Strassenmagazin Nr. 520 4. bis 17. März 2022
CHF 6.–
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Flucht
In Sicherheit
Künstler*innen aus Afghanistan suchen nach einem Neuanfang in der Schweiz. Seite 8
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestrasse 2 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | frühling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L‘Ultimo Bacio, Güterstr. 199 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12Café Spalentor, Missionsstr. 1a | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Shöp, Gärtnerstr. 46 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 Wirth‘s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Länggassstr. 26 & Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Café Arcas, Ob. Gasse 17 | Calanda, Grabenstr. 19 | Café Caluori, Postgasse 2 | Gansplatz, Goldgasse 22 | Giacometti, Giacomettistr. 32 | Kaffee Klatsch, Gäuggelistr. 1 | Loë, Loestr. 161 | Merz, Bahnhofstr. 22 | Punctum Apérobar, Rabengasse 6 Rätushof, Bahnhofstr. 14 | Sushi Restaurant Nayan, Rabengasse 7 | Café Zschaler, Ob. Gasse 31 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt, Baselstr. 66 & Alpenquai 4 | Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Bistro Quai4, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 | Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Bauhütte, Kirchenstrasse 9 Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestrasse 51 | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
TITELBILD: PASCAL MORA
Editorial
Widrige Umstände Es ist schon fast eine Platitude: Das Geschäft mit der Aufmerksamkeit ist schnelllebig und gnadenlos. Das zeigt sich derzeit in der Ukraine oder auch in Afghanistan. Kaum war der Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten vorüber und die drängenden Fragen zur humanitären Katastrophe drum herum gestellt, wandte sich die Medi enöffentlichkeit wieder anderen Brand herden zu. Wir können nicht überall gleichermassen intensiv dranbleiben, so die ökonomische Logik dahinter, und kaum ist unsere direkte Involvierung oder die akute Phase vorbei, flacht der sogenannte Newswert eben auch schnell wieder ganz weit ab. Immer nur dann hinzuschauen, wenn es brennt, vernachlässigt aber die grösseren Zusammenhänge und das tiefere Verständnis. Und wenn man jedes Mal von Neuem die Gemengelage erklären muss, kommt man zudem selten ins Ausdifferenzieren. Was die Machtübernahme der Taliban für Folgen für die afghanische Kunstszene hat
4 Aufgelesen
5 Vor Gericht
Überzeugung ist kein Beweis
7 Die Sozialzahl
Keine Entwarnung 8 Flucht
Redaktorin
14 Strafjustiz
Per Strafbefehl ins Gefängnis 16 «Die Strafjustiz geht
27 Tour de Suisse
Pörtner in Wetzikon
21 «Wir wissen zu wenig über sie»
28 SurPlus Positive Firmen
22 Literatur
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
«Jede Entscheidung hat Konsequenzen»
gegen wenig PriviKünstler*innen im Exil legierte härter vor»
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WINTER SAYILIR
Clandestines Leben
Ergänzungsleistungen
Die Welt der Bücher
Wer in der Schweiz in den Blick der Justiz gerät, sollte wissen und verstehen können, was ihm oder ihr vorgeworfen wird. Dies ist aber nicht immer der Fall. Gerade bei Strafbefehlen, die per Post zugestellt werden, versichern sich die Schweizer Staatsanwaltschaften nicht, ob der oder die Betreffende die Post wirklich erhält und diese auch sprachlich zugänglich ist. Und so landen schliesslich Menschen hinter Gittern, ohne dass sie wissen, warum. Und ohne dass sie je die Chance gehabt hätten, Einspruch zu erheben – was ihnen aber zustünde, ab Seite 14. SAR A
18 Sans-Papiers
5 Was bedeutet eigentlich …?
6 Verkäufer*innenkolumne
beispielsweise. Zwei Künstler*innen, die die Möglichkeit hatten, in die Schweiz zu fliehen, erzählen, was es heisst, seine Berufung auch unter widrigen Umständen zu leben. Und wann man besser die Zelte abbricht, wenn man kann. Das Doppelporträt ab Seite 8.
24 Kino
«Was im wahren Leben los ist»
30 Surprise-Porträt
«Freunde, die sich sehr gern mochten»
25 Buch
Löcher in der Seele 26 Veranstaltungen
3
Aufgelesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Grundeinkommen 500 US-Dollar im Monat bekommen Menschen mit wenig Einkommen in der Kleinstadt Hudson im US-Bundesstaat New York seit Herbst 2020. Jetzt liefert das Pilotprojekt erste Ergebnisse: Die Teilnehmer*innen haben öfter Arbeit und sind gesünder. Viele gaben an, das Geld für Grundbedürfnisse auszugeben. Andere beglichen damit Schulden oder sparten auf Eigentum. Ein Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen, das Hoffnung macht.
MEGAPHON, GRAZ
Weiterbildung Die britische Universität Chichester bietet obdachlosen Menschen die Chance auf ein Hochschulstudium: Bereits 27 Personen haben sich seit 2018 über ein spezielles Pilotprogramm auf diese Weise weitergebildet. Entwickelt wurde ein 12-wöchiger Kurs, den auch andere Universitäten als Modell übernehmen können. Der Kurs entspricht dem ersten Modul eines Bachelorstudiums und kann an ein reguläres Bachelor studium angerechnet werden.
Unsicherheit
Im Jahr 2020 waren nach Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohn ungslosenhilfe rund 256 000 Menschen in Deutsch-land wohnungslos. Etwa 45 000 lebten obdachlos auf der Strasse. Damit ist die Zahl der Woh nungslosen, die alle zwei Jahre von der BAG W geschätzt wird, weiter gestiegen. Gemäss Koalitionsvertrag will die neue Bundesregierung bis 2030 die Wohnungs- und Obdachlosigkeit überwinden. Dazu kündigt sie einen «nationalen Aktionsplan» an.
Die Ausstellung «La invención de la periferia» in Mexiko- Stadt zeigt die Arbeiten von 12 Frauen, die sich künstlerisch damit auseinandersetzen, wie es ist, als Frauen und Künst lerinnen durch die Aussenbezirke der Hauptstadt eines hochzentralisierten Landes zu reisen. Die meisten Künstlerinnen kommen aus dem Bundesstaat Mexiko, der an die Hauptstadt grenzt. Obwohl viele der Gemeinden, aus denen sie stammen, weniger als eine Stunde Autofahrt vom Zentrum der Metropole entfernt liegen, gibt es dort nur wenige kulturelle Institutionen. Das Leben ist geprägt von Armut und Unsicherheit, die in einem Grossteil Mexikos zum Alltag gehören. Der Bundesstaat Mexiko verzeichnete mit 130 Morden an Frauen zwischen Januar und November 2021 zudem die höchste Rate an Femiziden im Land.
BODO, BOCHUM/DORTMUND
MI VALEDOR, MEXICO CITY
THE BIG ISSUE, LONDON
Obdachlos
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Was bedeutet eigentlich …?
Ergänzungs leistungen
Ergänzungsleistungen (EL) sind die «dritte Säule» der Altersvorsorge nach AHV und Pensionskasse. Anspruch hat, wer nicht mehr als 100 000 Franken Vermögen hat und ein definiertes Existenzminimum trotz Rente und allfälligem Zusatz einkommen nicht erreicht. Für Nicht-EU-Ausländer*innen gelten Fristen. Dieses Dreisäulenmodell gilt international als beispielhaft. Allerdings sind die Leistungen relativ tief. Die OECD hält fest, dass die Schweiz von den 38 Mitgliedsstaaten die vierthöchste Rate an Altersarmut hat. Diese Berechnung beruht auf einer relativen Definition: AHV- Rentner*innen der Schweiz verfügen in absoluten Zahlen über mehr Geld als in den meisten anderen Ländern. EL gibt es nicht nur für arme Rentner*innen, sondern auch für Hinterbliebene, Invalide und in gewissen Kantonen auch für Familien mit tiefen Einkommen. Im Jahr 1965 als Übergangslösung konzipiert, bewähr ten sie sich derart, dass sie 2008 Eingang in die Bundesverfassung fanden. Heute übernehmen EL auch eine wichtige Aufgabe in der Pflegefinanzierung. Die hohen Kosten eines Alters- oder Pflegeheims können die wenigsten selber tragen. Um nicht von der Sozialhilfe abhängig zu werden, ist jede*r zweite Heimbewohner*in auf EL angewiesen. Die Zahl der EL-Bezüger*innen ist in den letzten Jahren gestiegen. Gut jede*r zehnte AHV- sowie jede*r zweite IV-Rentner*in erhält EL. Kostentreibend sind die Demografie sowie die Verteuerung der Heimbetreuung – also nichts, woran eine Änderung des EL-Gesetzes etwas ändern könnte. In der Politik diskutierte Sparmassnahmen – EL werden aus Steuermitteln finanziert – sind also keine Lösung. EBA Uwe Koch: Ergänzungsleistungen zur AHV/IV. In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 520/22
Vor Gericht
Überzeugung ist kein Beweis Mit dem «Marsch fürs Läbe» setzen rechtskonservative Christ*innen seit 2011 ein Zeichen gegen Abtreibung. Jeden September marschieren Hundertschaften durch Zürich, Kreuze in den Himmel haltend. Sie verteilen Plastikembryos an Passant*innen oder tragen symbolische Gräber «der ungeborenen Kinder» durch die Strassen. Das ruft jedes Jahr linke Gegendemonstrant*innen auf den Plan, die für das Recht auf den legalen Schwangerschaftsabbruch einstehen und sich gegen frauenfeindliche Prinzipien stellen. Mit Erfolg: Der Marsch ist inzwischen eher ein Spiessrutenlauf, stets begleitet von einem grossen Polizeiaufgebot. Regelmässig kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Gegendemonstrant*innen, für einige mit juristischem Nachspiel. Brenzlig wurde es etwa 2019, als Brände gelegt und Löschfahrzeuge attackiert wurden. Nun wehrte sich eine Frau vor dem Einzelrichter in Zürich gegen einen Strafbefehl. Wegen Landfriedensbruch, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Widerhandlung gegen das Vermummungsverbot und Übertretung von kommunalen Vorschriften sollte sie eine Geldstrafe von insgesamt 6100 Franken bezahlen. An der Verhandlung sagt ihre Anwältin, der Strafbefehl sei mit rechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar, weil reine Vermutung. Die Aktenlage im Fall nennt sie «dürftig». Was Polizei und Staatsanwaltschaft mit dem Video beweisen wollten, sei schleierhaft. Darauf sehe man eine nicht klar er-
kennbare Person, die mit der einen Hand ein Banner hält, mit der andern flach auf das Feuerwehrauto schlägt. Nie wende die Person Gewalt an, so die Anwältin, wolle sich gar vom Geschehen entfernen. Selbst wenn es sich bei der Person um die Beschuldigte handelte: Straftaten liessen sich so nicht belegen. Es sei den Behörden nicht einmal gelungen zu beweisen, dass die Frau überhaupt vor Ort war. Die angeblichen Beweisfotos? Nicht aussagekräftig. Darauf sei lediglich eine Person in schwarzem Kapuzenpulli, schwarzer Schirmmütze und Jeans zu sehen – was auf mindestens zwanzig, dreissig weitere Anwesende auch zutreffe. Dieser Meinung ist auch der Einzelrichter, der die Beschuldigte vollumfänglich freispricht. Es sei nicht möglich, die Beschuldigte zu identifizieren. Er gesteht ihr gar zu, dass das Gedankengut, das der «Marsch fürs Läbe» vertritt, befremdlich sei – was aber nicht heisse, dass es in Ordnung sei, Einsatzorganisationen wie die Feuerwehr zu behindern. Die Frau hatte es zuvor abgelehnt, Fragen zu beantworten, aber im Schlusswort keine Zweifel aufkommen lassen, wo sie steht: Wenn sich rechte Christ*innen mit reaktionären Positionen in den Strassen breitmachten, müsse man sie verjagen. Das Recht auf Abtreibung sei weltweit unter Druck, auch in der Schweiz, wo gerade zwei Initiativen für restriktivere Abtreibungsgesetze liefen. Damit würden Abtreibungen nicht verhindert, sondern kriminalisiert. «Abtreibungsverbote töten», sagt sie. Und, unter Applaus ihrer Unterstützer*innen im Saal: «Heraus zum 8. März!»
Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich. 5
ILLUSTRATION: NICOLE VÖGELI
Verkäufer*innenkolumne
Die Welt der Bücher Sobald ich lesen konnte, verging bei mir fast keine Woche, in der ich nicht mindestens ein Buch las. Angefangen mit «Black Beauty», «Die rote Zora», «Tom Sawyer und Huckleberry Finn», etliche andere, bis hin zu Federica de Cescos Büchern. Sie traf ich einmal sogar persönlich, als sie in unserer Schule vorgelesen hat. Bald aber fing ich mit Hermann Hesse an, mit Jeremias Gotthelf, Dürrenmatt, Brecht und Goethe (am Anfang vor allem seine Gedichte), Rainer Maria Rilke, weiter auch Hemingway, Jack London, Tolstoi, später Edgar Allan Poe, bis hin zu Molière, Camus, Saint-Exupéry, Boris Vian und und und. Teils in Originalsprache, teils auf Deutsch. Ich war eine der wenigen in meiner Klasse, die auch all die Bücher las, die Pflichtlektüre waren – statt nur die Zusammenfassungen aus Kindlers Lite raturlexikon, wie es viele andere getan haben. Für mich waren es Werke, in denen ganze Lebensweisheiten in gute Geschichten verpackt und begnadet erzählt wurden. Ich las und las und las … Immer, wenn mir mein Dasein zu schwierig erschien, konnte ich mich in die Bücher flüchten. In und mit ihnen leben. Ein besseres Zuhause finden, meine Traurigkeit vergessen. Und dümmer haben mich diese vielen Bücher auch nicht gemacht. Zum Glück gingen sie mir nie aus. Je dicker eins war, desto besser für mich. 6
Neben all dieser Weltliteratur habe ich auch unzählige andere Romane gelesen. Viele Bücher wurden später auch verfilmt. Zum Beispiel «Herr der Ringe», ich las es, als ich sechzehn war – also vor fast vierzig Jahren. So kann ich auch heute noch fast bei jeder Literaturverfilmung, die mir empfohlen wird, antworten: Da kenne ich die Buchvorlage. In den meisten Fällen sehe ich mir dann die Verfilmung nicht an – und wenn doch, ist es meis tens eine Enttäuschung. Denn in meinem Kopf habe ich bereits eine eigene Vorstellungswelt, eine bunte Geschichte, aus der man mindestens drei weitere Filme machen könnte. Lesen war für mich immer, auch heute noch, Erholung, bei der ich so nebenbei vieles lernen kann. Und ich bekomme immer wieder Dinge bestätigt, die ich selbst schon erlebt und erfahren habe. Ich könnte mal, einfach und so für mich, eine Liste meiner gelesenen Bücher beginnen. So geht es mir durch den Kopf, in dem doch all die Bücher aufgehoben sind. K ARIN PACOZZI, 55, verkauft Surprise in Zug. Zurzeit liest sie ein Buch über Buddhismus, das sie schon lange interessiert hat. Die Bibel hat sie nur teilweise gelesen und religiös im institutionellen Sinn ist sie nicht. Aber sie findet: Letzten Endes geht es in vielen Büchern um den Kern des Daseins.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 520/22
INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: SCHWEIZERISCHE EIDGENOSSENSCHAFT (2017): KOSTENENTWICKLUNG IN DER SOZIALHILFE. BERICHT DES BUNDESRATES. BERN.
Die Sozialzahl
Keine Entwarnung Freude herrscht. Das Ende vieler pandemiebedingter Einschränkungen ist da. Die Wirtschaft entwickelt sich positiv. Die Arbeitslosenquote sinkt, die Zahl der Sozialhilfebeziehenden an vielen Orten ebenfalls. Darf man auch auf dem Arbeitsmarkt Entwarnung geben? Es war schon erstaunlich, wie rasch die Sozialpolitik auf die Corona-Krise reagierte. In kurzer Zeit kam es zu einem massiven Ausbau der Kurzarbeitsentschädigung. Es wurde sogar ein minimaler Betrag festgelegt, um einer Überlastung der Sozialhilfe entgegenzuwirken. Dazu kamen Massnahmen im Rahmen der Erwerbsersatzordnung, mit denen Selbständigerwerbenden unter die Arme gegriffen wurde. Trotzdem ist die soziale Lage in der Schweiz von einer beun ruhigenden Grundstimmung geprägt. Die Corona-Krise hat an verschiedenen Orten bedenkliche Lücken und Konstrukte aufgezeigt, die gefüllt und geändert werden müssen. Für SansPapiers fehlt eine minimale Existenzsicherung. Die Menschenschlangen vor den Abgabestellen für Nahrungsmittel bleiben in Erinnerung. Viele Armutsbetroffene mit Migrationshintergrund meiden die Sozialhilfe, um ihren Aufenthaltsstatus nicht zu gefährden. Die Zeichen mehren sich, dass sie sich stattdessen in gravierendem Ausmass verschuldet haben.
nicht ganz die Hälfte von ihnen 50 Jahre und älter. Oder anders formuliert: Mehr als ein Drittel aller über 50-jährigen Stellensuchenden ist inzwischen langzeitarbeitslos. Die Aussichten, dass diese Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zurückfinden, sind mehr als durchwachsen. Die Wirtschaft von heute ist nicht mehr die gleiche wie jene vor Corona. Die forcierte Digitalisierung hat ihre Spuren auch auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. Einmal mehr zeichnet sich ein «mismatching» zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage ab. Die Unternehmen suchen durchaus nach Arbeitskräften, finden diese aber kaum im Kreis der Langzeitarbeitslosen und schon gar nicht unter den Älteren. Zu sehr klaffen die Anforderungen, die mit neuen Arbeitsplätzen verbunden sind, und die Fähigkeiten und Erfahrungen, die ältere Langzeitarbeitslose mitbringen, auseinander. So droht die Zahl der Ausgesteuerten weiter zu steigen. Wenige werden dann Übergangsleistungen beziehen können. Manche werden den Weg in die Sozialhilfe finden. Doch den meisten wird nichts anderes übrigbleiben, als mit sehr viel weniger Geld über die Runden zu kommen. Sei dies, weil die Lebenspartnerin oder der Lebenspartner erwerbstätig ist, sei dies, weil man aus den obengenannten Gründen keine Sozialhilfe beziehen will.
Ein weiteres Indiz für die labile Situation ist die Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Zahl der Betroffenen hat sich im Vergleich zur Zeit vor Corona nahezu verdoppelt. Rund 30 000 Personen beziehen seit mehr als einem Jahr Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Waren 2019 nur 13 Prozent der Stellensuchenden langzeitarbeitslos, ist es heute knapp ein Viertel aller bei den RAVs gemeldeten Personen. Davon ist
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Langzeitarbeitslose, Stand jeweils Januar des angegebenen Jahres Anzahl Langzeitarbeitslose Anteil der über 50-Jährigen an allen Langzeitarbeitslosen
30 666 29 076 16 116
14 030
3739 (23,2%)
2876 (20,5%)
2019
2020
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8249 (26,9%) 2021
10 264 (35,3%) 2022
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Im Exil Flucht Bis zur Machtübernahme der Taliban hatten die beiden Künstler*innen Baqer Ahmadi und Shahida Shaygan Pläne für ihre Zukunft in Afghanistan. Dann mussten sie fliehen und leben jetzt in der Schweiz. TEXT MERET MICHEL
Ende Juli 2021 packten Baqer Ahmadi und Shahida Shaygan in Lahore, Pakistan, ihre Sachen, um nach Kabul zurückzukehren. Sie ahnten nichts von dem Sturm, der sich dort zusammenbraute. Ihr Semester an der Beaconhouse Universität, wo die beiden Freunde Kunst studierten, ging gerade zu Ende. Shaygan wollte über den Sommer ihre Familie besuchen, Ahmadi hatte sein Studium abgeschlossen und zog nach fünf Jahren in Pakistan zurück in seine Heimat. Seine Pläne für die kommenden Jahre: ein Atelier einrichten und jüngeren Künstler*innen die Videokunst beibringen, die
«Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Schwestern zurücklasse. SHAHIDA SHAYGAN
er während des Studiums entdeckt hatte. Doch dann überschlugen sich im Sommer in Afghanistan die Ereignisse – und Ahmadis und Shaygans Leben änderte sich für immer. Ein gutes halbes Jahr später sitzen die beiden Freunde um einen kleinen Kachelofen im hölzernen Anbau eines ehemaligen Bauernhauses am Rand von Zürich, wo sie für ein paar Monate ihr Atelier einrichten konnten. Ahmadi, gross gewachSurprise 520/22
FOTOS PASCAL MORA
sen, schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, hat seinen dicken, langen Mantel trotz der Wärme vom Ofen neben ihm nicht ausgezogen. Shaygan, eine zierliche Frau mit feinen Gesichtszügen, das mittellange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, stellt den Wasserkocher an und bereitet Tee zu. Sie erzählen von jenen Wochen im August, als die US-Truppen mit ihrem Abzug aus Afghanistan begannen und die Taliban binnen weniger Tage zahlreiche kleinere Provinzen eroberten. Zuerst Herat und Kandahar. Dann standen sie vor Kabul. Dass es so schnell gehen würde, ahnte kaum jemand. Auch Ahmadi und Shaygan nicht. «Jeder Tag, eigentlich jede Stunde hat sich die Situation verändert», sagt Ahmadi. «Viele dachten, die Hauptstadt würden die Taliban vielleicht in zwei Jahren erobern.» Dann, als Ahmadi gerade auf dem Weg zum Internet-Café war, um eine E-Mail zu verschicken, sah er sie: Bärtige Männer bei einem Panzer, der eigentlich der afghanischen Armee gehörte. Ahmadi und Shaygan, 27 und 25 Jahre alt, sind Teil einer Kunstszene in Afghanistan, die seit dem Sturz des Taliban-Regimes in den letzten zwanzig Jahren gewachsen ist. Ihre abrupte Flucht in die Schweiz steht stellvertretend für diese Kunstszene, die mit dem Einmarsch der Taliban in wenigen Wochen weitgehend verdrängt oder zerstört wurde. Die Taliban übermalten Strassenmalereien, schlossen Musikschulen, zwangen Radio und Fernsehstationen dazu, keine Musik mehr zu spielen. Manche Kunstschaffende zerstörten, aus Angst vor den Extremisten, ihre 9
Werke gleich selbst. Und Hunderte von ihnen verliessen Hals über Kopf das Land. Auch Ahmadi und Shaygan wussten, dass sie in Gefahr waren. Sie hatten nicht viel Zeit. Beide planten, mit ihren Familien nach Pakistan zu fliehen. Doch dann erhielten sie überraschend ein Visum für die Schweiz, weil sie mit der Schweizer Kuratorin Susann Wintsch an einer Ausstellung gearbeitet hatten. «Ich hatte nur eine Stunde Zeit, um mich fertig zu machen und mich von meiner Familie zu verabschieden», erzählt Ahmadi. Shaygan fühlte sich schrecklich: «Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Schwestern zurücklasse.» Die drei Tage, die sie vor dem Flughafen draussen in einer riesigen Menschenmenge warten mussten, bis sie endlich eingelassen wurden, gehörten zu den dramatischsten ihres Lebens. An der hinteren Wand im Atelier in Zürich hat Ahmadi eines seiner Gemälde aufgehängt: Die zwei Menschen darauf sind ganz in Schwarz gemalt. Seit dem Tod seines Vaters 2021 und den Erlebnissen im August arbeitet er kaum noch mit einer anderen Farbe. In einer Nische stehen einige wenige Bücher: Heidegger, Popper, die Bibel. In Kabul hatte er eine grosse Buchsammlung, sagt Ahmadi. Französische Literatur, aber auch Autoren wie Kafka seien eine Inspirationsquelle für seine Kunst. Vor seiner Abreise löste er sie auf, verschenkte, was er verschenken konnte. Den Rest verbrannte er. Kunst statt Schafe Beim Eingang liegen in Kisten verpackt Shaygans Puppen und Miniatur-Bilder. Einen Teil der Puppen hat sie noch in Kabul gemacht. Aus Abfall, den sie auf der Strasse fand, nähte sie Kleider, klebte Haare auf und formte Brillengestelle. Einige sind bei der Flucht kaputt gegangen – flicken aber will Shaygan sie nicht mehr. «Der Schaden ist jetzt ein Teil von ihnen», sagt sie. Ahmadi und Shaygan wurden Mitte der Neunzigerjahre geboren. Damals übernahmen die Taliban zum ersten Mal die Herrschaft über das Land und führten ein drakonisches islamistisches Regime ein: Mädchen durften nicht zur Schule gehen, Musik hören und Filme schauen war ver10
boten, Verstösse hatten brutale Strafen zur Folge. Fünf Jahre nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, marschierte die US-Armee in Afghanistan ein und stürzte das Taliban-Regime. Ahmadi lebte damals mit seiner Familie in der Provinz Ghazni, rund zwei Stunden von Kabul entfernt. Der Junge arbeitete als Schafhirte und war für die Herden der ganzen Nachbarschaft verantwortlich. Schon damals fing er an zu zeichnen: Er
«Ich hatte nur eine Stunde Zeit, um mich fertig zu machen und mich von meiner Familie zu verabschieden.» BAQER AHMADI
malte die Portraits von Imam Hussein und des Propheten Muhammad nach, die er im Islamunterricht sah. 2008 holte sein Bruder, der in Kabul studierte, ihn und seine Geschwister in die Hauptstadt. Shaygan stammt aus derselben Provinz, auch wenn sie und Ahmadi sich damals noch nicht kannten. Sie entdeckte schon als Kind ihre Leidenschaft für die Kunst. Sie war fasziniert von der islamischen Miniatur-Malerei, eine Technik, die vor allem während der Zeit des Mogulreichs im Mittleren Osten und Südasien verbreitet war. Später studierte sie Miniatur-Malerei am Turquoise-Mountain-Institut, welches vom Prinzen von Wales gegründet wurde und das traditionelle Kunsthandwerk in Afghanistan und anderen Ländern fördert. Shaygan sah die Gemälde von zwei bekannten – männlichen – Miniatur-Künstlern und dachte sich: Das kann ich besser. «Ich wollte ein Vorbild sein für andere Frauen», sagt sie. In ihrem Jahrgang war sie die einzige Frau. Am Institut lernten sie und Ahmadi sich kennen. Später empfahl er Shaygan Surprise 520/22
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Baqer Ahmadi legt seine Gemälde in seinem Atelier in Zürich aus.
für die Beaconhouse-Kunsthochschule in Pakistan, wo er bereits studierte. Inzwischen sind sie enge Freunde. In jenen Jahren, als Shaygan studierte, wuchs in Kabul wieder eine Kunstszene heran. Afghanische Künstler*innen, die zuvor im Ausland gelebt hatten, kehrten zurück. Zahlreiche internationale NGOs investierten Geld in Kunstprojekte; Botschaften und ausländische Institute öffneten ihre Türen für Ausstellungen. Das habe auch seine Schattenseiten gehabt, sagt Ahmadi. Denn nicht immer seien die Fördergelder bei jenen angekommen, die sie am meisten verdient hätten. Das Ergebnis war die Förderung von Kunstprojekten, die auf die Erwartungen der Geldgeber zugeschnitten waren – «Mainstream-Kunst», wie Ahmadi es nennt. Trotzdem beschreibt er jene Zeit als sehr lebendig. Für das Jahr 2014 kündigten die USA zum ersten Mal an, einen grossen Teil ihrer Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Die Folge davon war auch in der Kunstszene direkt zu spüren. In Kabul wurden Anschläge durch die Taliban häufiger, und Ausstellungen, Konzerte oder Theatervorstellungen waren besonders gefährdet. Im selben Jahr tötete ein Selbstmordattentäter mehrere Menschen bei einer Theatervorstellung an der Istiqlal-Schule, die auch ein französisches Kulturzentrum beherbergte. Die Taliban, die sich zum Anschlag be12
kannten, bezeichnete das Theaterstück als einen Angriff auf islamische Werte. Dabei thematisierte das Stück ausgerechnet die Gewalt von Selbstmordanschlägen. Als 2017 eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodierte und dutzende Menschen tötete, schlossen viele Botschaften und Institute ihre Türen. «Einmal wollte ich eine Ausstellung im Goethe-Ins titut machen», sagt Ahmadi. «Doch sie meinten, sie könnten mir einzig anbieten, die Bilder online zu zeigen.» Die volatile Sicherheitslage in Afghanistan ist auch prägend für das Schaffen afghanischer Künstler*innen. Es sei eine Eigenschaft von ihnen, sagt Ahmadi, dass sie alle möglichen Techniken beherrschten: zeichnen, schreiben, filmen. Denn wenn die Gefahrenlage das eine nicht mehr erlaube, fingen sie mit etwas anderem an, um sich auszudrücken. Zeit im Ausland Für Shaygan war es nicht nur die allgemeine Sicherheitslage, die eine Herausforderung darstellte. «Auf dem Weg an die Universität wurde ich einmal angegriffen», sagt sie. In jener Gegend lebten sehr konservative Menschen – denen offenbar nicht gefiel, dass Shaygan als Frau allein unterwegs war. Von da an bat sie eine befreundete Frau, sie zu begleiten. Eine weitere Schwierigkeit war, dass sie das Studium Surprise 520/22
lange vor ihrem Vater geheim halten musste. «Als er davon erfuhr, sprach er eine ganze Weile nicht mit mir», sagt Shaygan. Er wollte zwar, dass seine Tochter zum Beispiel Ärztin würde – aber sicher keine Künstlerin. Erst als sie anfing, ihre Bilder zu verkaufen, und er sah, dass sie finanziell unabhängig wurde, billigte er ihren Weg. 2016 zog Ahmadi an die Beaconhouse nach Lahore in Pakistan, ein Jahr später folgte ihm Shaygan nach. Dank der sehr viel stabileren politischen Lage dort konnte sich in verschiedenen Städten in den letzten Jahren eine grössere, internationale Kunstszene etablieren. Das Studium im Ausland war prägend für die beiden wie auch für die ganze afghanische Kunstszene. In jenen Jahren, erzählt Ahmadi, hätten die ersten afghanischen Studierenden ihr Kunststudium im Ausland abgeschlossen und seien mit neuen Ideen in ihre Heimat zurückgekehrt. So sei zum ersten Mal seit Langem eine alternative Kunstszene entstanden, sagt Ahmadi. Etwas Ureigenes schaffen «Viele imitieren einfach westliche Kunst», sagt Ahmadi. «Aber ich und eine Gruppe weiterer Künstler*innen wollten weg von diesem Kopieren. Meine Arbeit sollte ein Original sein, keine Kopie.» Dieser «Kampf», wie er es nennt, gegen jene, die einfach Kunst kopierten, habe ihn über Jahre sehr beschäftigt. Erst in jüngster Zeit ist er zur Erkenntnis gelangt, dass er sich nicht durch die Abgrenzung dagegen definieren will: «Es geht nicht darum, afghanische Kunst zu machen, sondern nur um Kunst an sich.» Auch Shaygan ging ihren eigenen Weg. Das Turquoise-Institut war darauf spezia lisiert, traditionelles Kunsthandwerk zu lehren – Kalligraphie, Keramik oder eben Miniatur-Malerei. Und Shaygan arbeitet zwar noch heute mit den dort erlernten Techniken, sie hat aber ihren ganz eigenen Stil entwickelt. Auf einem der Tische im Zürcher Atelier breitet sie gerahmte Bilder aus, kaum grös ser als Postkarten: Auf einem ist ein Aschenbecher von oben gemalt, kreisrund, Surprise 520/22
die Stummel darin sind beinahe symmetrisch angeordnet, ein anderes zeigt einen weissen Kreis mit einer halben Cherrytomate drin. Seit einem halben Jahr sind die beiden nun in der Schweiz. Sie haben sich eingerichtet in ihrem Atelier und bereiten sich auf eine grössere Ausstellung in Thun vor. Dazwischen sind sie auf Wohnungssuche, haben angefangen, Deutsch zu lernen, und machen derzeit ein Schnuppersemester an der Zürcher Hochschule für Künste. «Es ist
ermüdend», sagt Ahmadi. «Ich habe mein Atelier und eine Büchersammlung in Kabul verloren. Jetzt versuche ich, das hier wieder aufzubauen.» Bisher ist nicht klar, wie viel Kunst die Taliban tolerieren werden. Es gab noch keine offiziellen Erlasse, die die Kunstfreiheit einschränkten. Doch das Übermalen von Strassengemälden spricht eine deutliche Sprache. Und viele Künstler*innen misstrauen den neuen Herrschern und ihren Beteuerungen, dieses Mal offener zu regieren als noch in den Neunzigerjahren. Trotzdem ist Ahmadi zuversichtlich. Auch jetzt, nach der Machtübernahme der Taliban, hätten jene, die in Kabul geblieben sind, nicht aufgehört. «Ich bin mit vielen in Kontakt und weiss, dass sie weitermachen. Irgendwann werden sie ihre Kunst wieder zeigen können.»
Shahida Shaygans beschädigte Puppen, deren Kleider sie selbst näht.
