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Fatale Rechenfehler

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Und jetzt?

Und jetzt?

Erika Kälin* und Nawid Ahmadi* wollten mit schnellem Geld ihre Schulden tilgen. Doch der Kleinkredit machte alles noch schlimmer. Rechnete die Bank absichtlich falsch, um eine möglichst hohe Rendite zu erzielen?

TEXT ANDRES EBERHARD

Viel hatte Erika Kälin, 44 Jahre alt, alleinstehend, nie. Sie brauchte auch nie viel. Früher war es ihr Hund, und seit der überfahren wurde, sind es zwei Dutzend Kaninchen. Kälin lebt in einem 100-Seelen-Ort im Mittelland, 34 Kilometer von der Stadt Bern entfernt, wo sie als Verkäuferin in der Metzg eines Grossverteilers arbeitet. Das Heu für die Tiere holt sie im Stall der Bauernfamilie, bei der sie sich eingemietet hat.

Erika Kälin war schon immer knapp bei Kasse, und als sie vor etwa fünf Jahren ein neues Auto brauchte, fehlte ihr das Geld für eine Anzahlung. Sie ging zur Cembra Money Bank und löste einen Barkredit von über 6000 Franken. Das Geld bekam sie bar auf die Hand. «Um ganz sicher zu sein, steckte ich es in meinen BH.»

Als sie ein Jahr später Angst hatte, die Miete nicht mehr bezahlen zu können, erhöhte Erika Kälin den Kredit. «Ich habe noch einmal 4000 Franken gedingselt», erzählt sie, und sie sagt auch, dass sie damals tatsächlich nicht recht wusste, was sie tat. «Mein Onkel sagte, bist du verrückt? Aber für mich gab es keine andere Lösung.» Offene Rechnungen stapelten sich auf dem Küchentisch. Diese zu begleichen, empfand sie als Pflicht. Doch das Bankkonto war leer. «Wenn nicht stehlen, woher hätte ich das Geld nehmen sollen?»

Ein Barkredit ist wie ein Wodka gegen den Kater: Kurzfristig lässt er das Leid vergessen, langfristig macht er alles nur noch schlimmer. Zunächst löst er viele Probleme mit einem Schlag: Mahnungen, drohende Betreibungen, Lohnpfändungen, die Angst, alles zu verlieren, und der Stress, den die wachsenden Schulden ausüben: alles weg.

Doch dann kommen sie zurück, die Probleme. So schnell das Geld ausgegeben ist, so schnell häufen sich die Schulden wieder an – mit dem nächsten Mietzins, der nächsten Police, dem nächsten Steuerjahr. Dazu kommen die Kosten, um den Barkredit plus Zinsen abzustottern. Bei Erika Kälin waren das pro Monat 230 Franken, und zwar über die nächsten fünf Jahre. Bald konnte sie ihre laufenden Kosten wieder nicht mehr begleichen, und eines Tages stand der Weibel vor ihrer Tür. «Ich hatte Angst, er würde alles mitnehmen», erinnert sie sich. Das passierte zwar nicht. Weil sie nun aber die Betreibungen nicht mehr abwenden konnte, wurde ihr der Lohn gepfändet.

Seither lebt Erika Kälin vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum – 1200 Franken pro Monat für den Grundbedarf, wovon sie auch Steuern, Versicherungen und Benzin bezahlen muss.

Wie kam es, dass Erika Kälin in die Schuldenfalle geriet? Sie macht sich Vorwürfe. «Ich habe einige unvernünftige Entscheide getroffen», sagt sie beim Gespräch an ihrem Esstisch, sie trinkt eine Tasse Kaffee, aus dem Fernsehen tönt Popmusik. Beim Erzählen werden ihre Augen feucht, sie wischt die Tränen beiseite und sagt, sie sei zurzeit halt nahe am Wasser gebaut. «Ich bin nahe an einem Burnout.» Die langen Tage von 7 bis 20 Uhr mit zwei

Stunden Mittagspause, die vielen Überstunden, die Schulden, das alles zehre an ihren Kräften. «Bis zum Ende der Woche habe ich noch zehn Franken, dann kommt der Lohn.» Es ist Mittwoch.

Australien war einer dieser unvernünftigen Entscheide gewesen. «Auch wenn ich mir mit der sechswöchigen Reise einen lang ersehnten Traum erfüllte.» 2017 starb Erika Kälins Mutter, Wirtin aus dem Nachbardorf, bis dahin hatte die ganze Familie zusammen unter einem Dach gelebt. Das Restaurant lief nicht mehr, zu wenige Gäste aus dem Dorf, zu wenig Durchgangsverkehr, und das ganze Haus, vor allem die Küche, musste dringend saniert werden. Das konnten sich Kälin und ihr Bruder nicht leisten. Sie verkauften das Haus für einen Apfel und ein Ei und Erika Kälin, gelernte Köchin mit Wirtepatent, blieb in der Metzg der Discounter-Filiale.

