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Sozialhilfe
Volg-Gutscheine statt Grundbedarf
Sozialhilfe Weil Gemeinden in der Sozialhilfe immer wieder gegen das Gesetz verstossen, erneuern Fachleute eine über hundertjährige Forderung: Die Regelung der Sozialhilfe sollte Sache des Bundes sein.
TEXT ANDRES EBERHARD
Deutlicher Stadt-Land-Graben: Sozialhilfequote nach Gemeindegrösse, 2020
Stadt Land
5%
4%
3%
2%
≥ 100 000 Einwohner*innen 50 000 – 99 999 Einwohner*innen 20 000 – 49 999 Einwohner*innen
10 000 – 19 999 Einwohner*innen
5000 – 9999 Einwohner*innen < 5000 Einwohner*innen
Etwas vom Schwierigsten für Tobias Hobi ist das Abhören des Anrufbeantworters. Er weiss, dass Menschen in einer Notlage seine Hilfe brauchen. Trotzdem kann er nichts für sie tun. «Da sind teilweise sehr tragische Geschichten zu hören. Aber wir haben nicht die Ressourcen, um jeden Einzelnen zurückzurufen.» Hobi ist Jurist der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS). Zweimal pro Woche ist die Leitung für zwei Stunden offen, die Verknappung der Erreichbarkeit ist sozusagen die natürliche Triage der Fälle. Denn die Nachfrage bei der einzigen schweizweit tätigen Rechtsberatungsstelle für Sozialhilfeempfänger*innen ist weit grösser als deren Möglichkeiten.
Die Frage, was eine faire Sozialhilfe ist, hat zwei Seiten. Eine ist die politische. Die Debatte darüber findet in den 26 Kantonen statt, die für die Sozialhilfe zuständig sind. Für Aufsehen sorgten zuletzt Aargauer Gemeinden, die von Sozialhilfebeziehenden verlangten, mit Pensionskassengeldern die Sozialhilfe zurückzuzahlen. Möglich machte es eine Lücke im kantonalen Gesetz. Die andere Seite der Frage ist, wie die 2172 Gemeinden der Schweiz die Gesetze umsetzen. «Unser Ziel ist, dass Sozialhilfebeziehende zumindest jene Leistungen erhalten, die ihnen zustehen», sagt Anwalt Hobi. Dass das längst nicht immer der Fall ist, zeigen die zahlreichen Fälle aus der Praxis der Rechtsberatungsstelle.
Ein aktuelles Beispiel: Eine Zürcher Gemeinde kürzte einem Sozialhilfeempfänger den Grundbedarf und stellte ihm stattdessen Volg-Gutscheine zu. Den Kauf von Kleidern bewilligte sie zudem nur gegen Vorlage einer Quittung. Solche Ausgaben sind gemäss Gesetz jedoch Teil des Grundbedarfs. Darüber dürfen Sozialhilfeempfänger*innen selber verfügen. Statt auf dem Amt die hohle Hand zu machen, wandte sich der Beistand des Mannes an die UFS. «Jemanden zu zwingen, in einem bestimmten Laden einzukaufen, ist ganz klar widerrechtlich», sagt Hobis Kollegin bei der UFS, Anwältin Nicole Hauptlin. Das sah der Bezirksrat genauso. Trotzdem wehrte sich die Gemeinde gegen den Entscheid. Der Fall liegt nun beim Zürcher Verwaltungsgericht. Zwar dürften aufgrund der Faktenlage die Erfolgschancen der Gemeinde klein sein. Doch das Beispiel zeigt: Die Gefahr von Behördenwillkür in der Sozialhilfe ist real.
Die Fälle, die auf dem Schreibtisch der UFS-Anwält*innen landen, sind vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Denn die Dunkelziffer derer, die entweder ihre Rechte nicht kennen oder sich nicht wehren können, ist hoch. Oder anders gesagt: Die wenigsten Fälle gelangen an die Öffentlichkeit. Die meisten Betroffenen dürften ihre Situation einfach ertragen. Das ist auch die Erfahrung bei der UFS. «Hinter den Fällen liegt meistens schon eine längere Geschichte. Bevor sie zu uns kommen, gehen die Leute in der Regel davon aus, dass die offiziell wirkenden Verfügungen der Behörden rechtmässig sind. Sie fühlen sich der Staatsmacht ausgeliefert», sagt Hauptlin.
Widerrechtliche Sanktionen
Wie arglos die Gemeinden mit dem Thema umgehen, zeigen Richtlinien oder Merkblätter der Gemeinden, die Gesetzesverstösse auch schriftlich festhalten. So schrieb zum Beispiel eine Gemeinde all ihren Sozialhilfebeziehenden per Brief, dass sie all jenen 20 Franken vom Grundbedarf abziehen würde, die ihre eingeschriebenen Briefe nicht bei der Post abholten. Eine andere Gemeinde sanktionierte mit 50 Franken, wer nicht zu einem Gespräch beim Sozialamt auftauchte. Beide Schreiben liegen Surprise vor. «Solche Sanktionen sind im Gesetz nicht vorgesehen und damit widerrechtlich», sagt Nicole Hauptlin. Zwar kann die UFS bei vielen dieser rechtlich eindeutigen Fälle etwas bewirken – manchmal reicht ein Telefon, ein anderes Mal braucht es Beschwerden und viel Geduld. «Doch es gibt Gemeinden, die vor Gericht gerügt werden, dann aber einfach weitermachen wie zuvor», so Hauptlin.
Manche Fälle sind derart haarsträubend, dass die Anwält*innen von der Regel abkommen, nur jene Fälle zu bearbeiten, die während der definierten Telefonzeiten bei ihnen eingehen. Statt die Nachricht auf dem Telefonbeantworter zu löschen, ruft Tobias Hobi dann zurück. So geschehen im Fall eines Minderjährigen, der von seiner Gemeinde statt mit Sozialhilfe nur mit Nothilfe unterstützt wurde. Acht Monate lang lebte der junge Mann von 10 Franken am Tag – rund einem Drittel des Betrags, der ihm eigentlich zustand. Gewehrt hatte er sich zunächst nicht. «Er dachte sich wohl: Da kann man halt nichts machen», so Hobi. Es kam aber noch schlimmer: Die Gemeinde kürzte den Betrag auf 8 Franken, da sich der Mann nicht um eine Stelle bemüht habe. «Dabei ist er ganz offensichtlich psychisch krank», sagt Hobi, der den jungen Mann persönlich getroffen hat. «Nach fünf Minuten ist jedem klar, dass
26,3%
verzichten auf Sozialhilfe.
Stadt Land
50%
12%
Paare ohne Kinder
Paare mit Kindern
4,1%
8,6%
Alleinerziehende 17,0%
Einpersonenfälle 70,2%
dieser Mensch dringend Hilfe braucht.» Zuletzt habe sich der Mann seit rund einem Jahr nicht mehr aus der eigenen Wohnung getraut. «Die Gemeinde aber behauptet, es gehe ihm besser.»
Kostendruck und Unwissenheit
Dass Gemeinden sich bei der Sozialhilfe immer wieder nicht ans Gesetz halten, hat zwei Gründe. Der erste sind die Finanzen. Die Gemeinden stehen unter Druck, die Sozialhilfekosten tief zu halten. Sie sind es, die den grössten Teil davon berappen müssen. Wie viel der Kanton übernimmt, ist unterschiedlich. Am eklatantesten ist die Situation in der Ostschweiz, wo Gemeinden zu hundert Prozent für die Kosten aufkommen.
Gerade in kleinen Gemeinden haben bereits wenige Sozialfälle einen grossen Einfluss auf die Gemeindefinanzen. «Uns wurde von Sozialarbeitenden schon offen gesagt, dass sie auch das Interesse von Steuerzahler*innen vertreten», sagt Nicole Hauptlin. Aber nicht nur bei den Ausgaben für Sozialhilfeempfänger*innen wird wo immer möglich gespart, sondern auch bei den Sozialämtern selbst. Fallzahlen von bis zu 140 Sozialhilfebeziehenden pro Mitarbeiter*in sind nicht selten. Eine persönliche Hilfe, wie es neben der finanziellen Unterstützung eigentlich Ziel der Sozialhilfe wäre, ist bei dieser Arbeitslast kaum möglich.