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Unschuldig hinter Gittern Strafjustiz Ein Mann landet im Gefängnis, ohne zu wissen, warum. Nur mit Mühe
und Glück gerät er an eine Anwältin, die ihn herausholt. Es ist kein Einzelfall. TEXT ANINA RITSCHER
ILLUSTRATION LEILA MERKOFER
Am 9. Februar 2021 um ein Uhr nachts betritt Bukurosh Snalla Zelle Nr. 1 im Gefängnis Bässlergut in Basel. Warum er hier ist, weiss er nicht. Niemand hat es ihm erklärt. Vor wenigen Stunden noch sass er im Auto, auf dem Weg zu einem Treffen mit Verwandten. Dann plötzlich: falsch abgebogen, Grenzwache, Befragung, Inhaftierung. Snalla hatte keine Anklage gesehen, stand vor keinem Gericht, konnte mit keiner Anwältin sprechen. Alles, was er erfuhr: Seine Verurteilung sei rechtskräftig. Nun sitzt er fest. Insgesamt wird er 84 Tage im Gefängnis verbringen. Snallas Geschichte ist geprägt von unglücklichen Zufällen und besonders hartem Behördenvorgehen. Am Ende bestätigt ein Gericht: Snalla ist unschuldig. Dies ist kein Einzelfall. Snallas Geschichte offenbart ein überlastetes Strafsystem, das insbesondere Menschen ohne Schweizer Pass und ohne Wohnsitz in der Schweiz benachteiligt. Drei Jahre vor seiner Inhaftierung, am 12. Mai 2018, sitzt Snalla in einem Fernreisebus. Er ist auf dem Weg von Hamburg nach Lyon. Snalla ist gelernter Maurer und Mitte zwanzig. Zehn Jahre zuvor verliess er sein Geburtsland Albanien und liess sich in Italien nieder. Nach ein paar Monaten auf Jobsuche in Deutschland möchte er dorthin zurück. Beim Auskundschaften der Reiseroute hat er ein Problem: Seitdem Snalla in der Schweiz mit dem Gesetz in Konflikt kam, darf er das Land nicht mehr betreten. Damals wurde er wegen Verstosses gegen das Ausländergesetz und eines Drogendelikts verurteilt und des Landes verwiesen – so will es Artikel 66a des Strafgesetzbuches, der nach Annahme der «Ausschaffungsinitiative» von 2008 geschaffen wurde. Deswegen plant er an diesem Tag einen Umweg: In Frankfurt steigt Snalla auf den Bus Richtung Lyon um, von dort will er weiter nach Italien und denkt, die Schweiz so zu umfahren. Doch es kommt anders. Kurz nach 13 Uhr hält der Bus am Grenzübergang Weil am Rhein bei Basel an. Schweizer Grenzwächter*innen betreten das Fahrzeug, nehmen die Ausweise der Reisenden mit ins Büro, tippen ihre Namen in ein Fahndungssystem. Auf dem Bildschirm leuchtet ein Treffer auf: Snalla – Landesverweis. Snalla versucht den Irrtum aufzuklären. Die Ticketverkäuferin habe ihm versichert, die Route führe nicht durch die Schweiz. Doch Snalla spricht nur italienisch und albanisch – die Grenzbeamt*innen verstehen ihn nicht. Sie sagen ihm: Wir machen nur unseren Job. Freundlich seien sie gewesen, erinnert sich Snalla. Sie verweigern ihm die Einreise. Snalla verlässt die Schweiz an diesem Tag zu Fuss. So erzählt er es heute und so ist es den AkSurprise 520/22
ten zu entnehmen. Noch am selben Tag verfassen die Grenzbeamt*innen eine Anzeige und senden diese an die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt: «Missachtung Landesverweis». Die Maschinerie der Justiz kommt nun in Gang. Am 29. Oktober 2018, gut fünf Monate später, schreibt ein Staatsanwalt in Basel einen Brief: «Die beschuldigte Person wird wie folgt bestraft: Freiheitsstrafe von 120 Tagen.» Einen Tag später wird der Brief der Post übergeben. Die Staatsanwaltschaften in der Schweiz sind überlastet. Ein ordentliches Verfahren kostet Zeit und Geld: Es müssen Beschuldigte und Zeug*innen befragt, Beweise gesammelt und ein Gerichtsverfahren vorbereitet werden. Daher setzt die Schweiz auf das Verfahren per Strafbefehl. Hier ermitteln die Staatsanwält*innen nur oberflächlich und urteilen allein. Kein*e Richter*in ist am schriftlichen Urteil beteiligt. Beschuldigte werden nur in einigen Fällen befragt, bevor sie verurteilt werden. Der Aufwand einer Verhandlung wird auf einen einzigen eingeschriebenen Brief verkürzt. Das ist ein Massengeschäft: 92 Prozent aller Verfahren in der Schweiz werden auf diese Weise abgewickelt. Allein im Kanton Basel-Stadt waren das im Jahr 2020 über 18 000 Strafbefehle. Meistens geht es um kleine Delikte, etwa Verkehrsbussen. Bis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ist es den Staatsanwaltschaften erlaubt, so vorzugehen. Wenig Zeit Strafbefehle werden von Kritiker*innen aus der Forschung und der juristischen Praxis oft als «Testballone» bezeichnet. Staatsanwält*innen würden sie leichtfertig verschicken, ohne sich vertieft mit den Fällen zu befassen. Genauer schauten sie diese erst an, wenn es eine Einsprache gebe. Für die Einsprache haben Beschuldigte aber nur zehn Tage Zeit. Das kann problematisch sein: Wer einen Strafbefehl beispielsweise sprachlich nicht versteht, kann womöglich nicht so schnell reagieren. Und wer keine Hilfe von Jurist*innen hat, weiss nicht unbedingt, wie dabei vorzugehen ist. In einigen Fällen haben Beschuldigte gar nicht die Chance einer Einsprache, weil der Brief mit dem Strafbefehl sie nie erreicht. Genau das geschah Snalla. Der Brief der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt flattert in einen Briefkasten in Italien. Ein Onkel des Beschuldigten, bei dem er früher mal gewohnt hat, nimmt ihn entgegen, gibt Snalla aber nicht Bescheid. Die beiden haben keinen Kontakt mehr. Die Frist für die Einsprache verstreicht, Jahre bevor der Adressat selbst überhaupt erfährt, dass er verurteilt wurde. Nach Ansicht der 15
Staatsanwaltschaft greift nun die sogenannte Zustellfiktion: Obwohl nicht sicher ist, dass der Beschuldigte den Strafbefehl erhalten hat, wird er für rechtskräftig erklärt. Drei Jahre später, am Tag seiner Festnahme im Februar 2021, sitzt Snalla mit Verwandten in einem Opel Corsa und rauscht über die französische Autobahn. Auf dem Weg in eine Stadt in Grenznähe zur Schweiz folgen sie dem Navigationsgerät. Plötzlich taucht vor dem Wagen der Grenzübergang zur Schweiz auf. Snalla will, genau wie vor drei Jahren, nicht in die Schweiz einreisen. Hundert Meter vor dem Zollhaus hält er auf dem Pannenstreifen an. Snalla steigt aus, winkt einen Zollbeamten zu sich, erklärt seine Situation: Er dürfe die Schweiz nicht betreten, könne nun aber auf der Autobahn nicht mehr vor der Grenze wenden. Er wolle bei der nächstmöglichen Gelegenheit umdrehen und zurück nach Frankreich. Ob der Beamte ihm den Weg zeigen könne. Der Beamte nimmt Snalla ersteinmal mit zur Befragung, durchforstet abermals die Fahndungssysteme. Treffer: Gegen Snalla liegt ein rechtskräftiges Urteil vor. 120 Tage Freiheitsentzug, verhängt per Strafbefehl. Es handelt sich dabei um das schriftliche Urteil, das die Staatsanwaltschaft 2018 nach Snallas Reise im Fernbus nach Italien schickte, das dort niemals in Snallas Hände gelangte und in der Zwischenzeit «vollziehbar» wurde. Snalla wird noch auf französischem Boden verhaftet und nach Basel ins Gefängnis Bässlergut gebracht. Die Verfügung, die ihm ausgehändigt wird, versteht er nicht. Kein Wort ist übersetzt, auch nicht die Rechtsmittelbelehrung. Dort steht: «Der Rekurs ist innert 10 Tagen nach Zustellung anzumelden.» Wäre Snalla Schweizer Bürger, würden die Behörden die Vollstreckung des Urteils höchstwahrscheinlich aufschieben und abwarten, ob er Beschwerde dagegen eingelegt. Er hätte dann Zeit, sich Unterstützung zu holen. In seinem Fall gehen sie aber von «Fluchtgefahr» aus und setzen ihn umgehend ins Gefängnis.
Die ersten fünfzehn Tage muss Snalla wegen der Pandemie in Einzelhaft verbringen. «Ich habe nichts gegessen, nur Wasser und Tee getrunken», erinnert er sich. «Ich wusste überhaupt nicht, warum ich da war. Meine einzige Erklärung war: Das muss ein Fehler sein.» Von den Mitarbeitenden im Gefängnis erfährt er nichts. Sie sagen nur: Das Urteil stehe fest, ein*e Anwält*in könne jetzt nicht mehr helfen. Wer in der Schweiz wegen einer Straftat verfolgt oder beschuldigt ist, kann sich kostenlos rechtlich beraten lassen und hat Anspruch auf rechtlichen Beistand. Menschen, die sich bereits im Strafvollzug befinden, steht dies nicht mehr zu. Seit Jahren kritisieren Menschenrechtsorganisationen wie Humanrights.ch diesen Umstand. In Gefängnissen gibt es keine Rechtsberatung, nicht einmal eine Liste mit den Telefonnummern von Anwält*innen. Ab dem Moment, in dem Snalla in Zelle eins im Bässlergut gesetzt wird, ist juristische Beratung für ihn beinahe unerreichbar. Viele Briefe Formell hat Snalla ab dem Zeitpunkt seiner Verhaftung zehn Tage Zeit, Beschwerde einzulegen. Gemeinsam mit einem Mitgefangenen verfasst er einen Brief. In sorgfältiger Handschrift schreibt dieser auf einen Notizblock: «Ich bitte Sie um Aufklärung (wenn möglich auf Italienisch) und eine Rückmeldung.» Er versichert, eine noch hängige Busse zu bezahlen, in der Hoffnung, so eher freizukommen. Der Brief landet auf dem Schreibtisch einer Mitarbeiterin des Amts für Justizvollzug Basel-Stadt. Hätte sie erkannt, dass Snalla gar nicht weiss, warum er im Gefängnis sitzt, hätte sie die Angelegenheit von Amtes wegen prüfen und einschreiten können. Sie hätte auch die Möglichkeit gehabt, das Schreiben als Einsprache an die Staatsanwaltschaft oder als Beschwerde an das Appella-
«Die Strafjustiz geht gegen wenig Privilegierte härter vor»
lich angelegt: Die Strafprozessordnung erlaubt es, Verfahren per Strafbefehl abzuwickeln, und lässt zu, dass diese nicht persönlich übergeben werden. Die Gesetze müssten sich ändern, damit so etwas gar nicht vorkommen kann.
Es sind nicht alle Menschen vor dem Gesetz gleich, sagt Rechtsanwalt Stephan Bernard.
Werden gewisse Menschen im Schweizer Strafrecht benachteiligt? Ja, besonders Migrant*innen, vor allem diejenigen mit wenig Geld. Sie können beispielsweise wegen Sozialhilfebetrugs des Landes verwiesen werden. Für Menschen, die kein Deutsch sprechen, ist es zudem schwer, dem Verfahren zu folgen. Und Menschen ohne Schweizer Pass droht schneller die Untersuchungshaft, weil die Behörden oft von Fluchtgefahr ausgehen.
INTERVIEW ANINA RITSCHER
Stephan Bernard, ein Mann wird per Strafbefehl zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Obwohl er diesen nie gesehen hat, wird er verhaftet. Ist das in der Schweiz die Regel? Stephan Bernard: Die Regel ist es nicht, aber auch kein Einzelfall. Wir haben keine statistischen Daten dazu, wie oft so etwas vorkommt. Aber der Rahmen dafür ist recht16
Wie sieht es bei Schweizer Bürger*innen aus? Insgesamt haben es Menschen mit wenig Geld, aber auch solche mit niedrigem Bil-
dungsstand im Strafrechtsbereich schwerer. Nehmen wir das abgekürzte Verfahren: Hier kommt es sehr darauf an, ob ein*e Angeklagte*r genug Geld hat, um Geschädigte zufriedenzustellen. Aus statistischen Erhebungen wissen wir zudem, dass Menschen mit niedrigem Bildungsgrad eher keine Anwält*innen kontaktieren. Gibt es weitere Neuerungen? Daneben gibt es die Tendenz, dass die forensische Psychiatrie eine immer stärkere Einwirkung auf das Strafverfahren hat. Zum Beispiel, weil gestützt auf psychiatrische Gutachten immer mehr Massnahmen, wie etwa Therapie, angeordnet werden. Oder auch bei der Verwahrung: Hier wird das reaktive Strafrecht präventiv umgedeutet, indem eine Prognose über die Gefährlichkeit eines Täters gestellt wird. Menschen mit sogenanntem sozialem und kulturellem Kapital haben es leichter, ein psychiatrisches Gutachten zu verhindern – Surprise 520/22
«Ich wusste überhaupt nicht, warum ich da war. Meine einzige Erklärung war: Das muss ein Fehler sein.» BUKUROSH SNALL A
tionsgericht weiterzuleiten. Doch die Beamtin sieht in diesem in gebrochenem Deutsch formulierten Text keinen Hilferuf und kommt auch der Bitte nach einer Übersetzung nicht nach. Zudem ist die Frist bereits abgelaufen. Auf Deutsch antwortet sie lediglich: Eine Geldüberweisung kann die Strafe nicht tilgen. Snalla startet drei Wochen später einen zweiten Versuch. Ein Bekannter seiner Familie, der juristische Kenntnisse hat, verfasst ein französisches Beschwerdeschreiben, indem er erneut darum bittet, ihn aus der Gefangenschaft zu entlassen. «Insgesamt schrieb ich vier oder fünf Briefe», sagt er. Ein Mitgefangener gibt Snalla schliesslich die Telefonnummer von Angela Agostino-Passerini. Als die Anwältin Snalla im Gefängnis besucht, sieht der zum ersten Mal den Strafbefehl, den die Staatsanwaltschaft drei Jahre zuvor im Oktober 2018 verfasst hat. Zu diesem Zeitpunkt sitzt Snalla bereits seit 74 Tagen im Gefängnis. Es ist Agostino-Passerinis dritter Fall innerhalb weniger Monate, bei dem eine Person inhaftiert wurde, ohne den Strafbefehl je gesehen zu haben. Die Juristin beantragt beim Verwaltungsgericht umgehend Snallas Entlassung aus dem Gefängnis. Ihre
Hat sich in diesem Bereich etwas getan in letzter Zeit? Ja, in den letzten Jahrzehnten gab es zwei wichtige Schritte, die die Ungerechtigkeit noch verstärkt haben: das 2007 eingeführte Massnahmenrecht, welches zeitlich nicht limitierte therapeutische Zwangsmassnahmen erlaubte; und die Einführung der Strafprozessordnung von 2011, die das Strafbefehlsverfahren ausbaute und das abgekürzte Verfahren einführte. Was müsste geändert werden, um das Verfahren gerechter zu gestalten? Es sollten nur Geldstrafen bis maximal 90 Tagessätze per Strafbefehl verhängt werden können, aber keine Freiheitsstrafen. Das abgekürzte Verfahren, bei dem gestänSurprise 520/22
dige Angeklagte sich mit der Staatsanwaltschaft auf ein Strafmass einigen, sollte abgeschafft werden. Diese Deals schaffen weitere Ungerechtigkeiten: Es kommen diejenigen gut weg, welche die nötigen sozialen und ökonomischen Ressourcen haben. Ausserdem sollten gerichtlich angeordnete therapeutische Massnahmen die Dauer der jeweils angemessenen Strafe nicht überschreiten, was momentan oft geschieht. Derzeit ist die Strafprozessordnung in der Revision – wird sich da noch etwas tun? Nein, es geht jetzt in den Verhandlungen nur noch um Details. Die wichtigen Entscheidungen sind bereits gefällt, es wird sich nichts ändern. Politisch ist es einfach, schärfere Strafen zu fordern. Schwieriger ist es, ordentliche und sorgfältige Verfahren zu ermöglichen und die Gerichte besser auszurüsten. Denn das ist teuer, und dafür will in der Politik niemand verant-
wortlich sein. Grundrechte im Strafrecht schreibt sich keine Partei auf die Fahne, weil man damit keine Stimmen bekommt. Und im Parlament hat es auch auf der linken Seite kaum noch praktizierende Anwält*innen, die über die Realität im juristischen Alltag Bescheid wissen.
FOTO: ZVG
und wenn es angeordnet wird, sich gut zu verkaufen. Insgesamt lässt sich sagen: Die Strafjustiz geht gegen wenig Privilegierte weit härter vor.
Begründung: Snalla habe die Rechtsbelehrung in deutscher Sprache nicht verstanden und daher nicht innerhalb der Frist Rekurs gegen die Inhaftierung einlegen können. Der Antrag wird abgewiesen, Snalla bleibt im Gefängnis. Das Verwaltungsgericht führt in seiner Begründung aus: «Wenn der Rekurrent geltend macht, den angefochtenen Entscheid nicht verstanden zu haben, so kann ihm dies nicht helfen.» Diesen Entscheid zieht Agostino-Passerini weiter ans Bundesgericht, wo bis heute ein Verfahren hängig ist. «Ich bin überzeugt, dass dieses Urteil Menschenrecht verletzt», sagt sie. Später erfährt die Anwältin via Jurist*innen von ähnlichen Geschichten in Bern und Lausanne. «Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer derer, die zu Unrecht per Strafbefehl verurteilt werden und im Gefängnis sitzen, hoch ist.» Agostino erhebt bei der Staatsanwaltschaft auch Einsprache gegen das Urteil im Strafbefehl. Sie ist überzeugt: Snalla ist unschuldig. Er wollte die Schweiz damals im Februar 2018 gar nicht betreten, hat sogar alles dafür getan, seinen Landesverweis zu respektieren. Diese Einsprache kommt durch: Die Staatsanwaltschaft entlässt ihn im Mai 2021 auf der Stelle – wenige Tage bevor er sowieso auf Bewährung entlassen worden wäre. Vor dem Strafgericht kommt es nun doch noch zu einer Einspracheverhandlung. Snalla ist längst zurück in Italien, er nimmt per Videoübertragung teil. Das Strafgericht urteilt: Snalla ist unschuldig. Ihm wird eine Genugtuung in Höhe von 21 000 Franken für den unrechtmässigen Gefängnisaufenthalt zugesprochen und er wird von allen Anklagen freigesprochen. Die Zeit im Gefängnis belastet Snalla bis heute. Im Videocall – inzwischen ist seit seiner Verhaftung ein Jahr vergangen – sitzt er in einer Wohnung in Italien, an der Decke im Hintergrund dreht ein Ventilator. Er sagt: «Die Erfahrung, eingesperrt zu sein, ohne zu wissen warum, gehört zu den dunkelsten Episoden in meinem Leben.»
Stephan Bernard, 46, ist Rechtsanwalt und Mediator in Zürich. Er hat sich auf die Bereiche Strafrecht, Familienrecht und Arbeitsrecht spezialisiert und zahlreiche Texte über Ungleichbehandlung in der Strafjustiz veröffentlicht.
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1 Negussie, 34, Langstreckenläufer aus Äthiopien: «Sobald ich Aufenthaltspapiere habe, kann ich mich wieder auf den Sport konzentrieren.» 2 Antonella, 63, Sexarbeiterin aus Chile: «Natürlich ist da die Angst, kontrolliert zu werden, sie begleitet mich täglich.» 3 Ariana, 33, aus dem Kosovo setzt sich für die Rechte von Sans-Papiers ein: «Irgendwann kam der Punkt, an dem mir alles besser erschien als das Leben als obdachlose, schutzlose Frau.» FOTOS: URSULA MARKUS
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Leben im Verborgenen Sans-Papiers 100 000 Menschen leben und arbeiten
in der Schweiz ohne Aufenthaltsbewilligung. Das Buch «Die Unsichtbaren» gibt einen Einblick. TEXT KLAUS PETRUS
«Die Angst, entdeckt zu werden, ist mein ständiger Begleiter.» Das war einer der ersten Sätze, die Sanella D.* zu mir sagte, als ich sie vor einigen Jahren traf, um mit ihr über ihr Leben als Sans-Papiers in der Schweiz zu reden – als Bosnierin, die schon über zehn Jahre hier lebt, eine Familie hat und ihrer Arbeit nachgeht, jedoch keine Aufenthaltsbewilligung besitzt. Ich kann mich gut erinnern, wie sie mir erzählte, dass sie einmal vergass, ein Trambillet zu lösen. Kaum eingestiegen, hatte sie es bemerkt. «Die kurze Fahrt bis zur nächsten Station war die Hölle. Als ich ausstieg, war ich schweissnass.» Diese Angst ist auch der Grund, warum Sanella D. um keinen Preis auffallen will. «Ich kleide mich immer korrekt, bin nie laut, stehe nicht in Parks heSurprise 520/22
rum und meide Orte, wo sich andere Ausländer*innen aufhalten. Ich bin angepasster als jede Schweizerin», scherzte Sanella damals. Und fügte nach einer Pause trocken an: «Einfach nur unsichtbar.» Rund 100 000 Sans-Papiers soll es in der Schweiz geben, so genau weiss das niemand, müssen diese Menschen sich doch, notgedrungen, verdeckt halten. Die meisten leben hier, weil sie Arbeit brauchen. Die Frauen sind mehrheitlich in Privathaushalten tätig, viele kommen, wie Sanella, aus Osteuropa oder aus Lateinamerika. Allzu viel aber ist über die Sans-Papiers nicht bekannt. Nun aber gibt es ein Buch über die «Unsichtbaren», das erste dieser Art in der Schweiz. Tanja Polli, eine Journalistin, und Ursula Markus, eine Fotogra19
fin, haben zwanzig Sans-Papiers porträtiert, sie haben lange Gespräche geführt, haben einige von ihnen bei sich zuhause getroffen, andere auf einem Spaziergang oder in der Kirche: Fany etwa, eine 63-jährige Nanny und Opfer häuslicher Gewalt, die von ihrem Mann während drei Monaten in der Wohnung eingesperrt wurde; Antonella, 63, Mutter von fünf Kindern, die sich in Zürich prostituiert; Negussie, 34, ein eritreeischer Marathonläufer, der sich seit zehn Jahren in der Schweiz aufhält; oder William, 53, ursprünglich aus Brasilien, ein Handwerker, der zusammen mit seiner Freundin in Genf lebt, in einem Studio mit 25 m2 für 1750 Franken Miete im Monat. Differenziertes Bild Die Geschichten, die Polli und Markus in ihrem Buch versammeln, sind vielfältig – und berührend. Viele handeln von einem Leben, das mit Arbeit ausgefüllt ist, das mit Entbehrungen einhergeht, mit Existenz ängsten und Hoffnungen, die immer wieder zu schwinden drohen. Es sind dies Erzählstoffe, die oft genug ins Dramatische abgleiten oder Gefahr laufen, überhöht zu werden: Einzelne Menschen werden auf ihr Leid reduziert und zu tragischen Stellvertreter*innen einer ganzen Gruppe stilisiert, die angeblich alle dasselbe Schicksal teilen. Nichts davon findet sich im Buch «Die Unsichtbaren». Polli lässt in den Texten die Menschen selbst reden, sie ist «bloss» die Protokollantin der Gespräche, und das tut sie in einer gleichermassen nüchternen wie authentischen Sprache. Auch Markus beschränkt sich in ihren Schwarzweiss-Bildern aufs Wesentliche, sie sucht weder die Dramatik noch stülpt sie den Szenen und Porträts von aussen eine Ästhetik über. Dazu kommen in Form von Interviews Meinungen und Einschätzungen von Menschen, die sich für Sans-Papiers einsetzen, die auf Beratungsstellen arbeiten, sich aktivistisch betätigen und auf politischer Ebene etwas zu bewegen versuchen: das Spektrum der Themen reicht von grundsätzlichen Überlegungen zum Bleiberecht bis hin zu spezifischen Diskussionen über die Voraussetzungen für Härtefallgesuche. So entsteht ein differenziertes Bild von Menschen, die immerhin 1.2 Prozent der Schweizer Bevölkerung ausmachen und die mitten unter uns sind, obschon fast niemand sie bewusst sieht. Das Buch von Polli und Markus macht sie, daran besteht kein Zweifel, zumindest sichtbarer. 20
Buch zu gewinnen Gewinnen Sie mit etwas Glück eines von 3 Exemplaren des Buches «Die Unsicht baren – Sans-Papiers in der Schweiz». Senden Sie uns eine E-Mail oder Postkarte mit dem Betreff «Die Unsichtbaren» und Ihrer Postadresse an info@surprise.ngo bzw. Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Einsendeschluss ist der 25. März 2022. Viel Glück! Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Ihre Adressdaten werden nicht an Dritte weitergegeben und ausschliesslich von Surprise für Marketingzwecke verwendet.
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«Wir wissen zu wenig über sie» Vorurteile und Unwissenheit verhindern, dass man sich auf politischer Ebene für Sans-Papiers einsetzt, sagt Tanja Polli, Autorin von «Die Unsichtbaren». INTERVIEW KLAUS PETRUS
Tanja Polli, wie haben Sie von den Sans-Papiers erfahren? Das war zu Beginn der Corona-Pandemie, als in Städten wie Zürich Leute auf der Strasse für einen Sack Reis anstehen mussten. Die Fotografin Ursula Markus, mit der ich oft zusammenarbeite, und ich wollten wissen, was für Menschen das sind. Da hat sich herausgestellt, es waren viele Sans-Papiers darunter. So sind erste Kontakte entstanden. Hatten diese Leute überhaupt ein Interesse, mit Journalistinnen zu reden? Es war nicht bei allen vorhanden, aber doch bei den meisten: das Bedürfnis, über ihr Leben zu erzählen, über ihre Ängste, die sie nach zehn oder mehr Jahren, in denen sie in der Schweiz leben, immer noch haben. Viele von ihnen arbeiten unter prekären Bedingungen, sie müssen immerzu fürchten, entdeckt und ausgeschafft zu werden. Umso wichtiger war es, Vertrauen aufzubauen. So ergab sich eine Art Zusammenarbeit, wir haben viele Gespräche geführt, sind die Texte mit ihnen durchgegangen, haben gemeinsam die Bilder ausgewählt. Man geht davon aus, dass 100 000 Sans-Papiers in der Schweiz leben, vermutlich sind es mehr. Trotzdem kommen sie politisch kaum vor. Wieso? Ich denke, wir wissen einfach zu wenig über die Situation dieser Leute, das zeigen die Vorurteile, die nach wie vor verbreitet sind: Sans-Papiers hätten es auf unsere Sozialwerke abgesehen, heisst es etwa. Dabei können sie, schon aufgrund ihrer Situation, gar keine Sozialhilfe beziehen. Die Arbeit, die sie leisten, ist für die Schweiz systemrelevant. Das ist kaum jemandem bewusst. Die allermeisten Sans-Papiers haben sehr harte Jobs, die sie für wenig Geld machen müssen. Unwissen gibt es auch unter Politiker*innen, und ich kann mir vorstellen, dass dies mit ein Grund ist, wieso auf dieser Ebene zu wenig passiert. Dabei geht es auch anders.
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FOTO: ZVG
1 Fany, 63, Reinigungsfachfrau und Nanny aus Peru: «Ich wollte auswandern, weg von meinem gewalttätigen Mann und so viel Geld verdienen, dass meine Kinder studieren konnten. Die Ankunft im vermeintlich gelobten Land, der Schweiz, war enttäuschend.» 2 Antonella mit ihren Freundinnen. Sie habe oft Besuch, gerade während der Corona-Pandemie sei das für sie sehr wichtig gewesen.
