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Suizid
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Menschen sind weltweit im Schnitt im Umfeld von einem Suizid betro en.
Das Leben danach
Suizid Wer freiwillig aus dem Leben geht, leidet meist an Depressionen. Für viele Hinterbliebene ist die Entscheidung für den Tod trotzdem schwer zu akzeptieren.
TEXT KLAUS PETRUS
Woher sie nur wusste, wie man das macht, fragt sich Gertrud Z.* immer wieder. Sich das Leben nehmen. Und dann so, auf diese Weise: langsam und ganz bei Sinnen. Vielleicht wusste sie es aus dem Internet, hatte die Polizei gemutmasst. Gertrud Z. schüttelt den Kopf, als wolle sie sagen: «Wie kann man nur.» Doch sie sagt es nicht. Sie sagt stattdessen: «Hoffentlich hat sie es jetzt besser.»
Sie, das ist Maria G.*, seit mehr drei Jahren tot. Am 13. Mai 2019 fand ihre Mutter Rita G.*, 46, geschieden und Lehrerin von Beruf, die 19-Jährige gegen 21 Uhr leblos in ihrem Einfamilienhaus am Rand einer Schweizer Grossstadt. Gertrud Z. erfuhr erst eine Stunde später davon, da war sie bei einer Freundin zum Abendessen, sie redeten über die kommende Abstimmung zur AHV-Reform. «Meine Tochter Rita rief mich an, sagte fast resolut: ‹Maria hat sich umgebracht!›, dann legte sie einfach auf und ich redete weiter, eine Minute lang, vielleicht auch zwei, ich weiss noch, wie ich ins Handy schrie: ‹Was hat die sich bloss dabei gedacht!›»
Schon damals setzten sich die Bilder in Gertrud Z.s Kopf fest: Maria mit ihren schwarzen Locken, der spitzen Nase, den dunkelrot lackierten Fingernägeln, dem Jupe mit den bunten Mustern darauf, den braunen, abgewetzten Lederschuhen mit Löchern hinten am Absatz, und wie man sie fand, wie sie dalag, jedes Detail stand in diesem Polizeibericht, den Gertrud Z. unbedingt lesen wollte. Tu es nicht, hatte ihre Tochter damals zu ihr gesagt. «Vielleicht hatte sie ja recht, es war grauenhaft», sagt die 78-jährige grossgewachsene, elegante Frau. «Ich wünschte, mein Kopf wäre leer.»
Maria sei ein Mädchen gewesen wie andere auch, sagt Gertrud Z., aufgeweckt, mit Flausen im Kopf, manchmal ein bisschen vorlaut, aber nie frech. Als die Eltern sich scheiden liessen («Meine Tochter Rita hatte ständig Affären»), war Maria neun Jahre alt und weinte viel. Zu ihrem Vater hatte sie danach kaum noch Kontakt, die Mutter war häufig am Arbeiten, also war sie oft bei ihrer Grossmutter. «Als Maria fünfzehn wurde, machten wir unsere erste Städtereise, und dann jedes Jahr: München, Paris, Berlin, Prag. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, redeten über alles, wir hatten auch Geheimnisse vor den anderen. Dass es ihr so schlecht geht, dass sie nicht weiterwusste – das hätte ich nie gedacht. Niemand hätte das gedacht. Erfahren haben wir es, als es zu spät war.»
Das war vor einem Jahr, als Rita G. darauf drang, endlich die Sachen von Maria wegzuräumen. Damals verbrachte Gertrud Z. viele Stunden im Zimmer ihrer verstorbenen Enkelin, noch immer fiel ihr der Abschied schwer. So habe sie diese losen Blätter gefunden, randvollgeschrieben in kleiner Schrift, etwa zehn an der Zahl, sie waren in ein Schulheft gelegt. Beim ersten Durchlesen sei ihr schwindelig geworden, sie habe sich erbrechen müssen; später brach Gertrud Z. zusammen. «Bei jedem Satz dachte ich, das kann nicht wahr sein, vielleicht wollte Maria ja bloss eine Erzählung schreiben, ein fiktives Tagebuch. Ich habe mir das lange eingeredet.»
«12.10.2018. Habe mit Hannah* (Freundin von Maria, Red.) über Freitod geredet. Stritten über das Wort. Sie meint, nur Kranke bringen sich um und die können halt nicht anders, also nichts von ‹frei›. Ich hielt dagegen: Jeder weiss selbst, wann genug ist. Ich jedenfalls werde es wissen. Und mich dann entscheiden – dafür oder dagegen?»
Maria und sie hätten oft über den Tod geredet, erzählt Gertrud Z. Etwa darüber, wie es ihr erging, als ihr Mann Erich schon mit Ende fünfzig an Krebs starb, ob ein Leben danach noch möglich sei, und wieso wir überhaupt derart am Leben festhalten, auch wenn es keinen Sinn mehr macht. Im Rückblick glaubt sich Gertrud Z. daran zu erinnern, dass Maria einmal sagte, alle, die lebensmüde seien, hätten das Recht, dem Leben ein Ende zu setzen; sie jedenfalls würde das so machen. Überhaupt fielen ihr danach immer wieder Sätze und Szenen ein, die ein Zeichen hätten sein können – oder sein müssen, wie Gertrud
Weltweit versuchen rund
800000
Personen pro Jahr sich das Leben zu nehmen.
2190
pro Tag
91
500000
Personen in der Schweiz haben aktuell Suizidgedanken.
200000
Personen in der Schweiz haben mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen.
33000
haben im letzten Jahr einen Suizidversuch gemacht.
