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Flucht
Im Exil
Flucht Bis zur Machtübernahme der Taliban hatten die beiden Künstler*innen Baqer Ahmadi und Shahida Shaygan Pläne für ihre Zukunft in Afghanistan. Dann mussten sie fliehen und leben jetzt in der Schweiz.
TEXT MERET MICHEL FOTOS PASCAL MORA
Ende Juli 2021 packten Baqer Ahmadi und Shahida Shaygan in Lahore, Pakistan, ihre Sachen, um nach Kabul zurückzukehren. Sie ahnten nichts von dem Sturm, der sich dort zusammenbraute. Ihr Semester an der Beaconhouse Universität, wo die beiden Freunde Kunst studierten, ging gerade zu Ende. Shaygan wollte über den Sommer ihre Familie besuchen, Ahmadi hatte sein Studium abgeschlossen und zog nach fünf Jahren in Pakistan zurück in seine Heimat. Seine Pläne für die kommenden Jahre: ein Atelier einrichten und jüngeren Künstler*innen die Videokunst beibringen, die
SHAHIDA SHAYGAN
er während des Studiums entdeckt hatte. Doch dann überschlugen sich im Sommer in Afghanistan die Ereignisse – und Ahmadis und Shaygans Leben änderte sich für immer.
Ein gutes halbes Jahr später sitzen die beiden Freunde um einen kleinen Kachelofen im hölzernen Anbau eines ehemaligen Bauernhauses am Rand von Zürich, wo sie für ein paar Monate ihr Atelier einrichten konnten. Ahmadi, gross gewachsen, schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, hat seinen dicken, langen Mantel trotz der Wärme vom Ofen neben ihm nicht ausgezogen. Shaygan, eine zierliche Frau mit feinen Gesichtszügen, das mittellange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, stellt den Wasserkocher an und bereitet Tee zu.
Sie erzählen von jenen Wochen im August, als die US-Truppen mit ihrem Abzug aus Afghanistan begannen und die Taliban binnen weniger Tage zahlreiche kleinere Provinzen eroberten. Zuerst Herat und Kandahar. Dann standen sie vor Kabul. Dass es so schnell gehen würde, ahnte kaum jemand. Auch Ahmadi und Shaygan nicht. «Jeder Tag, eigentlich jede Stunde hat sich die Situation verändert», sagt Ahmadi. «Viele dachten, die Hauptstadt würden die Taliban vielleicht in zwei Jahren erobern.» Dann, als Ahmadi gerade auf dem Weg zum Internet-Café war, um eine E-Mail zu verschicken, sah er sie: Bärtige Männer bei einem Panzer, der eigentlich der afghanischen Armee gehörte.
Ahmadi und Shaygan, 27 und 25 Jahre alt, sind Teil einer Kunstszene in Afghanistan, die seit dem Sturz des Taliban-Regimes in den letzten zwanzig Jahren gewachsen ist. Ihre abrupte Flucht in die Schweiz steht stellvertretend für diese Kunstszene, die mit dem Einmarsch der Taliban in wenigen Wochen weitgehend verdrängt oder zerstört wurde. Die Taliban übermalten Strassenmalereien, schlossen Musikschulen, zwangen Radio und Fernsehstationen dazu, keine Musik mehr zu spielen. Manche Kunstschaffende zerstörten, aus Angst vor den Extremisten, ihre
Werke gleich selbst. Und Hunderte von ihnen verliessen Hals über Kopf das Land.
Auch Ahmadi und Shaygan wussten, dass sie in Gefahr waren. Sie hatten nicht viel Zeit. Beide planten, mit ihren Familien nach Pakistan zu fliehen. Doch dann erhielten sie überraschend ein Visum für die Schweiz, weil sie mit der Schweizer Kuratorin Susann Wintsch an einer Ausstellung gearbeitet hatten. «Ich hatte nur eine Stunde Zeit, um mich fertig zu machen und mich von meiner Familie zu verabschieden», erzählt Ahmadi. Shaygan fühlte sich schrecklich: «Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Schwestern zurücklasse.» Die drei Tage, die sie vor dem Flughafen draussen in einer riesigen Menschenmenge warten mussten, bis sie endlich eingelassen wurden, gehörten zu den dramatischsten ihres Lebens.
An der hinteren Wand im Atelier in Zürich hat Ahmadi eines seiner Gemälde aufgehängt: Die zwei Menschen darauf sind ganz in Schwarz gemalt. Seit dem Tod seines Vaters 2021 und den Erlebnissen im August arbeitet er kaum noch mit einer anderen Farbe. In einer Nische stehen einige wenige Bücher: Heidegger, Popper, die Bibel. In Kabul hatte er eine grosse Buchsammlung, sagt Ahmadi. Französische Literatur, aber auch Autoren wie Kafka seien eine Inspirationsquelle für seine Kunst. Vor seiner Abreise löste er sie auf, verschenkte, was er verschenken konnte. Den Rest verbrannte er.
