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Vom Marathonlauf zum kurzen Sprint

Immobiliendienstleister – Algorithmen und künstliche Intelligenz beschleunigen die Wohnungsvermietung und die Immobilienvermittlung. Schweizer Unternehmen sind in Europa führend bei den neuen Technologien.

Von Richard Haimann – Fotos: Depositphotos.com; zVg

Die Wohnung ist besichtigt, der Interessent mit Ausstattung, Lage und Mietzins zufrieden – und bereit, den Vertrag zu unterzeichnen. Doch bis dessen Bonität vom Vermieter geprüft und das Schriftwerk schliesslich von beiden Parteien unterzeichnet ist, ziehen vier Wochen ins Land.

Was bei manchen Firmen noch üblich ist, zählt bei Livit zur Vergangenheit. Der Real-Estate-Manager, der mit schweizweit mehr als 670 Mitarbeitenden rund 194.000 Mietobjekte im Wert von 58,7 Milliarden Franken verwaltet, hat vor einigen Jahren einen digitalen Vermietungsprozess implementiert. «Inklusive der Möglichkeit, den Mietvertrag komplett elektronisch zu unterzeichnen, wodurch wir die Zeitspanne auf nur eine Woche verkürzen konnten», sagt Marcel Gurrath, Leiter Vermietungsmanagement bei Livit.

«Interessiert sich ein Mieter in einem Onlineportal für eine Wohnung, erhält er sämtliche Angaben für die Besichtigung nach seiner Anfrage per Mail zugesandt», sagt Gurrath. Darin finde sich auch ein Link, über den sich Interessenten nach der Besichtigung digital bewerben können. «Die Bonitätsprüfung erfolgt binnen Sekunden im Hintergrund», sagt der Manager. «Der Mieter muss keinen Betreibungsauszug mehr einreichen und seitens Livit entfällt das Einholen allfälliger Referenzen.» Der Mietvertrag werde per App zugesandt und könne sofort digital abgeschlossen werden. «Auf dem Postweg dauerte dies im Durchschnitt vier bis sechs Tage», sagt Gurrath. «Mit dem neuen Prozess erhielten wir den Vertrag auch schon in weniger als einer halben Stunde zurück.»

USA: KI verkürzt den Vermarktungsprozess

Mit der Digitalisierung hat sich die Wohnungsvermietung von einem Marathonlauf zu einem FünfKilometer-Rennen gewandelt. Insbesondere in der Schweiz, die durch Facility-Manager wie Livit beim Einsatz neuer Technologien in Europa ganz vorn mit dabei ist. Schneller geht es derzeit nur in den USA. Dort ist der Vertragsabschluss zu einem schnellen 100-Meter-Sprint geworden. Denn US-Unternehmen wie Imagine Homes in Broadview Heights im Gliedstaat Ohio nutzen bereits Software mit künstlicher Intelligenz (KI), um Mietinteressenten geeignete freie Objekte aus ihren Beständen vorzuschlagen, die nicht nur deren Wünschen, sondern auch deren finanziellen Möglichkeiten entsprechen. Der 2016 gegründete Immobilieninvestor managt mit nur 23 Mitarbeitenden die Vermietung von mehr als 1.700 Wohnhäusern – und hat kaum einen Mieter je zu Gesicht bekommen, da das gesamte Geschäft digital abläuft.

Mietinteressenten füllen über die App des Unternehmens einen digitalen Fragebogen aus, mit dem sämtliche relevanten Daten erhoben werden: Wo wollen die Kunden wohnen? Wie viel Wohnfläche wird benötigt? Wie weit darf die maximale Entfernung zu Einkaufszentren, Kindergärten und Schulen sein? Hinzu kommen Bonitätsfragen: Wie hoch ist das Gehalt? Welche Ratenzahlungen für bestehende Kredite fallen jeden Monat an? Binnen Minuten erfolgt die Bonitätsprüfung. Dann präsentiert die App freie Objekte, die dem persönlichen Suchprofil und den finanziellen Möglichkeiten der Interessenten entsprechen.

Für die Häuser, die in die engere Auswahl genommen werden, sendet Imagine Homes einen Zugangscode für das digitale Türschloss für eine individuelle Besichtigung zu einer frei wählbaren Zeit in den folgenden Tagen. Gefällt das Haus, kann gleich vor Ort per App der Mietvertrag digital abgeschlossen werden, samt Vollmacht für die monatlichen Mietabbuchungen durch das Unternehmen. Auf der App erscheint dann ein neuer, dauerhafter Zugangscode. In den Häusern sind alle Fenster, Terrassen- und Balkontüren mit Sensoren versehen. Sollte bei einer Besichtigung vergessen werden, diese wieder zu schliessen, erfolgt beim Verlassen des Hauses eine Meldung auf der App mit der Bitte, zurückzugehen und dies nachzuholen.

Europa: Erste Pilotprojekte

Was in den USA bereits Alltag ist, beginnt diesseits des Atlantiks gerade erst. «Europa hinkt bei der Digitalisierung der Wohnungsvermietung hinterher», sagt René Westerheider, Head of Asset-Management bei Trei Real Estate, einem in Deutschland, Polen, der Slowakei, Tschechien und den Vereinigten Staaten tätigen Projektentwickler und Asset-Manager für Wohn- und Retailliegenschaften. «Wir bauen und vermieten auch in den USA Wohnungen und profitieren dabei davon, dass dort dieser Wandel schon viel weiter fortgeschritten ist.»

«Die digitale Mietvertragsunterschrift hat den Prozess massiv beschleunigt.»

René Westerheider, Trei Real Estate

Das Unternehmen mit Sitz in Düsseldorf nutzt in diesem Jahr erstmals auch in Deutschland die neuen Technologien, um Mietverträge online per digitaler Signatur abzuschliessen. Innerhalb von zehn Wochen wurden dabei rund 300 Mietverträge für zwei von Trei in Berlin errichtete Wohnüberbauungen unterzeichnet. «Die digitale Mietvertragsunterschrift hat den gesamten Prozess massiv beschleunigt», sagt Westerheider. «In der herkömmlichen Papierform hätten wir deutlich länger für diese hohe Anzahl an Mietverträgen benötigt.» Allein durch die postalische Zustellung der Papiere habe es in der Vergangenheit «teilweise sechs bis acht Wochen gedauert, bis ein Vertrag in allen Ausfertigungen von allen Seiten unterschrieben war», sagt der Manager. Durch die Digitalisierung sei die Zeit auf wenige Tage geschrumpft. Der in den USA inzwischen vielerorts übliche digitale Zugang zu Wohnungen mittels Code sei auch bei Livit ein Thema, sagt Gurrath. «Wir arbeiten an einem Pilotprojekt, in dem wir die Kosten und die mögliche Zahl der Anwendungsfälle evaluieren.»

Bonitäts-

Marcel Gurrath, Livit

In Deutschland hingegen, wo eine Reihe Schweizer

Pensionskassen, Family Offices und Versicherungen in Mietwohnungen interessiert sind, gilt dies bislang als kaum vorstellbar. «Das passt nicht zur hiesigen Mentalität», sagt Jürgen Michael Schick, Präsident der Makler- und Bewertervereinigung Immobilienverband Deutschland IVD. Eigentümer hätten Sorge, dass die Wohnungen bei unbeaufsichtigten Besichtigungen lädiert werden könnten. Interessenten würden fürchten, dass andere Besucher Schäden anrichten, für die sie selbst dann möglicherweise in Haftung genommen würden.