Z. heute sagt: Marias abwesende Blicke bei Feierlichkeiten zum Beispiel, die zittrigen Hände beim Umblättern eines Magazins, der Schweiss auf der Stirn, ihr salopper Umgang mit Jungs, das stundenlange Kritzeln in einem Heft, das übertrieben kindliche Verhalten der Mutter gegenüber, die Weinkrämpfe aus heiterem Himmel, wie an der letzten Weihnacht.
«Ich will leise gehen»
«23.12.2018. Versuche alles zu verstecken, mich zu verstecken. Geht ganz gut. Meine Mutter interessiert sich nur für sich, die Oma ist alt. Meine Freunde haben andere Sorgen, ich mache den Clown. Oder lasse mich nicht blicken. (...) Cécille* hat mich verlassen, jetzt habe ich niemanden mehr. Ich sehe nur noch schwarz, bin die ganze Zeit traurig, kann nicht schlafen, es dreht und dreht und dreht. (...) Die Pillen gehen mir aus. Am Ende wird alles ein Ende haben. Ein schnelles, leises Ende.»
Fassungslos und wütend haben «Marias Zettel», wie sie in der Familie heissen, Gertrud Z. gemacht, vor allem aber wollte sie verstehen. «Ich habe alles über Suizide gelesen, über Motive und Arten und Anleitungen, habe Stunden im Internet auf Foren von Hinterbliebenen verbracht, ich war wie besessen.» Eine Antwort auf Marias Tod war all das freilich nicht. Wieder und wieder las Gertrud Z. die Zettel, suchte nach Indizien, Andeutungen und Gründen. Heute ist sie überzeugt, dass ihre Enkelin an Depressionen litt und deswegen Schlafmittel nahm, dass sie unglücklich in eine Frau verliebt war und vielleicht von einem Jungen sexuell misshandelt wurde. «4.2.2019. Cécille spielt mit mir wie eine Katze mit der Maus. Ich verdiene das nicht. Aber gut, besser als wenn dich einer beschmutzt. (...) Ich fühle mich an wie ein Nichts. Kann sich das einer vorstellen? Du bist unsichtbar, bist gar nicht da, keiner sieht dich. Es spielt keine Rolle, ob es dich gibt. So ist das: ein Nichts zu sein.»
Wie das eine mit dem anderen zusammenhing oder ob da noch etwas ganz anderes war, weiss Gertrud Z. nicht zu sagen. Vermutlich wird sie es nie wissen. Der Tochter wurde das Grübeln von Gertrud Z. zu viel. Seit Marias Tod reden sie kaum noch miteinander, Schuldzuweisungen und Scham vergifteten ihre ohnehin schwierige Beziehung. Marias Vater wollte eine Kopie der Zettel, Tage später schrieb er Gertrud Z. eine SMS mit dem Satz: «Es ist, als hätte jemand anders das geschrieben, nicht unsere Maria.»
«22.1.2019. Niemand darf etwas erfahren. Sie würden mir zureden, auf mich einreden, mir Vorwürfe machen und mich abhalten wollen. Sie würden mich verurteilen, ohne zu verstehen. Dafür habe ich keine Kraft mehr. Ich will leise gehen, einfach so.»
«Vermutlich habe ich alle Phasen der Trauer durchlebt, wie sie in einem Lehrbuch stehen: Wut, Verzweiflung, Scham, dann die Angstzustände, die Momente des Abschieds, der Versuch, sich erneut zurechtzufinden in diesem Leben», sagt Gertrud Z. Inzwischen trifft sie sich wieder mit Freundinnen, sie liest viel, geht wandern, ordnet ihre Erinnerungen, sortiert das Gelebte, wie sie sagt. «Nach Erich war mir Maria das Liebste im Leben. Nun sind beide nicht mehr da. Da bleibt nicht mehr viel. Aber für mich muss es reichen, es geht noch ein Weilchen weiter.» Ihre Psychologin – Gertrud Z. ist seit einem Jahr in Therapie – sage immer, bei einschneidenden Erlebnissen gebe es ein Leben davor und ein Leben danach. «Doch was ist dazwischen?», fragt Gertrud Z. «Und was ist dieses Dazwischen und wie lange dauert es? Hört es jemals auf?»
Manchmal hat Gertrud Z. Tage, da macht sie sich keine Vorwürfe mehr, spielt in ihrem Kopf nicht mehr alle Szenen durch, in denen sie etwas anderes hätte sagen oder tun sollen – als wäre Maria dann noch am Leben. An anderen Tagen nagt dieses Gefühl an ihr, sie hätte alles verhindern können. Dann wünscht sie sich, ihre Enkelin hätte es aus einem Affekt getan – und nicht von langer Hand geplant. Doch Gertrud Z. weiss, dem ist nicht so.
* Name geändert
Wir haben uns in diesem Beitrag an den Leitfaden der medialen Berichterstattung über Suizid gehalten und die Namen der Betroffenen geändert sowie weder Methode, Hilfsmittel noch den genauen Ort erwähnt. Auch haben wir darauf verzichtet, Fotografien von Marias Gegenständen oder ihren Zetteln zu zeigen. Die Auszüge aus «Marias Zetteln» wurden mit den Angehörigen abgesprochen und der gesamte Beitrag mit Gertrud Z. durchgegangen. Hilfestellung für Betroffene bietet u.a. die Dargebotene Hand: Telefon 143, oder Pro Juventute: Telefon 147; für Eltern und Familienangehörige Pro Juventute: 058 261 61 61, oder der Verein Trauernetz: www.trauernetz.ch.