Der zweite Grund für die recht häufigen Rechtsverstösse ist banaler: Unwissenheit. Im Sozialhilferecht geschultes Personal ist selten. In sehr kleinen Gemeinden übernimmt die Gemeindeschreiberin oder der Friedhofsverwalter das Sozialwesen. Aber selbst dort, wo ausgebildete Sozialarbeitende tätig sind, sei die Situation unbefriedigend, sagt Nicole Hauptlin. «Sozialhilferecht wird in der Ausbildung klar zu wenig berücksichtigt.» Derzeit sind es maximal vier halbe Tage während des ganzen Studiums der sozialen Arbeit. «Für ein so komplexes, uneinheitliches Rechtsgebiet eindeutig zu wenig», so Hauptlin, die selbst sowohl ein Studium der Rechtswissenschaft wie auch eines in sozialer Arbeit absolviert hat.
Zusammengefasst: Es gibt 26 unterschiedliche Gesetze, die teilweise viel Spielraum für die Gemeinden lassen, und 2172 Gemeinden, welche die Gesetze unterschiedlich anwenden. Ausserdem stehen sie unter Druck, die Sozialkosten tief zu halten. Das Gesetz ist komplex und wird von einem juristisch relativ ungeschulten Personal angewandt. Sozialhilfebeziehende wissen häufig nicht, dass und wie sie sich wehren können. Als wäre dies nicht genug, fehlt es auch noch an der für sie nötigen Hilfe. Den Mangel an Rechtsberatungsstellen zeigte jüngst eine Untersuchung des Bundes auf (siehe Kasten).
Was also tun? Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht sieht drei Wege, um die Situation zu verbessern. Erstens: mehr juristisches Wissen auf den Ämtern. Zweitens: unentgeltliche Rechtsberatung in jedem Kanton. Drittens: ein nationales Sozialhilfe-Rahmengesetz. Oder wie es Nicole Hauptlin pointiert formuliert: «Nehmen wir den Gemeinden die Sozialhilfe weg.» Die 2172 verschiedenen Umsetzungen in den Gemeinden würden die Ungleichheit und den Wettstreit um die tiefsten Leistungen fördern. «Das verhindert einen effektiven Rechtsschutz für jene, die in unserem System ganz unten angekommen sind.»
Vereinheitlichung gewünscht
Die Forderung der UFS kommt bei Fachleuten aus dem Sozialwesen gut an. Domenico Sposato, Geschäftsleiter der Caritas beider Basel, sagt, dass das Sozialhilferecht zu kleinräumig und zu kompliziert sei und vereinheitlicht werden müsse. «Ich sehe nicht ein, warum Sozialhilfe nicht vom Bund geregelt werden sollte, wie es bei der Arbeitslosigkeit ja schon der Fall ist.» Im Moment würden einige Gemeinden ihre Sozialhilfebezüger*innen regelrecht loswerden wollen, «wie vor rund 200 Jahren Menschen, die an Pest oder Cholera erkrankten».
Ähnlich tönt es bei Avenir Social, dem Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz. «Die Nivellierung der Hilfeleistungen nach unten muss gestoppt werden», so Co-Geschäftsleiterin Annina Grob. Die jüngsten Entwicklungen wie etwa in Baselland würden zeigen, dass sich die kantonalen Sozialhilfegesetze verselbständigen und die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ihre harmonisierende Wirkung verlieren. Letztere sollten für eine gewisse Vereinheitlichung sorgen, sind aber nicht verbindlich.
Die Forderung nach einem nationalen Rahmengesetz für die Sozialhilfe ist schon über hundert Jahre alt. Die SKOS hatte sie erstmals bei ihrer Gründung im Jahr 1905 gestellt. Dass es Handlungsbedarf insbesondere bei der Harmonisierung der Sozi-
alhilfe braucht, erkannte 2015 auch der Bundesrat. Doch politische Vorstösse für ein schlankes Rahmengesetz scheiterten allesamt, den bislang letzten beerdigte das Parlament im vergangenen Sommer. Manche Abgeordnete erkannten keine Gefährdung der Grundrechte von Sozialhilfebeziehenden. Andere sind skeptisch, ob ein Rahmengesetz die richtige Lösung ist, um diese zu verbessern. So plädiert unter anderem das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) für andere Lösungen: einen verbesserten Finanzausgleich innerhalb der Kantone, stärkeren Rechtsschutz für Sozialhilfebeziehende, Aufsicht über die Sozialdienste.
Widerstand in den Gemeinden
Eine national geregelte Sozialhilfe ist zu einem derart verfahrenen Politikum geworden, dass mittlerweile selbst jene sie ablehnen, die davon profitieren könnten: etwa die unter dem Kostendruck ächzenden Gemeinden. Eine «Regelung und vor allem Finanzierung durch den Bund» lehnen Gemeinden grundsätzlich ab, schreibt Christoph Niederberger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbandes, auf Anfrage. Die Covid-Pandemie habe gezeigt, dass die Schweiz ein funktionierendes Sozialsystem habe, für welches die Gemeinden einen unverzichtbaren Anteil leisteten. Ausserdem «wäre es ein Trugschluss zu denken, dass es mehr Geld geben würde, wenn das Ganze Bundessache wäre. Das Gegenteil wäre wohl der Fall.»
Auch die SKOS, die sich seit jeher den Kampf gegen Armut auf die Fahne geschrieben hat, hält mittlerweile «wenig» von einem nationalen Rahmengesetz. Das sagte ihr aktueller Präsident Christoph Eymann 2019 bei seinem Antritt gegenüber der NZZ. Man sei «selbstverständlich daran interessiert», dass die SKOS-Richtlinien überall in der Schweiz angewandt werden, präzisiert Sprecherin Ingrid Hess auf Anfrage. Da ein nationales Rahmengesetz aber politisch «schlichtweg kein Thema» sei, konzentriere man sich darauf, «das föderalistische System auf der Grundlage der SKOS-Richtlinien bestmöglich zu organisieren».
Anders gesagt: Auf sehr diskrete Weise hat die Organisation nach über hundert Jahren den Kampf für ein national verbindliches Sozialhilfegesetz aufgegeben. Verschwunden ist die Forderung trotzdem nicht. Anstelle der SKOS kämpfen jetzt andere, nämlich die direkt Betroffenen und ihre Vertreter*innen.
Ohne rechtlichen Beistand können sich Sozialhilfebeziehende oft nicht selber wehren. Denn das kantonal geregelte Sozialhilferecht ist zu komplex und zu intransparent. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsbericht der Hochschule Luzern und der Universität
Basel im Auftrag des Bundesamts für So-
zialversicherungen von Anfang 2021. Gemäss der Studie ist die unabhängige Rechtsberatung ein Grundrecht und muss gestärkt werden. Jedoch gibt es zu wenig Angebote. Die Studie empfiehlt, unabhängige Beratungsstellen staatlich zu finanzieren.
Dies passiert heute einzig in Zürich, wo Stadt und Kanton die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) befristet fördert. Darüber hinaus lebt der gemeinnützige Verein von Spenden. Die UFS bearbeitet rund 1200 Fälle pro Jahr, davon rund die Hälfte aus dem Kanton Zürich. In Bern betreibt der Verein Actio Bern seit 2019 ebenfalls eine gemeinnützige Anlaufstelle für Rechtsfragen, aber ohne staatliche Unterstützung. In Basel prüfen Organisationen den Aufbau einer Stelle für Sozialhilferechtsberatung. Unklar ist, ob dafür auch öffentliche Gelder fliessen. EBA
Mehr Sozialhilfebezüger in der Romandie: Sozialhilfequote nach Kanton, 2020
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NE BE BS VD BE JU SO
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