«Als vor zehn Jahren in den USA begonnen wurde, simple Zahlencodeschlösser für individuelle Wohnungsbesichtigungen zu installieren, hatten Hausverwalter und Makler hier versucht, dieses Verfahren auch in Deutschland anzubieten», sagt Schick. «Es hat sich hier nie durchsetzen können.» Während in der Schweiz nur kleinere Pensionskassen und Wohnungsfirmen, die ihre Bestände allein verwalten, bei der Digitalisierung hinterherhinken, nutzen in Deutschland auch grössere Wohnungsunternehmen bisher noch nicht die neuesten Technologien. Für die deutsche Wohnungswirtschaft sei «die Digitalisierung die entscheidende Aufgabe dieses Jahrzehnts», sagt Ingeborg Esser, Hauptgeschäftsführerin des GdW-Bundesverbands der Wohnungsund Immobilienunternehmen, deren 3.000 private, kommunale, kirchliche und landeseigene Mitgliedsfirmen rund sechs Millionen Wohnungen bewirtschaften. Für 70 Prozent der Wohnungsunternehmen habe die Digitalisierung der Prozesse in den kommenden Jahren eine hohe Bedeutung; getrieben werde der Wandel nicht nur durch die Kosteneinsparungen, die die moderne Technik ermöglicht, auch die zunehmende Internet- und Smartphone-Affinität der Mieter zwinge die Wohnungsunternehmen, stärker auf deren Wünsche nach Nutzung neuester Technologien einzugehen, sagt Esser. «Digitale Bürger brauchen digitale Angebote.»

Digitaler Immobilienverkauf kommt in Mode

Hilfe gibt es aus der Schweiz. Nicht bei der digitalen Vermietung, jedoch beim digitalen Immobilienverkauf. Die Zürcher Immobilienagentur Neho hat einen Algorithmus entwickelt, über den Eigentümer und Kaufinteressenten annähernd den Marktwert eines Einfamilienhauses oder einer Eigentumswohnung ermitteln können. Eingege - ben werden müssen nur Grösse, Lage, Zustand und Alter der Immobilie. Sekunden später erscheint auf dem Computermonitor eine grobe Preiseinschätzung für die Liegenschaft. Makler sind in das Modell eingebunden. Sie begleiten die Verkäufer durch den gesamten Transaktionsprozess zum Festpreis von 12.000 Franken – egal, wie hoch der erzielte Verkaufserlös am Ende ist. Mit dem Discountmodell sind die Zürcher so erfolgreich, dass sie ihr Geschäft inzwischen nach Deutschland ausgeweitet haben.

«Die Maklercourtage für den Verkäufer liegt in Deutschland bei 3 bis 4 Prozent, wir von Neho liegen mit 1,75 Prozent deutlich darunter», sagt Nehos-Deutschland-Chef Sebastian Eraghi. Als die ersten Start-ups vor gut fünf Jahren mit der Idee der digitalen Immobilienbewertung an den Markt traten, fürchteten manche Makler, ihre Ära sei bald abgelaufen. Inzwischen ist klar: Auch im Zeitalter der Algorithmen geht es nicht ohne professionelle Immobilienvermittler. Digitale Bewertungen könnten «nur als erste Orientierung dienen, da die ausgeworfenen Daten selten einen hundertprozentigen Marktpreis darstellen», sagt Eraghi. «Ein Makler oder Gutachter hilft, den fairen Immobilienpreis festzustellen.»

Was alle Anbieter digitaler Liegenschaftsbewertungen eint: Verkaufswillige Eigentümer und Kaufinteressenten müssen nichts dafür bezahlen, dass die Software ihnen einen ersten Anhaltspunkt für den Marktwert einer Liegenschaft errechnet. Gleichzeitig kommt keines dieser Unternehmen ohne Makler aus, weil diese als Partner zur Finanzierung der Plattformen benötigt werden. Zugleich können die Plattformen das Transaktionsgeschehen beschleunigen, indem Verkäufer und Kaufinteressenten schnell eine erste

KI-gestützte Prozesse ersparen Immobiliendienstleistern viel Zeit und reduzieren die Kosten.

Software die drei Makler aus, die in der jeweiligen Region in der Vergangenheit die höchsten Verkaufserlöse für vergleichbare Objekte erzielt haben. «Wir nutzen dazu einen Algorithmus, der ständig sämtliche Online ­Inserate analysiert», sagt Choffat. «So wissen wir, welche Makler Objekte relativ schnell zum ursprünglichen Angebotspreis vermitteln – und welchen dieses nicht gelingt und sie daher über Monate hinweg die aufgerufenen Preise immer weiter senken müssen.»

