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«Ein umfassendes Verständnis von Rassismus erlernen»

Lehrmittel Zusammen mit Rahel El-Maawi veröffentlichte Mandy Abou Shoak 2020 die Analyse «Einblick: Rassismus in Lehrmitteln». Sie zeigt, wie Schwarze Menschen und People of Color in Schweizer Schulbüchern heute noch abwertend dargestellt werden.

INTERVIEW MICHEL REBOSURA

Mandy Abou Shoak, mit welchem Kinder- oder Schulbuch haben Sie in Ihrer Schulzeit im Deutschunterricht gearbeitet?

Ich kann mich noch an das Buch «Welt der Wörter» erinnern, das wir auch analysiert haben. Auch Geschichte habe ich damals mit einem der untersuchten Bücher gelernt, nämlich «Geschichte der Gegenwart». Ich bin 32 Jahre alt und war sehr überrascht, dass 15 Jahre nach meiner Schulzeit immer noch dieselben Lehrmittel in Gebrauch sind – und immer noch die gleichen Geschichten und Perspektiven erzählt werden, die sehr eindimensional sind.

Vor dem Einschlafen las meine Mutter mit mir immer Globi. Reime, Abenteuergeschichten, Komik. Eigentlich ganz lustig. Erst später erkannte ich, welche Stereotypen da bedient werden.

Was die meisten nicht wissen ist, dass Globi erfunden wurde, um Kolonialwaren anzupreisen und die kolonialistische Gewalt zu legitimieren. Das gibt den Büchern eine ganz andere Dimension, die mir selbst nicht bewusst war. Ich habe davon erst in meiner Auseinandersetzung mit Rassismus erfahren.

Sind Ihnen rassistische Inhalte trotzdem schon als Kind aufgefallen?

Man spürt eine Verletzung. Man spürt abwertende Zuschreibungen, die einem übergestülpt werden. Als Mädchen oder Frau reagiert man oft mit Scham, indem man sich einredet, dass etwas mit einem selbst nicht in Ordnung ist. Man fühlt sich fehl am Platz, so: «Shit, ich fühl mich hier nicht wohl». Oder man versucht, diese Erfahrungen zu verdrängen.

Ich habe asiatische Wurzeln und habe ähnliche Erfahrungen mit rassistischen Klischees über asiatische Menschen gemacht. Auch bei mir lösten sie Scham aus. Ich begann mich selbst von meiner Herkunft abzugrenzen und verinnerlichte so die Abwertung.

Das Problem ist, dass abwertende Bilder im schulischen Raum eine mehrfache Form der Gewalt darstellen. Erstens, dass sie überhaupt in den Büchern drinstehen. Dann, zweitens, wenn ein Kind of Color aufmerkt und sagt: «Aber …», dann wird das Thema tabuisiert, abgewehrt: «Jetzt übertreib mal nicht so!», «Ist doch nicht so schlimm!» Und drittens reagiert auch das Hilfssystem aus Sozialarbeiter*innen, Hortleiter*innen oder Heilpädagog*innen meistens nicht adäquat.

Eine Gewalt- und Schweigespirale.

Genau. Das ganze System versagt. Der Höhepunkt – oder besser Tiefpunkt – ist erreicht, wenn Schwarze Menschen abwertend dargestellt werden und Jugendliche anfangen, Affengeräusche zu machen. Das heisst, die Abwertung wird direkt vom Schulbuch auf das Kind übertragen. Das sind gewaltvolle Momente, welche die Lehrpersonen vielleicht mitbekommen, welche sie aber völlig überfordern, weil sie gar nicht verstehen, wie diese Übertragungen stattfinden. Ich selbst hatte damals nicht den Mut, die Unterstützung, das Wissen und das Bewusstsein, um in solchen Momenten irgendwie Position zu beziehen. Heute ist das anders. Ich bin selbst Teil des Hilfssystems.

Was hat Sie dann motiviert, Soziale Arbeit und Soziokultur zu studieren und aktivistisch tätig zu werden?

Grundsätzlich hat mich immer die Frage der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit interessiert. Es war recht schnell klar, dass ich Soziale Arbeit studieren werde. Denn schon meine Eltern, die aus politischen Gründen aus dem Sudan in die Schweiz flüchteten, waren und sind politisch engagierte Menschen. Es geht darum, sich als privilegierter Mensch für weniger Privilegierte einzusetzen. So richtig bin ich aber erst mit meinem Masterstudium in die Thematik eingestiegen. In meiner Abschlussarbeit geht es um eine Rassismus-sensible Schule. So war auch mein Beitrag zu den Broschüren, die ich mit Rahel El-Maawi herausgegeben habe, Teil eines meiner Leistungsnachweise im Studium.

Was ist das Fazit Ihrer Analysen – wie viel Rassismus steckt im Schweizer Schulunterricht?

Das ist eine grosse Frage. Zunächst muss ein Missverständnis ausgeräumt werden: nämlich das verkürzte Verständnis von Rassismus hierzulande. Dieses engt Rassismus ein auf Menschen am rechten Rand, auf solche, die sich selbst als Rassist*innen definieren oder darauf, dass Rassismus etwas ist, das nur absichtlich passiert. «Rassist*innen sind Nazis» sozusagen. Dieses Verständnis ist unser Mainstream-Verständnis. Wir müssen damit beginnen, gesamtgesellschaftlich ein vollumfassendes Verständnis von Rassismus zu erlernen. Das bedeutet aber auch anzuerkennen, dass wir alle, also auch Schwarze Menschen, People of Color und weisse Menschen, rassistisch sozialisiert werden. Wenn wir aber alle rassistisch sozialisiert worden sind, dann heisst das auch, dass wir alle Rassismus verlernen müssen.

Wie erklären Sie sich, dass heute noch Bücher produziert und nachgedruckt werden, die zum Teil klare Rassismen und Diskriminierungen enthalten?

Man muss wissen, dass die Schule in unserem föderalen System immer noch den Kantonen untersteht. Das heisst, letzten Endes entscheiden kantonale Parteien darüber, was in den Lehrmitteln

ZVG FOTO:

«Schulbücher sind ein Politikum, der Inhalt wird nicht nur nach wissenschaftlichen Massstäben bestimmt.»

MANDY ABOU SHOAK schliesst gerade ihren Master in Sozialer Arbeit mit Vertiefung Menschenrechte ab und versteht sich als Soziokulturelle Aktivistin. justhis.ch steht und was nicht. Und wenn wir schauen, wie unsere Kantone politisch aufgestellt sind, dann sind die meisten rechts-konservativ. Schulbücher sind ein Politikum. Das heisst, der Inhalt wird nicht nur nach wissenschaftlichen Massstäben bestimmt. Das ist für mich ein Grund, weshalb es nicht schneller vorwärtsgeht.

Nun hat die Rassismusexpertin Anja Glover kürzlich eine anti-rassistische Checkliste für Lehrpersonen publik gemacht, die von einem Schweizer Lehrmittelverlag in Auftrag gegeben, dann aber abgelehnt worden ist, weil sie zu viel «politischen Sprengstoff» enthalten würde. Wie beurteilen Sie den Fall?

Das ist der klassische Konflikt. Der Schulbuchverlag erwartete das verkürzte Verständnis von Rassismus und was man dagegen machen könne, und zurück erhielt er die umfassende, eigentliche Definition von Rassismus und damit die Büchse der Pandora, wo es auch strukturell sehr viel aufzuräumen gilt. So grundlegend, so ganzheitlich, dass ein Verlag es sich fast nicht leisten kann, ein solches Statement abzugeben. Das politisch «Gefährliche» liegt in der Konsequenz eines solchen Verständnisses: Welche Ressourcen, welche Gelder müssten gesprochen werden, um diese strukturellen Veränderungen voranzutreiben, und wem tritt man damit auf die Füsse?

Sie sprechen hier den «strukturellen Rassismus» an. Ein Begriff, mit dem viele Mühe haben. Was bedeutet er für Sie?

Struktureller Rassismus ist, wenn wir Racial Profiling als eine Methode akzeptieren, weil wir Schwarze Männer als eine Bedrohung für unsere Sicherheit imaginieren. Diese Zuschreibung von Gefahr hat mit der kolonialen Vergangenheit der Schweiz zu tun. Hier führen unsere Annahmen, sagen wir unsere Stereotypen, zu realer rassistischer Diskriminierung. Solche rassifizierten Annahmen schleifen sich in Organisationen und Strukturen ein. Sie werden zu selbstverständlichen, unhinterfragten Routinen und Abläufen. In solchen Strukturen reicht dann «Ich bin gegen Rassismus» eben nicht mehr, sondern man muss auch anti-rassistisch handeln und aktiv Rassismus verlernen. Das ist anstrengend. Aber wenn wir uns nicht alle auf den Weg machen, dann wird es schwierig. Die Schule ist dabei nur ein Bereich von ganz vielen.

Was für Auswirkungen hat der so verstandene Rassismus in der Schule auf die Kinder?

Bewältigungsstrategien wie die Verinnerlichung von Abwertung, die Abspaltung des Selbst oder die Verdrängung von Gewalt können zu Schmerzsymptomen führen, bis hin zu Depressionen und psychisch schwerwiegenden und anhaltenden Problemen. Studien zeigen auch, dass geringe Leistungserwartungen an Schüler*innen of Color und Schwarze Schüler*innen bei gleicher Leistung zu schlechteren Noten führen. So wird der exakt gleiche Diktattext ungleich benotet, je nachdem ob «Murat» drauf steht oder «Max». Damit wird für Schüler*innen of Color letzten Endes der Weg und der Zugang zur Lehre, zum Gymnasium oder zur Uni erschwert.

Und die Veränderung beginnt mit dem Kind, das ein Rassismus-sensibles Kinder- oder Schulbuch liest?

Genau. Es geht um Sichtbarkeit. Vielfalt in Kinder- und Schulbüchern ist gerade deshalb so wichtig. Denn erst wenn wir sehen, welche Vielfalt und Komplexität es gibt, können wir uns vorstellen, dass wir das selbst auch sein können.

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