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Nachruf

Eva Rita Herr

«Schlagfertig war sie», sagt Surprise-Verkäufer Urs Saurer, der im Surprise-Büro in Basel sitzt und versucht, Eva Herr zu beschreiben. Sie als Mensch zu fassen. Sie war oft hier, um neue Hefte zu holen, hat schier immer verkauft an ihrem Standort vor der Buchhandlung Bider & Tanner in der Basler Aeschenvorstadt – und doch, so scheint es, weiss kaum jemand etwas Verlässliches über sie, über ihr Leben.

Das Paradox: Gerade dass wir kaum etwas Genaueres über sie wissen, sagt viel über sie aus. Es hat mit ihr als Mensch zu tun, der sie war, und vielleicht auch mit ihren Überzeugungen. «Geht dich nichts an», war meist die Antwort, wenn man ihr eine nur annähernd persönliche Frage stellte. Und irgendwie nahm man ihr die brüske Antwort nicht übel. Sie zog ihre Grenzen, vielleicht wehrte sie sich dagegen, dass sich andere ein Bild von ihr machen wollten, vielleicht konnte sie auch einfach dem Small Talk nichts abgewinnen, jedenfalls schien die Abwehr immer eine klare Haltung zu sein. «Geht dich nichts an» war ein Statement, nicht etwa einfach eine Antwort oder eine Laune.

Schnell fand man sich mit ihr stattdessen in grösseren weltanschaulichen Diskussionen wieder, in denen sie immer Recht behielt. Ob sie einen eindringlich vor Handystrahlungen warnte oder auch einiges anderes in der Welt leidenschaftlich kritisierte – etwas Schalkhaftes behielt sie sogar, wenn sie schimpfte. Grossgewachsen und hager, fiel sie auf. Eva war eine Verkörperung des Nonkonformismus.

Das schien auch vielen Passant*innen rund um den geschäftigen Basler Bankenplatz Eindruck zu machen. Sie hatte viel Stammkundschaft und auch eine charmante Seite, sie war so manchen ans Herz gewachsen. Mit ihr konnte man über den Inhalt des Hefts diskutieren, das sie verkaufte. Sie las jede Surprise-Ausgabe von A bis Z.

Dass sie nie Sozialhilfe bezog und ihre Einkünfte selbständig erwarb, war ihr wichtig. Nicht zuletzt daher rührte ihr Ehrgeiz beim Verkauf. Was es war, das sie dazu führte, Surprise zu verkaufen – auch das haben wir nie erfahren. In den internen Akten ist die Berufsbezeichnung «Fossilienjägerin» vermerkt, immer wieder mal war von einem Studium oder der ETH die Rede, wo sie ihre Ausbildung genossen haben soll.

Richtig gerne unterhielt sie sich über Katzen. Während einer Zeit im Jura hatte sie offenbar deren zehn, und immer wieder nahm sie welche von der Strasse auf, kümmerte sich um sie und schaute, dass sie wieder zu Kräften kamen. Ab und zu hat sie zudem eine Tochter erwähnt, aber auch nach den zwölf Jahren Surprise-Verkauf in Basel (und zwei Jahren in Zürich) blieb unklar, ob es doch zwei Töchter waren und vielleicht auch ein Sohn. Eva hatte ein Umfeld und eine Vergangenheit, die wir nie kennenlernten. Die allfälligen Kinder hatten jedenfalls eine Mutter, die ganz sicher eins war: cool. Genau so lautete denn auch einmal eine lapidare Selbstbeschreibung von Eva.

Viel Gesichertes wissen wir nicht über sie. Aber dass auf dem Basler Vertriebsbüro der dienstälteste Verkäufer mit der Sozialarbeiterin zusammensitzt und sich einfallen zu lassen versucht, wo man noch etwas über sie herausfinden könnte, erzählt noch etwas anderes: Eva Herr war ein Mensch, der einen beeindruckte und interessierte.

Dennoch lassen wir es so stehen, denn eins haben wir von ihr gelernt: Vielleicht geht es uns auch gar nichts an.

Eva Herr wurde vor einigen Wochen bewusstlos aufgefunden und auf die Notfallstation gebracht, Mitte Mai haben wir tief betroffen ihren Namen in den Bestattungsanzeigen gelesen.

Eva Rita Herr (19. August 1959 bis 13. Mai 2022) kannten in Basel viele. An ihrem Standplatz vor der Buchhandlung Bider & Tanner am Bankenplatz gehörte sie zur Stadt. Fotografieren lassen wollte sie sich nie.

STEFAN VECSEY ILLUSTRATION:

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