10 minute read

Eine Lösung aber nicht für alle

Next Article
Vor Gericht

Vor Gericht

Das Housing-First-Projekt der Heilsarmee in Basel funktioniert gut, erreicht aber nicht alle Betroffenen. Sans-Papiers bleiben aussen vor, auch gibt es zu wenige Wohnungen.

TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS

«Das Beste, was mir passieren konnte. Hier habe ich meine Ruhe, hier kann ich tun und lassen, was ich will.» Andreas L.*, Mitte 50, sitzt am Tisch seiner Einzimmerwohnung und schenkt Mineralwasser ein. Seit exakt eineinhalb Jahren lebt er hier, mitten in der Stadt Basel, nahe dem Rhein, er hat einen eigenen Schlüssel, eigene Möbel, einen eigenen Mietvertrag. Was nicht selbstverständlich sei für einen wie ihn, sagt Andreas L., der es, als ihm vieles zu viel wurde, hat «schleifen lassen» und auf der Strasse landete: ohne Arbeit, ohne Geld und ohne Wohnung, dafür mit dunklen Gedanken zuhauf. Tagsüber war Andreas L. an Orten, wo er einkehren durfte, ohne konsumieren zu müssen, die Nächte verbrachte er erst in der Notschlafstelle, dann im Männerwohnhaus der Heilsarmee Basel. Dort hörte er von einem Projekt, das Wohnungen an Obdachlose vergibt, unkompliziert und quasi bedingungslos. Sein Betreuer aus dem Männerwohnhaus schlug ihn für das Projekt vor, bald darauf hielt Andreas L. den Wohnungsschlüssel in seiner Hand.

«Housing First» ist der Name für dieses Projekt und die Idee dahinter bestechend einfach: Wohnen ist ein Menschenrecht, das muss man sich nicht erst durch Leistung, Integration, Teilnahme an Sozialberatungen oder Therapiemassnahmen verdienen. Vielmehr sollen geordnete Wohnverhältnisse die Basis sein, um andere Schwierigkeiten anzugehen, die womöglich zur Obdachlosigkeit geführt haben: Schulden etwa, der Konkurs der eigenen Firma, der Tod des Partners, Krankheit oder Drogen. Also Wohnen zuerst, und dann der ganze andere Rest. Die Idee stammt aus den USA, inzwischen haben sie auch europäische Länder übernommen (siehe Chronik ab Seite 12). In Basel wurde Housing First 2020 lanciert, nachdem der Kanton Basel-Stadt 2018 die Initiative «Recht auf Wohnen» angenommen und die Sozialhilfe von Basel-Stadt eine Ausschreibung für «Housing First» gemacht hatte. Den Zuschlag erhielt die Heilsarmee, die dieses Pilotprojekt bis vorerst Ende 2023 umsetzt und mit der Beratung sowie Betreuung der Housing-First-Nutzer*innen beauftragt ist. Vermietet werden die Wohnungen von der Stadt und Privaten, die Mietkosten bezahlt die Sozialhilfe oder sie werden durch Ergänzungsleistungen gedeckt.

«Housing First ist einzigartig, weil niederschwellig», sagt Mauro Trombini, Mitarbeiter von Housing First bei der Heilsarmee. «Anders als bei herkömmlichen sozialen Wohnprojekten beruhen Betreuung und Beratung auf Freiwilligkeit; man kann sie in Anspruch nehmen oder aber ablehnen. Auch ist Abstinenz bei Housing First keine Bedingung.» Gleichwohl gibt es Auflagen, wer dafür infrage kommt. Am Projekt teilnehmen darf nur, wer mindestens 18 Jahre alt ist, seinen Wohnsitz im Kanton Basel-Stadt hat, seit einigen Jahren obdachlos ist oder zumindest wohnungslos (also über keine feste eigene Adresse verfügt), wer durch andere bestehende Angebote wie betreutes Wohnen nicht erreicht wird sowie süchtig oder psychisch krank ist.

Auf Andreas L. trifft das meiste zu. Wobei Drogen, wie er sagt, nie ein Thema waren. Auch der Alkohol sei ihm bisher nicht zum Problem geworden. Wohl aber diese Depressionen. Zweimal war Andreas L. bereits in der Klinik, nachdem er sich über Tage und Wochen zurückgezogen und all seine Kontakte abgebrochen hatte. «Das ist mein Ding, das ist typisch für mich, leider: Gibt’s Probleme, verkrieche ich mich.» Einmal habe die Polizei vor

Man muss mindestens 18 Jahre alt sein und seinen Wohnsitz im Kanton Basel-Stadt haben: Das sind zwei der Bedingungen, um am Projekt teilnehmen zu können.

«Ich bleibe lieber für mich. Immer unter Leuten, das ist nichts für mich.»

ANDREAS L.

seiner Tür gestanden, die Nachbar*innen hätten sich Sorgen gemacht, als sie tagelang nichts von ihm gesehen und gehört hatten. «Die meinten wohl, ich sei tot.»

Prekär gelebt hatte der gelernte Maurer schon Jahre vorher. Die Firma, für die er lange arbeitete, ging Konkurs, dann hatte er Jobs hier und dort. Bis Andreas L. und seine damalige Freundin mit dem Erbe des Vaters 2003 eine Firma gründeten, mit der sie allerlei Waren übers Internet verkauften. Was nicht rentierte. «Da war plötzlich das Geld weg und bald darauf auch die Frau.» Also meldete sich Andreas L. auf dem Sozialamt an. Sein ohnehin schon kleiner Freundeskreis wurde noch enger, er zog sich, einmal mehr, zurück. Dann, 2016, hatte Andreas L. einen Herzinfarkt und musste nach dem Spital für einige Zeit in die Reha. Die Krankenkasse zahlte ihm rückwirkend das Krankentaggeld, was er dem Sozialamt hätte melden müssen, aber versäumte. «Da war nicht einmal Absicht dahinter, mir war einfach alles zu viel. Ich ging nicht mehr an die Termine, nahm weder das Telefon ab noch öffnete ich die Briefe des Sozialamts.» So wurden ihm die Sozialbeiträge gestrichen.

Als das Geld der Krankenkasse aufgebraucht war, stand Andreas L., damals fast 50, vor dem Nichts. Die Notschlafstelle wurde sein neues Zuhause, Kontakt zu anderen Obdachlosen suchte er nicht. «Ich bleibe lieber für mich. Immer unter Leuten, das ist nichts für mich.» Auch als er eine Zeit lang im Männerwohnhaus der Heilsarmee unterkam, war dies das grösste Problem für Andreas L. «Man teilt das Zimmer mit jemandem, den man nicht kennt, man hat kaum Privatsphäre, kann sich nicht zurückziehen. Zum Glück ist das hier anders.»

Hier, das ist die Einzimmerwohnung, in der Andreas L. jetzt im Rahmen von Housing First lebt: etwa 25 Quadratmeter, ein kleines WC, ein Raum mit Bett, Tisch, Schrank, Regal und Fernseher, an den Wänden ein paar Poster hinter Glas, eine offene Küche, die Fensterfront zeigt zum Innenhof. Ein Teil der Möbel stammt noch aus seiner früheren Wohnung, den Rest hat er sich mit dem Geld der Sozialhilfe, wo er inzwischen wieder angemeldet ist, hinzugekauft.

Zu wenig Wohnungen

Gemäss Zahlen von 2018 waren in Basel rund 100 Menschen obdachlos; weitere 200 hatten keine eigene Wohnung, sie waren in Notwohnungen der Sozialhilfe untergebracht oder schliefen bei Freund*innen oder Bekannten. Schweizweit sind derzeit rund 2200 Menschen obdach- oder wohnungslos, weitere 8000 «von Wohnungsverlust

Bald schweizweit?

Housing First als Ansatz zur Minderung von Obdachlosigkeit gibt es in der Schweiz nicht allein in Basel. In Lausanne läuft bereits seit einigen

Jahren ein Versuch mit einer dezentralen Wohn

betreuung von Personen mit einer Suchterkrankung, und 2019 wurde ein Housing-First-Projekt der Suchthilfe Perspektive Region SolothurnGrenchen lanciert. Auch in Luzern gibt es Vorstösse, und zwar auf politischer Ebene; diesen Sommer hat die SP Stadt Luzern ein entsprechendes Postulat eingereicht. Anders als bei bisher gängigen Unterstützungsformen gehe es darum, obdachlosen Menschen bedingungslos Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die Umsetzung obliege der Stadt sowie Fachinstitutionen, so die SP in ihrem Postulat. Ähnliche Vorstösse gibt es in Zürich und Bern. – Eine Übersicht über die sozialen und politischen Dimensionen des Themas bietet das Buch «Housing first. Ein (fast) neues Konzept gegen Obdachlosigkeit» (2020), unter schwarzerpeter.ch/ mediadesk/housingfirst kann es heruntergeladen werden. KP

Mit den Nachbar*innen hat Andreas L. nicht viel Kontakt.

«Wir brauchen mehr Vermieter und Vermieterinnen, die ihre soziale Verantwortung wahrnehmen.»

RENÉ THOMA, GENOSSENSCHAFTLER

bedroht», schätzt die Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz» der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Im Projekt «Housing First» der Heilsarmee sind derzeit 23 Personen im Alter von 24 bis 72 Jahren angemeldet, davon 12 Frauen. Zwar sind 11 Personen schon mindestens zehn Jahre obdachlos. Davon sind jedoch nur wenige «rough sleepers», wie jene Obdachlosen genannt werden, die permanent draussen leben und übernachten.

Solange diese «rough sleepers» nicht erreicht werden – in Basel sind es etwa 50 Personen –, dürfte der Anspruch, die Obdachlosigkeit mit Housing First zu beenden, wohl überrissen sein. Für Eva Gammenthaler von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern muss das Vertrauen der Betroffenen gewonnen werden: «Um Menschen in prekären Lebenssituationen zu erreichen, muss Housing First über niederschwellige Institutionen oder Anlaufstellen laufen, die bereits bekannt sind und bestenfalls langjährige Beziehungsarbeit geleistet haben, wie die Aufsuchende Soziale Arbeit.» Gammenthaler nennt den Verein Schwarzen Peter, der in Basel Gassenarbeit leistet. Tatsächlich hatte sich der Verein dagegen entschieden, sich ebenfalls für die Betreuung des Housing-First-Projekts zu bewerben. «Wohnbegleitung bringt früher oder später Konflikte mit den Nutzenden, also unseren Klient*innen, mit sich, und das kann unser gegenseitiges Vertrauen gefährden – was wir nicht wollen», sagt Michel Steiner, Co-Geschäftsleiter von Schwarzer Peter. Auch Trombini von der Heilsarmee ist sich des Problems bewusst, zumal gerade für «rough sleepers» Vertrauen und Autonomie sehr wichtig seien. Oft gebe es auch Missverständnisse, was Housing First genau bedeutet. Wer darin nur eine weitere Spielart des betreuten Wohnens sieht, würde das Angebot eher ablehnen, so Trombini. «Deshalb ist Aufklärungsarbeit so wichtig.»

Für andere Obdachlose ist Housing First, jedenfalls in der bisherigen Form, keine Option. Von ihnen ist in der Öffentlichkeit nur wenig die Rede, obwohl sie gemäss der erwähnten FHNW-Studie 61 Prozent aller Obdachlosen in der Schweiz ausmachen: die Sans-Papiers (siehe Surprise Nr. 526). Wer keine gültigen Aufenthaltspapiere besitzt, kann von Gesetzes wegen keine Sozialhilfe beziehen und keinen eigenen Mietvertrag abschliessen, was für Housing First aber unerlässlich ist. Solange diese Rahmenbedin-

gungen gelten und Housing-First-Projekte durch Stadt und Kantone finanziert werden, werden Sans-Papiers mit dem Angebot auch weiterhin nicht erreicht werden können.

Dies zeigt, wie sehr Housing First von strukturellen Bedingungen abhängt. Dazu gehört auch der Wohnungsmarkt gerade in Grossstädten. Wie in anderen namentlich westeuropäischen Ländern fehlt es auch hierzulande zunehmend an bezahlbarem Wohnraum. Kommt in Basel hinzu, dass Stadt und Kanton infolge jahrelanger Privatisierungsmassnahmen kaum noch über eigenen Wohnraum verfügen, den man gezielt für soziale Projekte wie Housing First nutzen könnte. Auch Bern und Zürich haben die Umsetzung städteplanerischer Projekte mehr oder weniger dem freien Markt überlassen.

Für Trombini von der Heilsarmee wäre es ebenfalls wünschenswert, wenn für Housing First günstiger Wohnraum geschaffen würde. Bisher gibt es Plätze nur dann, wenn irgendwo eine Wohnung frei wird. Entsprechend sind Projekte wie dieses auch vom freiwilligen Engagement Privater abhängig. «Wir brauchen mehr Vermieter und Vermieterinnen, die ihre soziale Verantwortung wahrnehmen», sagt René Thoma. Er ist Geschäftsleiter der Wohnbau-Genossenschaft Nordwest sowie Präsident der Wohngenossenschaft Im Vogelsang in Basel und vermietet Wohnungen an Menschen, die am Housing-First-Projekt teilnehmen. Neben Engagement brauche es auch Toleranz. Nicht immer gestalte sich das Mietverhältnis einfach mit Menschen, die längere Zeit keine eigene Wohnung hatten, so Thoma. Er berichtet von einem Fall, wo er wegen Konflikten mit einer Betroffenen das Mietverhältnis auflösen wollte, sich dann aber die anderen Mieter*innen im Haus für den Verbleib der Frau eingesetzt hatten.

Über die Stadt verteilt

Gerade bei einem dezentralen Wohnprojekt wie dem Basler Housing First kann dies eine besondere Herausforderung darstellen. Anders als etwa bei entsprechenden Projekten in Finnland sind in Basel die Wohnungen über die ganze Stadt verteilt, und nicht immer ist die Nähe zu ehemaligen Obdachlosen bei Nachbar*innen erwünscht. Auch dürfte im Fall von Konflikten die Wohnbegleitung im de-

ANZEIGE

FAMILIENSACHE 21.8. – 23.10.2022

Kunst(Zeug)Haus Schönbodenstrasse 1 8640 Rapperswil-Jona kunstzeughaus.ch

Den eigenen Rückzugsraum gestalten können, ist eine Voraussetzung für vieles.

zentralen Modell aufwendiger sein, als wenn sich das Housing-First-Projekt nur an einem Ort befindet. Diese Gefahr sieht auch Michel Steiner vom Schwarzen Peter: «Menschen, die lange nicht gewohnt haben, werden womöglich Mühe haben mit der neuen Situation, es kann Konflikte und Probleme mit Nachbar*innen geben, die bei über die Stadt verteilten Wohnungen schwerer zu lösen sind.»

Eva Gammenthaler von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern ist optimistischer. «Grundsätzlich spreche ich mich für Durchmischung aus, auch wenn es um günstige Wohnformen oder Housing-First-Projekte geht. Dies fördert sowohl die Integration der Bewohnenden als auch die Akzeptanz der Mitmenschen.» Für Trombini fällt die bisherige Bilanz ebenfalls positiv aus. «Wir wollen den Menschen eine möglichst normale Wohnsituation bieten, inmitten von anderen. Probleme mit Nachbar*innen gab es zwar immer wieder mal, nach drei Monaten aber gelingt das Zusammenleben in der Regel.»

Auch Andreas L. fühlt sich wohl in seiner Umgebung. Die Wohnung biete ihm Stabilität, grosse Sprünge werde er keine mehr machen. Einzig Ferien vermisst er. «Noch einmal nach Thailand, das wär’s.» Er hat das Land früher schon bereist, es ist ihm zu einem Sehnsuchtsort geworden. Ansonsten geniesst Andreas L. die Ruhe in seinen eigenen vier Wänden. Einmal in diesen eineinhalb Jahren hat er seine Dartfreunde bei sich auf ein Znacht eingeladen, sie haben ein paar Bierchen getrunken und Musik gehört. Daran gestört hat sich von den Nachbar*innen niemand. Er hat ohnehin kaum Kontakt mit ihnen. Andreas L. fällt nicht auf, und das ist ihm recht so.

This article is from: