5 minute read

«Der Primat des Automobils in der Stadt ist vorbei»

Mobilität – Schweizer Städte haben zunehmend mit den Auswirkungen des Strassenverkehrs zu kämpfen: Dauerlärm und CO 2Emissionen machen die Menschen krank. Neue Denkansätze für nachhaltige Lösungen können Abhilfe schaffen.

Von Susanne Osadnik – Fotos: Depositphotos.com; zVg

Stau, Lärm, schlechte Luft, verstopfte Strassen, knapper Parkraum. Der private Strassenverkehr ist oftmals ein Ärgernis – und zwar für alle Beteiligten. Diejenigen, die sich per Auto, Laster oder Lieferwagen in den verstopften Städten bewegen, sind gestresst; und diejenigen, die in den Städten wohnen, leiden zunehmend unter Dauerlärm und CO 2 -Emissionen. Der Verkehr verursacht rund ein Drittel der Treibhausgasemissionen in der Schweiz, hat der Verein Elektromobilität Zug herausgefunden. Und teuer ist das Ganze auch noch für die Allgemeinheit: Wie das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) ermittelte, belaufen sich die Kosten des privaten motorisierten Strassenverkehrs in der Schweiz auf 9,8 Milliarden Franken pro Jahr. Tendenz: weiter steigend.

Vor dem Hintergrund einer weiter wachsenden Bevölkerung und der dadurch zunehmenden Belastung in den Städten sind neue Denkansätze für nachhaltige Lösungen zwingend erforderlich.

Schliesslich wollen die jetzt schon 8,8 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen der Schweiz auch weiterhin ein lebenswertes Leben haben.

Pilotprojekt mit unerwartetem Ergebnis

In der Suurstoffi in Risch-Rotkreuz hat man bereits ganz neu gedacht. Im Rahmen eines Pilotprojekts unter dem Motto «Sorglos mobil» wurde getestet, wie man neue Mobilitäts -und SharingAngebote in modernen Wohnarealen etablieren kann. Die Idee: Angebote des öffentlichen Verkehrs (ÖV) mit einem Pool unterschiedlicher Sharing-Fahrzeuge wie E-Bikes, E-Cargobikes oder E-Autos per App-Nutzung miteinander zu verbinden – und damit die Anwohner und Anwohnerinnen dazu anregen, das Auto stehen zu lassen.

Die Projektpartner– Postauto, Zug Estates, Mobility sowie TCS gemeinsam mit dem Bundesamt für Verkehr (BAV) – waren zunächst zuversichtlich, dass bei entsprechender Alternative viele Anwohner in dem für seine Nachhaltigkeit schweizweit bekannten Vorzeigequartier auf das Auto verzichten würden. Doch es kam anders, als erwartet. Nach einer zweijährigen Testphase fällt die Bilanz ernüchternd aus: Statt der erhofften 50 Abo-Abschlüsse für die umweltfreundliche Mobilitätsalternative gab es nur 16.

Woran das lag? Die Bewohner hätten die Angebote zwar angenommen, aber nicht als wirklichen Ersatz für die bisherige Mobilität betrachtet, liess Mitinitiator Postauto verlauten. «Die Kundinnen und Kunden haben das Angebot eher in der Freizeit genutzt als für ihren täglichen Arbeitsweg», erklärte Postauto-Mediensprecher Urs Bloch in einem Pressegespräch.

Weitere Begründungen: Viele Anwohner verfügten bereits über einzelne Apps verschiedener Mobilitätsanbieter. Im Pilotprojekt war auch die Nutzung von Fahrzeugen der Mobility- und Carvelo2GoAngebote eingeschlossen. Doch zum Leidwesen der Projektpartner wurden diese Fahrzeuge gleich zehnmal so oft von Kunden anderer Car-Sharingund Mobilitäts-Apps genutzt als von Kunden der «Sorglos mobil»-App.

Doch auch die Tatsache, dass auf dem Areal bei 514 Wohnungen 612 Parkplätze zur Verfügung stehen, hat aus Sicht von Postauto zum Testergebnis beigetragen. «Damit Bewohner ihr Auto stehen lassen und geteilte Mobilität nutzen, braucht es Anreize auf rationaler und und emotionaler Ebene sowie verpflichtende Rahmenbedingungen. Das kann beispielsweise eine Reduktion des Parkplatzangebots sein», heisst es offiziell.

