Surprise 514/21

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«Alleine bist du auf der Strasse ausgeliefert» Obdachlosigkeit «Kein Dach über dem Leben» heisst die Biografie von Richard Brox,

die Günter Wallraff angestossen hat. Das Buch wurde ein grosser Erfolg. Heute lässt sich Brox nicht mehr durch die Medien schleifen. Aus gutem Grund. INTERVIEW HANS PETER MEIER

Herr Brox, Ihr Buch «Kein Dach über dem Leben: Biographie eines Obdachlosen» ist 2017 erschienen. Was hat sich seither verändert? Richard Brox: Im Grunde alles. Ich habe sehr viele Zuwendungen erhalten, sehr viele Menschen als neue Freunde dazugewinnen können. Aber ich habe auch sehr viel Missgunst und Ausgrenzung erfahren. Für viele war es so, dass ich zu viel aus der Szene heraus erzählt habe. Gleichzeitig wurde ich aber auch beglückwünscht dafür, dass ich anderen Türen geöffnet habe, damit auch sie ihre Lebensgeschichte erzählen und das Thema Obdachlosigkeit in die Mitte der Gesellschaft holen. Mein Leben hat sich natürlich auch konkret geändert. Ich bin nicht mehr obdachlos, ich muss keine Not leiden. Und ich bin durch die Lesungen an Orte gekommen, wo ich nie zuvor war. Sie kamen ja vor einiger Zeit zu uns zum Austausch mit den Surprise-Stadtführer*innen. Wir erzählen auf den Touren auch unsere eigenen Biografien. Sehen Sie es als Chance oder als Gefahr, sein eigenes Leben zu veröffentlichen? Mir bedeutet die Veröffentlichung viel. Ich gehe davon aus, dass das Buch und das Sprechen über Armut die Menschen sensibilisiert und auch Empathie auslöst. Das finde ich wichtig: Mitgefühl zu haben. Wenn du obdachlos bist, hast du keinen Schutzraum, du bist rechtlos, würdelos und auf Dauer sprachlos. Es war aus meiner Sicht richtig, das Buch auf den Markt zu bringen, um zu zeigen, dass Obdachlosigkeit – die eine extreme Form von Armut ist – ein Teil der Gesellschaft ist. Wenn nun die Gesellschaft bereit wäre, sich mit ihrer Armut zu beschäftigen, könnten viele Menschen wieder in ein bürgerliches Leben integriert werden.

Wie müsste man das angehen? Es ist wichtig, obdachlosen Menschen wieder Halt zu geben. Das geht über Resozialisierung. Man muss versuchen, die Menschen in die Gesellschaft zurückzuholen. Konkret über Reintegration in Wohnraum, das kann auch in einem betreuten Wohnprojekt sein. Aber auf jeden Fall ist der eigene Wohnraum viel sinnvoller, als es Notunterkünfte sind. Und dazu kommt die Rehabilitation, die Wiederherstellung der Gesundheit. Sehr viele obdachlose Menschen sind schwer krank. Sie haben oft chronische Erkrankungen wie Rheuma, Krebserkrankungen oder Borreliose durch einen Zeckenbiss. Wie kam es eigentlich zu dem Buch damals? Lebten Sie da auf der Strasse? Ja. Ich hatte zwar zum Schreiben kurzfristig mal einen Wohnraum, aber das war zeitlich befristet. 2009 war ich Protagonist in einer Fernsehreportage des Journalisten und Schriftstellers Günter Wallraff über den Winter von obdachlosen Menschen. Er sagte dann zu mir: «Richard, wenn das wahr ist, was du alles erzählst, dann muss man das veröffentlichen.» Da sagte ich: «Jawoll, dann machen wir das, aber unter der Voraussetzung, dass meine Tantiemen für Einrichtungen der Obdachlosenhilfe verwendet werden, wo schwer erkrankte Obdachlose betreut werden.» Ein Historiker kam dann dazu und hat im Auftrag von Wallraff und dem Rowohlt Verlag recherchiert, ob alles wahr ist, wie ich es erzähle. Alles, was in dem Buch steht, ist belegt. Das ist der Unterschied zu vielen anderen Biografien von Obdachlosen. Mittlerweile habe ich zwei weitere Bücher auf dem Markt. Sowohl mit Günter Wallraff als auch mit meinem Ko-Autor Albrecht Kieser bin ich heute eng befreundet, und ich bin beiden sehr dankbar, dass sie sich auf meine Geschichte und das Thema Obdachlosigkeit eingelassen haben.

«In der Notunterkun sind alle, die aus der Gesellschaft rausgeworfen wurden. Jene, die versorgt und entrümpelt wurden, damit die Gesellschaft fein dasteht.» RICHARD BROX wurde 1964 in Mannheim geboren. Er kam mit fünf Jahren in das erste Kinderheim, flüchtete vor sexuellen Übergriffen, verweigerte die Schule, galt als schwererziehbar. Nach einem Drogenentzug Mitte der 1980er-Jahre verbrachte er dreissig Jahre auf der Strasse.

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Sie haben eine Vergangenheit mit Heim-, Missbrauchs- und Gewalterfahrung. Und trotzdem hat sich Ihre Situation unterdessen stabilisiert. Wegen der Drogenerfahrungen, die ich als Jugendlicher gemacht habe, kann ich sagen: Es ging mir vor vielen Jahren sehr, sehr schlecht, wenn ich es mit heute vergleiche. Ich habe anschliessend dreissig Jahre lang auf der Strasse gelebt und war im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs. Heute bin ich in der Sterbebegleitung für ObdachSurprise 514/21


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