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Kino
In «Un autre monde» spielt Vincent Lindon einen Manager, dessen Arbeit sein Familienleben zerstört. Dass er als leitender Angestellter eigentlich Entscheidungsträger ist, nützt ihm nicht viel: Die Mechanismen des Systems sind stärker als seine Werte.
«Wo die Welt dysfunktional wird»
Kino Der Regisseur Stéphane Brizé zeigt mit «Un autre monde» einen Spielfilm über den globalisierten Arbeitsmarkt. Er macht aus einem Manager einen Menschen, der sich selbst unsympathisch wird.
TEXT DIANA FREI
Philippe Lemesle (Vincent Lindon) ist einer von fünf französischen Standortleitern eines US-amerikanischen Weltkonzerns. Seine Aufgabe: An seinem Standort 58 Menschen entlassen, um die Gesamtstrategie aus New York umzusetzen. Erreicht der Konzern die Strategieziele nicht, droht das Szenario, dass die Produktion ins Ausland verlagert wird.
In all den Jahren, in denen Philippe mitgeholfen hat, den Konzern aus den roten Zahlen herauszuhieven, ging es mit seinem Familienleben bergab. Das Scheidungsgespräch mit den Anwält*innen sieht im ersten Moment nach Ehekrieg aus, aber der Eindruck trügt. Anne (Sandrine Kiberlain) und Philippe treffen sich kurz danach im Auto auf einem Parkplatz. Sie weint, weil sich bei den Anwält*innen alles nur noch ums Geld drehe, er versucht zu trösten. Der Niedergang dieser Ehe hat bereits stattgefunden, bevor die Filmhandlung einsetzt. Wir sehen jetzt, was noch alles vorhanden wäre an Verbundenheit, Nähe, gegenseitigem Verständnis. Es hat dem Arbeitsdruck nicht standgehalten. «Weisst du, an wie vielen Wochenenden wir in den letzten zwei Jahren gemeinsam etwas unternommen haben?», fragte Anne im Anwaltsgespräch. «Ich habe nicht gezählt», antwortet er. «Ich schon. Es waren sechs», sagt sie.
«Un autre monde» zeigt, wie sich Menschen in der Welt des Neoliberalismus verändern. Regisseur Stéphane Brizé geht es dabei um die Mechanismen in der Arbeitswelt. Um die Art und Weise, wie Druck aufgebaut wird. Um eine bestimmte Art von Diskurs, von Argumentation und Begrifflichkeiten. Worte und Werte werden kurzerhand neu definiert. Dabei fällt auffallend oft das Wort Mut. «Der Begriff Mut ist sehr praktisch», sagt Stéphane Brizé im Gespräch an der Vorpremiere in Zürich. «Damit bringt man Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie selbst für falsch halten.» Der Chef in den USA redet vom Mut, den es brauche, die Gesamtstrategie durchzusetzen. Er meint damit die nötige Kälte, um Leute zu entlassen.
Verantwortung wird weitergereicht. Brizé geht so weit, von der Banalität des Bösen zu sprechen. Die deutsche Denkerin Hannah Arendt hatte den Begriff nach der Shoah in Zusammenhang mit den Eichmann-Prozessen geprägt. Er beschreibt eine Dynamik, die die Menschen über die Fragmentierung und Rationalisierung der Verantwortung dazu bringt, Unmenschliches zu tun. «Der Vergleich ist heftig, weil die Konsequenzen in der Arbeitswelt natürlich in keiner Relation zum Holocaust stehen», räumt Brizé ein. «Aber es geht um den Prozess. Jeder Mensch handelt gleichzeitig gut und schlecht. Um die Widersprüche auszuhalten und
Regisseur und Drehbuchautor
ZVG
FOTO: Stéphane Brizé, 55, wurde in Rennes, Frankreich, geboren. Er war als Bild- und Tontechniker beim Fernsehen tätig, bevor er die Schauspielschule in Paris besuchte. Es folgten eigene Filmprojekte. Das Drehbuch für «Un autre monde» schrieb er mit Olivier Gorce, der schon an «En Guerre» beteiligt war.
Charakterdarsteller Lindon unterwegs in der Arbeitswelt: In «En guerre» als Streikführer (oben). In «La loi du marché» (unten) als Langzeitarbeitsloser, der sich als Ladendetektiv bewähren soll.
ZVG BILDER:
um unethisches Verhalten zu legitimieren, wird eine ganz bestimmte Art von Diskurs aufgebaut.» Das kann auch als Firmenkultur gepflegt werden. Es braucht nur den nötigen Mut dazu.
Die Stärke von Brizés Drehbuch und Regie besteht darin, dass er nicht nur die Sozialkritik im Auge behält, sondern auch das dramatische Potenzial ausschöpft: «Mich interessiert der Ort, an dem die Welt dysfunktional wird. In der Wirtschaft, der Welt des Profits, zeigen sich Menschen von ihrer schlimmsten Seite. Ich finde das als Tatsache schockierend, aber in der Rolle des Regisseurs spannend, weil es eine dramatische Kraft enthält.» Brizés Figuren müssen Entscheidungen treffen. Argumente für die Produktivität des Unternehmens und solche für soziale Verantwortung werden am Verhandlungstisch in die Waagschale geworfen. Das wirkt nie didaktisch, und trotzdem werden die Dynamiken und Mechanismen in einem globalisierten Konzern sehr klar benannt. Die Vorgesetzten wollen endlich herausfinden, wen konkret man entlassen darf. Philippe versucht seine Mitarbeiter*innen zu schützen und nennt keine Namen. Also wird die Frage kurzerhand umformuliert: «Wenn morgen eine Person aus Halle 1 überfahren wird – wer darf es auf keinen Fall sein, damit der Betrieb weiterläuft?» Es fallen Namen, der Rest ist reine Subtraktion: Das Feld wird kleiner. Konkreter. Die Namenlosen sind verzichtbar. «Sie haben sie nicht genannt, also leistet sie weniger.» So führt man Gesamtstrategien aus.
Als Philippe eine sozialverträgliche Idee aufbringt, stellt er sich damit selbst ein Bein. Der Boss des Gesamtkonzerns spricht im Videocall leinwandfüllend auf seine Mitarbeiter*innen herunter, und wenn er in der Suche nach Formulierungen schmatzend die Zunge im Mund herumschiebt, fühlt es sich an, als ob er uns direkt in den Nacken atmen würde. Philippes Idee taugt im Verständnis des Konzerns nicht als Lösungsvorschlag. Aber es siegt am Ende der Mut. So, wie Philippe ihn definiert.
«Un autre monde», F 2022, Regie: Stéphane Brizé, mit Vincent Lindon, Sandrine Kiberlain, Anthony Bajon u. a. Läuft zurzeit im Kino.
Trilogie der Arbeitswelt
Filmsprache Stéphane Brizé hat mit Hauptdarsteller Vincent Lindon drei Filme über das kapitalistische System gemacht. Seine filmischen Mittel setzt er dabei klug ein.
In «La loi du marché» (2015) spielte Charakterdarsteller Vincent Lindon einen Langzeitarbeitslosen, in «En guerre» (2018) einen Streikführer. Das waren die Opfer des Systems, die offensichtlich Betroffenen im Arbeitskampf. Mit «Un autre monde» wendet sich Stéphane Brizé nun einem ganz anderen Protagonisten zu: dem Manager eines Industriekonzerns. So kann er die Entscheidungsebene des kapitalistischen Systems ausleuchten. Für seine Arbeit recherchiert der französische Regisseur und Drehbuchautor, bevor er erfindet. «Am Anfang stand nicht die Geschichte, sondern nur eine Intuition, ein Interesse für einen spannenden Ort in der Welt. Für die Recherche habe ich mit Kaderleuten gesprochen, die aus ihrem Job ausgestiegen sind. Entweder unfreiwillig oder, seltener, aus eigener Entscheidung heraus», sagt Brizé. Damit bewegt sich «Un autre monde» nah an der Realität.
Der Film «En guerre» hatte diesen authentischen Aspekt auch formal ausgereizt, mit unruhiger Kamera, fast dokumentarisch im Stil. In «Un autre monde» ist die filmische Umsetzung eine andere. Die Bilder sind ruhiger. Der Film nimmt in der Erzählung die privaten Momente des Lebens stärker in den Fokus. «Eine dokumentarische Kamera hat eine beobachtende, unmittelbare Haltung», sagt Brizé. «Aber sie folgt Menschen nicht ins Schlafzimmer, nicht in die privaten Momente.» Das Intime verlange eine andere Bildsprache.
So gibt es in «Un autre monde» Momente mit der Familie, die zwar dem Alltag entrungen sind, aber im Film eine lyrische Form bekommen. Der Sohn, der ins Marionettenspiel vertieft ist. Oder Vater und Sohn, die zusammen Fussball spielen. Der Originalton bleibt weg, es sind mit Musik unterlegte Augenblicke der Ruhe. «Momente der Gnade», nennt sie Brizé. Sie machen klar: Das Glück, das Leben an sich ist fragil.
Die Filme «En guerre», «La loi du marché» und «Un autre monde» bilden nun zusammen eine Art Trilogie zum Neoliberalismus, wobei sie nicht von Anfang an zusammengedacht waren. Einer hat sich organisch aus dem anderen ergeben. Brizé, der seine Drehbücher jeweils selbst (mit)verfasst und auch Schauspieler ist, lässt sich damit aber nicht auf Kapitalismuskritik festnageln. Zu seinem Werk gehört unter anderem eine Literaturadaption von Maupassants «Une vie», und auch der nächste Film wird sich nicht der Arbeitswelt widmen. Der scharfe Blick für ihre Mechanismen ist aber vielleicht genau deshalb so präzise, weil Brizé sich immer für die Kraft des Dramatischen interessiert – und dabei zwangsläufig die Abgründe der Menschen erkennt. DIANA FREI