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Literatur

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Flucht

Flucht

«Jede Entscheidung hat Konsequenzen»

Literatur In ihrem neuen Roman «Mehr als ein Leben» spürt Milena Moser der Frage nach, wie das Leben verlaufen wäre, wenn man andere Entscheidungen getroffen hätte.

INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN

Milena Moser, in «Mehr als ein Leben» muss sich die zehnjährige Helen entscheiden, ob sie bei ihrer alkoholkranken Mutter oder bei ihrem Vater leben möchte, der sich lieber wechselnden Freundinnen widmet als seiner Tochter. Je nachdem, wie sie sich entscheidet, verläuft ihr Leben anders: Entweder als angepasste Elaine oder als unabhängige Luna. Handelt dieses Buch unter der Oberfläche davon, wie sehr unser Leben von nahestehenden Menschen geprägt wird?

Ja, es geht nur vordergründig um das Leben der Hauptfigur Helen. Auf einer tieferen Ebene handelt die Geschichte von Wechselwirkungen. Davon, wie durch Helens Entscheidungen auch das Leben ihrer Mitmenschen einen anderen Lauf nimmt. Jeder Mensch ist Teil eines Netzwerkes, gewollt oder ungewollt. Unsere Entscheidungen beeinflussen auch das eigene Umfeld. So geht es zum Beispiel den Menschen rund um Elaine schlechter, weil ihr Lebensweg von Pflicht- und Schuldgefühlen geprägt ist. Luna hingegen achtet auf ihre Bedürfnisse, hört in sich hinein und ist dadurch besser in der Lage, anderen Menschen ungetrübte Zuneigung zu schenken. Das wird deutlich, als sie als 17-Jährige Mitte der 1980er-Jahre auf einer Aidsstation in San Francisco aushilft.

Eine Erfahrung, die ihr dabei hilft, innerlich zu reifen.

Ja, in der Klinik trifft Luna auf Todgeweihte, die nur wenig älter sind als sie und die keine Möglichkeit mehr haben, sich noch einmal neu zu erfinden. So lernt Luna, dass Tod und Verlust zum Leben gehören. In der Folge setzt sie ihre Prioritäten neu. Die Pflege der Kranken wird zu ihrem Lebensinhalt, der sie erfüllt. Dabei kann sie aus den schmerzhaften Erfahrungen ihrer Kindheit schöpfen, als sie für ihre alkoholkranke Mutter putzen und kochen musste. Damals gaben ihr diese Tätigkeiten ein Gefühl von Kontrolle, in der Aidsstation ermöglichen sie ihr nun ein sinnhaftes Leben. Luna entwickelt schliesslich ein besseres Verhältnis zu ihrer Mutter, kann ihr direkt sagen, wie sehr sie unter deren Sucht gelitten hat. Etwas, das der angepassten Elaine verwehrt bleibt. In Lunas Leben können sich Kreisläufe schliessen, während bei Elaine vieles tabuisiert und unausgesprochen bleibt.

Obwohl die beiden Lebenswege unterschiedlich verlaufen, gibt es Parallelen. In beiden geht Helen nach San Francisco und trifft auf die gleichen Menschen, einfach in anderen Zusammenhängen. Weshalb?

Die Parallelen eröffnen die Möglichkeit, darüber nachzudenken, welche Dinge im Leben man tatsächlich selber in der Hand hat und welche vielleicht Schicksal sind. Manches ist fest in uns angelegt, Konstellationen, in die wir hineingeboren werden, oder Prägungen, die zu Teilen unseres Wesens werden. Helen ist bisexuell. Als Luna kann sie ihre Sexualität in einem liberalen Umfeld ausleben, inklusive Lust und Frust. Als Elaine hingegen, die wieder zurück in die Schweiz geht, wird dieses Bedürfnis zu einem Problem.

Als Luna darf Helen sich ausprobieren, ohne Unverständnis fürchten zu müssen. Wie wichtig ist es, auch scheitern zu dürfen, wenn man neue Erfahrungen sammelt?

Sehr wichtig! Ein Beispiel: Vor über zwanzig Jahren wollte ich selbst in San Francisco ein Literaturcafé eröffnen. Ich steckte meine Ersparnisse in dieses Projekt und scheiterte nach wenigen Monaten. Aber niemand sah darin einen Weltuntergang. Man spricht höchstens Bedauern aus und fragt, was die nächsten Schritte sein werden. In der US-Kultur wird davon ausgegangen, dass man immer mal wieder strauchelt. Es wird als Teil des Lebens akzeptiert.

In der Elaine-Version heiratet Helen ihre Kindergartenliebe Frank, trauert aber heimlich der verlorenen Freiheit nach, während sie als Luna selbstbestimmt in den USA lebt, jedoch innerlich nie ganz von Frank loskommt. Gibt es bei Entscheidungen denn kein Richtig oder Falsch?

Für mich liegt der Schlüssel darin, zu akzeptieren, dass jede Entscheidung Konsequenzen hat. Es gibt keine Version des eigenen Lebens, die ohne Verlust wäre. Probleme und auch Schmerz gehören zur Natur des Lebens. Meine Mutter sagte immer, jede wichtige Entscheidung würde mit 51 zu 49 Prozent fallen, nicht mit 99 zu 1. Nur weil man nach einer grossen Entscheidung Zweifel oder Wehmut verspürt, heisst das nicht, dass die Entscheidung falsch war. Wenn ich zum Beispiel meine beiden erwachsenen Söhne in der Schweiz vermisse, heisst das nicht, dass es falsch war auszuwandern.

Wie viel Autobiografisches steckt in «Mehr als ein Leben»?

Helen, Luna und Elaine entsprechen nicht meiner eigenen Person, genauso wenig wie Helens Eltern meine eigenen

widerspiegeln. Es geht um eine Frage, die wir uns alle schon einmal gestellt haben: Was wäre, wenn ich mich damals anders entschieden hätte? Entscheidungen haben immer zwei Seiten, selbst die Entscheidung, sich einen grossen Traum zu erfüllen – wie ich, als ich mich dazu entschied, in die USA auszuwandern.

Wie reagieren denn die Menschen in der Schweiz darauf, dass Sie in die USA ausgewandert sind?

In der Schweiz ist die Erwartung verbreitet, dass ein solcher Neuanfang ohne Probleme über die Bühne zu gehen habe und man wohlbehalten am Ende des Regenbogens landet. Wenn ich dann von Schwierigkeiten erzähle, denen ich zum Beispiel auf Ämtern begegne, werde ich immer wieder gefragt, ob ich mich wieder so entscheiden würde, wenn ich das vorher gewusst hätte. Man erwartet, dass alles glatt zu laufen hat. Dabei ist das schlicht unmöglich und auch lebensfremd.

In Ihrem autobiografischen Buch «Das Glück sieht immer anders aus» aus dem Jahr 2015 erzählen Sie offen und persönlich von Ihrer Suche nach dem Lebensglück in den USA nach der Trennung von Ihrem Ehemann. Bis zu welchem Grad hat man sein Schicksal in den eigenen Händen?

Es gibt im Englischen den schönen Begriff «serendipity», was sich mit «glückliche Fügung» übersetzen lässt. Diese hat in meinem Leben immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Darauf vertrauen, dass es schon richtig ist, einem

«In der Schweiz ist die Erwartung verbreitet, dass ein Neuanfang ohne Probleme über die Bühne zu gehen hat.»

MILENA MOSER

bestimmten Gefühl nachgehen. Aus dem Wissen, dass etwas das Richtige ist, zieht man auch die Kraft, die Konsequenzen einer Entscheidung zu tragen. Gerade Müttern wünsche ich, dass sie irgendwann die Frage, was sie im Leben noch für Wünsche haben, für sich wiederentdecken können. Die Fähigkeit, sich diese Frage zu stellen, war bei mir wie ein verkümmerter Muskel. Die gute Nachricht: Dieser Muskel lässt sich trainieren und wieder aufbauen.

Mittlerweile leben Sie seit mehreren Jahren in den USA. Ist das Land immer noch ein gutes Pflaster, um sich neu zu erfinden?

Grundsätzlich ja, es ist hier nach wie vor vieles möglich. Der Kontakt mit den Menschen gleicht einem Bad voller Wohlwollen, was von Europäer*innen oft als Oberflächlichkeit fehlgedeutet wird. Im Wissen, dass das Leben in diesem Land ohne soziale Auffangnetze nicht einfach ist, machen die Leute sich das Leben gegenseitig mit kleinen Gesten angenehmer. Und das kann auch mal ein spontanes Kompliment für eine Jacke oder Handtasche sein. Die USA sind ein hartes Pflaster, die Wohnungsnot in den grossen Städten treibt viele Menschen in die Obdachlosigkeit. Aber im Alltag gibt es immer wieder schöne Begegnungen über soziale Grenzen hinweg. Das ist etwas, was ich am Leben hier sehr schätze.

Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, wurde durch Bücher wie «Die Putzfraueninsel», «Das schöne Leben der Toten» oder «Land der Söhne» zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. 2015 wanderte sie in die USA aus und lebt heute in San Francisco.

«Mehr als ein Leben»

ZVG

FOTO: Der neue Roman von Milena Moser, erschienen im Verlag Kein & Aber, erzählt zwei Versionen eines Lebens. Eine ist geprägt durch Verantwortung, die andere durch den Drang nach Unabhängigkeit. Eine Geschichte über die Konsequen zen einer wegweisenden Entscheidung und wie nahestehende Menschen den eigenen Lebensweg mitprägen. Bis Anfang April ist Milena Moser für mehrere Lesungen in der Schweiz. Alle LesetourDaten unter: keinundaber.ch/de/ autoren-regal/milena-moser

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