemäss Basler Konvention gefährlich ist, aber doch unter bestimmten Auflagen exportiert werden kann, und blossem Schrott, der unter keinen Bedingungen exportiert werden darf. Oder anders gesagt: Weshalb es mitunter einfach ist, blossen Schrott als «wiederverwertbaren Müll» zu deklarieren. Beispiel Accra: Offiziell gelten nur 15 Prozent der jährlichen Menge an Elektroabfällen, die hier am Hafen ankommen, als Schrott, die anderen 85 Prozent sind Geräte, die sich irgendwie wiederverwerten lassen. Expert*innen zweifeln die Zahlen an, sie rechnen mit bis zu 50 Prozent Schrott, oder anders gesagt: mit 35 Prozent falsch deklarierter Ware.

Manche Länder, darunter die Schweiz, versuchen die Grauzone um den Begriff Elektroschrott zu vermeiden, indem sie den Export von defekten Geräten – die Ausnahme sind OECD-Länder – generell verbieten. Wer elektronische Abfälle zum Beispiel nach Ghana exportieren möchte, erhält vom Bundesamt für Umwelt BAFU also aus Prinzip keine Notifizierung, weder für Müll noch für Schrott. Natürlich schliesst das nicht aus, dass beides illegal dorthin gelangen kann. Doch sind nicht bloss die Bussen hoch, auch die Transportkosten und Zollabgaben sind inzwischen gestiegen. Was zumindest die Wahrscheinlichkeit verringert, dass E-Waste in grösseren Mengen ohne Bewilligung aus der Schweiz etwa nach Ghana verschifft wird.

Das heisst umgekehrt auch: Die einzelnen Länder müssen in der Lage sein und es sich leisten können, die Ware selber fachgerecht wiederaufzuarbeiten oder zu entsorgen. Doch beides ist teuer und mit hohen Auflagen verbunden – unnötig zu sagen, dass ein Agbogbloshie in Ländern wie der Schweiz undenkbar wäre. Von den 22 Millionen Tonnen Elektroschrott, die 2022 weltweit anfielen, wurden lediglich 22,3 Prozent, also nicht mal ein Viertel, ordnungsgemäss abgegeben und aufgearbeitet. In Europa sind es 42,8 Prozent; bleibt immer noch mehr als die Hälfte, von der unklar ist, auf welchem Weg das Material wohin gelangt und was damit passiert.

Weniger ist mehr

Zürück in Ghana: Einer, der genau weiss, woher seine Ware stammt, ist Nana Yaw Konadu, professioneller Aufbereiter von kaputten Elektrogeräten am Stadtrand von Accra. Seine Eltern, beide aus Ghana, sind in den 1980er-Jahren nach Deutschland ausgewandert, aufgewachsen ist Yaw Konadu in Dortmund. Der Vater arbeitete als Schlachtarbeiter, die Mutter putzte in fremden Haushalten. Beide, so erzählt es Yaw Konadu, hätten nie richtig Fuss gefasst, seien fremd geblieben in Deutschland. Zudem war das Geld immer knapp. Was Yaw Konadu früh zu dem machte, was er noch heute ist: ein aufgeweckter, findiger, charmanter, umtriebiger, raffinierter Geschäftsmann, der, wie der 46-Jährige selber sagt, keine Bücher liest, stattdessen das Leben aufsaugt. Schon als Teenager reparierte Yaw Konadu alte Kopierer und verkaufte sie in Dortmund an Leute aus der Schwarzen Community. Bis einer ihm zuflüsterte, er solle auf alte Handys umsteigen, sie flicken und in Ghana verkaufen. «Also stopfte ich meinen Koffer mit Nokias voll und stieg in den Flieger nach Accra. Dort angekommen, fragte mich ein Zollbeamter, was ich da bei mir trage. ‹Hunderte alte neue Handys›, sagte ich zu ihm. Er verschwand hinter einer Tür, kam mit einem Bündel Geldscheine zurück und meinte: ‹Ich kauf sie dir alle ab.› Da wusste ich, Ghana ist geil.»

Über die Jahre hat Yaw Konadu ein Geschäftsmodell mit zwei Standbeinen entwickelt. Das eine ist in Deutschland, von wo er kaputte Geräte bezieht, vor allem Monitore, im Schnitt 30 000 Stück pro Jahr. Sein dort ansässiger Partner holt sämtliche Bewilligungen ein und verschifft die Ware per Container in den Hafen von Accra. Mit einem Lastwagen werden die Monitore in Yaw Konadus Firma gekarrt, dort werden sie zerlegt, die Displays mit einem Plastik aus China neu eingefasst und, versehen mit dem Stempel «Garantiert Recycling», wie neu verpackt.

Das andere Standbein ist in Accra selber, wo Yaw Konadu Handys, Ladegeräte oder Drucker einsammelt, alles zertifizierte Ware, die er ebenfalls auseinandernimmt, sortiert, flickt und neu aufbereitet. Die Gewinnmarge liegt zwischen 30 und 50 Prozent, ein gutes Geschäft trotz Inflation, mit der Ghana immer wieder zu kämpfen hat. Inzwischen arbeiten über sechzig Männer und Frauen für Yaw Konadu, er bezahlt ihnen 100 Dollar im Monat, das sind 80 Dollar mehr, als der gesetzliche Mindestlohn vorsieht.

Als Yaw Konadu vor sieben Jahren in Accra ins Recycling-Geschäft einstieg, führte sein Weg auch nach Agbogbloshie. Hätte er all das nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er es nicht gerochen, nichts davon würde er glauben, ein Stück gottverlassene Erde, sagt Yaw Konadu heute und schüttelt den Kopf. Dieser Dreck überall, die Lagune voll Petflaschen und geplatzter Fischbäuche, die verlumpten Kinder, die toten Augen der Arbeiter, sie wollen ihm nicht mehr aus dem Sinn. «Dabei wäre alles so einfach. Recycling ist keine Hexerei, die Verschrottung genauso wenig, es braucht bloss Geld. Von der Regierung, besser noch von Investoren. Ansonsten versinken wir endgültig im Dreck.» Agbogbloshie, sagt Yaw Konadu, sei bloss der Bote einer kommenden Katastrophe.

Yaw Konadu redet so, wie wohl alle reden, die auf nachhaltiges Recycling setzen: Man müsse schleunigst weg von diesem Konsumwahn, weniger sei definitiv mehr, dafür hochwertig und langlebig. Der Vater von drei Kindern, der keinen SUV fährt, dafür die lokale Sprache fliessend spricht, repariert Smartphones noch aus einer Zeit, als sie sieben Jahre hielten, und seine Kühlschränke, sagt er lachend, reichten für zwei Generationen, so robust sei das Zeug.

Dass ihm die Arbeit trotzdem nie ausgehen wird, ganz im Gegenteil, das weiss Yaw Konadu. Tatsächlich widerspricht sein Anspruch auf Nachhaltigkeit aller Realität. Beispiel Handys: In Europa besitzen derzeit 485 Millionen Menschen ein Smartphone, der Markt verzeichnete voriges Jahr einen Umsatz von 74 Milliarden Euro, Tendenz natürlich steigend. Und in den afrikanischen Ländern? Dort rechnet die Branche mit einem jährlichen Wachstum des Handy-Marktes um fast zehn Prozent, oder wie Yaw Konadu sagt: «Hier warten 400 Millionen Menschen auf ein Smartphone.»

Auch Jack sieht vor seinem Auge nur Berge von Arbeit. «Was die anderen verbrauchen, können wir gebrauchen.» An die Zukunft denkt er nicht. Was weiss ich schon, sagt er halb im Scherz, wie lange ich noch lebe? In den Abendstunden werde der Husten heftiger und manchmal färbe sich sein Urin rot, doch was soll’s. Weg aus Agbogbloshie, in Gottes Namen doch zurück in den Norden, eine eigene Farm, ein anderer Job, und sei es der Gesundheit wegen, was meinst du, Bruder? Jack weist die aufdringlichen Fragen mit seiner flachen Hand zurück. «Der Hölle ist noch keiner entronnen.»

«WURZELN SCHLAGEN» IN ZÜRICH

Nicolas Gabriel lebte aufgrund einer psychischen Erkrankung jahrelang in Armut und Obdachlosigkeit –wie viele Betroffene aus Scham im Verborgenen. Nun erzählt er auf einem aussergewöhnlichen Stadtrundgang, wie er mitten in Zürich auf der Strasse lebte, welche Hürden er überwinden musste und wo er Heimat fand.

«Als Obdachloser erkannt wurde ich von den wenigsten Menschen. Ich hatte kein Gepäck dabei, trug saubere Kleider und suchte Bibliotheken auf», sagt Nicolas Gabriel. Und doch bestand über all die Jahre eine unsichtbare Linie zwischen ihm und den Menschen, die wohnen: «Als Obdachloser ist es schwierig, Kontakte aufrechtzuerhalten. Es gibt eine grosse Hemmschwelle.»

Als er die Obdachlosigkeit überwinden kann, findet er Kraft für eine neue Lebensgestaltung. Kurze Zeit später beginnt er die Ausbildung als Surprise Stadtführer. Rückblickend sagt Nicolas Gabriel zu diesem Prozess: «In vertrauensvoller Runde nahmen wir die Zeitmaschine und öffneten die Schubladen der Kindheit, der Jugend und des Erwachsenenalters. Dabei fanden wir so manche Farbschattierung. Gefragt waren die Hintergründe, das ‹Warum›. Dies nahm zwei Jahre in Anspruch. Schliesslich, aus der Vogelperspektive, ergründeten wir die strukturellen und gesellschaftlichen Phänomene von psychischer Krankheit und Obdachlosigkeit. Vieles, was anfangs verworren war, wurde letztlich verständlich. Die Voraussetzungen für derartiges Schaffen waren erst gegeben, als ich Zimmer und Ruhe fand.»

Carmen Berchtold, die ihn als Verantwortliche der Sozialen Stadtrundgänge Zürich begleitete, stellt fest: «Das eigene Leben erzählen kann man schnell einmal. Doch wirklich hinschauen, das Erlebte mit Emotionen verknüpfen und in einen gesellschaftlichen Kontext stellen – das ist viel Arbeit, schafft jedoch für die Zuhörer*innen einen Mehrwert und verleiht den Betroffenen gleichzeitig eine Expert*innenrolle für gesellschaftspolitische Vermittlung.»

Auf seiner zweistündigen Tour erzählt Nicolas Gabriel zudem, welche Einrichtungen für Menschen in Not da sind und warum das Thema Obdachlosigkeit mit uns allen zu tun hat. «Ich möchte mit meinen Touren Brücken bauen. Das Schönste für mich ist die Begegnung von Mensch zu Mensch», sagt Nicolas Gabriel. NICOLAS FUX

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1

1 – Verborgene Plätze

Die Besucher*innen lernen das Niederdorf von einer anderen Seite kennen.

2 – Auf Du und Du

Die Touren finden auf Augenhöhe und ohne Berührungsängste statt.

3 – Authentizität garantiert

Nicolas Gabriel hat viel erlebt.

Seine Geschichten sind spannend und berührend.

MERCI, HANS!

Seit 2016 gehörte Hans Rhyner zum Team der Sozialen Stadtrundgänge Zürich, Ende September läuft er nun seine letzte Tour. Reflektiert berichtete er über seine Herkunft, über Schicksalsschläge im Jugendalter und von seiner Alkoholkrankheit und erreichte damit Tausende von Menschen. Mit seiner sachlichen und zugleich emotionalen Art war er ein einmaliges Sprachrohr für Armutsbetroffene.

Hans Rhyner, wie fing alles an?

Hans Rhyner: Eigentlich kam ich durch Ruedi Kälin zu dieser Arbeit. Er sagte eines Tages: «Hans, wir könnten noch so einen wie dich gebrauchen im Stadtführer-Team.» Von Peter Conrath konnte ich dann viel profitieren, er führte mich etwa in die Arbeit des Café Yucca ein.

Was war Dir in all den Jahren das wichtigste Anliegen?

Aufzuzeigen, dass eine Alkoholkrankheit oft den Abstieg in die Armut bedeutet und dass man den Genesungsweg für sich selber gehen muss. Und dass die Besucher*innen erkennen, dass sie, wenn sie selber oder Angehörige sich in einer Notlage befinden, über eine Sucht reden dürfen.

Hast Du eine besonders schöne Erinnerung?

Das Team der Spielgruppe «Flohsack» buchte meine Tour. Danach verbrachte ich auf Einladung zwei Nachmittage mit der Kindergruppe im Wald. Das bleibt unvergesslich.

Was wünschst Du Nicolas Gabriel zu seinem Start?

Ich wünsche Nicolas natürlich viel Erfolg für den Start seiner Tour und dass er bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe auch Spass hat. Wir thematisieren zwar schwere Themen, Leichtigkeit und Humor dürfen jedoch trotzdem Platz haben.

Du wirst Surprise nicht ganz verlassen.

Worauf freust Du Dich in Zukunft?

Auf den Heftverkauf. Ich werde weiterhin in Schaffhausen und Zug verkaufen und den Kontakt zu meinen Stammkund*innen pflegen. Und man wird auch weiterhin Surprise-Kolumnen von mir im Heft lesen können. CARMEN BERCHTOLD

In einem Badezimmer und mit Farbe kommt die Kinderperspektive auf die Bühne.

Aufwachsen in unsicheren Zeiten

Theater Am diesjährigen Zürcher Theater Spektakel rücken zwei Stücke die Perspektive von Kindern ins Zentrum, die in einem von Instabilität, Zensur oder Migration geprägten Umfeld aufwachsen.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Die Komödie «Mrs. Doubtfire» aus dem Jahr 1993 ist ein Film für die ganze Familie, möchte man meinen. Ein geschiedener Mann versucht, den Kontakt zu seiner Familie wiederherzustellen, indem er sich als Kindermädchen verkleidet. Eine Ausgangslage, die witzige Szenen hervorbrachte. Etwa jene, in welcher der künstliche Busen beim Kochen Feuer fängt und der Mann den Brand mit Pfannendeckeln zu löschen versucht.

Zu gewagt für das Filmpublikum im Iran. Etwa die Hälfte des Films wurde herausgeschnitten, inklusive der besagten Szene, sodass am Ende statt 125 nur noch 59 Filmminuten übrigblieben. «Sie zensieren alles, sie berauben dich der Freude am Zuschauen», erzählt ein 13-jähriger Junge der Theatermacherin Nastaran Razawi Khorasani in einem Telefongespräch. Auszüge daraus sowie aus einem Gespräch mit einem elfjährigen Mädchen bilden das Herzstück von Khorasanis audiovisueller Solo-Performance «Songs for no one» – in der sie zwischen den Dialogen auch Lieder singt. Das Mädchen erzählt ihr hier, wie ein ganz normaler Schultag ausschaut. «Vor dem Unterricht müssen wir uns in einer Reihe aufstellen und dann

sagen sie uns zum Beispiel Dinge wie ‹Junge Dame, renn nicht so schnell. Richte dein Kopftuch›. Das ist so langweilig, sie wiederholen das jeden Tag.» Dies würde sie derart irritieren, dass sie manchmal absichtlich ihr Kopftuch löse, sodass es zu Boden falle. Auf die Frage, warum sie es nicht möge, ein Kopftuch zu tragen, nennt sie gleich mehrere Gründe. Der erste lautet schlicht: «Es erstickt mich.»

Während die Künstlerin auf der Bühne steht, bemalt sie langsam zwei Glasscheiben, ihre Arme und ihr Gesicht. Im Kontext mit den Gesprächen verwandelt sich das zu Beginn kindlich anmutende Spiel mit der Farbe allmählich in nonverbale Kritik an der allgegenwärtigen Zensur im Iran, den die 1987 geborene Künstlerin im Alter von sechs Jahren verlassen musste. Dass die Flucht in die Niederlande, wo sie heute lebt, ein Gefühl der inneren Zerrissenheit hervorgerufen haben muss, blitzt immer dann kurz auf, wenn sie sich in den Telefongesprächen an eigene Erfahrungen zurückerinnert: an das iranische Essen etwa oder an die Hitze, die sie in Europa manchmal vermisse. Während sie mit den Kindern über scheinbar unverfängliche Themen wie die Schule, Berufswünsche oder die

Lieblingsmusik plaudert, wird auf erschreckende Weise deutlich, wie das Aufwachsen in einer Diktatur alle Lebensbereiche durchdringt. Und darüber hinaus, wie gut bereits Kinder komplexe Systeme der Unterdrückung durchschauen, die ihnen von der Erwachsenenwelt aufgezwungen werden. So erzählt das Mädchen, man müsse aufpassen, was man den anderen in der Schule über den Familienalltag erzähle. Zum Beispiel, dass zuhause Alkohol getrunken werde. Der Junge wiederum rezitiert einen Rap-Song, zensiert sich dabei aber an einer Stelle selbst, weil er denkt, dass man den Originaltext auch in den Niederlanden nicht ungefiltert wiedergeben dürfe. Es wird offensichtlich: Sehr früh mussten diese Kinder verinnerlichen, dass sie mit gewissen Äusserungen ihre Familie in Gefahr bringen können. Dass es ein Leben draussen unter ständiger Beobachtung gibt – und ein verborgenes Leben zuhause, wo man der Mensch sein darf, der man ist.

Von Freiheit und Heimat träumen

Auch für den 1998 in Albanien geborenen Theatermacher Mario Banushi war das Zuhause, in dem er seine ersten Lebensjahre verbrachte, gleichbedeutend mit einem sicheren Hafen. In einem Vorort der Hauptstadt Tirana führte sein Vater eine Gaststätte mit dem Namen Taverna Miresia. Miresia bedeutet Freundlichkeit; der Name war stets Programm. Und die Erinnerung, die er mit sich trug, als er im Kindesalter mit seiner Mutter nach Griechenland kam, während die meisten seiner Angehörigen in der Heimat blieben. Als Heranwachsender besuchte er die Familie regelmässig. Als vor kurzem sein Vater starb, wurde aus der Taverne der Freundlichkeit auf einen Schlag eine Stätte der Trauer. Sinnbildlich für den Verlust steht in Banushis «Taverna Miresia – Mario, Bella, Anastasia» die alte Leuchtreklame des Lokals auf der Bühne.

Wie ein Leitstern scheint sie ihn beim Erwachsenwerden in einem anderen Land begleitet zu haben. Und nun entfalten sich in ihrem Licht heftige Emotionen, unausgesprochen gebliebene Spannungen und Erinnerungen aus Kindertagen. In der Theaterproduktion wird kein Wort gesprochen. «Schon als Kind mochte ich es nicht, viele Worte zu brauchen. Ich stimme überein mit einem Spruch, der besagt, dass zu viel Reden Armut bedeutet. Ich kommuniziere lieber mit meinen Augen und mit körperlichem Kontakt. Dies ist etwas, das ich nicht verlieren möchte», schreibt Mario Banushi auf Anfrage.

Der körperliche Ausdruck ist es denn auch, der dem Geschehen auf der Bühne eine intime Note verleiht: Der Bühnenraum stellt ein Badezimmer dar, in dem allmählich alle Hüllen fallen. Dadurch wird der Mensch nackt in all seiner Verletzlichkeit gezeigt, zurückgeworfen auf tiefsitzende innere Konflikte, deren Wurzeln oft bis in die früheste Kindheit zurückreichen und denen man sich auf dem Weg zum Erwachsenenalter irgendwann stellen muss. «Trauer und Wut sind sehr persönliche Gefühle. Ich wählte das Badezimmer, weil ich schauen wollte, in welche Richtung sich die Handlung bewegt, wenn diese an einem so intimen Ort spielt, wo man sonst nie mehrere Menschen zusammen sieht. Zudem hat das fliessende Wasser zur Reinigung eine wichtige Rolle.»

Sowohl in «Songs for no one» als auch in «Taverna Miresia» geht es darum, wovon Kinder in einem von Unsicherheiten geprägten Umfeld träumen. In den «Songs» ist es der Wunsch nach Freiheit, um der ständigen Indoktrinierung im Iran zu entfliehen. In «Taverna Miresia» sind es traumartig anmutende Szenen, in denen die Kindheit als verloren gegangener Sehnsuchtsort die Bühne erfüllt. «Meine Herkunft und die Tatsache, dass ich ein Einwanderer der zweiten Generation bin, beeinflusst mein Leben und meine Arbeit sehr stark. Wenn du als Kind wegen deiner Herkunft Schwierigkeiten hast, sind Träume für dich der einzige Weg, um dennoch Hoffnung zu haben.» Diese Kinderperspektive bleibe oft ungehört, weil man bereits in der Schule lerne, dass Erwachsene immer recht hätten. Deshalb würden später die Stimmen der Kinder automatisch geschwächt, so Banushi. «Aus diesem Grund bewundere ich Erwachsene, wenn sie schweigen und jungen Menschen aufmerksam und respektvoll zuhören können.»

«Zürcher Theater Spektakel», Do, 15. Aug. bis So, 1. Sept., diverse Spielorte, Festivalzentrum Landiwiese, Zürich theaterspektakel.ch

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Ein Dreiecksgespann, eine Nachbarscha f t und ein Schacht voller Gel d

S ANDRA H ÜL LER

Veranstaltungen

Augst

«Das perfekte Dinner. Römer, Macht und Müll», Ausstellung, täglich, 10 bis 17 Uhr, Museum Augusta Raurica, Giebenacherstrasse 17 augusta-raurica.ch

Wir wissen, im Jahr 39 n. Chr. fand ein aussergewöhnliches, ein kaiserliches Bankett statt. Leider waren wir nicht eingeladen. Uns bleibt nur der antike Müll, der davon übrigblieb, doch auch damit lässt sich viel anfangen: Die archäologischen Überreste des Banketts geben Einblicke in die Gesellschaftsstruktur des ersten Jahrhunderts. Sie offenbaren nicht nur den Zeitpunkt des Festes, sondern erzählen auch von den gesellschaftlichen und politischen Strukturen der Zeit. In Augusta Raurica veranschaulichen interaktive Stationen die sozialen Aspekte des römischen Banketts und zeigen, wie man anhand materieller Überreste gesellschaftliche Interaktionen rekonstruiert. Die praktischen Aspekte der Organisation eines römischen Banketts bieten interessante Parallelen zum heutigen Eventmanagement. Das Fest war natürlich nicht bloss private Party, sondern auch ein Mittel zur Darstellung von Macht und zur Festigung politischer Autorität. Das Rahmenprogramm bietet Rundgänge und Workshops wie etwa «Gustatio romana – Römische Häppchen selbst gemacht». Und ausserdem: Am Wochenende vom 24./25. August findet das legendäre Römerfest statt, eine Freude auch für Kinder. DIF

Zürich

«Hörerlebnis Patumbah», Audiorundgang, Mi, Fr, Sa 14 bis 17 Uhr, Do/So, 12 bis 17 Uhr, Heimatschutzzentrum in der Villa Patumbah, Zollikerstrasse 128 heimatschutzzentrum.ch

Sieht toll aus, hat aber eine problematische Vergangenheit (man ahnt es schon aufgrund ihres Namens): die Villa Patumbah. Sie ist eine ziemlich prunkvolle Villa (ein bisschen Renaissance, ein bisschen Rokoko und ein bisschen asiatische Kunst, Historismus eben), der Kaufmann Carl Fürch-

Münchenstein / Basel «Le cours des choses», physical theater, Fr/Sa, 9. und 10. Aug., 20 Uhr; So, 11. Aug., 19 Uhr, unter freiem Himmel bei Station Circus, Münchensteinerstr. 103 stationcircus.ch

Auf dem Trapez fliegt das Teamwork vorbei, Aktionen jonglieren mit Reaktionen und riskante Handlungen balancieren über Fehlentscheide: So geht das, wenn ein Zirkus-Stück die grossen und kleinen Zusammenhänge in einer Gruppe oder einem System verhandelt. Was geschieht, wenn alle zusammenarbeiten, und was, wenn sich immer mehr dagegenstellen? Hier wird unsere feste Logik der Konsequenzen auf den Kopf gestellt. Die Performer*innen suchen neue Wege der Kollaboration, und das Ganze wird unter dem

eigenen künstlerischen – auch unkonventionellen – Arbeiten zu präsentieren. An der Abendkasse gibt es jeweils reduzierte Tickets für Kinder (Alter = Preis, also 6 Jahre = 6 Franken). DIF

Bern

«Swiss Press Photo 2024», Ausstellung, bis Fr, 11. Okt., Mo bis Fr, 9 bis 18 Uhr, Eintritt frei, Schweizerische Nationalbibliothek NB, Hallwylstrasse 15 nb.admin.ch

tegott Grob liess sie 1885 erbauen, und heute ist sie Zeugnis der kolonialen Verflechtungen der Schweiz. Grob lebte von 1869 bis 1879 auf Sumatra, das damals zu Niederländisch-Indien gehörte, und erlangte mit dem Betrieb von Tabakplantagen grossen Reichtum. Zahlreiche Schweizer wie Herr Grob profitierten von den bestehenden kolonialen Strukturen und von Tausenden von Arbeitern, die unter prekären Bedingungen auf den Plantagen angestellt waren. Heute ist die Villa ein Heimatschutzzentrum, und als solches muss es Wege finden, die eigene Geschichte zu thematisieren. Zum Beispiel mit einem Audiorundgang: Der thematisiert in einem sinnlichen Erlebnis die Restaurierung, Zwischennutzungen und den asiatischen Glücksdrachen am Eingang, aber taucht durchaus auch in aktuelle Diskurse ein und bespricht, welche Rolle die Villa in der kolonialen Praxis einnimmt. DIF

Titel «Le cours des choses» zum Spiel mit Risiko und Humor an der Schnittstelle zwischen Zirkus, Tanz und Musik. Es spielen fünf Profis und sechs jugendliche Artist*innen zwischen 14 und 23 Jahren. Das Gastspiel des Zirkus Chnopf, der wirklich intelligente Artistik macht, ist eine niederschwellige Sache mit Hutsammlung. Station Circus ist allgemein ein Ort der zugänglichen Kultur; er beherbergt auch das Tram-Café, das am 15. Sept. und am 20. Okt. geöffnet ist (13.30 bis 17.30) und sich mit einem Besuch des Trammuseums der BVB verbinden lässt. Und am 26. Sept. gibt es den «Jeudi Cirque», ein kuratiertes Format, das jungen, professionellen Zirkusartist*innen die Möglichkeit bietet, Auszüge aus

Welche Themen haben das Jahr 2023 geprägt und welche Bilder sind präsent geblieben? In der Ausstellung «Swiss Press Photo 24» präsentiert die Schweizerische Nationalbibliothek die besten Schweizer Pressebilder vom letzten Jahr. Wir sehen hier also den Staatsbesuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in der Schweiz, die Bundesratswahlen und das Ende der Credit Suisse. Aber auch Menschen, die auf einem Campingplatz leben, den Freitod eines alten Mannes mit der Sterbehilfe-Organisation Exit und eine Bilderserie zu einem 2012 am Walensee spurlos verschwundenen Mann. Und dann, ziemlich lustig, Hobby Horsing, und, gar nicht lustig, eine Fotoserie von der Tour de Suisse, an der um den gestürzten und tags darauf verstorbenen Schweizer Radrennfahrer Gino Mäder getrauert wird. Dem «Swiss Press Photographer of the Year», dem NZZ-Fotografen Dominic Nahr und seinen Reportagen aus Krisengebieten, wird ein besonderer Platz eingeräumt. Ausgestellt sind seine Porträts von vom Krieg gezeichneten Ukrainer*innen und eine Reportage zum Erdbeben in Marokko. Am Do., 19. September gibt Nahr Einblick in seine Reportagereisen. DIF

Tour de Suisse

Pörtner in Luzern

Surprise-Standort: Kantonalbank

Einwohner*innen: 83 840

Sozialhilfequote in Prozent: 4,2

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 25,4

Tourismus: 2023 haben mehr als 1,3 Millionen Tourist*innen in der Stadt Luzern übernachtet

Dass Luzern ein Tourist*innen-Hotspot ist, ist nicht zu übersehen. Obwohl die Strasse und die Gehwege breit sind, mit zusammengekniffenen Augen könnte es fast Paris sein, herrscht mitunter Gedränge, wenn grössere Gruppen sich ihren Weg bahnen, Busse mit asiatischen Gästen ankommen oder auch nur langsam erschöpfte Familien vom Schlendern ins Straucheln verfallen, müde vom Abklappern all der Sehenswürdigkeiten.

Das mächtige Kantonalbankgebäude mit seinen goldenen Fensterscheiben gehört da kaum dazu, trotz der im Hof aufgestellten Installation, bestehend aus einem leicht schiefen spitzen Kegel, umgeben von einem mächtig aufsteigenden Geländer aus Metall. Das nebenan gelegene Museum, die Rosengart Collection, in der es Picasso und Klee zu

sehen gibt, hingegen schon. Doch die Leute sind wegen der unmittelbaren Nähe zur Kapellbrücke hier. Die Strasse ist gesäumt von Cafés und Restaurants, aber nur die wenigsten haben Zeit zum Verweilen. Die Läden gehören zur gehobenen Art, viel kann für die Körperpflege oder -optimierung getan werden. Hair Design, Teeth Bleaching (alpenweissse Zähne!), ein Wimpernstudio, Maniküre, Pediküre, Parfums, Ayurveda-Massagen, ein Fitnessstudio, dazu Massanzüge und exklusives Schuhwerk. Die Klientel scheint nicht von Geldsorgen geplagt zu sein, ganz im Gegenteil: Enjoy Europe! So steht es auf einem Reisecar. Wer nicht hier war, hat Europa verpasst.

Etwas weniger exklusiv sieht der Pilatusplatz aus, wo ein kleiner Park mit Stühlen, Bänken und eingetopften Bäumen

wartet, in der Mitte stehen überdimensionierte Zahnräder aus Holz, es gibt zwei schöne Riegelhäuser, von denen eines die Musikschule Luzern beherbergt. Zudem einen Shop ohne Bedienung, in dem alles per App bezahlt werden kann. Allzu lang wird es diese Oase indes nicht mehr geben, denn es stehen eine Unzahl Baugespanntürme herum, irgendetwas Hohes soll hier entstehen und dem die Wand zierenden Johannes dem Täufer die Sicht versperren.

Falls diese Modernisierung jemanden um den Schlaf bringen sollte, steht das Bettenfachgeschäft Sleep Green bereit, das gesunden Schlaf aus der Kraft der Natur verspricht.

Die Reisecars fahren zu den zahlreichen Hotels, an prominenter Lage das Astoria (ohne Waldorf). Offenbar ist Luzern auch für Verlobungsreisen beliebt, gleich zwei Geschäfte werben für Eheringe, eines mit dem Slogan «Love is in the Air», ein Uralthit, der noch immer nicht in Vergessenheit geraten ist. Junge Menschen gönnen sich eine nachmittägliche Flasche Weisswein, zur Feier einer Verlobung oder einfach so, andere spielen eine Partie Darts und trinken Cocktails. Die Gegend dürfte auch in der Nacht kaum ausgestorben sein, es gibt verschiedene Bars, die noch nicht geöffnet sind, eine davon ist mit einem Karussell ausgestattet, zumindest im Namen.

Nicht dort auftauchen werden wahrscheinlich die älteren Ehepaare, die übers Handy gebeugt unterwegs sind, in Kleidung, die eher funktional als elegant ist, aber von bester Qualität. Sie haben ein straffes Programm und reisen vermutlich schon früh am nächsten Tag weiter. Nach Resteuropa.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher

Schriftsteller Stephan Pörtner besucht

Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

TopPharm Apotheke Paradeplatz Zürich

Automation Partner AG, Rheinau

Anyweb AG, Zürich

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Beat Hübscher – Schreiner, Zürich

KMS AG, Kriens

Brother (Schweiz) AG, Dättwil Coop Genossenschaft www.wuillemin-beratung.ch

Stoll Immobilientreuhand AG movaplan GmbH, Baden

Maya Recordings, Oberstammheim

Madlen Blösch, Geld & so, Basel onlineKarma.ch / Marketing mit Wirkung

Scherrer + Partner GmbH www.dp-immobilienberatung.ch

Kaiser Software GmbH, Bern

Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf Heller IT + Treuhand GmbH, Tenniken

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Bodyalarm GmbH – time for a massage

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt:

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN

Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.

Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.

Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari «Vor wenigen Jahren bin ich als Flüchtling in der Schweiz angekommen –und wusste zunächst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden.

Im Asylzentrum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Surprise eine neue Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der Heftausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue berufliche Zukunft aufbauen.»

Schaffen Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.

Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.

Unterstützungsmöglichkeiten:

1 Jahr CHF 5000.–

½ Jahr CHF 2500.–¼ Jahr CHF 1250.–

1 Monat CHF 420.–Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto:

Surprise, 4051 Basel

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Vermerk: Chance Oder Einzahlungsschein bestellen: +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo oder surprise.ngo/spenden

Herzlichen Dank fürIhrenwichtigen Beitrag!

#578: Der Winter ist mir lieber

«Nicht mehr zögern, handeln!»

Nachdem ich die beiden Berichte «Gefährliche Hitze» und ‹«Ausser man setzt sich in einen Brunnen» gelesen habe, möchte ich mich dazu äussern: Man weiss doch längst, welches in der Stadt die kühlen Innenräume sind! Was muss denn jetzt noch lang und umständlich abgeklärt werden? Bis diese Abklärungen fertig sind, ist der Sommer vorbei: Viele Leute müssen weiterhin in und unter der Hitze leiden, einige werden daran sterben. Also bitte jetzt nicht mehr lange zaudern und plaudern, sondern handeln. Die solide Bauweise unserer Kirchen mit ihren meterdicken Mauern macht sie an heissen Sommertagen zu den angenehmsten Aufenthaltsorten. Obdachlose in die Kirchen! Sitzgelegenheiten, Getränke und eine Toilette müssten zur Verfügung stehen. Falls all dies etwas kostet: Am Geld dürfte es nicht liegen, es ist genug da! Dass die Notschlafstellen tagsüber geschlossen sind, geht doch nicht. Dass obdachlose Leute aus dem gekühlten Wartesaal des Bahnhofs verjagt werden, ist notorisch, dürfte aber nicht mehr passieren. Mehr Aufklärung durch Plakate täte not. Ich bitte alle Beteiligten, nicht mehr lange zu zögern, sondern jetzt die kühlen Räume der Stadt für Obdachlose zu öffnen. Jetzt!

ROSEMARIE IMHOF, Allschwil

Anm. d Red.:

Tatsächlich geht es bei obdach- und wohnungslosen Personen primär um den Zugang zu kühlen Räumlichkeiten. Die Abklärung, von der im Beitrag die Rede ist, betrifft in erster Linie folgenden Punkt: Es gilt nach Meinung von Schwarzer Peter zunächst Hürden der Stigmatisierung abzubauen und die betreffenden Institutionen dazu zu bringen, ihre Räumlichkeiten wirklich für alle zu öffnen und Angebote zusammenzustellen im Falle von Konflikten.

Impressum

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Klaus Petrus (kp)

Diana Frei (dif), Lea Stuber (lea), Sara Winter Sayilir (win) T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Pirmin Beeler, Carmen Berchtold, Andres Eberhard, Nicolas Fux, Michael Hofer, Adelina Lahr, Nali Rompietti

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Gestaltung und Bildredaktion

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#578: Glace kleckern für alle Megaschöner

Text über Freibadis!

JAAP ACHTERBERG, ohne Ort

#579: Durchatmen

«Kurzweilige, unterhaltsame Geschichten»

Endlich wieder einmal gute Geschichten als Sommerlektüre! Ich bin positiv überrascht, es lohnt sich, sie zu lesen! Nachdem ich einige Sommer enttäuscht war über Kurzgeschichten ohne Hand und Fuss, wäre ich beinahe versucht gewesen, dieses Jahr kein Surprise mit Sommerlektüre mehr zu kaufen. Ich habe es aber doch getan und musste mir einen «Ruck» geben, darin zu lesen. Und siehe da, ich wurde belohnt! Macht weiter so, und bringtnächstenSommerwiederkurzweilige,unterhaltsame Geschichten!

EDITH BRODBECK, Arlesheim

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Nachruf

Josiane Graner

Sie war irgendwie schon immer da. Seit wir alle denken können, sass Josiane Graner jeweils donnerstags am Esstisch im Büro an der Münzgasse in Basel und bereitete den Aboversand vor.

Sie hatte einen feinen, trockenen Humor, einen Hund, ein Auto, und sie lebte in einem Haus mit Garten. Josiane war eigenwillig, und vieles in ihrem Leben war für die Uneingeweihten – was wahrscheinlich so ziemlich alle waren ausser ihrem Hund – weder ganz nachvollziehbar noch restlos aufgeklärt. Sie legte Wert auf manche Statussymbole und hing an ihren schönen Möbeln und ihren Büchern, die sie offenbar besass und für die sie viel Platz brauchte, hatte gleichzeitig aber konstant grosse finanzielle Sorgen. Sie lebte von einer minimalen AHV-Rente und dem Zusatzverdienst aus dem Surprise-Verkauf.

Viel mehr war über ihre Lebensumstände kaum zu erfahren. Sie hatte ihre eigenen Vorstellungen, wie die Welt zu sein hätte, und liess sich diese auch nicht nehmen. Wichtig war ihr, dass man ihre Entscheidungen unterstützte und dass sie ihre Unabhängigkeit behalten konnte. Eine Karriere als Juristin soll sie hinter sich gehabt haben; Josiane deutete manches über ihre Vergangenheit an, ins Detail ging sie nie. Man begegnete sich im Jetzt.

Die Sozialarbeiter*innen von Surprise versuchten sie in ihrer aktuellen Situation zu unterstützen, die trotz ihrem gutbürgerlichen Habitus keine einfache war. So hatte es Zeiten gegeben, in der ihr Auto auch ihr Zuhause war, und oft sparte sie bei sich selber, damit für den Hund genügend übrigblieb. Eine Krankenversicherung hatte sie nicht.

Das war den Sozialarbeiter*innen bekannt, und immer wieder versuchten sie Josiane zu überzeugen, sich wenigstens da in die gesellschaftlichen Strukturen einzufügen. Und vielleicht doch Sozialhilfe zu beantragen. Doch Josiane hatte immer den Impuls, ihren Lebensstil zu verteidigen, zu schützen. Das hatte vermutlich auch mit Ängsten zu tun. Ängste etwa, dass ihr der Sozialstaat ungefragt eine Wohnung zuweisen würde. Und dass sie deswegen ihren Hund abgeben müsste.

Was Alltägliches betraf, war sie dagegen gesprächig und unterhaltsam. Sie erzählte dies und das, was ihr im Alltag der anderen auffiel, von dem sie sich selber gerne ein bisschen distanzierte. Sie kommentierte die menschlichen Unzulänglichkeiten mit einer leisen Ironie. Es gab etliche Themen, die nichts mit ihren omnipräsenten Geldsorgen zu tun hatten. Es waren feine Beobachtungen, witzige Sprüche.

Dann spitzte sich die Situation zu. Es wurde ein Tumor im Kehlkopf entdeckt. Im Frühling 2022 folgten mehrere Operationen. Josiane kam danach relativ bald wieder zurück zu Surprise, sprechen konnte sie nicht mehr. Mit handschriftlichen Zetteln und Mails blieb man in Kontakt. Sie schrieb oft und erzählte von ihren Nöten. Die Behandlungen gingen auf ihre eigenen Kosten. Über Surprise bekam sie Krankentaggelder, manche Rechnungen konnte man aus dem Notfallfonds bezahlen. Und Josiane wollte so schnell wie möglich wieder Surprise verkaufen, Geld verdienen. Doch die Einkünfte wurden angesichts der Gesundheitskosten immer mehr zu Tropfen auf den heissen Stein.

Vor einigen Monaten kam sie mit einer massiven Entzündung am Hals ins Büro von Surprise. Man holte die Ambulanz. Die Sanitäter*innen versuchten sie dazu zu bewegen, auf den Notfall mitzugehen. Die Schwellung würde ihr sonst in absehbarer Zeit die Luftzufuhr abdrücken. Sie liess sich nicht überzeugen. «Du bist ein sturer Kopf, Josiane», sagte der Sozialarbeiter irgendwann zu ihr. «Das sagen andere auch», sagte sie mit ihrem trockenen Humor. Dann verliess sie das Büro.

Aufgezeichnet von DIANA FREI

Josiane Graner, Surprise-Verkäuferin in Basel / Bottmingen, 2. Oktober 1952 bis 2. Juli 2024.

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