Tectum Leseprobe Henkel Irrtum

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Peter Henkel

Irrtum Unser! oder

Wie Glaube verstockt macht

Tectum Verlag


Peter Henkel Irrtum Unser! oder Wie Glaube verstockt macht © Tectum Verlag Marburg, 2012 ISBN: 978-3-8288-3025-7 Umschlagabbildung: © mffoto | shutterstock.com Umschlaggestaltung: Heike Amthor | Tectum Verlag Satz und Layout: Heike Amthor | Tectum Verlag Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín Printed in the Czech Republic Alle Rechte vorbehalten Besuchen Sie uns im Internet www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.


Inhalt Prolog

I – Warum der Mensch der Torheit des Glaubens erliegt Das Oasen-Dilemma Kodex für die Gruppe Die Angst vorm Aus Gott und seine Kinder Die Fantasien der anderen Die angelehnte Hintertür Positive Thinking Der tabuisierte Glaube: Affekt und Abwehr Gründe? Keine. Aber Beweggründe reichlich II – Wohin fromme Illusion sich verirrt Jesus mal ganz anders Glaube als Absage an Toleranz Skandal Erlösung Zum Beispiel Margot Käßmann Vom Umschiffen des Bösen Missbrauchter Urknall Alles nur Chemie? Kein Pferd ist ein Vogel Gott, Berg und Herdentrieb

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III – Vernunft und Wissenschaft – Feindbild der Gläubigen Von absoluten und anderen Wahrheiten Der Papst und die Hoffart Zwischen Himmel und Erde Vertrauen ja – aber wem und wozu? Glauben heißt nicht wissen! Das kannst du nicht beweisen!

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IV – Sternenkunde als verwandtes Musterbeispiel spekulativer Projektion Mars, Venus, Luftschloss Intuition und Herzklopfen Von Rhythmen, Uhren und Brüdern

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V – Wie Theologie am Neuen Atheismus scheitert Quod licet Jovi Goldenes Kalb Freiheit Amen, so sei es!

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VI – Zehn Gründe, warum so etwas wie Gott nicht existiert 201

Literaturempfehlungen

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„Als Radbod, der Friese, sich nach jahrzehntelangem Widerstand aus politischen Gründen endlich entschloß, Christ zu werden, und bereits mit dem Fuße im Taufwasser stand, fragte er vorher vorsichtshalber noch den Bischof Wulfram von Sens, wo denn ihre beiderseitigen Vorfahren nach dem Tode hingekommen wären? Als der Bischof selbstbewußt antwortete: seine in den Himmel, die Radbods in die Hölle, sprang dieser sogleich aus der Taufwanne und rief: ‚Wo so viele tapfere Männer sind, da will auch ich sein!‘ – There’s a good fellow!“

Arno Schmidt


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Prolog „Ich bin überzeugt, dass die Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht, vernünftig erörtert werden kann und sollte, und zwar in dem Sinn, dass klare Antworten möglich sind.“

John L. Mackie

Eigentlich ist die Sache ganz einfach: So etwas wie Gott existiert nicht. So etwas wie Gott gibt es nur als Gedachtes, als Eingebildetes in den Köpfen von Menschen. Nichts existiert tatsächlich, was sinnvoll mit dem Namen Gott zu belegen wäre. Da gibt es kein übernatürliches Wesen, das irgendwie zu tun gehabt hätte mit dem Entstehen des Universums; mit deinem oder mit meinem Schicksal; mit dem Wachsen des Korns und mit der Flut, die es vernichtet; mit dem Wanderprediger, der vor zwei Jahrtausenden dem jüdischen Establishment unbequem wurde und den römischen Besatzern. Unzählige drücken sich vor dieser Einsicht. Sie ist ihnen zu unbequem, zu schmerzlich, sie verlangt den Mut zur kritischen Prüfung überkommener, lieb gewordener Vorstellungen. Lieber richten sie sich ein in einem vagen Gebilde aus Wunschdenken,


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Ängsten und Mitläufertum, wie würdelos das auch sein mag. Lieber leisten sie sich auf dem Felde der Religion Verhaltensweisen, die sie sich und anderen sonst schwerlich durchgehen ließen: das Ignorieren und Verdrängen von Widersprüchen, das reflexhafte Wegwischen von Einwänden, den Verzicht auf eigenständiges Nachdenken. Woher die Kühnheit des Leugners? Der entrüstete Gläubige, der so fragt, tut so schon das, was Gläubige immer tun, um ihren Glauben zu retten: Er stellt Logik und Reihenfolge auf den Kopf, und er lässt sich fortreißen von seinen Bedürfnissen und Hoffnungen, seinen Gewohnheiten und Befürchtungen. Ihm hilft die Allianz mit den Zaudernden, jenen vielen, die den Schritt in den Unglauben scheuen. Wenn der Gottlose sagt: Da ist kein Gott, so sind sie unangenehm berührt und erwidern, das könne doch niemand wissen. Wenn aber der Priester sagt: Da ist ein Gott, so hört man von diesen Furchtsamen dergleichen nie. Angst und Furcht sind in Glaubensdingen schlechte Ratgeber. Sie verleiten dazu, sich zu ducken vor dem vermeintlichen Herrn des Himmels und der Erde. Der, um es paradox zu formulieren, gut daran tut, nicht zu existieren. Denn, allen Klimmzügen der Theologen zum Trotz: Sonst wäre es der Allmächtige, der in jeder Sekunde unzähligen Menschen und Tieren unsägliches Leid geschehen lässt. Er wäre es, der die Folterer nicht hindert und nicht die Kriegsherren und der nichts unternimmt gegen Dürre und Wirbelsturm. Er wäre es, der Milliarden seiner Geschöpfe in Kriegen durch ein Meer von Blut und Tränen waten lässt. Und doch soll er es gut meinen mit ihnen. Und jede Sekunde wird ihm dafür gedankt, dass er dieses und jenes getan, da und dort helfend, schützend, rettend eingegriffen habe. „Ohne Got-


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tesglauben“, hat einst Joachim Kahl geschrieben, „ist die Wirklichkeit bitter. Mit Gottesglauben ist sie bitter und absurd.“ Vor alledem verschließen gläubige Menschen beharrlich die Augen. Es gebe nun mal dieses religiöse Bedürfnis, sagen sie, ein Bedürfnis nach Sinn und Halt und Teilhabe am ewigen Großen und Ganzen, ein Bedürfnis, das trockene Wissenschaft nicht zu stillen vermag. Die Botschaft dahinter heißt: Das Bedürfnis nach Gott bejaht schon die Frage nach seiner Existenz. Oder macht sie zumindest überflüssig. Was auch immer vorgebracht wird zugunsten religiöser Fantasien, es läuft auf dies hinaus: An so etwas wie Gott glauben, das ist nützlich und hilfreich auf die verschiedenste Weise. Glaube verschafft Orientierung, Wohlgefühl, spirituellen Schauer, Moral. Deshalb scheint er seinen Anhängern unentbehrlich. Jedoch ist diese Haltung von Willkür bestimmt und kontaminiert vom Prinzip des Rosinenpickens: Fixierung auf das irgendwie Positive, Ausblenden des Störenden, Sperrigen, Negativen. Es geht nicht um redliches Erkennen dessen, was ist. Es geht diesem Denken, das weit eher ein Fühlen ist, um etwas ganz anderes: um Glaubensverwertung, um den individuellen wie gesellschaftlichen religiösen „Nutzbetrieb“. Ein kritischer Begriff von Papst Benedikt, mit dem er natürlich nicht auf religiöse Praxis zielt, sondern auf das alltägliche Schielen des Menschen auf seinen meist materiellen Vorteil. Den Balken im eigenen Auge bemerkt der Großtheologe Ratzinger nicht, so wenig wie der gewöhnliche Gläubige: dass nämlich ihr Klammern an Religion und Glaube motiviert ist von eben jenem Nützlichkeitsdenken. Unzählige Aussagen und Taten zeugen von den Erwartungen der Gläubigen, was alles Glaube und Religion „liefern“ sollen.