Den Trip nach Australien leistete sie sich vom Ertrag des Hausverkaufs. «Auch etwas aus Frust, weil gerade mein Hund gestorben war.» Als sie zurückkam, musste sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine eigene Wohnung einrichten. Und sie unterstützte den Mann, mit dem sie damals liiert war – bis die Beziehung in die Brüche ging. «Ich war ein bisschen naiv.»

Fixkosten höher als der Lohn

Australien, eine Wohnung, die Beziehung: möglich, dass Erika Kälin besser dastünde, hätte sie da und dort anders entschieden. Doch früher oder später wäre das Polster vom Hausverkauf so oder so aufgebraucht gewesen. Das sagte zumindest die Sozialarbeiterin der Schuldenberatung Bern, an die sich Erika Kälin wandte. «Meine Fixkosten waren viel höher als der Lohn. Ich hätte 700 bis 800 Franken mehr verdienen müssen, um alle Rechnungen bezahlen zu können», sagt sie. Von ihrem Arbeitgeber bekommt sie 4163 Franken pro Monat für ihre Vollzeitstelle, den 13. eingerechnet. Allein die fixen monatlichen Verpflichtungen – Miete, Auto-Leasing, Versicherungen, Steuern – beliefen sich auf rund 3600 Franken. Mit der Abzahlung des Barkredits stiegen sie gar auf über 3800 Franken.

Schlecht budgetiert, könnte man sagen. An die Adresse von Erika Kälin, aber eben auch an jene der Bank, die ihr den Kredit gewährte. Denn Banken sind dazu verpflichtet, Kreditanträge nach gesetzlichen Vorgaben zu prüfen. Sie dürfen Kredite nur an jene vergeben, die sie sich leisten können. Dafür müssen sie ein Haushaltsbudget aufstellen. Machen sie dabei schwerwiegende Fehler, gilt der Kredit als illegal und muss nicht zurückgezahlt werden (siehe Seite 14). Der Sinn des Gesetzes ist es, Konsument*innen vor Überschuldung zu schützen – gerade weil diese oft unter Stress nicht rationale Entscheidungen fällen.

Die Anwältin Olivia Nyffeler von der Schuldenberatung Bern analysierte das Budget, das die Cembra Money Bank für Erika Kälin aufgestellt hatte. Und entdeckte dabei zahlreiche Fehler. Die Essenskosten fehlten, die Autofahrten zum Arbeitsplatz waren viel zu tief eingeschätzt, ebenso Steuern und Gesundheitskosten. Insgesamt verkalkulierte sich die Bank um rund 1000 Franken. Die Rechnung ging von Anfang an nicht auf – auf jeden Fall hatte es für monatliche Abzahlungsraten im Haushaltbudget keinen Platz mehr. «Es ist offensichtlich, dass die Kreditvergabe in diesem Fall illegal war», so Olivia Nyffeler. Sie focht den Kredit an. Die Cembra Money Bank, die sich ihrer Fehler offenbar bewusst war, erklärte sich mit einem Deal einverstanden: Sie verzichtete auf die noch ausstehenden Raten. Dafür zog die Anwältin nicht vor Gericht, um auch die bereits bezahlten Raten zurückzufordern.

Fälle wie jenen von Erika Kälin können die Berater*innen auf den Schuldenberatungsstellen zahlreiche schildern. Dabei dürfte die Dunkelziffer noch viel grösser sein. Oftmals geht es um viel höhere Kreditsummen. Konsument*innen verschulden sich dabei über Jahre hinaus.

Teure Hochzeit

Nawid Ahmadi*, Küchenchef und Familienvater aus dem Raum Luzern, bekam von der Bank now einen Kredit von insgesamt 30 500 Franken, zurückzuzahlen innerhalb von sieben Jahren. Der Jahreszins betrug 9,5 Prozent, die Bank hätte insgesamt 11 000 Franken an ihm verdient. Dabei befand sich Nawid Ahmadi tief im Schuldensumpf, als er um das Bargeld anfragte. «Ich brauchte das Geld, um meine Schulden zu begleichen», erzählt er auf der Terrasse der Kantine an seinem Arbeitsplatz, er spricht ruhig, die Hände legt er zusammengefaltet auf den Tisch. Die Geldprobleme hatten mit seiner Hochzeit begonnen. Rund 18 000 Franken gab er für den Tag seines Lebens aus, denn seine Kultur und seine Familie erwarteten ein grosses Fest. Der Rest der Ersparnisse floss in die neue Wohnung. Als das erste Kind kam, reduzierte die Frau ihr

«Für mich gab es keine andere Lösung. Wenn nicht stehlen, woher hätte ich das Geld nehmen sollen?»

Pensum von 80 auf 30 Prozent. Beim zweiten gab sie den Job auf. «Ich verdiente zwar nicht schlecht, aber es reichte nicht», sagt Nawid Ahmadi. Knapp 5500 Franken netto waren es, davon unterstützte die Familie aber auch noch seinen gesundheitlich angeschlagenen Vater.

Von da an geriet Nawid Ahmadi in eine Abwärtsspirale. Die Schulden kamen nun «von da und dort», wie er sagt. Ein unkündbares Handy-Abo von 60 Franken pro Monat, eine Rückforderung von 3000 Franken von den Behörden, und dann heiratete auch noch die Schwester in den USA. «Allein die Flugtickets und das Geschenk kosteten 6000 Franken.» Nicht hingehen hätte für ihn einen Gesichtsverlust bedeutet. «Niemand wusste von meinen Schulden und ich wollte nicht, dass die ganze Familie davon erfährt.»

Poulet im Chörbli, Gschwellti und Fisch

Nawid Ahmadi schlug sich durch, solange er konnte, damit das Leben weitergehen konnte wie gewohnt. «Ich hob von einer Kreditkarte Geld ab, damit ich die Rechnung von einer anderen Kreditkarte bezahlen konnte», sagt er. Von einem Freund lieh er sich Geld, auch an eine der vielen dubiosen Firmen, die Schuldensanierungen versprechen (siehe Surprise 500), wandte er sich. Heute wirkt sein damaliges Verhalten auf ihn absurd. «Aber wenn du Schulden hast, kannst du nicht mehr klar denken», sagt er.

Dank einer Rechtsschutzversicherung konnte Nawid Ahmadi die Vergabe des Barkredits überprüfen lassen. So kam ans Licht, dass die Bank now sein Einkommen zu hoch, dafür Mietzins, Gesundheitskosten, Quellensteuern und ÖV-Billett zu tief kalkuliert hatte. Gänzlich fehlte der Militärersatz, den Nawid Ahmadi leisten musste, sowie die zu erwartenden Mehrkosten für das dritte Kind, mit dem seine Frau schwanger war. Im Total machten die Fehler im Haushaltsbudget ähnlich wie bei Erika Kälin eine Differenz von über 1000 Franken aus. Seine Anwältin Rausan Noori sagt: «Selbst mit den falschen Berechnungen reizte der Kredit die durch die Bank berechneten Höchstbeträge fast auf den Franken genau aus.»

Ob Ahmadi den restlichen Betrag von etwa 27 000 Franken zurückzahlen muss, ist noch offen. Er möchte gern ein eigenes Restaurant führen. Ihm schwebt eine Mischung aus Urchigem und Eigenem vor: Poulet im Chörbli, Gschwellti sowie Fisch aus dem Vierwaldstättersee zum einen, vegane Mezze und Linsengerichte aus seiner Heimat Afghanistan zum anderen. Damit der Traum dereinst Realität wird, muss er erst finanzielle Hürden überwinden – selbst wenn er dafür die Pensionskasse plündert. «Aber die Chance wird kommen, ich bin ein positiver Mensch.» Das Budget für den Betrieb werde er dann aber mit Sicherheit selber berechnen.

Dass Banken bei der Prüfung der Kreditfähigkeit Fehler machen, ist eher die Regel denn die Ausnahme. »Es ist nicht die Frage, ob ich Fehler finde, sondern wie gravierend sie sind», sagt Olivia Nyffeler. Ähnlich klingt es bei ihrer Berufskollegin Rausan Noori. «Die Banken erstellen ihre Budgets eher basiert auf einer Bonitätsprüfung als auf der gesetzlich vorgeschriebenen Prüfung. Daraufhin überschulden sich die Kreditnehmer*innen.»

«Niemand wusste von meinen Schulden und ich wollte nicht, dass die ganze Familie davon erfährt.»

NAWID AHMADI

Die vielen falschen Berechnungen wecken einen bösen Verdacht: Kalkulieren die Banken absichtlich zu optimistisch, um mehr Kredite vergeben zu können? Stossen sie zugunsten einer hohen Rendite Menschen in die Schuldenfalle? Beweisen lässt sich das nicht. Aber: «Banken vergeben solche Kredite sehr schnell, ohne genaue Abklärung. Sie machen viele Fehler, und das immer wieder», sagt Nyffeler. Dass die falschen Berechnungen System haben könnten, vermutet auch die Caritas. Vor vier Jahren zeigte sie die Cembra Money Bank sowie die Bank now bei der Finanzaufsicht Finma an – allerdings ohne Erfolg.

Die Banken wehren sich gegen den Vorwurf, Kreditanträge nicht gemäss den gesetzlichen Vorgaben zu prüfen. Auf Anfrage betonen sowohl Bank now als auch Cembra Money Bank, dass es in ihrem eigenen Interesse sei, das verliehene Geld zurückzuerhalten. Die Verantwortung für Fehler im Budget schieben sie ihren Kund*innen zu. «Der Antragsteller bestätigt mit seiner Unterschrift vor der Kreditvergabe, dass er sämtliche Angaben auf deren Richtigkeit überprüft hat», schreibt Bank-now-Sprecher Bernhard Schmid. Und die Cembra Money Bank weist darauf hin, dass sie sich von Gesetzes wegen auf die Angaben der Kund*innen verlassen kann. Ausserdem sei das Gesetz nicht explizit, und in den Richtlinien gebe es «Bandbreiten und Pauschalisierungen». Dies erkläre die «unterschiedlichen Interpretationen».

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