Zürich reduziert die blaue Zone ...

In Zürich wird das gerade praktiziert. Die Stadt baut im grossen Stil Parkplätze in der sogenannten blauen Zone ab, um den Bau von Velo-Schnellstrassen zu ermöglichen. In den kommenden Jahren sollen in der Limmatmetropole so 6.000 Parkplätze im öffentlichen Raum zugunsten von Velofahrenden und Fussgängern verschwinden. Wenn auch die Stadtzürcher Bevölkerung das eigentlich mehrheitlich begrüsst, wie verschiedene Volksabstimmungen gezeigt haben, gibt es aber auch Widerstand.

Für Richard Wolff sind das Symptome einer Entwicklung, die er als Übergangszeit definiert. «Den Menschen ist grundsätzlich bewusst, dass wir unser Verhalten gravierend ändern müssen, um unsere Städte lebenswert zu erhalten», sagt der ehemalige Zürcher Stadtrat der Alternativen Lis- te (AL). «Aber wenn es an die Umsetzung geht und man stellt fest, dass man persönlich betroffen ist, wird es schwieriger», räumt Wolff ein. «Da müssen wir vielleicht auch mehr Geduld haben und den Menschen Zeit lassen, sich an das Neue zu gewöhnen.» und baut Veloschnellstrassen aus Eines aber ist für den AL-Politiker schon seit Langem klar: «Der Primat des Automobils in der Stadt ist vorbei.» Die Zukunft der städtischen Mobilität werde nicht primär dem Auto gehören, sondern den Füssen, dem Velo und den öffentlichen Verkehrsmitteln, prognostiziert Wolff. «Für alle, die beruflich auf das Auto angewiesen sind, wie etwa Gewerbetreibende, Lieferservices oder Monteurbetriebe, wird es auch künftig nicht ohne Auto gehen. Aber im Privatleben sollte es kaum mehr eine Rolle spielen.»

Dafür soll auch ein Netz von Velovorzugsrouten sorgen, das sich bald über die ganze Stadt spannen soll. Aber auch der konsequente Ausbau des ÖV über die Stadtgrenzen hinaus sowie kürzere Taktung von S-Bahn-, Tram- und Busverkehr gehören für den AL-Politiker dazu. «Wir sind auf dem richtigen

Weg», ist Wolff überzeugt. «Gut die Hälfte aller Haushalte in Zürich haben gar kein Auto. Und immer mehr Anwohner und Anwohnerinnen verzichten darauf, weil das Angebot des ÖV schon gut ist. Da müssen wir dran bleiben und dafür sorgen, dass es noch besser wird.»

«Faktisch nur Gewinner«

Trotz zahlreicher Ansätze zur alternativen Mobilität darf nicht vergessen werden, dass der Individualverkehr nicht von heute auf morgen verschwinden wird. Daher wird auch Parkraum ein wichtiges innerstädtisches Thema bleiben – und bedarf neuer Konzepte. Ein Pionier auf dem Weg zum «Parken der Zukunft» ist das Spin-off der Bâloise Holding AG, eines Schweizer Versicherungskonzerns mit Sitz in Basel. Parcandi ist 2021 gegründet worden und will das Parken neu definieren. «Unser Ziel ist es, ungenutzte private Parkplätze in Wohn- oder Firmenarealen nutzbar zu machen, den Flächenverbrauch zu optimieren und den Immobilieneigentümern zu zusätzlichen Einnahmen zu verhelfen, indem sie ihre brach liegenden Flächen vermieten», erklärt Corsin Sulser, CEO von Parcandi. «Autofahrer profitieren davon, weil sie sich die Parkplatzsuche sparen können.» Gleichzeitig werde die Umwelt geschont, weil niemand mehr viele Extrakilometer auf Parkplatzsuche zurücklegen müsse, sagt der Parcandi-Chef: «Faktisch gibt es nur Gewinner.»

Das scheint auch immer mehr potenzielle Kunden und Nutzer zu überzeugen. Inzwischen ist das Parkplatz-Start-up an 40 Standorten vertreten und verwaltet mehr als 1.000 Parkmöglichkeiten.

Die durchschnittliche Auslastung liegt wochentags bei über 85 Prozent. Laut Parcandi konnten schon 40 Prozent mehr Parkplätze als bislang geschaffen werden – ohne dass dafür neue Flächen gebraucht wurden.

Und so funktioniert es: Parkplatzsuchende finden über Parcandi online freie Plätze und können entweder bis zu zwei Stunden vorher reservieren oder spontan parkieren. Zugang zu den Parkhäusern oder Tiefgaragen wird über das registrierte Autokennzeichen sowie die Handynummer gewährt. Das lästige Papierticket, ein Schlüssel oder Badge entfällt somit. Man bleibt, so lange wie man will und zahlt später digital, einfach und bargeldlos, etwa per Kreditkarte, Twint, Paypal und weiteren Zahlungsmöglichkeiten.

Schulen, Supermärkte, Unternehmen oder auch Stadtverwaltungen – wer auch immer über zeitweise ungenutzten Parkraum verfügt, ist gefragt. In Basel stehen beispielsweise schon 153 Parkplätze zusätzlich zur Verfügung. Seit Projektstart vor drei Jahren hat Parcandi dort inzwischen 13.678 Buchungen registriert. Nachdem es 2021 noch zurückhaltende 3635 Buchungen pro Jahr waren, stieg die Zahl 2022 mit 7684 Buchungen schon rasant an.

E-Autos

kommen in Mode

Für immer mehr Schweizer gehört aber auch der Umstieg vom Diesel- oder Benziner-Pkw auf Elektroautos zur Realität. Erstmals wurden laut Statista 2022 rund 40.500 rein elektrisch betriebene Pkw neu zugelassen. Aktuellen Prognosen zufolge könnten 2030 mehr als 70 Prozent der Neuzulassungen in der Schweiz Steckerfahrzeuge sein. Wie jüngst eine im Auftrag von MercedesBenz durchgeführte Umfrage des Forschungsinstituts Link ergab, zeigen sich rund 31 Prozent der Schweizer und Schweizerinnen gegenüber dem Kauf eines Elektroautos grundsätzlich positiv – unter der Voraussetzung, dass auch die entsprechende Infrastruktur vorhanden ist.

Vom Parkhaus zum Ladehaus

In den grösseren Städten kommen dafür vorzugsweise Tiefgaragen und Parkhäuser infrage. Beispielsweise in Zürich, wo die AMAG Gruppe inzwischen drei ihrer Parkhäuser teilweise in Ladehäuser umfunktioniert hat. Standen zuerst Ladelösungen für Mieter sowie Stockwerkeigentümerinnen und -eigentümer im Fokus, wurde das Ladeangebot nun auch auf Kurzparkierende ausgeweitet, sodass die Nutzung auch stunden- und tageweise möglich ist.

Bei der AMAG Group AG ist man schon lange überzeugt, dass Klimawandel, Urbanisierung, Digitalisierung oder New Work auch die Ansprüche der Unternehmen an die Mobilität ihrer Mitarbeitenden verändert – daher hat das nach eigenem Bekunden grösste Automobilhandelsunternehmen der Schweiz u.a. die Mobilitäts- und SharingPlattform Allride gegründet. Bis jetzt war die Mobility-as-a-Service-Plattform hauptsächlich auf die Bedürfnisse von Überbauungs- und Arealmobilität wie etwa auf dem Papieri-Areal in Cham ausgelegt. Seit Kurzem lässt sich das SharingKonzept auch auf Flotten von Firmen anwenden, wozu auch der Aufbau einer neuen Elektroflotte zählt. Dazu gehören auch Full-Service, SorglosLösungen und die Ladeinfrastruktur sowie Energielösungen – alles aus einer Hand. Als erstes Grossunternehmen hat sich die Zurich Versicherung für das Angebot entschieden und ermöglicht ihren Mitarbeitenden seit Ende April an verschiedenen Standorten, über die BusinessApp von Allride nachhaltige und geteilte elektrische Mobilität zu buchen und nutzen. ∙

Das Thema urbane Mobilität wird auch am Kongress The Big Handshake von prominenten Experten diskutiert.

This article is from: