«Jede Entscheidung hat Konsequenzen» Literatur In ihrem neuen Roman «Mehr als ein Leben» spürt Milena Moser der Frage nach,
wie das Leben verlaufen wäre, wenn man andere Entscheidungen getroffen hätte.
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Milena Moser, in «Mehr als ein Leben» muss sich die zehnjährige Helen entscheiden, ob sie bei ihrer alkoholkranken Mutter oder bei ihrem Vater leben möchte, der sich lieber wechselnden Freundinnen widmet als seiner Tochter. Je nachdem, wie sie sich entscheidet, verläuft ihr Leben anders: Entweder als angepasste Elaine oder als unabhängige Luna. Handelt dieses Buch unter der Oberfläche davon, wie sehr unser Leben von nahestehenden Menschen geprägt wird? Ja, es geht nur vordergründig um das Leben der Hauptfigur Helen. Auf einer tieferen Ebene handelt die Geschichte von Wechselwirkungen. Davon, wie durch Helens Entscheidungen auch das Leben ihrer Mitmenschen einen anderen Lauf nimmt. Jeder Mensch ist Teil eines Netzwerkes, gewollt oder ungewollt. Unsere Entscheidungen beeinflussen auch das eigene Umfeld. So geht es zum Beispiel den Menschen rund um Elaine schlechter, weil ihr Lebensweg von Pflicht- und Schuldgefühlen geprägt ist. Luna hingegen achtet auf ihre Bedürfnisse, hört in sich hinein und ist dadurch besser in der Lage, anderen Menschen ungetrübte Zuneigung zu schenken. Das wird deutlich, als sie als 17-Jährige Mitte der 1980er-Jahre auf einer Aidsstation in San Francisco aushilft.
Die Parallelen eröffnen die Möglichkeit, darüber nachzudenken, welche Dinge im Leben man tatsächlich selber in der Hand hat und welche vielleicht Schicksal sind. Manches ist fest in uns angelegt, Konstellationen, in die wir hineingeboren werden, oder Prägungen, die zu Teilen unseres Wesens werden. Helen ist bisexuell. Als Luna kann sie ihre Sexualität in einem liberalen Umfeld ausleben, inklusive Lust und Frust. Als Elaine hingegen, die wieder zurück in die Schweiz geht, wird dieses Bedürfnis zu einem Problem.
Eine Erfahrung, die ihr dabei hilft, innerlich zu reifen. Ja, in der Klinik trifft Luna auf Todgeweihte, die nur wenig älter sind als sie und die keine Möglichkeit mehr haben, sich noch einmal neu zu erfinden. So lernt Luna, dass Tod und Verlust zum Leben gehören. In der Folge setzt sie ihre Prioritäten neu. Die Pflege der Kranken wird zu ihrem Lebensinhalt, der sie erfüllt. Dabei kann sie aus den schmerzhaften Erfahrungen ihrer Kindheit schöpfen, als sie für ihre alkoholkranke Mutter putzen und kochen musste. Damals gaben ihr diese Tätigkeiten ein Gefühl von Kontrolle, in der Aidsstation ermöglichen sie ihr nun ein sinnhaftes Leben. Luna entwickelt schliesslich ein besseres Verhältnis zu ihrer Mutter, kann ihr direkt sagen, wie sehr sie unter deren Sucht gelitten hat. Etwas, das der angepassten Elaine verwehrt bleibt. In Lunas Leben können sich Kreisläufe schliessen, während bei Elaine vieles tabuisiert und unausgesprochen bleibt.
In der Elaine-Version heiratet Helen ihre Kindergartenliebe Frank, trauert aber heimlich der verlorenen Freiheit nach, während sie als Luna selbstbestimmt in den USA lebt, jedoch innerlich nie ganz von Frank loskommt. Gibt es bei Entscheidungen denn kein Richtig oder Falsch? Für mich liegt der Schlüssel darin, zu akzeptieren, dass jede Entscheidung Konsequenzen hat. Es gibt keine Version des eigenen Lebens, die ohne Verlust wäre. Probleme und auch Schmerz gehören zur Natur des Lebens. Meine Mutter sagte immer, jede wichtige Entscheidung würde mit 51 zu 49 Prozent fallen, nicht mit 99 zu 1. Nur weil man nach einer grossen Entscheidung Zweifel oder Wehmut verspürt, heisst das nicht, dass die Entscheidung falsch war. Wenn ich zum Beispiel meine beiden erwachsenen Söhne in der Schweiz vermisse, heisst das nicht, dass es falsch war auszuwandern.
Obwohl die beiden Lebenswege unterschiedlich verlaufen, gibt es Parallelen. In beiden geht Helen nach San Francisco und trifft auf die gleichen Menschen, einfach in anderen Zusammenhängen. Weshalb?
Wie viel Autobiografisches steckt in «Mehr als ein Leben»? Helen, Luna und Elaine entsprechen nicht meiner eigenen Person, genauso wenig wie Helens Eltern meine eigenen
Als Luna darf Helen sich ausprobieren, ohne Unverständnis fürchten zu müssen. Wie wichtig ist es, auch scheitern zu dürfen, wenn man neue Erfahrungen sammelt? Sehr wichtig! Ein Beispiel: Vor über zwanzig Jahren wollte ich selbst in San Francisco ein Literaturcafé eröffnen. Ich steckte meine Ersparnisse in dieses Projekt und scheiterte nach wenigen Monaten. Aber niemand sah darin einen Weltuntergang. Man spricht höchstens Bedauern aus und fragt, was die nächsten Schritte sein werden. In der US-Kultur wird davon ausgegangen, dass man immer mal wieder strauchelt. Es wird als Teil des Lebens akzeptiert.
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FOTO: VICTOR-MARIO ZABALLA
INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN