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Marseille

Drei Jahre und sieben Monate. Dass sie so lange nicht zurückkommen würden, hätten die Marktleute nicht gedacht. Damals, im Oktober 2018, als sie ihre Tapeziertische zusammenklappen, ihre Pavillonschirme zusammenfalten und alles in weisse, zerbeulte Lieferwagen räumen mussten, um den Platz freizumachen für Bulldozer.

Heute, an einem Dienstagmorgen im Mai, sitzen Nahema und Jamel auf einem Platz in der Marseiller Innenstadt an einem Bistrotisch, vor sich einen Espresso im Pappbecher. Die beiden, sie sorgfältig geschminkt in feiner Bluse, er in Poloshirt und Jogginghose, sind die Gewerkschaftspräsident*innen der Marktleute. Sie stellen sich mit Vornamen vor, Marktleute duzen sich. Während sie Kaffee trinken, bauen ihre Kolleg*innen vor ihnen vier Reihen Marktstände auf. Es ist der Tag, für den die beiden dreieinhalb Jahre mit Demonstrationen, Blockaden, Diskussionen mit der Stadtverwaltung gekämpft haben – der Tag der Rückkehr des Marseiller Schnäppchenmarkts auf diesen Platz.

Kein anderer Ort eignet sich besser, um zu erzählen, worum es geht im Streit darüber, wem die Stadt am Mittelmeer eigentlich gehört. «Place Jean-Jaurès», benannt nach dem grossen französischen Sozialisten, steht in den Stadtplänen der Tourist*innen. La Plaine, sagen die Marseillais, vom okzitanischen lo Plan, das Plateau. In der dicht bebauten Stadt öffnen sich hier auf einmal die fünfstöckigen Wohnhäuser und geben den Blick frei auf den Ort, der ein Schmelztiegel der Stadt war.

«Dieser Platz ist eine Art Marseille en miniature», sagt Jamel, und dann erzählen Nahema und er von früher. Von der Zeit, als die Plaine noch ein Parkplatz voller Schlaglöcher und Bäume war, auf dem sich zwischen kreuz und quer parkenden Autos Gangs und Ultras vom Fussballverein Olympique Marseille wie auch junge Familien zum Sonntagspicknick trafen. Im Staub spielten die Alten Pétanque, Kinder dribbelten Bälle hin und her. Und dreimal die Woche drängelten sich die Marktleute mit ihren weissen Bussen auf den Platz. Dann kamen Menschen aus allen Vierteln Marseilles, um günstig alles Notwendige zu erstehen.

Vor sechs Jahren kündigte die Stadtverwaltung an, den Platz aufwendig renovieren zu wollen. Das sahen viele Kritiker*innen als Teil eines aggressiven Umbauplans der rechtskonservativen, als korrupt geltenden Stadtregierung. Seine Reputation als schmutzige Kriminellenhochburg schützte Marseille in den 1980er- und 1990er-Jahren vor den Mechanismen der Gentrifizierung, vor Investoren und Tourismus. Ab den 2000er-Jahren jedoch schien der Bürgermeister im Eiltempo aufholen zu wollen, sorgte etwa für den Bau einer TGV-Strecke Paris–Marseille, investierte in ein teures Museum. In den Strassen zwischen der Plaine und dem arabisch geprägten Quartier Noailles war der Wandel besonders sichtbar, Künstler*innen und sogenannte «bourgeois bohème» zogen ein, Gutverdienende aus Paris kauften Wohnungen, hippe Bars und Conceptstores eröffneten. Schon bald wurde die Plaine und ihr unglamouröser Schnäppchenmarkt zum Symbol der gezielten Verdrängung vieler Marseillais – und des Widerstands. «Dass alle Stände um acht Uhr verkaufsbereit sind, hätten wir uns nicht erträumt», sagt Nahema, langer Zug an der Zigarette, zufriedener Blick über vier Reihen Schirme und Tische, 202 Stände insgesamt, jeder sechs Meter Verkaufsfläche. Nahema verkauft seit 24 Jahren Croissants im Zwölferpack auf dem Platz, die Arbeitszeiten als Marktverkäuferin passten damals besser zu den Abholzeiten von Krippe und Schule ihrer drei Kinder als die des Bäckerbetriebs, wo sie vorher arbeitete.

Jamel war noch ein Kind, acht Jahre alt, als sein Bruder anfing, Hemden und Parfum auf der Plaine feilzubieten. Die Familie wohnte nur eine Strasse weiter, sein grosser Bruder drückte Jamel Münzen in die Hand, damit er sich eine Pizza kaufen konnte. Er spielte mit den anderen Jungs Fussball und kletterte auf dem Spielplatz herum. Mit siebzehn eröffnete er seinen eigenen Stand, statt wie seine Freunde eine Ausbildung zu machen. Es gefiel ihm, sein eigener Chef zu sein.

Lavendelkissen statt Schnäppchen

Hunderte, tausende Male hat Jamel, der heute in seinen Vierzigern ist, seit all den Jahren morgens Kaffee bei Abdel getrunken, im Café auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Regelmässig quollen die Mülleimer vor leeren Bierdosen über, Hochstromkabel lampten aus den Pfeilern der Strassenlaternen, manchmal holte jemand bei Auseinandersetzungen ein Messer hervor. Aber er erzählt lieber anderes: von den Sardinages, dem traditionellen Sardinengrillen sonntags, vom Gemeinschaftsgefühl, dem unangemeldeten Karnevalsumzug.

Es lässt sich in Planungsdokumenten der Stadt nachlesen, wovon derweil die Re-

«Ich kann nicht einfach zusehen, ich habe den Mix an Menschen auf dem Markt zu gern.»

JAMEL, MARKTGEWERKSCHAFTLER

gierung unter Bürgermeister Jean-Claude Gaudin träumte: von «Aufwertung» der Stadt, von der «Wiederherstellung» ihrer «wirtschaftlichen und touristischen Attraktivität». Das Budget der Ausschreibung von September 2015 lag bei 11,5 Millionen Euro. Die Marktleute sollten während der Bauarbeiten auf ein Dutzend andere Märkte in der Stadt aufgeteilt werden. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Bürgermeister touristische Märkte bevorzugte, wie es sie in der Provence überall gibt, mit Lavendelkissen, Biogemüse und Strandtüchern.

Die Gewerkschaft der Marktleute, bis dahin ein schläfriger Verein, dessen Hauptfunktion in einer günstigen Versicherung bestand, hielt daraufhin eine Generalversammlung auf der Plaine ab. Jamel liess sich zum Vizepräsidenten wählen. «Als ich von den Machenschaften des Bürgermeisters hörte, wusste ich, ich kann nicht einfach zusehen», sagt er. «Ich habe den Mix an Menschen auf dem Markt zu gern, jeder spricht eine andere Sprache.» Einige Monate vor dem geplanten Beginn der Bauarbeiten verabredeten sich die Marktleute zum ersten Mal für eine Demonstration. Sie bildeten eine Kette zerbeulter Kastenwagen, die für mehrere Stunden die Stadt lahmlegte, eine der grössten Autobahnen blockierte, den alten Hafen. Sie waren nicht allein. Über 5000 Menschen unterschrieben eine Petition, die der Stadt vorwarf, mit der auf zweieinhalb Jahre geplanten Baustelle den Markt und das Leben im Viertel zu ersticken. Sie sprachen sich gegen das Fällen der 87 Bäume auf dem Platz aus, gegen die Aufhebung der kostenlosen nächtlichen Parkplätze, gegen das Entfernen des Boulodrome, erhöhte Pachtpreise für die Kioske sowie die 21 angekündigten Überwachungskameras. Mehrere Tausend zogen durch die Stadt, in die Hände klatschend: «Wir sind alle Kinder der Plaine!»

Nach einer besonders langen Blockade der Marktleute im Oktober 2018 – der geplante Baubeginn rückte immer näher – lud der Bürgermeister die Gewerkschaftler*innen zu Gesprächen ein. Die Standbetreiber*innen beschlossen, den Markt auf der Plaine nur zu räumen, wenn sie alle am selben Ort Stände zugeteilt bekommen würden. Es waren harte Diskussionen. Das Handy von Nahema klingelte in dieser Zeit ohne Pause, bis spät in die Nacht riefen ihre Kolleg*innen an. «Manchmal sassen wir von 8 bis 21 Uhr in Meetings, auch während des Ramadan», sagt Jamel. «Ich hab damals meine Ehe riskiert. Meine Frau drohte mir, sich scheiden zu lassen.»

Am Ende eines dieser Diskussionstage sagte die zuständige Politikerin Marie-Louise Lota der Lokalplattform Marsactu: «Der Markt auf der Plaine ist passé.» Die Marktleute hätten genug Zeit gehabt, um die Vorschläge des Bürgermeisters zu überdenken – etwa, dass ein kleiner Teil der Stände während der Bauarbeiten bleiben könnte. Doch die Gewerkschaftler*innen wollten eine Lösung für alle. Am nächsten Tag bauten Nahema, Jamel und alle anderen ihre Stände trotzdem auf. Am Nachmittag kam ein neuer Vorschlag der Stadtverwaltung: Die Marktleute würden je einen Stand auf zwei anderen Märkten ausserhalb der Innenstadt zugesichert bekommen, sollten sie die Plaine räumen. Sie stimmten zu. Am 11. Oktober 2018 räumten sie ein letztes Mal ihre Waren in die Kastenwagen.

Einen knappen Monat später stürzten in der Rue d’Aubagne in unmittelbarer Nähe zur Plaine zwei Häuser in sich zusammen. Zwei von mehreren Tausend Sozialbauten, die der Stadt lange als baufällig bekannt waren. Neun Menschen starben in den Trümmern. Die ersten beiden identifizierten Opfer kannte jede*r auf der Plaine. Selbst Anwohner*innen, die den Umbauplänen bislang zwiespältig gegenübergestanden hatten, verloren nun die Geduld. Der Platz wurde zum Ort, von dem aus die «Marches de la colère» loszogen, Wutmärsche gegen die Stadtregierung, auf denen an manchen Tagen bis zu 8000 Menschen teilnahmen. Immer wieder warfen Demonstrant*innen die Bauzäune auf der Plaine um, bis die Stadt für mehrere Hunderttausend Euro zweieinhalb Meter hohe Betonmauern aufstellen liess.

An den Tagen, an denen sie nicht demonstrieren gingen, taten die Marktleute, was sie immer taten, bauten ihre Tapeziertische auf und versuchten mit guten Angeboten zu locken – nur waren sie nun an Orten, wo die Kunden sie nicht kannten, auf den ihnen zugewiesenen zwei anderen Märkten, der eine in Nähe des alten Industriehafens, der andere in Richtung des Meeres und der reicheren Viertel.

Dass die meisten von ihnen heute wieder auf der Plaine stehen, haben sie auch der Bürgermeisterwahl 2020 zu verdanken. Damals musste der rechtskonservative Jean Gaudin nach 25 Jahren gehen. Eine Koalition aus Grünen und Sozialist*innen folgte. Von da an, da sind sich Jamel und Nahema einig, änderten sich die Verhandlungen mit der Stadt. Die Angestellten der neuen Bürgermeisterin hörten zu, erklärten den aktuellen Stand der Bauarbeiten. Danach, sagt Jamel, hing nicht mehr die unausgesprochene Drohung in der Luft, dass sie vielleicht nicht zurückkommen dürften.

Kämpfen um jeden Millimeter

Jetzt ging es nur noch darum, wann und wie. Die Bauarbeiten wurden abgeschlossen, der Platz wiedereröffnet. Doch die Rückkehr der Marktleute verschob sich um Wochen, Monate, ein halbes Jahr. Denn auf den von der Baufirma angefertigten Marktplänen hatten nicht alle 238 Stände Platz. Wenige Wochen vor der angekündigten Eröffnung des Marktes organisierten Nahema und Jamel wieder Demonstrationen. Die Stadt zeigte sich einsichtig, die letzten Tage vor der Eröffnung trafen sie sich jeden Tag mit der Stadt, um Stände auf dem Papier hin- und herzuschieben, bis es passte. «Wir haben gekämpft», sagt Nahema.

Sie steht auf. Mit Jamel möchte sie kontrollieren, dass alle auf dem Platz stehen, den die neue Marktordnung vorsieht, die sie mit der Stadtverwaltung erarbeitet haben. «Breitere Gassen als früher, aber weniger Meter für die Stände», sagt Nahema. Es ist inzwischen elf Uhr, viele Menschen schieben sich den Ständen entlang, Mütter mit Kindern im Buggy, ältere Frauen mit Kopftuch. Überall erkennen sich Besucher*innen und Marktleute wieder, die drei Jahre Pause sind wenig im Vergleich zu teils Jahrzehnten Verkaufsbeziehung. Die geübten Rufe der Verkäufer schallen über die Gänge. «Allez allez allez, les clients, vous n’allez pas le regretter!»

Nahema und Jamel sagen hier und da hallo, geben Wangenküsschen. Sie kommen auch an Jamels Stand vorbei, Kleider hängen orange, lila, rosa von einem grossen Pavillonschirm, sein Bruder berät die

«Es ist immer noch ein Souk», hört man einen im Vorbeigehen zufrieden sagen, das arabische Wort für Markt benutzend.

Kundinnen. Ein Kollege geht auf Jamel zu, murmelt ein paar Worte auf Arabisch, drückt ihm eine Tüte in die Hand: drei kleine Plastikflaschen Olivenöl, von seiner Familie aus Algerien. «Die Anerkennung der anderen macht mich stolz, klar», sagt Jamel, hängt die Tüte an eine der Kleiderstangen. Ein paar Meter weiter steht Nahemas Sohn hinter Verkaufstischen voller Familienpackungen Schokolade, Kekse und Croissants im Zehnerpack. Nahema beginnt, ihrem Sohn beim Auspacken zu helfen. Währenddessen diskutiert sie mit Jamel weiter über Kolleg*innen, die unzufrieden sind, weil sie weniger Platz haben.

Viele der Besucher*innen, die sich heute an die Tische drängen und mit grossen weissen Plastiktüten voller Unterwäsche, Make-up, Putzmittel und neuen Sandalen den Markt verlassen, sind euphorisch. «Es ist immer noch ein Souk», hört man einen im Vorbeigehen zufrieden sagen, das arabische Wort für Markt benutzend. Obwohl der neue Platz mit dem spiegelglatten, sonnenreflektierenden Beton ein wenig aussieht wie alle modernen Plätze. Mit neu installierten Überwachungskameras an allen Strassenecken. Und häufigen Polizeikontrollen.

Kurz vor Mittag sitzt Nahema versteckt zwischen Lastenwagen im Schatten eines Baumes und raucht eine Pausenzigarette. «Es ist, als wären wir nie weggewesen», sagt sie. Es klingt eher müde als triumphierend. Sie denkt schon an die nächsten Treffen mit der Stadtverwaltung, an die Diskussionen über die zwanzig Marktleute, die keine festen Standplätze haben und bislang nicht auf die Plaine zurückkehren durften. Jamel ergänzt: «Sie können den Platz verändern, aber wer ihn benutzt, das können sie nicht bestimmen.» Aber nun werde er seinen Gewerkschaftsposten erst einmal aufgeben, er habe seiner Frau versprochen, nach dem ersten Markttag eine Pause einzulegen.

Als Gewerkschaftspräsidentin hat Nahema (links) sich gemeinsam mit Jamel (oben rechts, mit einem Freund) um die Organisation der Proteste und der Verhandlungen mit der Stadt gekümmert.

Der Marché de la Plaine bietet keine Lavendelkissen oder Strandtücher, dafür Waren des täglichen Bedarfs für die Menschen, die rund um das Quartier leben und arbeiten.

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