Woran denken Sie? An das Genfer Projekt «Opération Papyrus» zum Beispiel. Es wurde 2017 mit dem Ziel initiiert, den Aufenthaltsstatus von Sans-Papiers zu legalisieren, die lückenlos über zehn Jahre in Genf gelebt und gearbeitet haben; für Familien mit schulpflichtigen Kindern waren es fünf Jahre. Bis Ende 2018 – so lange dauerte das Projekt — erhielten 2900 Menschen eine Aufenthaltsbewilligung B. Der Kanton Genf zog eine durchweg positive Bilanz und sah in diesem Ansatz unter anderem ein wirksames Mittel gegen Schwarzarbeit. Trotzdem war ein ähnlicher Vorstoss im Kanton Zürich chancenlos; das Problem sei dort zu marginal, hiess es. Dabei leben im Grossraum Zürich mehr Sans-Papiers als im Kanton Genf.
Tanja Polli, 53, lebt und arbeitet als freie Journalistin sowie Kultur- und Reiseveranstalterin in Winterthur. Sie ist Autorin u.a. von «Die Rebellin» (2016) und «Ein Leben für die Kinder Tibets» (2019).
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«Jede Entscheidung hat Konsequenzen» Literatur In ihrem neuen Roman «Mehr als ein Leben» spürt Milena Moser der Frage nach,
wie das Leben verlaufen wäre, wenn man andere Entscheidungen getroffen hätte.
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Milena Moser, in «Mehr als ein Leben» muss sich die zehnjährige Helen entscheiden, ob sie bei ihrer alkoholkranken Mutter oder bei ihrem Vater leben möchte, der sich lieber wechselnden Freundinnen widmet als seiner Tochter. Je nachdem, wie sie sich entscheidet, verläuft ihr Leben anders: Entweder als angepasste Elaine oder als unabhängige Luna. Handelt dieses Buch unter der Oberfläche davon, wie sehr unser Leben von nahestehenden Menschen geprägt wird? Ja, es geht nur vordergründig um das Leben der Hauptfigur Helen. Auf einer tieferen Ebene handelt die Geschichte von Wechselwirkungen. Davon, wie durch Helens Entscheidungen auch das Leben ihrer Mitmenschen einen anderen Lauf nimmt. Jeder Mensch ist Teil eines Netzwerkes, gewollt oder ungewollt. Unsere Entscheidungen beeinflussen auch das eigene Umfeld. So geht es zum Beispiel den Menschen rund um Elaine schlechter, weil ihr Lebensweg von Pflicht- und Schuldgefühlen geprägt ist. Luna hingegen achtet auf ihre Bedürfnisse, hört in sich hinein und ist dadurch besser in der Lage, anderen Menschen ungetrübte Zuneigung zu schenken. Das wird deutlich, als sie als 17-Jährige Mitte der 1980er-Jahre auf einer Aidsstation in San Francisco aushilft.
Die Parallelen eröffnen die Möglichkeit, darüber nachzudenken, welche Dinge im Leben man tatsächlich selber in der Hand hat und welche vielleicht Schicksal sind. Manches ist fest in uns angelegt, Konstellationen, in die wir hineingeboren werden, oder Prägungen, die zu Teilen unseres Wesens werden. Helen ist bisexuell. Als Luna kann sie ihre Sexualität in einem liberalen Umfeld ausleben, inklusive Lust und Frust. Als Elaine hingegen, die wieder zurück in die Schweiz geht, wird dieses Bedürfnis zu einem Problem.
Eine Erfahrung, die ihr dabei hilft, innerlich zu reifen. Ja, in der Klinik trifft Luna auf Todgeweihte, die nur wenig älter sind als sie und die keine Möglichkeit mehr haben, sich noch einmal neu zu erfinden. So lernt Luna, dass Tod und Verlust zum Leben gehören. In der Folge setzt sie ihre Prioritäten neu. Die Pflege der Kranken wird zu ihrem Lebensinhalt, der sie erfüllt. Dabei kann sie aus den schmerzhaften Erfahrungen ihrer Kindheit schöpfen, als sie für ihre alkoholkranke Mutter putzen und kochen musste. Damals gaben ihr diese Tätigkeiten ein Gefühl von Kontrolle, in der Aidsstation ermöglichen sie ihr nun ein sinnhaftes Leben. Luna entwickelt schliesslich ein besseres Verhältnis zu ihrer Mutter, kann ihr direkt sagen, wie sehr sie unter deren Sucht gelitten hat. Etwas, das der angepassten Elaine verwehrt bleibt. In Lunas Leben können sich Kreisläufe schliessen, während bei Elaine vieles tabuisiert und unausgesprochen bleibt.
In der Elaine-Version heiratet Helen ihre Kindergartenliebe Frank, trauert aber heimlich der verlorenen Freiheit nach, während sie als Luna selbstbestimmt in den USA lebt, jedoch innerlich nie ganz von Frank loskommt. Gibt es bei Entscheidungen denn kein Richtig oder Falsch? Für mich liegt der Schlüssel darin, zu akzeptieren, dass jede Entscheidung Konsequenzen hat. Es gibt keine Version des eigenen Lebens, die ohne Verlust wäre. Probleme und auch Schmerz gehören zur Natur des Lebens. Meine Mutter sagte immer, jede wichtige Entscheidung würde mit 51 zu 49 Prozent fallen, nicht mit 99 zu 1. Nur weil man nach einer grossen Entscheidung Zweifel oder Wehmut verspürt, heisst das nicht, dass die Entscheidung falsch war. Wenn ich zum Beispiel meine beiden erwachsenen Söhne in der Schweiz vermisse, heisst das nicht, dass es falsch war auszuwandern.
Obwohl die beiden Lebenswege unterschiedlich verlaufen, gibt es Parallelen. In beiden geht Helen nach San Francisco und trifft auf die gleichen Menschen, einfach in anderen Zusammenhängen. Weshalb?
Wie viel Autobiografisches steckt in «Mehr als ein Leben»? Helen, Luna und Elaine entsprechen nicht meiner eigenen Person, genauso wenig wie Helens Eltern meine eigenen
Als Luna darf Helen sich ausprobieren, ohne Unverständnis fürchten zu müssen. Wie wichtig ist es, auch scheitern zu dürfen, wenn man neue Erfahrungen sammelt? Sehr wichtig! Ein Beispiel: Vor über zwanzig Jahren wollte ich selbst in San Francisco ein Literaturcafé eröffnen. Ich steckte meine Ersparnisse in dieses Projekt und scheiterte nach wenigen Monaten. Aber niemand sah darin einen Weltuntergang. Man spricht höchstens Bedauern aus und fragt, was die nächsten Schritte sein werden. In der US-Kultur wird davon ausgegangen, dass man immer mal wieder strauchelt. Es wird als Teil des Lebens akzeptiert.
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FOTO: VICTOR-MARIO ZABALLA
INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN
«In der Schweiz ist die Erwartung verbreitet, dass ein Neuanfang ohne Probleme über die Bühne zu gehen hat.» MILENA MOSER
bestimmten Gefühl nachgehen. Aus dem Wissen, dass etwas das Richtige ist, zieht man auch die Kraft, die Konsequenzen einer Entscheidung zu tragen. Gerade Müttern wünsche ich, dass sie irgendwann die Frage, was sie im Leben noch für Wünsche haben, für sich wiederentdecken können. Die Fähigkeit, sich diese Frage zu stellen, war bei mir wie ein verkümmerter Muskel. Die gute Nachricht: Dieser Muskel lässt sich trainieren und wieder aufbauen. Mittlerweile leben Sie seit mehreren Jahren in den USA. Ist das Land immer noch ein gutes Pflaster, um sich neu zu erfinden? Grundsätzlich ja, es ist hier nach wie vor vieles möglich. Der Kontakt mit den Menschen gleicht einem Bad voller Wohlwollen, was von Europäer*innen oft als Oberflächlichkeit fehlgedeutet wird. Im Wissen, dass das Leben in diesem Land ohne soziale Auffangnetze nicht einfach ist, machen die Leute sich das Leben gegenseitig mit kleinen Gesten angenehmer. Und das kann auch mal ein spontanes Kompliment für eine Jacke oder Handtasche sein. Die USA sind ein hartes Pflaster, die Wohnungsnot in den grossen Städten treibt viele Menschen in die Obdachlosigkeit. Aber im Alltag gibt es immer wieder schöne Begegnungen über soziale Grenzen hinweg. Das ist etwas, was ich am Leben hier sehr schätze.
widerspiegeln. Es geht um eine Frage, die wir uns alle schon einmal gestellt haben: Was wäre, wenn ich mich damals anders entschieden hätte? Entscheidungen haben immer zwei Seiten, selbst die Entscheidung, sich einen grossen Traum zu erfüllen – wie ich, als ich mich dazu entschied, in die USA auszuwandern. Wie reagieren denn die Menschen in der Schweiz darauf, dass Sie in die USA ausgewandert sind? In der Schweiz ist die Erwartung verbreitet, dass ein solcher Neuanfang ohne Probleme über die Bühne zu gehen habe und man wohlbehalten am Ende des Regenbogens landet. Wenn ich dann von Schwierigkeiten erzähle, denen ich zum Beispiel auf Ämtern begegne, werde ich immer wieder gefragt, ob ich mich wieder so entscheiden würde, wenn ich das vorher gewusst hätte. Man erwartet, dass alles glatt zu laufen hat. Dabei ist das schlicht unmöglich und auch lebensfremd.
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«Mehr als ein Leben» FOTO: ZVG
In Ihrem autobiografischen Buch «Das Glück sieht immer anders aus» aus dem Jahr 2015 erzählen Sie offen und persönlich von Ihrer Suche nach dem Lebensglück in den USA nach der Trennung von Ihrem Ehemann. Bis zu welchem Grad hat man sein Schicksal in den eigenen Händen? Es gibt im Englischen den schönen Begriff «serendipity», was sich mit «glückliche Fügung» übersetzen lässt. Diese hat in meinem Leben immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Darauf vertrauen, dass es schon richtig ist, einem
Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, wurde durch Bücher wie «Die Putzfraueninsel», «Das schöne Leben der Toten» oder «Land der Söhne» zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. 2015 wanderte sie in die USA aus und lebt heute in San Francisco.
Der neue Roman von Milena Moser, erschienen im Verlag Kein & Aber, erzählt zwei Versionen eines Lebens. Eine ist geprägt durch Verantwor tung, die andere durch den Drang nach Unab hängigkeit. Eine Geschichte über die Konsequen- zen einer wegweisenden Entscheidung und wie nahestehende Menschen den eigenen Lebensweg mitprägen. Bis Anfang April ist Milena Moser für mehrere Lesungen in der Schweiz. Alle Lesetour-Daten unter: keinundaber.ch/de/ autoren-regal/milena-moser
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«Was im wahren Leben los ist» Kino Der Film «Ouistreham» beleuchtet den Alltag prekär beschäftigter Reinigungskräfte in
einem Fährhafen. Obwohl ihre Arbeit unentbehrlich ist, bleiben sie weitgehend unsichtbar. TEXT GIULIA BERNARDI
Laternen spiegeln sich im Wasser, hüllen den Hafen in schummriges Licht. Ein neuer Tag bricht an, oder ist womöglich schon vorbei. Fähren legen ab und an; Menschen auf der Durchreise, Lastwagen tummeln sich auf grossen Parkplätzen. Mit dieser Szenerie tauchen wir in «Ouistreham» ein. Der neue Film von Emmanuel Carrère spielt am gleichnamigen Ort, einem Handelshafen an der nordfranzösischen Küste, an dem sich die Lebensrealitäten prekarisierter Arbeiter*innen entfalten. Jeden Morgen kommen sie in Ouistreham an, haben eineinhalb Stunden Zeit, um mehrere hundert Zimmer auf der Fähre nach Portsmouth zu putzen, die Betten neu zu beziehen, die engen Bäder der Kabinen zu reinigen. Bevor die Passagier*innen an Bord steigen, müssen sie wieder verschwunden sein. Ihre Arbeit bleibt unsichtbar, wird nur spürbar, wenn sie nicht gemacht wurde. Obwohl gesellschaftlich unentbehrlich, erhalten sie für ihren Dienst nur den Mindestlohn. Dieser beträgt in Frankreich 7,96 Euro pro Stunde. Eine Kommission entschied, dass 6,84 Euro nicht genug seien, da davon niemand leben könne; 8,46 Euro wären allerdings zu viel. 24
Darüber schreibt Marianne (Juliette Binoche) Notizen in ihr Buch, ihre Gedanken erklingen immer wieder aus dem Off. Sie erscheint als eine der Arbeiter*innen, die täglich auf die Fähre steigt, die leer getrunkenen Flaschen entsorgt, die bedenkenlos liegen gelassenen Chipskrümel sorgfältig wegwischt. Doch sie müsste nicht da sein, ist nicht auf das kleine Einkommen angewiesen. Denn Marianne ist Schriftstellerin, zog von Paris in das nahegelegene Caen, um die prekäre Lage der Arbeiter*innen zu dokumentieren. «Ich habe es satt, von der Krise zu hören. Arbeitslosigkeit, Armut – als wäre das abstrakt», sagt sie zu jener Sozialarbeiterin, die sie als Schriftstellerin erkennt und konfrontiert. «Ich muss wissen, was im wahren Leben los ist.» Wer darf für wen sprechen? Zunächst ist Marianne von ihrem Vorhaben überzeugt. Mit ihrem Buch möchte sie die Öffentlichkeit auf prekarisierte, unsichtbare Arbeit aufmerksam machen, auf den Kampf, den viele Menschen tagtäglich führen. Doch wie legitim ist ihr Vorhaben? Diese Frage stellt sich, weil Marianne ihre wahre Identität nicht preisgibt, den ArbeiSurprise 520/22
Löcher in der Seele Buch Annika Büsing erzählt in ihrem Debutroman «Nordstadt» von einer Liebe gegen jede Wahrscheinlichkeit.
FOTO: ZVG
ter*innen keine Möglichkeit zur aktiven Teilhabe gibt. Sie erzählt von Lebensrealitäten, denen sie selbst sich jederzeit entziehen kann, aus ihrer eigenen Perspektive. Obwohl ihre Selbstzweifel an diesem Vorgehen von Tag zu Tag grösser werden, macht sie weiter. Offenbar ist ihr wichtiger, politisch etwas zu bewegen, als die Strategien zu reflektieren, deren sie sich bedient. Der Film basiert auf dem Buch «Le quai de Ouistreham», das 2010 erschien. Dabei handelt es sich um einen Erfahrungsbericht der Journalistin Florence Aubenas, die, ähnlich wie Marianne, über ihre Zeit als prekär beschäftigte Arbeiterin berichtet. Doch im Gegensatz zu ihr bleibt Marianne nicht anonym. Auf ihrem Weg schliesst sie Freundschaften, lernt beispielsweise Christèle (Hélène Lambert) kennen, mit der sie bald eine enge Beziehung verbindet. Die Lebensrealität der beiden Frauen könnte unterschiedlicher nicht sein. Während existenzielle Ängste zum Alltag von Christèle gehören, kann Marianne punktuell eintauchen, entscheiden, wie lange sie bleiben und wann sie wieder gehen möchte. Christèle ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern, sie arbeitet von morgens bis abends, mehrere Schichten am Tag. Da sie kein Auto hat, steht sie früh auf und läuft den langen Weg bis zum Hafen von Ouistreham, damit sie pünktlich um 6 Uhr beginnen kann. Als sie mit Marianne am Strand sitzt, sagt sie zu ihr: «Ich habe dafür keine Zeit.» – «Keine Zeit für was?» – «Nur auf das Meer zu schauen.»
Es ist schon etwas Spezielles, wenn vor Beginn der Lektüre eines Romans davor gewarnt wird, dass dieser «Beschreibungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt» enthält, die «belastend und retraumatisierend» sein könnten. Durchaus berechtigt, wie sich schon bald in Annika Büsings Debutroman «Nordstadt» zeigt, denn was ihren Protagonist*innen alles angetan wird, ist unfassbar. Umso mehr, als es, auch wenn es nur Fiktion ist, nicht undenkbar ist, sondern für viele himmeltraurige Wirklichkeit. Nordstadt, das ist der soziale Brennpunkt einer Stadt im Ruhrgebiet. Hier ist Nene aufgewachsen, die von ihrem trunksüchtigen Vater über viele Jahre grün und blau geschlagen und tagelang eingesperrt wurde. Und, als wäre das alles noch nicht genug, mit siebzehn von einem «Freund» vergewaltigt wird. Jetzt ist sie Anfang zwanzig und übt ihren Wunschberuf als Bademeisterin aus. Schwimmen liebt sie seit ihrer Kindheit, Glück ist für sie, wenn sie ihre Bahnen ziehen kann. Das Hallenbad ist ihr Zuhause, der sichere Ort, den ihr die Familie nie geboten hat. Als sie nach der Vergewaltigung gefragt wird: «Willst du nichts machen?», ist ihre Antwort: «Doch, ich will es vergessen.» Im Hallenbad kann sie das am besten. Hier trifft sie Boris, der Augen hat wie ein Puma. Boris mit den verdrehten Beinen, die er im Schwimmbad trainiert, Folgen einer Kinderlähmung, die auf das Konto seiner Mutter, einer Impfgegnerin, geht. Boris, den sie in der Schule «die Kreatur» nennen. Ein «Freak bis ans Lebensende», der keinen Job kriegt und dem am Monatsende schlecht vor Hunger wird. «Armut frisst Löcher in die Seele und die Würde.» Kein Wunder, dass er nicht glauben kann, dass jemand sich für ihn interessieren könnte. Doch Nene «zeckt sich in sein Herz» und lässt nicht locker, trotz aller Hürden: ihren und seinen Verletzungen, seinen Schmerzen, seiner Erschöpfung, dem schnellen Verfall seines Körpers. Sie toleriert seine Lügen und Rückzüge, er muss mit ihrer Direktheit klarkommen. Doch gerade diese ist auch heilsam, denn das Letzte, was er will, ist Mitleid. Und so bewährt sich ihr gefährdetes Glück, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Annika Büsing erzählt diese Geschichte lakonisch, unverblümt, intensiv und mit ungeschminkter Ehrlichkeit. Das zieht in Bann und überrascht bei aller Härte der Schicksale mit einer Warmherzigkeit und einem Humor, die dem Schrecklichen eine unerwartete Hoffnung entgegensetzen. CHRISTOPHER ZIMMER
Annika Büsing: Nordstadt Roman, Steidl 2022. CHF 31.90
«Ouistreham», Regie: Emmanuel Carrère, F 2021, 106 Min. Läuft ab 3. März im Kino. Surprise 520/22
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BILD(1): JEAN-FRÉDÉRIC SCHNYDER, BILD(2): JEAN-PHILIPPE CHARBONNIER/GAMMA LEGENDS VIA GETTY IMAGES, BILD(3): PUPPENSPIEL.CH
Veranstaltungen Bern Jean-Frédéric Schnyder, Ausstellung Kunstmuseum Bern, bis So, 29. Mai, Di, 10 bis 21 Uhr, Mi bis So, 10 bis 17 Uhr, Hodlerstrasse 8-12. Einzelausstellung Kunsthalle Bern, bis So, 15. Mai, Di bis Fr, 11 bis 18 Uhr, Sa und So, 10 bis 18 Uhr, Helvetiaplatz 1. kunstmuseumbern.ch
Eine sogenannte Accrochage des Kunstmuseums Bern, wie man eine Ausstellung aus den eigenen Beständen nennt, sowie eine Einzelausstellung in der Kunsthalle Bern ermöglichen in der Hauptstadt Begegnungen mit dem Werk des Schweizer Künstlers Jean-Frédéric Schnyder. Der 76-Jährige ist als Autodidakt zur Kunst gekommen und wurde 1969 bereits im Alter von 24 Teil von Harald Szeemanns legendärer Berner Schau «When Attitudes Become Form». Schnyders Werk spiegelt seine nicht-elitäre Einstellung zur Kunst wider, indem er sich auf die Suche nach dem Schönen im Alltäglichen begibt. So verwendete er für seine frühen Objekte zum Beispiel auch Legosteine oder Kaugummi. MBE
Basel «Party for Öyvind», Ausstellung, bis So, 1. Mai, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Museum Tinguely, Paul Sacher-Anlage 1. tinguely.ch
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Das Werk des skandinavischen Multimedia-Künstlers Öyvind Fahlström (1928–1976) ist gleichzeitig auch ein Spiegel seines künstlerischen und privaten Netzwerks. Als er Anfang der 1960er-Jahre während eines einjährigen Stipendiums in die USA reiste, konnte er Robert Rauschenbergs Atelier übernehmen, was ihn zum Nachbarn von Jasper Johns machte. Auch freundete er sich früh mit Patty und Claes Oldenburg an. Fahlström erlebte den Aufstieg der PopArt mit und integrierte sie in sein eigenes Schaffen, ebenso Massenmedien oder Comics. Neben bildnerischer Kunst schuf er aber auch Filme, Theaterstücke und literarische Werke, etwa sein 1953 publiziertes «Manifest für konkrete Poesie». Der Ausstellungstitel «Party for Öyvind» ist ein Zitat der Einladungskarte, die Patty und Claes
Oldenburg 1967 anlässlich seines Geburtstages und seiner ersten Einzelausstellung in New York verschickten. Und er verweist darauf, dass hier neben Fahlström auch viele der Kunstschaffenden seiner Generation thematisiert werden, die wie er nach neuen Wegen im Umgang mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu suchten. MBE
Chur «messen, regeln, ordnen – unterwegs im 19. Jahrhundert mit Johann Coaz», Ausstellung, bis So, 27. März, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Rätisches Museum, Hofstrasse 1. raetischesmuseum.gr.ch Im 19. Jahrhundert wurde die Welt mit neuen Methoden erforscht und erfasst. So auch in der Schweiz: Wissenschaftler und Techniker bestiegen Berge und vermassen die Landschaft, um auf der Basis solcher Erkenntnisse das Verkehrsnetz auszubauen oder die Bevölkerung vor Naturgefahren zu schützen. Als der Schweizer Bundesstaat entstand, war der Bündner Ingenieur, Naturforscher und Forstinspektor Johann Coaz (1822– 1918) an vorderster Front mit dabei. Nach ihm wurde die beliebte Coaz hütte in der Berninagruppe benannt. Er war einer der Förderer des 1914 gegründeten Schweizerischen Nationalparks, wo er die Wiederansiedlung des Steinbocks forcierte. Die Ausstellung «messen, regeln, ordnen – unterwegs im 19. Jahrhundert mit Johann Coaz» nimmt mit auf eine Reise durch verschiedene Forschungsfelder, in denen sich der Einfluss dieses weitsichtigen Ingenieurs und Topografen zeigt. MBE
Luzern Flow, Kindertheater, Mi, 9. März, Sa, 12. März, 15 Uhr, Figurentheater, Industriestrasse 9. luzernertheater.ch
Mit Essen soll man nicht spielen. Ausser es geschieht auf so sinnliche Weise wie in der Performance «Flow» von Rahel Wohlgensinger und Andrea Zuzak, die ohne Worte auskommt. Mit dem Ausgangsmaterial Mehl wird eine Geschichte rund ums Wachsen und Werden erzählt. Wolkengleich wirbelt es durch die Luft, vermischt sich unter knetenden Händen mit Wasser zu einem Teig und wird durch die Hitze des Feuers zu einem Brotlaib. Dem Mehl wird mit einer spielerischen Neugier begegnet, die an jene eines Kleinkindes erinnert, das seine Umgebung mit allen Sinnen zu erkunden beginnt. Deshalb ist dieses Theaterstück bereits für Kinder ab zwei Jahren geeignet, bietet aber auch allen anderen nahrhaften Kunstgenuss. MBE
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Ennet der Gleise steht ein funktionaler, flacher Betonbau, beschriftet als «Bahndienstgebäude», auf dem Schild hat es noch Platz – möglich, dass es früher «Bahnhofdienstgebäude» hiess. Oberhalb der Bäckerei gibt es eine Tanzschule, auch das eine Institution, die nicht mehr so häufig anzutreffen ist, trotz etwa im Zehnjahrestakt aufflammender Beschwörung des Paartanz-Revivals. Dieser sei bei jungen Menschen wieder beliebt, ist dann zu lesen, ohne dass der Wahrheits gehalt der Meldung verifiziert werden könnte. Klassische Tanzlokale mit Orches tern werden keine eröffnet, bis vor Kurzem ohnehin nicht, da das Tanzen corona technisch zu den Risikosportarten gehörte, aber gerade darum Kandidat für eine postpandemische Wiederentdeckung ist.
