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Surprise-Verkaufende über ihre Heimat
Ein ugandischer Soldat im Dienst der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM), Februar 2010. Die Mission wurde im März 2007 mit dem Ziel gegründet, nach Jahren des Bürgerkrieges für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Noch immer sind fast 20 000 Soldaten in Somalia stationiert, heute kämpfen sie gegen al-Shabaab. Den Kritiker*innen ist die Mission zu passiv und konzeptlos. Derzeit soll das Mandat Ende März 2022 enden.
Militärpatrouille in Mogadischu, September 2011. Die Überwachung der Bevölkerung ist bis heute allgegenwärtig – ebenso die der Journalist*innen, die oft nur im Versteckten fotografieren oder filmen können.
«Man kann niemandem trauen»
Ende März 2022 könnten die Friedenstruppen der Afrikanischen Union AMISOM abziehen. Übernehmen dann die islamistischen al-Shabaab? Wir haben vier somalische Surprise-Verkaufende nach ihrer Sicht gefragt - zu ihrer Sicherheit anonym.
AUFGEZEICHNET VON SARA WINTER SAYILIR
Surprise-Verkäufer, 36, aus der Region Basel, 4 Kinder
«Als ich im letzten Juli in Somalia am Flughafen ankam, musste ich Geld zahlen an Sicherheitsleute, die einen davor beschützen, auf der Fahrt in die Stadt erschossen zu werden. Man muss die Kleider wechseln und gebrauchte Klamotten von anderen anziehen und darauf achten, den Müll genau so achtlos wie die anderen auf die Strasse zu schmeissen. Man muss sogar die Gangart wechseln. Sonst erkennt man dich sofort als jemanden, der aus dem Ausland kommt. Dann fragen die Leute, woher kommst du, aus Europa oder Amerika? Wenn die Leute wissen, dass du aus Europa kommst, ist es gefährlich. Wenn man aber nicht spricht über Politik, über al-Shabaab oder die anderen Gruppen und keinen Kontakt hat, dann tut dir auch keiner etwas. Das Problem in Somalia ist: Man kann niemandem trauen, nicht mal den Kindern. Die einen denken, du hast viel Geld, die anderen denken, du kommst aus einem Land, das nicht islamisch ist. Sie werfen dir vor, ebenfalls ungläubig zu sein. Ich bin beispielsweise aus Schweizer Sicht Muslim, aber aus Sicht der al-Shabaab bin ich ein kafir, ein Ungläubiger.
Ich bin hingereist, um mit den Menschen über Genitalverstümmelung zu sprechen. In einer Region ist die Situation der Mädchen besonders schlimm, viele sterben. Wir sind dorthin gereist, um die Menschen davon zu überzeugen, damit aufzuhören. Aber sie haben uns nicht verstanden, sie sagten, es gehöre zu ihrer Kultur. Die Region ist vier Stunden Autofahrt von Mogadischu entfernt. Auf dem Weg trifft man etwa jede Stunde auf eine Strassensperre, wo Leute sitzen, denen man Geld zahlen muss.
Neu ist, dass, sobald du in Somalia ankommst, al-Shabaab deine Telefonnummer erfährt. Selbst wenn du eine neue Nummer bekommst, die noch niemand kennt, nicht einmal deine Familie, al-Shabaab wissen sofort Bescheid. Vielleicht arbeitet die Telefongesellschaft mit al-Shabaab zusammen. Sicher ist, dass sie alles von dir wissen, ab dem Moment, wo du ein Smartphone anmeldest. Als ich wieder in die Stadt zurückkam, wurde ich angerufen. Man sagte mir, ich sei erneut in die Stadt gekommen, hätte aber die Steuer nicht bezahlt. Ich sei quasi illegal eingereist. Warum ich die Mudschahiddin (dt. Kämpfer in einem religiös begründeten Krieg, Anm. d. Red.) nicht zahlen würde? Ich sagte, ich wüsste nicht, wo die Mudschahiddin sind, wie sollte ich zahlen? Sie verwiesen mich an meinen Taxifahrer, er würde das Geld entgegennehmen.
Ich wechselte sofort das Telefon und wandte mich an die Sicherheitsbehörden der Regierung. Die sagten aber, sie könnten mich nicht schützen, und gaben mir den Tipp, kein Handy mehr zu benutzen. Ich habe das Telefon abgegeben, das Haus gewechselt und bin untergetaucht. Wenn du ein Haus besitzt oder ein Unternehmen führst, musst du doppelt Steuern zahlen: einmal an den Staat und einmal an al-Shabaab. Wenn du nicht die von ihnen geforderte Steuer zahlst, dann kidnappen sie deine Kinder oder deine Mutter, deine Frau, deine Schwester, und töten sie, sobald du gezahlt hast. (Um bei der nächsten Forderung sicherzugehen, dass sofort gezahlt wird. Anm. d. Red.)
Meine Familie ist schon vor langer Zeit nach Kenia geflohen. Eine Schwester war mit einem Mann verheiratet, der sich den al-Shabaab angeschlossen hat. Seit 2006 hatten wir keinen Kontakt zu ihr. Nun ist sie geflohen, weil sie es nicht mehr aushielt: Sie lebten jeden Tag in einer anderen Stadt, weil er sich versteckt halten musste. Er war einer von den Gläubigen, die mit der Organisation leben. Andere bekommen nur über Telefon Aufträge von al-Shabaab. Meine Schwester hat drei Kinder mit ihm. Anfang
dieses Jahres bekam ich plötzlich einen Anruf von ihr, sie sei in der Türkei. Seit einigen Wochen ist sie jetzt hier. Sie hat viel riskiert. Wenn eine Frau ein al-Shabaab-Mitglied heiratet, darf sie keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie oder ihren Nachbarn haben. Die Frauen der al-Shabaab dürfen nicht einmal ihre Häuser verlassen, die Männer kommen abends nach Hause, schlafen mit ihren Frauen, und hauen früh am nächsten Morgen wieder ab. Sie konnte nur fliehen, weil dort, wo sie war, Kämpfe ausbrachen.
So ist Somalia.
Wir hoffen jetzt auf die nächsten zwei Jahre. Die Armee wird zwar stärker, aber es hat auch immer noch viele Teile, denen man nicht trauen kann. Europa und die Türkei helfen der Armee. Es ist nicht einfach. Denn Menschen, die glauben, kann man nicht so einfach re-integrieren wie diejenigen, die nur Angst haben und deshalb kooperieren.
Die Truppen der Afrikanischen Union AMISOM machen nichts. Es wäre besser, wenn man den Lohn, den die AMISOM-Soldaten bekommen, den somalischen Soldaten gäbe, die etwas bewegen. Die Armee kämpft bereits gegen al-Shabaab. Ausserhalb der Hauptstadt ist überall Krieg. Ich bin davon überzeugt, dass die Regierung dort, wo sie die Kontrolle hat, ihre Aufgaben auch gut erledigt. Sie ist nicht korrupt wie die letzte. Vorher hat die Armee ihren Lohn nicht bekommen, die Mitarbeitenden des Staates haben keinen Lohn bekommen – alles war viel komplizierter. Der
jetzige Präsident Mohamed Abdullahi Formajo ist gegen Korruption, zahlt die Gehälter rechtzeitig aus, er will sich nicht selbst bereichern. Er will Somalia helfen. Wenn er 2023 noch einmal gewählt wird, können wir auch wieder nach Hause. Aber es gibt Leute, die sind reich wegen des Krieges. Die wollen natürlich nicht, dass man ihnen ihre Geldhähne abdreht.
Im Moment gibt es keine guten Strukturen, die Regierung muss das in Angriff nehmen, sonst ist es schwer, die Kontrolle zu behalten. Ausserdem gibt es noch das Clan-Problem. Familien machen Krieg gegen andere Familien. Aber vom Clan-Problem sind die Leute längst müde. Die eigentliche Gefahr sind al-Shabaab. Die meisten Probleme entstehen in der Hauptstadt, da sitzen diejenigen, die nicht wollen, dass das Land ruhig wird.
Ich habe keine Angst vor al-Shabaab. Wenn alle Leute offen sagen würden, dass sie unter al-Shabaab leiden, dann könnte die Organisation sich nicht so durchsetzen. Aber die Leute haben noch nicht gelernt, dass sie die Wahrheit sagen können. Ich hoffe, dass es besser wird. Wir wollen zurück. Unsere Kinder fragen immer: Warum können wir nicht in Somalia leben? Sie können nicht verstehen, was los ist. Langsam ist die Armee stark genug, um den Kampf gegen die Extremisten aufzunehmen. Aber bis wann das dauert? Ich weiss es nicht. Die Armee wird zwar stärker, aber es hat auch immer noch viele Teile, denen man nicht trauen kann.»
Surprise-Verkäuferin, 49, aus der Region Zürich, 6 Kinder
«Ich war im August das letzte Mal in Somalia. Meine Mutter lag im Spital wegen des Herzens, ich bin hingeflogen, um die Rechnung zu zahlen. Die Spitäler sind nicht wie hier: Ohne Geld läuft da gar nichts. 2019 hat meine Mutter bei einem Bombenattentat auf einen Bus ihren linken Arm und die Hälfte ihres Hinterns verloren. Einer meiner Söhne ist damals zurückgegangen, um ihr zu helfen. Aber er will weg, es ist gefährlich für ihn dort. Ich kann meine Mutter nicht in die Schweiz holen. Deshalb versuche ich jetzt, sie zu meiner Halbschwester nach Ankara zu bringen. Sie würde helfen mit der Pflege. Dann könnte auch mein Sohn wieder herkommen und seine Lehre abschliessen. Nun warten wir auf Somalia, dass sie ihr die Ausreise in die Türkei erlauben. Sie ist 74 Jahre alt. Sie hat auch noch Zucker, aber jetzt ist es besser.
Seit dem Krieg in den 1990er-Jahren ist es so schlimm. Davor war alles ganz normal, ich bin zur Schule gegangen, ich habe die Universität abgeschlossen. Ich war Journalistin. Vor dem Krieg lebte ich in Mogadischu. Mein Vater ist im Krieg ums Leben gekommen. Ich habe selbst Probleme an beiden Händen, weil ich im Krieg im Oktober 1993 Bombensplitter abbekommen habe. Das waren die Amerikaner, ich arbeitete als Journalistin und sass in einem der Gebäude, die sie bombardiert haben. Dann bin ich in die Schweiz geflohen. Nun lebt meine Mutter in einem Dorf, das mir fremd ist, ich kenne es kaum. Ich kann auch nicht immer hinfliegen, nur im absoluten Notfall. Ich habe Kinder hier, die mich brauchen. Meine Schwestern leben an unterschiedlichen Orten, aber niemand ist mehr in Somalia.
Ich komme aus einer kleinen Familie, im Vergleich zu den grossen Clans bekommen wir nur einen Bruchteil der Ressourcen. Der Präsident, der Premierminister, die politische Elite: Sie kommen alle aus grossen Familien. Ihre schlechte Regierungsführung lasten sie der Islamistenmiliz al-Shabaab an. Es gibt keine freie Presse. Als Journalistin kann es dir passieren, dass du einfach so von der Polizei abgeholt und direkt vor Gericht gestellt wirst. Vor vier Jahren war es besser, da war alles ruhig. Der jetzige Präsident hätte schon lange die Macht abgeben müssen, aber er hat sich geweigert. Davor hatten wir einen guten Präsidenten. Der hat sich besser gegen al-Shabaab durchgesetzt. Mein Eindruck ist, dass
viele, die früher zu al-Shabaab gehört haben, nun mit der Regierung zusammenarbeiten. Die Regierung nutzt al-Shabaab als Vorwand und zur Erledigung unbequemer Aufgaben, wann immer es passt. Wenn die Regierung richtig arbeiten würde, ohne al-Shabaab, dann würde sich vielleicht etwas ändern. Al-Shabaab sind nicht viele. Die müssen vor Gericht gestellt werden.
In Mogadischu ist es besonders schlimm, weil dort auch alle Geld- und Warenflüsse durchgehen. Jeden Tag hört man von Menschen, die sterben oder verschwinden. Alle Leute haben Angst. Es gibt in Mogadischu zwei verschiedene Zonen, die eine wird von Polizei und Regierung kontrolliert, da läuft man Gefahr, Opfer eines Anschlages zu werden. Andere Gebiete werden nicht von der Regierung kontrolliert. Man hat immer Angst, wenn man rausgeht. Man weiss nie, ob man auch zurückkehrt. Auf dem Dorf ist es besser. Zwar herrscht dort al-Shabaab. Aber die Menschen machen einfach, was al-Shabaab wollen. Ich muss als Frau weite Umhänge tragen und Socken. Wenn man sich nicht ordentlich verschleiert, kann es passieren, dass man getötet wird. Sie sind herzlos und gefährlich, aber effizient. Wenn die Regierung alles gut machen würde, müssten sich die Leute nicht an al-Shabaab wenden. Korrupt sind beide: Wenn Lieferungen aus dem Ausland kommen, muss man Zoll zahlen – und zwar doppelt: an al-Shabaab und an die Regierung.
Al-Shabaab erpresst die Menschen. Plötzlich ruft jemand dich an und verlangt beispielsweise dieselbe Miete, die du der Gemeinde jeden Monat zahlst. Wenn du die Nummer ignorierst, kommt eine SMS, in der steht, wo du dich befindest, was du anhast etc. Sie zeigen: Wir wissen, wo und wer du bist. Dann transferieren sie 10 Dollar auf dein Handy: für dein Leichentuch – falls du nicht zahlst. Solche Dinge können jedem passieren, es ist vollkommen irrelevant, wer man ist.
Ich weiss nicht, wann das endlich aufhört. Die USA wissen Bescheid und geben Geld, die EU weiss Bescheid und gibt Geld, die UNO weiss Bescheid und gibt Geld ... Und am Ende sagen alle nur: Ah, tut mir leid. Die Truppen der Afrikanischen Union, die tun nichts. Sie haben ein schönes Leben in ihren Stützpunkten, direkt am Meer. Manchmal fahren sie mit ihren Autos durch die Gegend, aus denen sie niemals aussteigen. Es ist egal, ob die AMISOM da sind, sie verdienen einfach Geld. Warum hilft uns niemand? Ich hoffe, dass die USA, Europa und die anderen ein Herz haben.»
Eine Mutter mit ihrem unterernährten Kind im Benadir-Spital von Mogadischu, Oktober 2011. Hungersnöte gehören zur Geschichte Somalias, genauso wie die politische Instrumentalisierung dieser humanitären Katastrophen. So musste sich das Welthungerprogramm (WFP) der Vereinten Nationen 2010 aus den von der Terrorgruppe alShabaab kontrollierten Gebieten zurückziehen – was nur in extremen Ausnahmefällen passiert.
Surprise-Verkäufer, 66, aus der Region Basel, 6 Kinder
«Somalia muss sich von ausländischer Einmischung befreien. Deswegen ist die Regierung so schwach. Ausserdem hat Somalia ein Problem mit seinen Stämmen. Wenn ein Politiker nicht zufrieden ist mit der Regierung, hetzt er seinen Stamm auf. So kam auch der Zusammenbruch der Regierung 1991 zustande: ein Stammeskonflikt. Wenn man in Somalia Abgeordneter werden möchte, muss man Geld haben. Wenn ich ins Parlament will, gehe ich in meine Region und bezahle die Menschen dafür, dass sie für mich stimmen. Und so ist es auch beim Präsidenten: Er muss all die Abgeordneten dafür bezahlen, dass sie ihn wählen. Um dieses Geld zu bekommen, geht er nach Saudi-Arabien, nach Kenia, nach Äthiopien und nimmt Geld. Diese Länder wollen dafür natürlich Gegenleistungen. Die Golfstaaten beispielsweise wollen nicht, dass Somalia Öl und Gas fördert, also bezahlen sie somalische Politiker, um Unruhe zu stiften. Korruption – das ist eines der Hauptprobleme in Somalia.
In der Verfassung ist zudem ein Konflikt zwischen Präsident und Premierminister angelegt, die Kompetenzen sind nicht klar geregelt, das führt immer wieder zu denselben Machtkämpfen. Jeder Teilstaat hat zudem eine eigene Regierung, einen Präsidenten, ein Parlament, das sind viele Präsidenten, viele Minister und viele Parlamente. Die Verfassung ist nicht geeignet, diesen Föderalismus gut zu regeln. Die Zentralregierung kontrolliert nur die Hauptstadt. Schon zwanzig Kilometer weiter beginnt der nächste Bundesstaat. Wir haben also sieben Präsidenten, die um die Macht konkurrieren. Manche sagen dem Staatspräsidenten: Worüber regierst du schon? Mein Teilstaat ist viel grösser als die Hauptstadt. Die Zentralregierung ist sehr schwach, aber sie ist nicht korrupt. Alle Staatsangestellten bekommen ihr Gehalt direkt. Man kann die Geldflüsse von der Nationalbank bis zu den Empfänger*innen direkt nachweisen. Auch der Internationale Währungsfonds traut der Regierung, obwohl es eine autoritäre Regierung ist. Die AMISOM-Länder Kenia, Burundi, Djibouti, Uganda und Äthiopien haben kein Interesse an einem friedlichen Somalia. Sie verdienen Geld mit ihrem Mandat und haben ein Interesse daran,
die Sanktionen aufrechtzuerhalten. Sie wollen ihre Soldaten in Somalia behalten, es interessiert sie nicht, ob es Terroristen gibt oder nicht. Die 22000 AMISOM-Soldaten könnten doch die rund 7000 Angehörigen der al-Shabaab fertigmachen. Aber sie wollen lieber weiter ihren Lohn bekommen, als zu kämpfen. Sie nennen es ‹peace keeping›. Anders sind die letzten zwölf Jahre nicht zu erklären.
Al-Shabaabs Taktik ist, die Städte und Orte zu isolieren. Wenn man von einer Stadt in eine andere reisen will, muss man das Flugzeug nehmen. 70 Prozent der somalischen Menschen leben als Nomaden und werden von al-Shabaab beherrscht. Sie nehmen ihnen die Hälfte ihrer Ernte und ihre Kinder weg. Früher gab es
Blick auf die zerstörte Küste von Mogadischu, Juni 2007. Ein Jahr zuvor hatte sich al-Shabaab nach der Auflösung der Union islamischer Gerichte gegründet. Seither hält die Gruppierung, die sich zu al-Qaida bekennt, Somalia und die Nachbarländer mit Terrorattacken in Atem.
Frauen beim Studium an der Universität Mogadischu, Februar 2012. Diese Privatuniversität wurde 1997 gegründet, mit Hilfe der Saudi-Arabischen Islamischen Entwicklungsbank ausgebaut und zählt an die 5000 Studierende, 30 Prozent davon sind Frauen.
viele Bombenattentate, heute passiert weniger, weil die Zentralregierung bessere Nachrichtendienstsysteme aufgebaut hat. Heute passieren vor allem dann Attentate, wenn Konflikte innerhalb der Regierung verhindern, dass sich die Regierung auf die Sicherheit konzentriert.
Wenn die internationale Gemeinschaft die somalische Armee unterstützen würde, könnten sie al-Shabaab zerstören. Aber es gibt Sanktionen gegen Somalia, die Regierung kann keine Waffen kaufen. Und solange die Armee nur dieselben Waffen hat wie die Terroristen, sind sie auch nur gleich stark. Würde man die Sanktionen aufheben, könnte die Armee Somalia innerhalb von zwei Jahren komplett befreien. Derzeit verdient ein Soldat in der somalischen Armee etwa 200 US-Dollar, die AMISOM-Soldaten verdienen ein Vielfaches.
Ich war 2012 das letzte Mal in Somalia. Ich kann nicht hinreisen, da ich als politischer Flüchtling in die Schweiz gekommen bin. Manche meiner Verwandten leben als Nomaden unter al-Shabaab. Sie sind nicht glücklich. Wenn einer zehn Kamele hat, nimmt al-Shabaab drei weg, sie leiden unter den harten Zahlungen. Und sie müssen dafür sorgen, dass alle Kinder spätestens mit zehn Jahren in die Städte gehen, damit sie nicht geraubt und für den Kampf trainiert werden. Al-Shabaab rekrutieren ihre Kämpfer sehr jung und brainwashen sie. Junge Menschen sind sehr empfänglich. Und die Jugend ist arbeitslos, sie braucht Geld. Ich habe meiner Familie geraten, alle Kinder mit spätestens acht Jahren in die Stadt in die Schule zu schicken. Es trifft nicht nur Jungs, auch Mädchen. Sie erzählen ihnen, sie würden direkt ins Paradies gehen. Warum aber geht dann der Anführer der al-Shabaab nicht selbst direkt ins Paradies? Es sind auch nicht nur Somalis in al-Shabaab. Die Kämpfer sind Somalier, die Trainer und Vordenker kommen aus dem Ausland. Sie isolieren diese Menschen in speziellen Camps, wo Pakistaner, Iraker und ISIS-Leute Hass in ihnen schüren, damit sie sich aufopfern, sie geben ihnen auch Drogen. Das sind Tricks, böse Tricks.»
Surprise-Verkäufer, 36, aus der Region Basel, keine Kinder
«Die Situation in Somalia ist sehr kompliziert. Es ist schlimmer als Afghanistan oder Syrien. Somalia wird von Gangs regiert, kleinen Gruppen von Menschen, die vor allem Geld verdienen wollen. Die Regierung und al-Shabaab – beide gehören dazu.
Zur Zeit der Unabhängigkeit 1960 gab es eine gewählte Regierung, aber das Land kam nicht vorwärts. Es war sehr arm. Junge Politiker, meist aus der Armee, haben damals gedacht: So funktioniert das nicht. Somalia ist zwar angeblich demokratisch, aber wir bleiben in unserer Clan-Ideologie stecken: Wer Präsident werden will, verlässt sich nur auf seinen Stamm. Also übernahmen sie 1969 mit einer Militärregierung die Macht. Sie liessen alle verhaften, die vorher in der Politik gearbeitet hatten. Dann begannen sie Somalia aufzubauen: die Institutionen, das Gesundheitssystem, die Justiz, den Sicherheitsapparat. Sie liessen die Leute zählen und registrieren.
Nun hatten die Gangs kein Einkommen mehr – sie gingen nach Europa und Amerika und überlegten, wie sie wieder an Geld kämen. Aber wie? Sie wollten das Land wieder übernehmen, dazu brauchten sie Einfluss in der Bevölkerung. Also haben sie das Clan-System reanimiert und Geschichten verbreitet wie ‹Ich bin ein Opfer, mein Vater wurde vom Militär getötet›, was gar nicht passiert war. Und sie streuten die Idee, dass Somalia nicht ein Land ist, sondern zwei Länder. Die Leute haben daran geglaubt. Man fragte sich plötzlich im Norden, warum geht es dem Süden gut und dem Norden nicht? Und schon waren wir in zwei Fraktionen geteilt. Dazu kam das religiöse Narrativ: Plötzlich wurde gesagt, dass wir Muslime seien und bestimmte Kräfte gegen die
Religion stünden. Damals traten die Dschihadisten auf den Plan. Sie sagte, wir seien Muslime und müssten kämpfen, um die Feinde des Islams umzubringen. Dann kam der Bürgerkrieg. Und die Gangs hatten Zeit, das Land zu übernehmen, ohne dass irgendwer sich noch wehren konnte.
Seitdem die Gangs dort sitzen, wo vorher das Militär gesessen hat, passiert nichts mehr. Der ganze Aufbau, den das Militär geleistet hat – heute ist nur noch Stillstand. Das Land wurde islamisiert, um dem Ausland die Geschichte erzählen zu können, der Dschihadismus sei eine Gefahr. Damit man aus dem Ausland Hilfsgelder zur Islamismus-Bekämpfung bekommen kann, die man dann aber zwischen den Islamisten und der Regierung aufteilt.
Somalia ist in einer schlimmen Lage. Es kann dir passieren, dass dich sogar der Botschaftsbeamte in Genf erpresst, wenn du Pech hast. Du beantragst Papiere für irgendeine Sache, die du in der Schweiz erledigen musst – später ruft derselbe Beamte dich an und droht dir, deine Daten an die Islamisten weiterzugeben, wenn du nicht zahlst. Wie soll ich den Präsidenten ernstnehmen, wenn schon die einfachen Angestellten so handeln? Aber die Welt unterstützt die Gangs, man hört die Kritiker*innen nicht. Man traut dem Regime.
Vielleicht wäre es besser gewesen, gar nicht erst wegzugehen. Jetzt zurückzugehen aber ist sehr schwer. Derzeit sehe ich keinen Ausweg. Es ist wie ein Kreisverkehr, wo man ständig die Ausfahrt verpasst. Armee und al-Shabaab – alle arbeiten zusammen. Ich glaube auch nicht, dass es eine islamistische Ideologie gibt, al-Shabaab ist einfach eine Arbeitsstelle für die Leute. Leiden tut die Bevölkerung. Viele Somalis hier glauben, wenn al-Shabaab weggehen würde, wäre alles wieder normal. Das erzählen ihnen die Medien, die regierungstreu sind. Und ob AMISOM bleiben oder gehen, das macht keinen Unterschied.
Irgendwann würde ich gern die internationale Gemeinschaft fragen: Habt ihr keine Augen im Kopf? Die USA haben in den letzten dreissig Jahren nichts für Somalia gemacht. Damals, 1993, haben sie zu Recht bombardiert. Das war unsere letzte Hoffnung. Aber es hat nicht gereicht. Und es sind über tausend Somalier dabei gestorben.»
Hintergründe im Podcast: Simon Berginz spricht mit Redaktorin Sara Winter Sayilir über die Entstehungsgeschichte zu diesem Dossier. surprise.ngo/talk