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Obdachlosigkeit

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Kundinnen-Porträt

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«Alleine bist du auf der Strasse ausgeliefert»

Obdachlosigkeit «Kein Dach über dem Leben» heisst die Biografie von Richard Brox, die Günter Wallraff angestossen hat. Das Buch wurde ein grosser Erfolg. Heute lässt sich Brox nicht mehr durch die Medien schleifen. Aus gutem Grund.

INTERVIEW HANS PETER MEIER

Herr Brox, Ihr Buch «Kein Dach über dem Leben: Biographie eines Obdachlosen» ist 2017 erschienen. Was hat sich seither verändert?

Richard Brox: Im Grunde alles. Ich habe sehr viele Zuwendungen erhalten, sehr viele Menschen als neue Freunde dazugewinnen können. Aber ich habe auch sehr viel Missgunst und Ausgrenzung erfahren. Für viele war es so, dass ich zu viel aus der Szene heraus erzählt habe. Gleichzeitig wurde ich aber auch beglückwünscht dafür, dass ich anderen Türen geöffnet habe, damit auch sie ihre Lebensgeschichte erzählen und das Thema Obdachlosigkeit in die Mitte der Gesellschaft holen. Mein Leben hat sich natürlich auch konkret geändert. Ich bin nicht mehr obdachlos, ich muss keine Not leiden. Und ich bin durch die Lesungen an Orte gekommen, wo ich nie zuvor war.

Sie kamen ja vor einiger Zeit zu uns zum Austausch mit den Surprise-Stadtführer*innen. Wir erzählen auf den Touren auch unsere eigenen Biografien. Sehen Sie es als Chance oder als Gefahr, sein eigenes Leben zu veröffentlichen?

Mir bedeutet die Veröffentlichung viel. Ich gehe davon aus, dass das Buch und das Sprechen über Armut die Menschen sensibilisiert und auch Empathie auslöst. Das finde ich wichtig: Mitgefühl zu haben. Wenn du obdachlos bist, hast du keinen Schutzraum, du bist rechtlos, würdelos und auf Dauer sprachlos. Es war aus meiner Sicht richtig, das Buch auf den Markt zu bringen, um zu zeigen, dass Obdachlosigkeit – die eine extreme Form von Armut ist – ein Teil der Gesellschaft ist. Wenn nun die Gesellschaft bereit wäre, sich mit ihrer Armut zu beschäftigen, könnten viele Menschen wieder in ein bürgerliches Leben integriert werden.

Wie müsste man das angehen?

Es ist wichtig, obdachlosen Menschen wieder Halt zu geben. Das geht über Resozialisierung. Man muss versuchen, die Menschen in die Gesellschaft zurückzuholen. Konkret über Reintegration in Wohnraum, das kann auch in einem betreuten Wohnprojekt sein. Aber auf jeden Fall ist der eigene Wohnraum viel sinnvoller, als es Notunterkünfte sind. Und dazu kommt die Rehabilitation, die Wiederherstellung der Gesundheit. Sehr viele obdachlose Menschen sind schwer krank. Sie haben oft chronische Erkrankungen wie Rheuma, Krebserkrankungen oder Borreliose durch einen Zeckenbiss.

Wie kam es eigentlich zu dem Buch damals? Lebten Sie da auf der Strasse?

Ja. Ich hatte zwar zum Schreiben kurzfristig mal einen Wohnraum, aber das war zeitlich befristet. 2009 war ich Protagonist in einer Fernsehreportage des Journalisten und Schriftstellers Günter Wallraff über den Winter von obdachlosen Menschen. Er sagte dann zu mir: «Richard, wenn das wahr ist, was du alles erzählst, dann muss man das veröffentlichen.» Da sagte ich: «Jawoll, dann machen wir das, aber unter der Voraussetzung, dass meine Tantiemen für Einrichtungen der Obdachlosenhilfe verwendet werden, wo schwer erkrankte Obdachlose betreut werden.» Ein Historiker kam dann dazu und hat im Auftrag von Wallraff und dem Rowohlt Verlag recherchiert, ob alles wahr ist, wie ich es erzähle. Alles, was in dem Buch steht, ist belegt. Das ist der Unterschied zu vielen anderen Biografien von Obdachlosen. Mittlerweile habe ich zwei weitere Bücher auf dem Markt. Sowohl mit Günter Wallraff als auch mit meinem Ko-Autor Albrecht Kieser bin ich heute eng befreundet, und ich «In der Notunterkun sind alle, die aus bin beiden sehr dank bar, dass sie sich auf meine Geschichte und das Thema Obdachder Gesellschaft rausgeworfen wurden. losigkeit eingelassen haben. Jene, die versorgt und entrümpelt Sie haben eine Vergangenheit mit Heim-, wurden, damit die Gesellschaft fein dasteht.» Missbrauchs- und Gewalterfahrung. Und trotzdem hat sich Ihre Situation unterdessen stabilisiert. Wegen der Drogenerfahrungen, die ich als RICHARD BROX wurde 1964 in Mannheim geboren. Jugendlicher gemacht habe, kann ich sagen: Er kam mit fünf Jahren in das erste Kinderheim, Es ging mir vor vielen Jahren sehr, sehr flüchtete vor sexuellen Übergriffen, verweigerte die schlecht, wenn ich es mit heute vergleiche. Schule, galt als schwererziehbar. Nach einem Ich habe anschliessend dreissig Jahre lang Drogenentzug Mitte der 1980er-Jahre verbrachte er auf der Strasse gelebt und war im gesamten dreissig Jahre auf der Strasse. deutschsprachigen Raum unterwegs. Heute bin ich in der Sterbebegleitung für Obdach-

NEGUSSIE WELDAI, 62, ist seit 2016 Vertriebsmitarbeiter in der Regionalstelle Bern, verkauft seit 2010 am Berner Bahnhof Surprise und streift in seiner Freizeit mit der Kamera in der Stadt herum.

FABIAN SCHLÄFLI, 34, verkauft am Basler Bahnhof Surprise und wundert sich immer wieder darüber, wie schnell die Menschen an ihm vorbeihuschen.

lose und in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe aktiv und versuche, die Rahmenbedingungen von Betroffenen zu verbessern. Deshalb bin dankbar für meinen Bucherfolg, ganz ehrlich.

Wie wichtig ist es, in der eigenen Geschichte auch die strukturellen gesellschaftlichen Ursachen von Lebensbrüchen zu erkennen? Gerade der Machtmissbrauch in Heimen, den Sie erlebten, ist ja ein systemisches Problem.

Das Vertuschen von Skandalen war damals üblich. In meiner Zeit, also in den 1970er- bis 1980er-Jahren, war es in Deutschland gang und gäbe, dass Kinder und Jugendliche in Kinderheimen sexuell drangsaliert wurden und seelischer Gewalt ausgesetzt waren. Dass sie gefügig gemacht wurden. Zur Strafe wurde das Essen verweigert, man hungerte. Zu meiner Zeit wurde in den Kinderund Jugendeinrichtungen massivste Gewalt ausgeübt. Heute spricht man öffentlich darüber. Was ich aber nicht verstehe ist, dass der Staat oder die jeweiligen Bundesländer diese Betroffenen trotz Beweisen für diese Verbrechen nicht finanziell entschädigt. Er lässt die Opfer von damals komplett im Stich. Solange der Staat Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch nicht in Form von Einmal- oder Rentenzahlungen entschädigt, macht er sich mitschuldig. Solange trägt der Staat die Verantwortung dafür, was geschehen ist.

Wann wurde Ihnen die Systematik des Missbrauchs bewusst? Brauchte es den Anstoss von aussen – vielleicht durch Günter Wallraff?

Wallraff hatte natürlich ein grosses Interesse zu sagen: Wir müssen das veröffentlichen, damit andere Menschen nicht das gleiche Schicksal erleben. Es ist enorm wichtig, dass man einen Grundstein legt für eine bessere Behandlung von Schutzbefohlenen. Schutzbefohlene Menschen – ob das nun Kinder sind, Menschen mit Beeinträchtigungen oder Menschen, die durch seelische Erkrankungen komplett aus der Bahn geworfen sind – auch noch zu missbrauchen und mit Gewalt zu überschütten, ist furchtbar. Man muss ihnen die Hilfe geben, damit sie in der Gesellschaft nicht ganz abrutschen und noch tiefer durchfallen. Das Beste ist, dass man diesen Menschen genau das gibt, was ihnen fehlt. In meinem Fall wäre das gewesen: eine Wohnung. Oder man gibt obdachlosen Menschen finanzielle Unterstützung, damit sie sich befreien können. Es wäre das wirksamste Mittel, aber der Staat und auch die Institutionen scheuen die politische Konfrontation in diesen Themen, weil sie mit solchen Forderungen keine Punkte sammeln. Damit würden es aber viele, die in Kinderheimen Gewalt erfahren haben, die eine seelische Erkrankung oder eine geistige oder körperliche Behinderung haben, schaffen, ein bürgerliches Leben zu führen.

Sie meinen zum Beispiel das Konzept «Housing First»?

Ja, Housing First ist auch in Köln, wo ich wohne, eine gute Lösung: leerstehenden Wohnraum anzumieten und diesen dann unterzuvermieten an Obdachlose, vielleicht sogar in einer betreuten Wohnform. Es kann so sein, dass eine Einrichtung oder der Sozialdienst der Wohnungslosenhilfe sich um die Menschen

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kümmert – aber sie haben wieder einen eigenen Schlüssel. Das hilft, seinen eigenen Alltag wieder besser zu bewältigen. Obdachlosen eine Wohnung zu geben, ist hundertmal besser als jede Notunterkunft, jeder Duschbus und jeder Tagesaufenthalt. Nur in einer Wohnung kannst du deine Batterien wieder aufladen. Kannst wieder am Leben teilhaben und hast die Chance, wieder zu dir selbst zu kommen. Und bist auf Dauer wieder für die Gesellschaft und für andere da.

Bei unserem Treffen vor ein paar Jahren hatte ich sehr stark den Eindruck: Je mehr Sie sich stabilisiert haben, desto stärker haben Sie begonnen, sich für andere einzusetzen. Woran arbeiten Sie zurzeit?

Ich bin Berater in einzelnen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, in speziellen Wohnheimen. Ich unterstütze mehrere Institutionen auch finanziell mit Spendengeldern. Zum Beispiel das Wohnheim der Heilsarmee in Göttingen, ein Frauen- und Männerwohnheim für schwer erkrankte obdachlose Menschen oder eine Kirchengemeinde, die obdachlosen und in Armut lebenden Menschen eine neue Heimat gibt. Ich bin vereinzelt in Kontakt mit Journalist*innen, mache sie auf Missstände aufmerksam, und ich arbeite als Dozent und Referent an verschiedenen Fachhochschulen. Ich möchte mit meiner Arbeit zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen.

Gibt es auch eine Art Zusammenhalt auf der Strasse selbst? Ich sehe in Zürich jetzt in der Pandemie immer mehr Obdachlose, die auch in Gruppen übernachten. Das kannte ich vorher nur aus Deutschland.

Dass sich Gruppen bilden, hat genau einen Grund, und das ist der Schutzfaktor. Alleine bist du auf der Strasse ausgeliefert. Als obdachloser Mensch hast du keine Würde mehr. Da du das weisst, bist du dir bewusst, dass du sehr schnell Opfer von Gewalt werden kannst. Prügeleien sind gang und gäbe, und wenn man in Notunterkünfte mit Mehrbettzimmern geht, muss man immer mit der Gefahr leben, dass man bestohlen oder auch mal sexuell belästigt wird. In der Notunterkunft sind alle, die aus der Gesellschaft rausgeworfen wurden. Jene, die versorgt und entrümpelt wurden, damit die Gesellschaft fein dasteht. Zu dem Zweck entsorgt man die Menschen mit ihren Problemen einfach. Deswegen sind Notunterkünfte keine sicheren Orte. Und deswegen bilden sich Gruppen – um sich vor Überfällen, Gewaltattacken bis hin zu Tötungsdelikten zu schützen. Das Leben auf der Strasse ist geprägt von Gewalt. So eine richtige Freundschaft gibt es da nicht, es gibt Notlösungen an Kameradschaften. Deswegen muss man sehr aufpassen, mit wem man Kontakt hat. Man sollte nicht zu redselig sein, nicht zu viel von sich erzählen. Man sollte seine eigenen Wege gehen. Auf der Strasse zählt das Recht der Stärkeren. Deswegen wäre es so wichtig, obdachlose Menschen von der Strasse zu holen. Krankenhäusern. Ich bin bei Sozialdiensten in der Kartei, und sie rufen mich an, wenn ein Obdachloser auf der Station ist, der niemanden hat. Es kommt niemand zu Besuch, er bekommt keine frische Wäsche. Dann kümmere ich mich. Nun hat mir ein Journalist mal gesagt, Mensch, Richard, nimm mich doch mal mit, wenn du wieder mal so einen Sterbefall hast. Ich sagte ihm: Stell dir vor, du liegst im Krankenhaus im Sterbebett, du hast noch ein paar Tage zu leben und du hast nur noch einen Menschen, der zu dir kommt. Und nun stell dir vor, dieser eine Mensch bringt plötzlich Journalist*innen mit, die ein paar Fotos von dir machen und einen Bericht darüber schreiben, wie du gerade am Ableben bist. Das ist in meinen Augen das Geschmackloseste, was ich je gehört habe. Dieser Voyeurismus ekelt mich derart an, dass ich mit Medien nichts mehr zu tun haben will. Ich bin von den Medien abgeschreckt, weil ich festgestellt habe, dass sich die Armut verkaufen lässt. In Deutschland gibt es Fernsehsendungen, schmieriges Seifentheater, in denen Armut verkauft wird. Je stärker das passiert, desto mehr geht die Wahrheit darüber verloren.

ZVG

FOTO:

Richard Brox: Kein Dach über dem Leben

Biographie eines Obdachlosen. Rowohlt Taschenbuch 2017.

Sie sagen, Sie geben keine Interviews mehr, für uns machen Sie eine Ausnahme. Wieso haben Sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen?

Ich war im November 2019 das letzte Mal im Fernsehen, weil ich diesem Showgeschäft einfach nichts abhaben kann. Ich ziehe mich auch zurück, weil ich festgestellt habe, dass es mir nicht behagt, eine Person des öffentlichen Lebens zu sein. Ein Beispiel: Ich mache auch Sterbebegleitung für Obdachlose in Kliniken und

HANS PETER MEIER, 63, verkauft seit 2009 am Bellevue Surprise. Vorher installierte er international Software-Standards, schulte IT-Personal und führte ein Jet-Set-Leben. Sein Alkoholkonsum begann kontinuierlich zu steigen, und nach dem Platzen der New-Economy-Blase verlor er 2003 seinen Job. Als Surprise-Stadtführer in Zürich erzählt er von Abwärtsspiralen und Solidarität.

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