Kunst statt Schafe
Beim Eingang liegen in Kisten verpackt Shaygans Puppen und Miniatur-Bilder. Einen Teil der Puppen hat sie noch in Kabul gemacht. Aus Abfall, den sie auf der Strasse fand, nähte sie Kleider, klebte Haare auf und formte Brillengestelle. Einige sind bei der Flucht kaputt gegangen – flicken aber will Shaygan sie nicht mehr. «Der Schaden ist jetzt ein Teil von ihnen», sagt sie.
Ahmadi und Shaygan wurden Mitte der Neunzigerjahre geboren. Damals übernahmen die Taliban zum ersten Mal die Herrschaft über das Land und führten ein drakonisches islamistisches Regime ein: Mädchen durften nicht zur Schule gehen, Musik hören und Filme schauen war verboten, Verstösse hatten brutale Strafen zur Folge. Fünf Jahre nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, marschierte die US-Armee in Afghanistan ein und stürzte das Taliban-Regime.
Ahmadi lebte damals mit seiner Familie in der Provinz Ghazni, rund zwei Stunden von Kabul entfernt. Der Junge arbeitete als Schafhirte und war für die Herden der ganzen Nachbarschaft verantwortlich. Schon damals fing er an zu zeichnen: Er
BAQER AHMADI
malte die Portraits von Imam Hussein und des Propheten Muhammad nach, die er im Islamunterricht sah. 2008 holte sein Bruder, der in Kabul studierte, ihn und seine Geschwister in die Hauptstadt.
Shaygan stammt aus derselben Provinz, auch wenn sie und Ahmadi sich damals noch nicht kannten. Sie entdeckte schon als Kind ihre Leidenschaft für die Kunst. Sie war fasziniert von der islamischen Miniatur-Malerei, eine Technik, die vor allem während der Zeit des Mogulreichs im Mittleren Osten und Südasien verbreitet war. Später studierte sie Miniatur-Malerei am Turquoise-Mountain-Institut, welches vom Prinzen von Wales gegründet wurde und das traditionelle Kunsthandwerk in Afghanistan und anderen Ländern fördert. Shaygan sah die Gemälde von zwei bekannten – männlichen – Miniatur-Künstlern und dachte sich: Das kann ich besser. «Ich wollte ein Vorbild sein für andere Frauen», sagt sie. In ihrem Jahrgang war sie die einzige Frau.
Am Institut lernten sie und Ahmadi sich kennen. Später empfahl er Shaygan
Baqer Ahmadi legt seine Gemälde in seinem Atelier in Zürich aus.
für die Beaconhouse-Kunsthochschule in Pakistan, wo er bereits studierte. Inzwischen sind sie enge Freunde.
In jenen Jahren, als Shaygan studierte, wuchs in Kabul wieder eine Kunstszene heran. Afghanische Künstler*innen, die zuvor im Ausland gelebt hatten, kehrten zurück. Zahlreiche internationale NGOs investierten Geld in Kunstprojekte; Botschaften und ausländische Institute öffneten ihre Türen für Ausstellungen. Das habe auch seine Schattenseiten gehabt, sagt Ahmadi. Denn nicht immer seien die Fördergelder bei jenen angekommen, die sie am meisten verdient hätten. Das Ergebnis war die Förderung von Kunstprojekten, die auf die Erwartungen der Geldgeber zugeschnitten waren – «Mainstream-Kunst», wie Ahmadi es nennt. Trotzdem beschreibt er jene Zeit als sehr lebendig.
Für das Jahr 2014 kündigten die USA zum ersten Mal an, einen grossen Teil ihrer Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Die Folge davon war auch in der Kunstszene direkt zu spüren. In Kabul wurden Anschläge durch die Taliban häufiger, und Ausstellungen, Konzerte oder Theatervorstellungen waren besonders gefährdet. Im selben Jahr tötete ein Selbstmordattentäter mehrere Menschen bei einer Theatervorstellung an der Istiqlal-Schule, die auch ein französisches Kulturzentrum beherbergte. Die Taliban, die sich zum Anschlag bekannten, bezeichnete das Theaterstück als einen Angriff auf islamische Werte. Dabei thematisierte das Stück ausgerechnet die Gewalt von Selbstmordanschlägen. Als 2017 eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodierte und dutzende Menschen tötete, schlossen viele Botschaften und Institute ihre Türen. «Einmal wollte ich eine Ausstellung im Goethe-Institut machen», sagt Ahmadi. «Doch sie meinten, sie könnten mir einzig anbieten, die Bilder online zu zeigen.»