Tour de Suisse
Pörtner in Wetzikon Surprise-Standorte: Bahnhof Einwohner*innen: 25038 Sozialhilfequote in Prozent: 3,2 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 26,3 Grösste Kirchweih im Kanton Zürich: Wetziker Chilbi
Der Bahnhof verfügt über ein Park&Ride, ein Konzept, in das einst grosse Hoffnungen gesetzt wurden, die sich aber nicht erfüllten. Das P&R-Haus in Zürich ist einer der wenigen Orte, an denen es immer freie Parkplätze gibt. In Wetzikon sind fast alle belegt, die Maximalparkzeit beträgt sieben Tage, man kann also auch von hier aus in die Sportferien fahren, bequem mit dem Auto und der ganzen Ausrüstung zum Bahnhof und dann weiter mit dem Zug. Etwa auf den Atzmännig, der an der Bäckerei mit einem rie sigen Plakat für seine Familientageskarte wirbt. Es gibt sogar eine Variante, bei der das Mittagessen inbegriffen ist. Wer beim Kindermenü auf Chicken Nuggets tippt, dürfte richtig liegen. Die zu beskifahrenden Schneeberge sind zwischen den Häusern knapp zu sehen, rot leuchten sie in der Abendsonne. DaSurprise 520/22
vor steht einer der vielen Kräne, die hier verteilt sind. Den alten, dreistöckigen Häusern geht es an den Kragen, es braucht neue Überbauungen, der Wohnraum ist knapp. Vor dem Bahnhof beherbergt eines dieser Häuser einen Saloon, komplett mit Wasserturm, Kaktus und Wagen rädern. Tatsächlich werden Skiausrüstungen herumgetragen, vor dem Café wird rauchend gewartet. Da nützt das schönste Parkplatzangebot nichts, wenn die Abholer*in einen vergessen hat. Unerschrockene kommen trotz Kälte mit dem Velo, für das ein doppelstöckiger gedeckter Unterstand bereitsteht. Ersatzteile gibt es am Ende des Parkplatzes in einem Veloladen, für den einst selbst Grossstäd ter*innen nach Wetzikon gepilgert sind, unterdessen gibt es auch dort eine Filiale.
Gänzlich unbeeinträchtigt von der Pande mie sind die Fahrschulen, eifrig werden von verschiedenen Anbieterinnen junge Menschen ein- und ausgeladen, die einen steigen direkt von der S-Bahn ins Lernfahrzeug. Ob sie das Autofahren erlernen, um das Bahnfahren in Zukunft zu vermeiden oder mit dem Autofahren im Sinne von Park&Ride zu kombinieren, ist nicht bekannt. Endlich, nach drei Zigarettenlängen, wird die War tende von einem schwarzen Kleinwagen abgeholt, den schweren Rollkoffer muss sie selber einladen. Im Café selbst werden von zwei lokalen Handwerkern die Vor- und Nachteile aller umliegenden Gemeinden als Arbeitsund Wohnort diskutiert. Ein Autofahrer parkt trotz freier Parkplätze mitten auf dem Trottoir. Es geht ums Prinzip. Die Sonne geht unter und der Saloon schaltet die Lichter an.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist. 27
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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
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Eine von vielen Geschichten 01
Kaiser Software GmbH, Bern
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Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur
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AnyWeb AG, Zürich
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Ref. Kirche, Ittigen
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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim
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BODYALARM - time for a massage
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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
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WBG Siedlung Baumgarten, Bern
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unterwegs GmbH, Aarau
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Hedi Hauswirth Privatpflege Oetwil a.S.
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Fäh & Stalder GmbH, Muttenz
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Praxis C. Widmer, Wettingen
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EVA näht: www.naehgut.ch
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Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel
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Evang. Frauenhilfe BL, frauenhilfe-bl.ch
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Lebensraum Interlaken GmbH, Interlaken
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Automation Partner AG, Rheinau
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Infopower GmbH, Zürich
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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich
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Barth Real AG, Zürich
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Be Shaping the Future AG
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Maya-Recordings, Oberstammheim
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doppelrahm GmbH, Zürich
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InhouseControl AG, Ettingen
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Studio1 Vivian Bauen, Niederdorf
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Wir alle sind Surprise #515: Wir müssen reden
«Solche Diskussionen sollten gefördert werden» Mich dünkt dieses Vorgehen im wahrsten Sinne des Wortes vorbildlich, weil genau das immer seltener passiert: dass Menschen mit verschiedenen Hintergründen, Erfahrungen, Vorstel lungen und vielleicht auch Vorurteilen zusammen diskutieren, nicht mit dem Ziel zu bestimmen, wer recht hat, sondern einen Konsens zu finden! Solche Diskussionen sollten, wo immer möglich, gefördert werden. Die Gespräche haben mir deutlich gemacht, wie schwierig es sein kann, einen Konsens zu finden. Ich merke, dass ich selber wahrscheinlich auch gar nicht mehr so geübt bin in solchen Diskussionen. Ich fand auch die Themen sehr gut gewählt und habe aus den Gesprächen viel gelernt. J. MÜLLER, Basel
«Mehr Ausgewogenheit» Vor Weihnachten habe ich einem überaus freundlichen Surprise-Verkäufer eine Ausgabe des Magazins Nr. 515 abgekauft. Ich gehöre normalerweise nicht zu den Lesern eures Magazins, und wollte mir darum über die Festtage einmal ein Bild davon machen, dies durch die neutrale Brille. Die Idee eines gemeinsamen Gesprächs der sechs Personen fand ich sehr gut, vor allem auch, weil die sechs Personen sehr unterschiedlich waren und ihre eigene Geschichte einbringen konnten. Gerne mehr davon! Gestört hat mich allerdings: Alle drei Diskussionsthemen finden sich so auch in Positionspapieren der Sozialdemokratischen resp. Grünen Partei. Sehr gerne hätte ich hier auch die Meinungen der sechs Personen zu einem Thema gelesen, welches ein bürgerliches Anliegen ist. Etwas mehr Ausgewogenheit wäre sicherlich auch im Interesse eurer Leser. Ich werde mir im Jahr 2022 sicherlich wieder ein Magazin kaufen. M. STUDERUS, Dottikon
«Wünsche ich mir auch im Alltag» Ich möchte Ihnen meine Begeisterung mitteilen. Ich fand bereits den Titel «Wir müssen reden» sehr ansprechend und habe dann mit grossem Interesse die drei Gesprächs-Diskussionen verfolgt. Es ist etwas, das ich mir auch im Alltag vermehrt wünschen würde: dass wir einander mehr zuhören und versuchen, das Gegenüber zumindest zu verstehen, selbst wenn ich nicht mit der anderen Haltung einverstanden bin. Daraus dann einen Konsens zu finden, würde uns alle weiterbringen. A . SCHULTHESS, St. Gallen
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp), Lea Stuber (lea) Reporter*innen: Andres Eberhard (eba), Anina Ritscher (arr) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Giulia Bernardi, Ruben Hollinger, Leila Merkofer, Meret Michel, Pascal Mora, Karin Pacozzi, Nicole Vögeli Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
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Surprise-Porträt
«Ich komme aus Eritrea und lebe seit drei Jahren in der Schweiz. Mein Mann Teklu, unser zweijähriger Sohn und ich wohnen in Bolligen. Ich kam wegen meinem Mann hierher. Wir stammen aus dem gleichen Dorf nahe der Hauptstadt Asmara, und hatten als Jugendliche die gleiche Aufgabe: Jeden Morgen mussten Teklu, ich und andere Nachbarskinder vor acht Uhr die Milch unserer Kühe mit dem Velo im zwölf Kilometer entfernten Asmara abliefern. Es war anstrengend, ich hatte meistens so zwanzig Liter dabei, aber weil wir alle zusammen hin- und zurückfuhren, war es auch lustig. Damals, im Alter von fünfzehn, sechzehn waren Teklu und ich nur Freunde. Freunde, die sich sehr gern mochten, könnte man sagen. Nach dem Schulabschluss fand ich in einem grossen Hotel in Asmara eine Stelle als Kellnerin. Das Bedienen der internationalen Gäste gefiel mir sehr. Eigentlich war ich damit schon zufrieden, aber dann schickte mich mein Chef in einen Bildbearbeitungskurs. So kam es, dass ich bei Festen im Hotel, wie Hochzeiten oder Taufen, neben meiner Arbeit als Kellnerin die Fotos für die Gäste auswählte, bearbeitete und zusammenstellte, was mir auch grossen Spass machte. Während ich im Hotel arbeitete, musste Teklu den Militärdienst antreten. Nach eineinhalb Jahren Grundaus bildung und einigen Monaten als Soldat hielt er es Ende 2010 nicht mehr aus und floh ins Nachbarland Sudan. Von dort reiste er weiter zu seinem älteren Bruder nach Juba im Südsudan, wo er drei Jahre blieb. Als es im Südsudan zum Bürgerkrieg kam, brach Teklu auf Richtung Europa. Im Sommer 2014 erreichte er die Schweiz und beantragte Asyl. Diese ganze Zeit über blieben Teklu und ich in Kontakt. Er schrieb oder sagte mir immer wieder, wie sehr ich ihm gefalle. Und eigentlich ging es mir mit ihm genau so. Doch ich konnte nicht einfach zu Teklu in die Schweiz reisen. Ich hätte weder eine Ausreiseerlaubnis von Eritrea noch eine Einreiseerlaubnis der Schweiz erhalten. Wollten wir zusammen sein, mussten wir heiraten, und zwar im Sudan, weil Teklu als Deserteur auch nicht mehr nach Eritrea kommen konnte, da wäre er gleich verhaftet worden. Ende November 2016 wollte ich dann in den Sudan flüchten und in Khartum auf Teklu warten. Doch der Grenzübertritt klappte nicht, ich wurde erwischt und verhaftet. Eine Woche sass ich im Gefängnis, danach musste ich im National Service die Grundaus30
FOTO: RUBEN HOLLINGER
«Freunde, die sich sehr gern mochten»
Ruta Teklezghi, 32, verkauft Surprise in Lyss und hat ihre Heimat Eritrea für die Liebe verlassen.
bildung antreten. Mein Glück war, dass sich das militä rische Ausbildungscamp in Tesseney, ganz in der Nähe der sudanesischen Grenze, befindet. So gelang mir im Juli 2017 die Flucht in den Sudan doch noch. Im Januar 2018 war es endlich so weit: Teklu und ich sahen uns nach sieben Jahren endlich in Khartum wieder und für uns beide war klar: Jetzt heiraten wir! Bis alle meine Dokumente und Bewilligungen in Ordnung waren, dauerte es noch einmal ein Jahr. Und im Januar 2019 konnte ich endlich zu Teklu in die Schweiz reisen. Kurz nach der Geburt unseres Sohnes im Oktober 2019 habe ich mit Deutschkursen und dem Verkauf von Surprise angefangen. Weil Teklu vorher in Münchenbuchsee wohnte und sein Verkaufsort deshalb Lyss ist, habe ich auch dort angefangen. Ich verkaufe sehr gern Surprise, weil ich immer nette Gespräche mit den Kund*innen habe. Zusätzlich putze ich von Montag bis Freitag jeden Morgen von halb sechs bis halb neun ein Fitnesscenter in Bern. Während ich arbeite, bringt mein Mann unseren Sohn in die Kita. Er beginnt dann seine Arbeit am Nachmittag, er ist Teamleiter bei der gleichen Reinigungsfirma, für die ich auch arbeite. Im Sommer erwarten wir unser zweites Kind. Wenn beide Kinder ein bisschen älter sind und ich mein Deutsch noch verbessert habe, könnte ich mir gut vorstellen, wieder als Kellnerin zu arbeiten. Und vielleicht auch Fotobearbeitungsaufträge erledigen, wer weiss.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 520/22
Kultur Kultur
Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste
STRASSENSTRASSENCHOR CHOR
CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE
Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke
BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG
Unterstützung Unterstützung
Job Job
STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information
SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT
ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten
STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL
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Expertenrolle Expertenrolle
SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkäufer*innen des Strassenmagazins sowie die Stadtführer*innen, die Spieler*innen des Strassenfussballs und die Chormitglieder erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeiter*innen. Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 450 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag.
Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang