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Obdachlosigkeit

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Tour de Suisse

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«Nein» – so antwortete Oltens Regierung auf die Frage im Parlament, ob die Stadt eine Notschlafstelle brauche. Und führte aus: «Obdachlosigkeit zu verhindern, ist in erster Linie Aufgabe der betroffenen Personen selber.»

Das war vor fünf Jahren. Nun könnte dennoch bald eine Notschlafstelle eröffnen. Dann nämlich, wenn die Stadt das Gesuch des privaten Vereins Schlafguet für die Umnutzung eines Reihenhauses bewilligt. Das ist jedoch kein politischer Entscheid, zumindest sollte es keiner sein. Bei der Betriebsbewilligung geht es um Dinge wie Qualifikationen, Hygiene oder Meldescheine.

Die Deutlichkeit, mit der sich die Stadt aus der Verantwortung zog, hatte einen Vorteil. Jene Bürger*innen, welche die Einrichtung einer Notschlafstelle in Olten für notwendig erachteten, wussten, dass sie nach anderen Lösungen suchen mussten. Es formierte sich eine Gruppe aus sozialen und religiösen Kreisen, die das Projekt vorantrieb und sich im Verein Schlafguet organisierte. Bei den Immobilienverwaltungen stiessen sie zwar nicht auf aktiven Widerstand, aber doch auf höfliches Desinteresse.

Einen Standort zu finden, stellte sich in der Folge als schier unmöglich heraus. Ursprünglich für den Winter 2017 geplant, zögerte sich die Eröffnung der Notschlafstelle hinaus. Jahr für Jahr, Winter für Winter. «Es war nicht so, dass jemand gegen das Projekt an sich war, zumindest wurde uns das nicht offen gesagt», sagt Timo Probst, Vorstandsmitglied des Vereins Schlafguet. «Man nannte wirtschaftliche Gründe. Da wir einen befristeten Vertrag anstrebten, waren wir mit einer Jahresmiete von rund 10 000 Franken schlicht kein interessanter Mietbewerber.» Als zweiter Grund sei der unpassende Mieter*innen-Mix genannt worden. Eine Gruppe Obdachloser, wo passt sie schon hin?

Und dann ist da noch die Frage, ob es in Olten und Umgebung überhaupt Obdachlose gibt, die eine Notschlafstelle nutzen würden. Sie ist nicht unberechtigt. «Wir wissen es nicht», sagt Probst. Wo Zahlen fehlen, haben Behauptungen leichtes Spiel. Solange die Betroffenen weitgehend unsichtbar bleiben und nicht oder nur sehr spärlich auf offener Strasse übernachten, ist die These einfach zu vertreten, dass es gar kein Problem gebe. Und folglich keine Lösung vonnöten sei. Auch in Olten.

Ein Spaziergang durch die Stadt bietet eine Mischung aus Postkartenidylle und geschäftiger Mobilität. Die alte Holzbrücke über die Aare, die Altstadt, dazu der Bahnhof, wo schweizweit am zweitmeisten Züge verkehren, die Lage als Durchgangsort und geschäftlicher Treffpunkt in der Mitte der wichtigsten Deutschschweizer Städte. Gebrochen wird das Bild durch einige Bettler*innen am Bahnhof und eine Szene von Süchtigen vor der katholischen Kirche St. Martin mitten in der Altstadt. Doch nachts sind die Gassen so gut wie leer.

Es ist schwer abzuschätzen, wie gross das Potenzial für eine Notschlafstelle in Olten ist. Obdachlose sind selten sichtbar. Sie kommen mal hier und mal da unter, eine Nacht bei Bekannten, die nächste in der Notschlafstelle, die übernächste im Park. Der Verein Schlafguet schreibt in seinem Konzept, dass manche Obdachlose aus der Region Olten/Solothurn derzeit wohl in anderen Notschlafstellen übernachten würden, etwa in Baden, Biel und Basel. Jedoch heisst es aus Baden, dass nur rund 10 Prozent der insgesamt rund 2500 Nächte pro Jahr auf Gäste von ausserhalb des Kantons Aargau entfallen. Woher genau, wird nicht erfasst. In der Basler Notschlafstelle wiederum kamen zwischen 2018 und 2021 insgesamt lediglich acht Personen aus dem Kanton Solothurn unter, wie das städtische Sozialamt auf Anfrage mitteilt. Und in Biel sind es etwa zwei pro Monat, wie es auf Anfrage heisst.

Das alles ist nicht viel. Und doch gibt es gute Gründe zur Annahme, dass es Bedarf gibt. Im Februar dieses Jahres lieferte eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz erstmals Zahlen zur Obdachlosigkeit in der Schweiz. Fazit: Rund 3810 Menschen sind hierzulande ohne Wohnung, weitere 16 000 sind davon bedroht. Kaum vorstellbar, dass ausgerechnet der Kanton Solothurn eine Ausnahme darstellt. «Da die Solothurner gewohnt sind, sich ohne Notschlafstelle zu organisieren, würden sicher noch mehrere sichtbar werden, wenn es endlich eine geben würde», vermutet Andrea Zaugg vom Sleep-In Biel. Die Notschlafstellen in vergleichbar grossen Kleinstädten wie Baden (AG) oder Weinfelden (TG) sind denn auch relativ gut ausgelastet. In Baden, wo es dreizehn Plätze in Notschlafstelle sowie der für längere Aufenthalte gedachten Notpension gibt, waren in den letzten beiden Jahren im Schnitt rund 50 bis 60 Prozent der Betten belegt, kalte Winternächte waren häufig ausgebucht. Wie in Olten hatte es auch die Stadt Baden privaten Vereinen überlassen, das Projekt ins Rollen zu bringen und zu

1 Die Stadtküche in Olten bietet mehr als nur günstiges Essen: auch

Billard und Jass kann man hier spielen. Oder einfach sein. 2 Georg Huber erinnert sich noch an die alte Notschlafstelle und die chaotischen Zustände damals. Heute wäre das anders, ist er überzeugt. 3 In dieses Reihenhaus will der Verein Schlafguet einziehen, die Nachbarn sind nicht begeistert.

finanzieren. Die anfängliche Skepsis ist nach einer dreijährigen Projektphase aber gewichen. Vor wenigen Wochen beschloss der Stadtrat, das Projekt fortan mit jährlich 150 000 Franken zu unterstützen.

So könnte es auch in Olten geschehen. Gewissheit wird aber erst die Praxis bringen. «Wenn wir in drei Jahren kaum Gäste haben, dann schliessen wir die Notschlafstelle wieder und ich bin zufrieden, dass es offenbar keine Menschen gibt, die auf warme Betten angewiesen sind», sagt Probst von Schlafguet. Auf diesen Zeitraum ist das Projekt vorerst begrenzt, dann wird Bilanz gezogen. In Notschlafstelle und Notpension werden je acht Personen unterkommen können, zudem gibt es Platz für Dauermieter*innen.

Erinnerungen an Oltner Drogenszene

«Gibt’s wieder eine Notschlafstelle? Das wusste ich gar nicht», sagt Georg Huber, 56, genannt «Schorsch», sein halbes Leben lang war er heroinsüchtig, vor drei Jahren der Entzug mit Methadon, seither nur noch ab und zu ein Rückfall mit Kokain. Heute lebt Huber in einer Wohnung im nahen Hägendorf, bezieht eine IV-Rente wegen der Drogen und des kaputten Rückens, und er leidet an Leberzirrhose und Krebs. Huber hofft, dass er es auf die Liste für eine Lebertransplantation schafft. Mit seiner Vorgeschichte ist das aber nicht ganz einfach, denn dafür muss er vollständig clean sein.

«Das ist sicher eine gute Idee», sagt Huber zu den Plänen für eine Notschlafstelle. Er sitzt in der Stadtküche, wo er fast täglich herkommt, ein bis zwei Franken für einen Salat, drei bis sechs Franken für etwas Warmes. Dessert darf er nicht, denn Diabetes hat er auch. Manchmal spielt er hier eine Partie Billard oder klopft einen Jass. Die Räume der Suchthilfe, zu denen auch die Stadtküche gehört, sind sein zweites Wohnzimmer.

Huber erinnert sich noch an die alte Notschlafstelle, sie schloss 1999. In den Neunzigerjahren hatte sich in der Stadt Olten eine vergleichsweise grosse Drogenszene getroffen, Süchtige reisten aus Zürich und Basel an. Was in Zürich der Platzspitz war, war in Olten der Gleisspitz. Die Notschlafstelle befand sich unmittelbar daneben. «Ich schlief da auch hin und wieder, weil es gleich nebenan Stoff gab», sagt Huber, der damals ein fixes Zimmer im Männerwohnheim bewohnte, das jedoch ausserhalb gelegen war. Eine Zeit lang war Huber obdachlos, er schlief in einem Zelt am Gleisspitz. Ähnlich wie in anderen Schweizer Städten sei die Situation in der Szene damals ausser Kontrolle geraten. «Es wurde von früh bis spät gedealt, es gab Schlägereien, Überfälle und es war ein Riesen-Krach.» Huber kann nachvollziehen, dass die Notschlafstelle auch aus Rücksicht auf die Anwohnenden schliesslich geschlossen wurde.