Die drei kompetentesten Vermittler könnten anschliessend das Objekt bewerten und müssten das Bonus­Malus­System akzeptieren.

Ohne Makler geht es nicht

Einschätzung zum Preis einer Immobilie erhalten. Das kann Eigentümer davor bewahren, eine zu hohe Forderung beim Verkauf ihrer Immobilie aufzurufen – und Käufer davor schützen, zu viel Geld für ein Objekt zu zahlen.

Mehr Transparenz in der Bewertung

Ziel sei es, «der Öffentlichkeit Zugang zu Informationen zu bieten, die normalerweise Immobilienfachleuten vorbehalten sind», sagt Joan Rodriguez, CEO des 2017 gegründeten Anbieters RealAdvisor in Plan ­les­ Ouates bei Genf. Jede Bewertung bei RealAdvisor beruht ausser auf den Daten der Liegenschaft auch auf 50 Standortfaktoren – von der Anbindung an den ÖV, der Distanz zu Kindergärten, Schulen und Einkaufsmöglichkeiten bis hin zur Kriminalitätsrate. Zur Berechnung des Marktwertes würden Daten aus aktuellen Immobilieninseraten sowie der Immobiliendienstleister IAZI, PriceHubble und Wüest Partner genutzt. Die Zürcher Bestag AG stellt mit ihrem digitalen Bewertungsangebot die Makler in das Zentrum ihres Geschäftsmodells und zwingt sie zugleich zur bestmöglichen Leistung für den Verkäufer –mittels eines Bonus­Malus­Systems mit einer leistungsabhängigen Provision für die Immobilienvermittler. Dies verhindere, dass Makler Eigentümern einen zu hohen Verkaufserlös avisieren, um das Objekt in die Vermittlung zu bekommen, sagt Bestag­ CEO Patrice Choffat: «Das kostet die Besitzer nicht nur Zeit, sondern am Ende auch Geld, weil eine Immobilie, die lange erfolglos angeboten wird, am Markt verbrannt ist.» Verkaufswillige Eigentümer erhalten auf der Bestag­Plattform zunächst eine kostenlose digitale Bewertung ihrer Immobilie. Danach sucht die

«Bewertet ein Makler ein Objekt mit einer Million Franken und verkauft es zu diesem Preis, erhält er 30.000 Franken», sagt Choffat. Für jede 1.000 Franken, die er beim Verkauf mehr – oder weniger –erlöst, erhöht oder vermindert sich seine Provision um 150 Franken. «Verkauft der Makler das Objekt nur für 900.000 Franken, reduziert sich seine Provision auf 15.000 Franken», so Choffat. «Erlöst er stattdessen 1,1 Millionen Franken, steigt sie auf 45.000 Franken.» Die leistungsab hängige Provision verhindere, dass Makler zu optimistische Bewertungen ab geben und sporne sie gleichzeitig an, einen möglichst hohen Verkaufserlös zu erzielen. Um am Verfahren teilnehmen zu können, müssen die Makler 25 Pro zent ihrer Provision an die Bestag abführen. Trotz der harten Konditionen ver weigere bei einer Anfrage kaum ein Makler die Zusammenarbeit. «Alle grossen Namen sind dabei – von Engel & Völkers bis zur Swiss Life Immopulse», sagt Choffat. «Schliesslich ist es für Makler essenziell, verkaufswillige Eigentümer zu finden – weil sie sonst kein Geschäft machen können.»

Dass in der Zukunft Immobilientransaktionen allein über digitale Wertermittlungen ganz ohne Makler stattfinden werden, glaubt Choffat nicht. «Ohne einen Menschen als Intermediär bei den Verhandlungen zwischen Verkäufer und Käufer geht es nicht.» ∙

Die Chancen und Risiken von KI für den Immobilienmarkt werden auch am Kongress The Big Handshake diskutiert.

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