Die volatile Sicherheitslage in Afghanistan ist auch prägend für das Schaffen afghanischer Künstler*innen. Es sei eine Eigenschaft von ihnen, sagt Ahmadi, dass sie alle möglichen Techniken beherrschten: zeichnen, schreiben, filmen. Denn wenn die Gefahrenlage das eine nicht mehr erlaube, fingen sie mit etwas anderem an, um sich auszudrücken.
Zeit im Ausland
Für Shaygan war es nicht nur die allgemeine Sicherheitslage, die eine Herausforderung darstellte. «Auf dem Weg an die Universität wurde ich einmal angegriffen», sagt sie. In jener Gegend lebten sehr konservative Menschen – denen offenbar nicht gefiel, dass Shaygan als Frau allein unterwegs war. Von da an bat sie eine befreundete Frau, sie zu begleiten. Eine weitere Schwierigkeit war, dass sie das Studium
lange vor ihrem Vater geheim halten musste. «Als er davon erfuhr, sprach er eine ganze Weile nicht mit mir», sagt Shaygan. Er wollte zwar, dass seine Tochter zum Beispiel Ärztin würde – aber sicher keine Künstlerin. Erst als sie anfing, ihre Bilder zu verkaufen, und er sah, dass sie finanziell unabhängig wurde, billigte er ihren Weg. 2016 zog Ahmadi an die Beaconhouse nach Lahore in Pakistan, ein Jahr später folgte ihm Shaygan nach. Dank der sehr viel stabileren politischen Lage dort konnte sich in verschiedenen Städten in den letzten Jahren eine grössere, internationale Kunstszene etablieren.
Das Studium im Ausland war prägend für die beiden wie auch für die ganze afghanische Kunstszene. In jenen Jahren, erzählt Ahmadi, hätten die ersten afghanischen Studierenden ihr Kunststudium im Ausland abgeschlossen und seien mit neuen Ideen in ihre Heimat zurückgekehrt. So sei zum ersten Mal seit Langem eine alternative Kunstszene entstanden, sagt Ahmadi.
Etwas Ureigenes schaffen
«Viele imitieren einfach westliche Kunst», sagt Ahmadi. «Aber ich und eine Gruppe weiterer Künstler*innen wollten weg von diesem Kopieren. Meine Arbeit sollte ein Original sein, keine Kopie.» Dieser «Kampf», wie er es nennt, gegen jene, die einfach Kunst kopierten, habe ihn über Jahre sehr beschäftigt. Erst in jüngster Zeit ist er zur Erkenntnis gelangt, dass er sich nicht durch die Abgrenzung dagegen definieren will: «Es geht nicht darum, afghanische Kunst zu machen, sondern nur um Kunst an sich.»
Auch Shaygan ging ihren eigenen Weg. Das Turquoise-Institut war darauf spezialisiert, traditionelles Kunsthandwerk zu lehren – Kalligraphie, Keramik oder eben Miniatur-Malerei. Und Shaygan arbeitet zwar noch heute mit den dort erlernten Techniken, sie hat aber ihren ganz eigenen Stil entwickelt.
Auf einem der Tische im Zürcher Atelier breitet sie gerahmte Bilder aus, kaum grösser als Postkarten: Auf einem ist ein Aschenbecher von oben gemalt, kreisrund, die Stummel darin sind beinahe symmetrisch angeordnet, ein anderes zeigt einen weissen Kreis mit einer halben Cherrytomate drin.
Seit einem halben Jahr sind die beiden nun in der Schweiz. Sie haben sich eingerichtet in ihrem Atelier und bereiten sich auf eine grössere Ausstellung in Thun vor. Dazwischen sind sie auf Wohnungssuche, haben angefangen, Deutsch zu lernen, und machen derzeit ein Schnuppersemester an der Zürcher Hochschule für Künste. «Es ist
ermüdend», sagt Ahmadi. «Ich habe mein Atelier und eine Büchersammlung in Kabul verloren. Jetzt versuche ich, das hier wieder aufzubauen.»
Bisher ist nicht klar, wie viel Kunst die Taliban tolerieren werden. Es gab noch keine offiziellen Erlasse, die die Kunstfreiheit einschränkten. Doch das Übermalen von Strassengemälden spricht eine deutliche Sprache. Und viele Künstler*innen misstrauen den neuen Herrschern und ihren Beteuerungen, dieses Mal offener zu regieren als noch in den Neunzigerjahren. Trotzdem ist Ahmadi zuversichtlich. Auch jetzt, nach der Machtübernahme der Taliban, hätten jene, die in Kabul geblieben sind, nicht aufgehört. «Ich bin mit vielen in Kontakt und weiss, dass sie weitermachen. Irgendwann werden sie ihre Kunst wieder zeigen können.»
Shahida Shaygans beschädigte Puppen, deren Kleider sie selbst näht.