Es sind Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis der Oltner*innen eingebrannt haben. Droht erneut ein Chaos wie damals, mit herumliegenden Spritzen, Lärm, Drogenhandel? Und nun sogar neben einem Schulhaus und einer Kirche? Das fürchten Nachbar*innen des Hauses an der Bleichmattstrasse 21, wo die Notschlafstelle einziehen soll – gleich eingangs des Schöngrund-Quartiers, einem der besseren der Stadt. Zwei hier ansässige bürgerliche Politiker haben deswegen kürzlich im Stadtparlament eine Interpellation eingereicht. Sie wollen von der Regierung wissen, wie diese die Sicherheitslage im Quartier gewährleisten will, und warnen vor «Drogen-Handel und anderen Aktivitäten».

Eine (zu?) rigide Hausordnung

Die Packung Magnum-Zigaretten hat Georg Huber während des rund einstündigen Gesprächs unberührt vor ihm auf dem Tisch liegen lassen. Erst gegen Ende steckt er sich eine an. Spritzen auf dem Schul-

«Heute ist eine andere Zeit. Auf öffentlichen WCs oder in Parks, sowas kommt heute praktisch nicht mehr vor.»

GEORG HUBER

hausgelände? Das hält er für unwahrscheinlich. «Heute ist eine andere Zeit», sagt Huber. Die Süchtigen würden sich heute ihre Drogen in der Apotheke oder bei den Abgabestellen abholen. Danach würden sie entweder gleich auf der Abgabestelle konsumieren oder aber nach Hause gehen. Einen Fixer-Raum gibt es auch neben der von der Suchthilfe betriebenen Stadtküche. «Auf öffentlichen WCs oder in Parks, sowas kommt heute praktisch nicht mehr vor.»

Der Umgang mit Drogen ist aber womöglich die Achillesferse des Projekts. Denn um auf die Unsicherheiten und Ängste der Bevölkerung einzugehen, will der Verein Schlafguet eine vergleichsweise rigide Hausordnung durchsetzen. So ist der Konsum von Alkohol und Drogen aller Art verboten. Fachleute vermuten, dass deshalb manche die Notschlafstelle meiden werden. «Diese Menschen sind chronisch suchtkrank», sagt Ursula Hellmüller, Geschäftsleiterin der Fachstelle Suchthilfe Ost. «Wenn ein Süchtiger die Wahl hat zwischen einem Bett bei einem gewalttätigen Bekannten und einer Notschlafstelle mit Drogenverbot, dann wird er mit Sicherheit ersteren wählen.»

Dennoch begrüsst auch Hellmüller das Projekt, denn es ist ein Fortschritt im Vergleich zur jetzigen Praxis der Stadt: Zurzeit vermittelt das Sozialamt ein Hotelzimmer, wenn jemand dringend ein Obdach braucht. Dort ist aber keine professionelle Betreuung möglich. Im Gegensatz zur Notschlafstelle, wo jede Nacht ein Zweierteam, bestehend aus einer Fachperson sowie jemand Freiwilligem, vor Ort sein soll. Noch besser fände Hellmüller, wenn Obdachlosigkeit auch im Kanton Solothurn mit dem Ansatz «Housing First» bekämpft würde, also der bedingungslosen Abgabe von Wohnraum an Obdachlose.

Einer der beiden Parlamentarier, welche die Notschlafstelle bekämpfen, ist Urs Knapp (FDP). Er wohnt knapp 400 Meter vom designierten Standort entfernt. Auf Anfrage verweist er auf bereits erschienene Medienberichte. In einer Reportage des Stadtmagazins Kolt äussert sich die ehemalige Grüne-Stadträtin Iris Schelbert, die im Quartier lebt: «Ich bin links und ich bin grün – aber ich will die Notschlafstelle trotzdem nicht.» In einem Artikel der Neuen Oltner Zeitung wird hingegen die Rolle des Stadtrats generell hinterfragt. Denn dieser hat seit Jahren Einsitz in der «Stiftung für Raum für soziale Projekte». Just diese Stiftung ist Besitzerin der betreffenden Liegenschaft und will sie dem Verein Schlafguet für den Betrieb einer Notschlafstelle vermieten. Guter Stoff für eine Lokalposse. Wer vertritt hier welche Eigeninteressen? Wer spielt ein doppeltes Spiel? Bei der Diskussion über die Notschlafstelle geht es letztlich um die übergeordnete Frage, wie die Stadt mit Menschen umgeht, die nicht ins Bild der eigenverantwortlichen, erfolgreich-leistungsorientierten Bürger*innen passen. Darüber wird in Olten zurzeit sehr intensiv diskutiert. Denn vor der katholischen Kirche St. Martin in der Altstadt trifft sich eine Szene von Süchtigen. Einige Zeit lang war diese auch am Ländiweg zwischen Bahnhof und alter Brücke anzutreffen. Versuche, sie zu ver-

drängen, sind nichts Neues. Die Süchtigen würden «Besucherinnen und Besuchern keinen positiven ersten Eindruck von Olten» vermitteln und ausserdem Passant*innen «verunsichern», hiess es in einer Interpellation vor zehn Jahren. Ihr Verfasser: Urs Knapp.

Nun wollen Gewerbler*innen, Politiker*innen und Kirchenleute die Süchtigen weghaben aus der Altstadt. «Das Einkaufserlebnis ist infrage gestellt», sagte ein Coop-Vertreter anlässlich eines Podiums zum Thema, und die Präsidentin der Christkatholischen Kirchgemeinde stellte fest: «Es findet quasi eine Beschlagnahmung des Raumes statt, der ihnen nicht gehört.» Seit Ende des letzten Jahres prangt eine Verbotstafel vor der Kirche, die für laute Musik, Littering oder streunende Hunde auf dem Grundstück der Kirchgemeine Bussen bis zu 2000 Franken androht.

Missionare stehen bereit

Joachim Wasslowski empfängt in weissem Hemd, bügelfrischer Hose und einer Sonnenmütze mit der Aufschrift «Israel Defence Force», der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte. In seinem Opel Frontera hängen zwei kleine Israel-Flaggen. «Ich bin ein bisschen Fan», sagt er. Als Wasslowski davon hörte, dass selbst die christkatholische Kir-

«Das Einkaufserlebnis ist infrage gestellt», sagte ein Coop-Vertreter anlässlich eines Podiums zum Thema.

che wegen der Obdachlosen die Polizei rufe, schritt er zur Tat. Er möchte Obdachlosen einen Platz in dieser Gesellschaft geben – und initiierte das Projekt «Superbus».

Wasslowski lebte einst zehn Jahre lang auf der Strasse und war alkoholsüchtig. In Zürich stellte er auf dem Areal der damaligen Gassenküche an der Nordstrasse sein Zelt auf. Auch Surprise-Hefte verkaufte er während einiger Jahre. «Ich weiss aus eigener Erfahrung, was Obdachlose brauchen», sagt er.

In seinem «Superbus» – ein dreizehn Meter langer Truck-Anhänger mit eingebauter Küche – möchte er aus überschüssigen Lebensmitteln Essen kochen und kostenlos an Obdachlose abgeben. Zudem will er Seelsorge leisten und den Menschen bei Problemen mit Ämtern behilflich sein. Im Gespräch sinniert er bereits weiter, träumt von Touren in andere Städte sowie von Arbeitslosenprojekten. Doch zuerst muss er überhaupt einmal einen Standort für seinen Truck finden. Von der Stadt Olten kriegte er eine Abfuhr. In einem Zweizeiler habe man ihm mitgeteilt, dass kein Bedarf bestehe. «Dabei sehe ich doch mit eigenen Augen, dass es Menschen gibt, die eine warme Mahlzeit brauchen», sagt er. Nun sucht Wasslowski auch in anderen Städten nach einem Standort für seinen Truck.

Es gibt da noch die religiöse Seite von Wasslowski. Sie verleiht dem Projekt einen Beigeschmack. «Wir möchten das Interesse am Heiligen Land fördern und Gottes Liebe teilen», lautet der erste Satz seiner Konzeptidee. Und so geht es fort: «Neben Suppen und Tee gehört die Seelsorge zum Angebot. Gespräche und Gebete bilden die Grundlage.» Zusätzlich zur Obdachlosenhilfe plant er mit «Shalom Music» Konzerte mit israelischen Künstler*innen. Wasslowski steht nun vor seinem von Witterungsspuren gezeichneten Truckanhänger auf dem Parkplatz einer Transport-Firma in Rothrist, im Hintergrund rauschen Güterzüge vorbei. Er

4 Joachim Wasslowski träumt davon, anderen mit Essen und Evangelium zu helfen. 5 Noch hat Wasslowskis Superbus keinen Standplatz, um mit der

Essensausgabe zu starten. Olten erteilte eine Absage. 6 Wer von den Menschen an der Kirche eine neue nächtliche Schlafgelegenheit oder Essen von Wasslowski in Anspruch nähme, bleibt fraglich.

erzählt von seinem Glauben, dass er keiner Gemeinde angehöre und sich als einen Nachfolger von Jesus Christus bezeichne. Im Obdachlosen-Projekt würden neben ihm drei Personen aus Freikirchen und Pfingstgemeinde mitmachen. «Uns eint der Glaube, aber wir glauben unterschiedlich.» Er selber beispielsweise würde sich bei den Festen am Judentum orientieren, andere feierten Weihnachten und Ostern wie Christen. Geht es Wasslowski bei der Obdachlosenhilfe ums Missionieren? Er wehrt ab. «Es ist nicht unser Ziel, die Leute zu bekehren», sagt er. «Wir werden das Evangelium verkünden, aber wenn jemand das nicht hören will, ist er dennoch eingeladen, bei uns zu essen.»

Kirche nicht per se ein Problem

Dass die religiöse Schiene Obdachlose sehr wohl abschrecken könnte, findet Ex-Junkie Huber. «Die Leute wollen sich nicht vollquatschen lassen.» Allerdings würden auch andere Stellen, wo man in der Stadt gratis essen könne, von kirchlichen Kreisen organisiert – so etwa die Essensausgabe beim katholischen Kloster oder jene bei der Freikirche Vineyard. Was es tatsächlich noch nicht gebe in Olten, seien kostenlose warme Gerichte. In der Restessbar oder bei Tischlein Deck dich werden höchstens belegte Brötchen ausgegeben. Im Schatten einiger Bäume vor der Kirche St. Martin in der Altstadt sitzen zwei bis drei Dutzend Männer und Frauen. «Die Polizei, das sind liebe Sieche», sagt einer von ihnen, während er mit den Händen einen Knäuel Tabak zerzaust. «Die kennen uns alle, schauen uns zu», sagt er und zeigt auf Häuserecken, wo angeblich Videokameras installiert sind. «Kürzlich gab mir einer sogar drei Stutz.» Vereinzelt spricht die Polizei Wegweisungen aus, gemäss der Stadtregierung käme das bei den Betroffenen aber gut an, da es sich immer um dieselben zwei bis drei Männer handle, die pöbeln. Auch eine Truppe der Sicherheit, Intervention und Prävention (SIP) sucht regelmässig vor Ort auf der Gasse das Gespräch mit den Menschen.

In der Posse um die Notschlafstelle verhielt sich die Stadtregierung lange passiv. Kürzlich aber hat sie sich fast unbemerkt auf eine Seite geschlagen. In ihrer Antwort auf die Interpellation der Projekt-Gegner sprach sie zwar von «verständlichen Bedenken» und «nachvollziehbaren Ängsten». Sie schrieb aber eben auch: «Der Stadtrat anerkennt, dass mit dem vorgeschlagenen Konzept eine existierende Lücke im Sozialsystem geschlossen werden kann.» Nun gelte es herausfinden, wie gross diese Lücke sei. Der zuständige Sozialdirektor Raphael Schär-Sommer (Grüne) ergänzt auf Anfrage, dass eine Zusammenarbeit mit dem Verein Schlafguet bei der Suche nach Notwohnungen für mittel- bis längerfristige Aufenthalte vorstellbar sei. «Wenn wir in solchen Situationen an eine professionelle Organisation verweisen können, ist das für die Menschen in Notlage angenehmer als temporäre Lösungen in Hotels oder Ähnlichem.»

Fünf Jahre, nachdem sie Obdachlosigkeit den Betroffenen selber in die Schuhe schob, hat Oltens Regierung damit eine erstaunliche Kehrtwende vollzogen. Wie die Gegner*innen reagieren werden, die auf Verdrängung aus sind, ist noch offen. Das Oltner Parlament, wo Bürgerliche und Linke exakt je die Hälfte aller Sitze innehaben, befasste sich nach Redaktionsschluss mit der Interpellation. Allerdings sind seine Möglichkeiten beschränkt: Schliesslich handelt es sich um ein privates Projekt, an dem sich die Stadt nicht finanziell beteiligt.

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