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Alles Beschwören, Bitten und Beten, alles Hoffen und Preisen, Deuten und Sichängstigen geht diesen beiden zentralen Fragen aus dem Wege: Wieso dieses göttliche Gegenüber denn überhaupt existieren sollte; und ob etwa die Beschaffenheit der Welt tatsächlich auf jenen „lieben Gott“ der Alltagssprache als ihre Ursache schließen lässt. Stattdessen machen es sich die allermeisten Gläubigen nur allzu bequem mit ihrer „religiösen Neurose“ (Nietzsche). Weil Glaube gut tut, muss er sich nicht rechtfertigen, und deshalb sind Einwände überflüssig und unerwünscht. Ausgelebt wird stattdessen der Hang zur Affirmation, zur Selbstbestätigung in der Endlosschleife. Dazu gehört, dass die Gläubigen sich einer höheren Weisheit rühmen: Glaube verhelfe zu tieferen Einsichten. Da soll gepunktet werden mit einem Insidergeraune wie diesem: „Nichts spricht gegen die tiefe Gewissheit, dass alle Erfahrung und alles Wissen nicht der Weisheit letzter Schluss ist.“ Was da so bedeutend tönen soll, ist doch nur das hohle Scheppern einer Leerformel. Natürlich wird sie nicht umsonst ersonnen. Wer nimmt schon für sich in Anspruch, „der Weisheit letzten Schluss“ zu kennen, was immer das sein mag? Eine Ausnahme machen aber gerade jene, die das gewöhnliche Wissen herabsetzen wollen, um alsdann mit ihren „tiefen Gewissheiten“ aufzutrumpfen, also ein sehr spezielles, ein ungewöhnliches Wissen für sich zu reklamieren. Ein äußerst beliebtes Manöver, durchsichtig, aber viel zu selten durchschaut. Weil den meisten Anhängern die „Gotteshypothese“ (Laplace) zu schön ist, zu wertvoll, zu praktisch, zu ehrwürdig, um sie zu hinterfragen, reagieren sie rat- und verständnislos auf Gottesleugnung. Die eingangs zitierte Überzeugung des australischen Philosophen Mackie ist ihnen fremd. Und aus dem Umstand,


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dass Glauben selbstverständlich eine Sache persönlicher Entscheidung ist und sein soll, ziehen sie den falschen Schluss, sie sei jeglichem Belieben anheimgestellt. Und zu denken, zu prüfen, geschweige zu debattieren gebe es da nichts. Über all das wird in unserer pluralistischen Gesellschaft so gut wie nie offen gesprochen. Freuds Wort von der „Denkhemmung“ in Glaubensfragen wird bestätigt von einer stillschweigenden kollektiven Übereinkunft, öffentlichen Diskurs über Elementarfragen des Glaubens tunlichst zu vermeiden. Befördert wird sie durch den Schlachtruf „Glaube ist privat!“. Seltsamerweise ist er von vielen Gläubigen zu hören und zugleich von vielen Ungläubigen. Erstere wollen so ihr Bekenntnis vor kritischer Kontroverse bewahren. Eine Strategie, die überaus erfolgreich war und ist, erst recht, wenn man bedenkt, welch herausragende Stellung Religion und Kirche in der bundesdeutschen Gesellschaft nach wie vor einnehmen. „Privater“ Glaube will nicht passen zum schulischen Religionsunterricht, der überwiegend eine staatlich gewollte und organisierte Erziehung zum Glauben darstellt, zu theologischen Fakultäten an Universitäten, zum Kirchensteuereinzug durch den Arbeitgeber, zur eklatanten Bevorzugung von Religion, Glaube und Kirche in den Medien im Vergleich zu säkularen Strömungen. Ungläubige wiederum wollen den Glauben schwächen, indem sie ihn aus dem öffentlichen Raum hinauszudrängen suchen, zurück ins stille Kämmerlein. Diese Strategie ist in Deutschland, siehe oben, bislang kläglich gescheitert. Und es ist sehr zu bezweifeln, ob sie eine richtige Strategie darstellt. Zudem verrät eine Gesellschaft, die aus ganz gegensätzlichen Interessenlagen und Überlegungen zu dem Konsens gelangt, über ihre bis in die Gegenwart höchst bedeutsamen religiösen Wurzeln und Traditi-

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onen am besten nicht offen zu reden und zu streiten, ihren Anspruch an Transparenz und Offenheit. Und will nicht wirklich erwachsen werden. Gläubige, die nicht immer nur als stumme Diskursverweigerer dastehen wollen, schätzen kurze Zurufe. Da werden vom Gottesleugner Respekt und Toleranz gegenüber dem Glauben eingefordert; als ob Religion und Glaube sich beklagen dürften über einen Mangel daran. Mal mahnt der Gläubige zu Demut und Bescheidenheit; als ob seine eigenen Behauptungen über Dasein und Willen des Herrn nicht einen Extremfall von Selbstüberschätzung darstellten. Mal belehrt er den Widersacher über Anmaßungen und Beschränktheiten der Wissenschaft oder kreidet dem Gottesleugner an, dass der keine finalen Beweise vorzubringen vermag – als ob es nicht hier wie auch sonst auf die besseren Argumente ankäme. Gern wird die Frömmigkeit namhafter kluger Köpfe ins Feld geführt, von Autoritäten der Theologie und der Wissenschaft; als ob dergleichen nicht auf ein Nullsummenspiel hinausliefe angesichts zahlreicher unfrommer Prominenz. Beliebt ist der Hinweis, gottlosen Individuen und Gesellschaften drohe moralisches Elend; als ob nicht immer wieder gläubige Einzelne und fromme Kollektive größte Not gebracht hätten über sich und andere. Schließlich gibt – ausgerechnet! – der Religionsanhänger dem Ketzer zu verstehen, gottloses Bekennen sei nah am Bekehrenwollen, und das wiederum stelle eine inakzeptable Grenzüberschreitung dar, eine gefühllose Anmaßung – als ob er, wenn schon, eine solche Anklage nicht weitaus heftiger gegen sich und seinesgleichen erheben müsste. Eine sehr spezielle Stufe gedanklicher Anstrengung erklimmen Gläubige gern mit der Frage, wieso der Atheist sich so ausdauernd mit einem Gott befasst, den es doch angeblich gar nicht


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gebe. Ähnlich „anspruchsvoll“ ist das „Argument“, auch der Ungläubige glaube ja an etwas. Und nicht selten wird dem Ketzer entgegengehalten, er werde nach seinem Tode ja sehen. Für viele Religionsanhänger ist diese hellseherische Vorhersage – unzugänglich jeder Evaluation, deshalb kostenfrei für den Prognostiker – schier unwiderstehlich. So wie die beliebte These, ohne Gott sei wahlweise das Leben ohne Sinn oder alle Ethik ohne Fundament. Oder beides. Alle diese Argumente sind leicht zu widerlegen und zu entkräften. Und sie sind Ausdruck einer Hilflosigkeit, der jedes Mittel recht ist, um sich nicht offenbaren zu müssen. Idyllischer Glaubensverwertung, wie wir sie in Deutschland seit Langem gewohnt sind, ist nicht beizukommen durch Pädophilieskandale, Kirchenaustritte oder Besucherschwund bei Gottesdiensten. Der Glaube an eine höhere Macht, wie vage auch immer er skizziert wird und wie weit er inzwischen entfernt ist von kirchlicher Dogmatik, er hält sich hartnäckig. Nach Umfragen sind noch immer zwei Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung als irgendwie religiös einzustufen in dem Sinne, dass sie an so etwas wie „Gott“ glauben. Es ist töricht und irreführend, wenn manche Atheisten hierzulande die Nichtkirchenmitglieder einfach dem Lager der Glaubenslosen zuschlagen. Ökonomisch gesprochen: Die Nachfrage nach dem Transzendenz-Angebot ist stabil auf hohem Niveau. Auch sie ist Konjunkturen unterworfen, aber im Großen und Ganzen hält sie sich weitaus zäher, als viele im kleinen Häuflein der entschiedenen Widersacher wahrhaben wollen. Leere Kirchen sagen noch nichts darüber aus, wie die Menschen in dieser existenziellen und doch verdrängten Frage denken und fühlen; erst recht, solange Gotteshäuser zu Weihnachten oder nach Anschlägen im-

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mer noch überrannt werden. Eher deuten solche Symptome auf zigfach beschriebene Erscheinungen wie Distanz von der Amtskirche und Entdogmatisierung des persönlichen Bekenntnisses hin, als dass sie von einer um sich greifenden Abkehr von übernatürlichen Vorstellungen zeugten. Ein verständiger Atheismus muss einräumen: Der Transit in eine religionslose Moderne wäre keineswegs ohne gravierende Risiken. Dass die übergroße Mehrheit der sieben Milliarden Planetenbewohner religiösen Vorstellungen anhängt und dass diese von großem Gewicht für den Einzelnen wie für ihre Gesellschaften sind, ist nicht wegzuleugnen. Ein Niedergang der Religionen, zumal wenn er sehr rasch stattfände, d. h. im Laufe weniger Generationen, könnte zutage fördern, dass eine große Zahl Menschen überfordert wäre mit einem solchen Prozess der Ernüchterung, der Sachlichkeit, der Entleerung des Himmels. Unvermeidlich würde er die mentale, die kulturelle und damit die politische Statik der Welt dramatisch verändern. Allerdings: Jene Statik ist schon heute höchst zweifelhaft. Während dieses Buch geschrieben wird, sind zwölf Millionen Menschen am Horn von Afrika vom Tode bedroht infolge eines Mangels an Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten. Zehntausende sind bereits gestorben. Eine Tragödie, die sich seit Langem abgezeichnet hatte und der vorzubeugen die reiche westliche Staatenwelt, basierend auf christlich geprägten Werten, angeführt von bekennenden Christen wie Barack Obama, Angela Merkel und David Cameron, sich nicht aufraffen konnte. Die abgründigen Ambivalenzen einer Religion, auf deren Fahnen das Wort von der Nächstenliebe weht, zeigen sich auch hier.


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Fazit: Niemand weiß, wie eine Welt ohne Religionen aussähe; erst recht nicht, ob sie eine bessere oder eine schlechtere wäre als die heutige. Deshalb muss es am Ende doch bei der Hoffnung bleiben, dass die Menschheit mit dem mühsamen und langwierigen Versuch beginnt, ohne Fantasien von Göttern und Geistern auszukommen, ohne Träume vom Jenseits und ohne das krampfhafte Bemühen, dem eigenen Leben eine höhere Bedeutung zu verleihen, eine spirituelle Dimension durch die Erfindung von Transzendenz. Dass sie aus der „Gottesfinsternis“, die der gegenwärtige Papst beklagt, die Morgendämmerung der Vernunft werden lässt. In deren Zentrum Wahrhaftigkeit und Humanität stehen und die Erkenntnis, dass die Natur und er selbst des Menschen Schicksal bestimmen. Jedoch ist die kühne Hoffnung das eine, die betrübliche Realität der Gegenwart das andere. Der Gottesglaube, diese fromme Fiktion und feierliche Fabel, die so viele Bedürfnisse bedient, macht seine Anhänger nur allzu oft blind und taub. Verstockt nennt die Bibel den, der die unbequeme Wahrheit nicht hören will. Dieses Buch nimmt nicht die üblichen Rücksichten. Sondern versucht zu beschreiben, woher es rührt und wie es sich zeigt: das Versagen der Gläubigen. Irrtum unser!

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I – Warum der Mensch der Torheit des Glaubens erliegt „Hier stehen wir vor dem eigentlichen Kern der religiösen Problematik: Hilfe! Hilfe!“

William James

Bei aller Verschiedenheit der Motive für ein Ja zum Glauben – es gibt doch so etwas wie einen roten Faden, der sich durch das bunte Muster hindurchzieht. Denn sie alle handeln davon, was sich der Mensch von Gott und vom Glauben an ihn verspricht. Immer geht es ihm um Beistand, Trost und Schutz, um eine Letztbegründung für Gerüste der Ethik, um den Wunsch, sich einen Reim machen zu können auf Welt und Existenz, oder im Gegenteil um den Versuch, sich mit der Beschwörung des Geheimnisvollen, des Rätselhaft-Magischen in andere Dimensionen hinaufzuschwingen als die erdnahen. Denn diese empfinden viele religiöse Menschen als banal und dürftig, jedenfalls im Vergleich zu dem, was ihnen als das Eigentliche erscheint, als das Wesentliche. Der Erfurter Religionsphilosoph Eberhard Tiefensee spricht von einem „Grundbedürfnis des Menschen, sich mit etwas zu konfrontieren, das über ihn


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selbst hinausgeht“. Seit der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde anno 1964 den Aphorismus prägte, es lebe der freiheitliche säkulare Staat „von Voraussetzungen, die er nicht selber garantieren“ könne, wird dieser Satz nur zu gern mit leuchtenden Augen und vielsagendem Blick nach oben auf Akademietagungen zitiert. Und als sich der „Spiegel“ 2007 – sehr parteiisch – mit dem von ihm sogenannten „Kreuzzug der Neuen Atheisten“ befasste, da brachte der Autor der Titelgeschichte die pro-religiösen Ressentiments im flotten Magazinstil so auf den Punkt: „Bisweilen scheint es, als würde auf alles eingeschlagen, was sich dem Messbaren entzieht, ohne dem Geheimnis einen Raum zu lassen, als wäre unsere Zeit nicht schon ausgenüchtert genug. Als gäbe es nicht jede Menge Dinge, die sich nicht beweisen lassen, an die Zeitgenossen aber ohne Schaden fürs Gemeinwohl glauben: Liebe, Homöopathie, Astrologie, den Wetterbericht, den Reformwillen der Kanzlerin. Gibt es in diesem erklärten Kulturkampf Platz zwischen den Fronten? Lässt sich vom Glauben überhaupt etwas retten, ohne damit zugleich zu Komplizen der Gotteskrieger und Kreationisten zu werden?“

Zu loben ist die Kompaktheit der Aussage. Im Übrigen: reichlich Unfug und Verräterisches, das nur ein einziges Ziel verfolgt, nämlich den unverhofft aufgetretenen Widersachern zum Trotz die Dominanz der Religion zu erhalten. So sind die bewussten Atheisten viel zu sehr in der Unterzahl, um einen Zeitgeist blind-militanter Religionskritik hervorzubringen. Von Geheimnissen, denen ein Raum gelassen werden soll, wüsste man zuvor gern Näheres; sonst gibt es eben keinen Riegel mehr, der irgendeiner Sorte Spuk, Gespenstern und Dämonen, allesamt fraglos geheimnisvoll, vorzuschieben wäre. Auch ist unsere Gegenwart alles andere als ausgenüchtert: Das Irrationale blüht wie eh und je. Und es ist hochproblematisch, Unfug nur deshalb einen Freifahrtschein auszustellen, wenn er „ohne Schaden fürs Gemein-


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wohl“ geglaubt wird. Denn der scheinbar harmlose kleine Unfug schafft dem nächstgrößeren, schon etwas weniger harmlosen die Legitimation, insofern die Anhänger des einen wie die des anderen darauf bestehen, eine Prüfung durch Erfahrung, Vernunft und Logik sei ihm nicht zuzumuten, ja sogar: es gebe gar keine Standards, die einzuhalten wären. Und so geht es fort, bis am Ende metaphysischer Wahn oder politische Paranoia erst auf Widerstand treffen, wenn sie unübersehbare Opfer fordern. Womit beileibe nicht nach Gesinnungspolizei und orwellschem Staat gerufen wird, sondern nach der Entschlossenheit möglichst vieler, sich jenem „Anything goes“ zu verweigern, das Vernunft und Mündigkeitsanspruch des Menschen beleidigt. Die aber sind dem Autor der zitierten Zeilen offenbar gleichgültig. Was sich darin zeigt, dass er die Erfahrungstatsache Liebe in einem Atemzug nennt mit dem Unsinn Astrologie. Die Struktur religiöser Motivation ist zu skizzieren als Antwort auf die Frage: „Was nützen Gott und Glaube?“ Natürlich stellt sie so niemand; in dieser Formulierung würde das ihr innewohnende Verwertungsdenken nur allzu offenbar. Die diversen Antworten indessen verschleiern dieses Interesse bei Weitem geschickter. Denn sie sind für gewöhnlich getränkt von so vielen Elementen aus der Sphäre von Gemüt und Gefühl, von so viel Wünschen und Sehnen, von so viel Respekt für ehrfurchtgebietende, jahrtausendealte Tradition und von so viel nicht unberechtigtem Misstrauen gegenüber dem Menschen, diesem Geschöpf aus „krummem Holz“, dass auch mancher Gottesleugner nicht unbeeindruckt bleibt. Und spürt, wie sehr sein nüchterner Naturalismus wirkt wie schäbiges Kleingeld, während der Gläubige frohlockend auf dem mächtigen Berg des ganzen religiösen Goldes zu thronen meint. Glaube, auch das räumt ein vernünftiger Atheismus ein, der weiß, wie dürr, trostlos und unsinnlich

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er daherkommt, hat ja tatsächlich eine Menge zu bieten: Ruheraum und Wärmestube, Knautschzone und Wegweiser, Moralfabrik und sozialer Kitt, Durchblick und Zutritt zu höheren Sphären und womöglich ins Jenseits – dies und mehr, alles in einem. Eben deshalb entfaltet ja die religiöse Illusion so viel zähe Kraft. Ihr erliegen viele auch deshalb, weil sie gemeint sein, das heißt sich selbst weder blindem Zufall verdanken noch der Sinnlosigkeit ausgeliefert sehen wollen. Und sie wollen sich stützen lassen durch die Gemeinschaft der Gleichgesinnten.

Das Oasen-Dilemma Auch deshalb befindet sich der Ungläubige in dem, was als „Oasen-Dilemma“ zu bezeichnen wäre. Es handelt von Reisenden in der Wüste, denen durch widrige Ereignisse die Wasservorräte ausgegangen sind. Als die Silhouette einer rettenden Oase erscheint, entfaltet sich das ganze üppige Szenario kultureller Kommunikation. Die einen sprechen Dankgebete, schreiben Gedichte oder philosophieren über das „Der Weg ist das Ziel“Mantra, die etwas praktischer denkende Fraktion schwelgt in Gedanken an frugale Orgien oder verabredet eine Studie über die Standards touristischer Stützpunkte in der Sahelzone. Die Annahme, dort vorne warte die Oase, gebiert Kreativität, weckt die Lebensgeister, produziert Hoffnung, fordert Intelligenzleistung ab, schafft neuen Zusammenhalt und stiftet persönliches Glücksgefühl. Und wird schließlich, als Voraussetzung all dieser erfreulichen Effekte, in den Rang einer Gewissheit erhoben, an der es keine Zweifel mehr geben darf, ganz zu schweigen von offenem Bestreiten. Und doch hegen zwei unter den Expeditionsteilnehmern den begründeten Verdacht einer Fata Morgana.


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Sie stehen vor einer ganzen Reihe von Problemen. Sie müssten das unausgesprochene Gelübde der anderen durchbrechen, sich ausschließlich auf die positive, ermutigende Oasen-Hypothese zu konzentrieren; indem die Neinsager die Indizien für ihre Vermutung einer optischen Täuschung ausbreiten, würden sie zusammen mit der Illusion auch existenzielle Hoffnungen und Glücksgefühle zerstören; womöglich brächten sie die ganze Kommunikation mit allen ihren kulturellen und sozialen Elementen zum Erliegen; und, was wohl das schlimmste Ergebnis ihres kritischen Einspruchs wäre, sie würden dem einen oder anderen den Willen und die Kraft zum Weitergehen rauben, sodass sie es zu verantworten hätten, wenn er es womöglich nicht mehr schafft bis zur nächsten real existierenden Oase. In analoger und ähnlich verzwickter Lage steckt die kleine Minderheit der bewussten religiösen Dissidenten in einer Gesellschaft, die sich nach wie vor an den Strohhalm transzendenter Vorstellungen klammert. Und doch: Die erhebendsten Auskünfte über Nutz und Frommen von Religion ändern nichts daran, dass dabei die Frage „Wie verhält es sich tatsächlich mit Gott und Glaube?“ entschieden zu kurz kommt. Genauer: beiseitegeschoben wird. Für Gläubige ist sie höchst unbequem, und sie ist erkennbar ganz anders geartet als jene nach dem Nutzen. Statt wie sie auf unterschiedlichsten individuellen und gesellschaftlichen Bedarf zu zielen und dessen Befriedigung zum entscheidenden Kriterium zu machen, verfolgt sie allein ein Erkundungsinteresse. Wer diese Frage ins Zentrum rückt, wohin sie gehört, weiß, dass er sich jene Bedürfnisse, so bedeutsam und verständlich sie sind, vom Leibe halten muss, damit sie das Resultat der Prüfung nicht verfälschen.

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Dass die meisten Menschen, auch in unseren vermeintlich aufgeklärten europäischen Regionen, bei der Glaubensthematik und den sogenannten letzten Fragen weniger jenes Erkundungsals vielmehr ein funktionales Interesse verfolgen, kommt nicht von ungefähr. Die Evolutionsbiologie hat uns gelehrt, die Entwicklungsgeschichte nicht nur des pflanzlichen und tierischen, sondern eben auch des menschlichen Lebens auf dem Planeten unter diesem Aspekt zu begreifen. Dass Religion für die Menschen evolutionär von Vorteil war – und partiell bis heute ist –, muss nicht geleugnet werden, sondern stellt eine überaus plausible Vermutung dar. Der Glaube an Götter und andere dämonische Wesen lieferte unseren Vorfahren vermutlich seit etwa 150 000 Jahren scheinbare Erklärungen für das, was sie erlebten: vom Regenbogen bis zum Unwetter, vom Tod bis zu vielen anderen Vorgängen und Phänomenen, die am ehesten zu verstehen und zu ertragen waren, wenn sie gedeutet wurden als Wirken geheimnisvoller, übernatürlicher Mächte. Die Bedeutung solcher Welterklärungen für das sonst Unbegreifliche ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Hier seien nur zwei Elemente genannt: das der Gemeinschaftsbildung, zu der eine für Stamm und Horde verbindliche Religion erheblich beitrug, selbst in noch so primitiver Form, sowie das Entstehen eines Weltverständnisses, das die Menschen bewog, hinter den Erscheinungen Ursachen zu sehen, diese Ursachen zu personalisieren und diesen vermeintlichen Agenten schließlich Absichten zuzuschreiben. Diese intentionale Weltsicht, die zugleich im Kausalitätsprinzip den entscheidenden Wirkungsmechanismus erkennt, steuerte unendlich viel zum Fortschritt unserer Art bei. Jedoch hat sie auch ihre Schattenseiten. Sie kommen zum Vorschein nicht nur


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in den abenteuerlichsten religiösen Konstrukten, in grotesken Formen von Aberglaube und Esoterik, sondern beispielsweise auch in der Unfähigkeit, dem Zufall den Rang zuzuerkennen, der ihm tatsächlich zukommt. Die verbreitete Vorstellung, nichts einigermaßen Bedeutendes geschehe einfach so, allenthalben seien Schicksalsmächte – oder gar, in negativem Kontext, finstere und womöglich verschworene Kräfte – am Werk und Freitag der 13. sei tatsächlich ein Tag mit erhöhtem Risiko, sind der okkulte Nachlass aus weit zurückliegenden Epochen der Menschheit. Und ein Beispiel dafür, dass eben nicht jedes Erbe dankbar und respektvoll anzunehmen ist, sondern das eine oder andere höflich, aber bestimmt ausgeschlagen werden sollte. Es sei denn, homo sapiens wolle sich dümmer stellen, als er ist oder sein könnte, wolle sich selbst verraten als vernunftbegabtes Wesen und strebe eigentlich zurück in die Kindheit der Gattung. Schlag nach bei Voltaire: Der verhöhnte solch magisches Denken mit der Sottise, höhere Mächte hätten die menschliche Nase genau so geformt, dass ein Brille darauf passt.

Kodex für die Gruppe Für ein positives religiöses Bekenntnis gibt es eine enorm breite Skala von Beweggründen. Wie schon gesagt: Als sicher darf gelten, dass Religionen entstanden, weil sie – nicht anders als heute – unseren Vorfahren als Erklärungsmuster dienten. Und zugleich als hilfreich erschienen bei der Bewältigung konkreter Alltagsprobleme ebenso wie elementarer Existenzfragen und ‑nöte. Überall, wo Menschen sich niederließen oder die Kontinente durchstreiften, galt es ja etwa, Naturphänomene zu verstehen, das Jagdglück zu befördern, Missernten fernzuhalten, Kriege zu bestehen oder die Seelen der Toten zu besänftigen. Es liegt also

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nur allzu nahe, dass überall auf dem Planeten Dämonen und Götter erdacht wurden, deren Beistand sich zu sichern inmitten all der Kämpfe, Gefahren und Bedrohungen ein Gebot persönlicher Lebensklugheit war und zudem im Rahmen überkommener Einstellungen der Stammes- oder Volksgemeinschaft lag. Wolf Singer, der weltweit führende Hirnforscher, der sich selbst übrigens nicht als Atheist bezeichnet, hat den Sachverhalt so formuliert: „Wir haben unsere Religionssysteme alle selbst erfunden. Dafür sprechen schon die kulturspezifischen Ausprägungen. Wir sind aufgrund des Soseins unseres Gehirns darauf festgelegt, Ursachen für Phänomene zu suchen. Und da es viele Wirkungen in der Welt gibt, deren Ursachen wir nicht ergründen können, liegt es nahe, sie einem höheren Wesen zuzuschreiben. Das erlaubt eine weitere hochwirksame Projektion: Denn nun kann man Verhaltensweisen, die sich in der Erfahrung als sinnvoll herausgestellt haben (nicht zu töten, zu lügen, zu stehlen), als Verordnung dieser höheren Instanz deklarieren. Dadurch entzieht man sie der menschlichen Verfügbarkeit. Alles, was man nicht ständig diskutieren möchte, kann man nun diesem unsichtbaren Verursacher zuschreiben – und das ist ein sehr effizientes Mittel, um Gruppen auf einen gleichen Kodex einzuschwören. Das hat sich offenbar im Laufe der kulturellen Evolution enorm bewährt.“ (Aus: Ulrich Schnabel, „Die Vermessung des Glaubens“, 276)

Deshalb geht in die Irre, wer aus dem Umstand, dass Religionen doch so alt und in jeder Weltgegend entstanden sind, schlussfolgert, es müsse also in der Sache etwas an ihnen dran sein, weil es dieses menschheitsgeschichtliche, Zeiten und Regionen übergreifende Phänomen, diese ganz „eigene Provinz im Gemüthe“, wie einst Friedrich Schleiermacher sagte, sonst nicht gäbe. Da waren eben hinlänglich objektive Ursachen, die zum Entstehen so vieler und so unterschiedlicher Religionen führten. Dabei ist bemerkenswert, wie sich jedenfalls in unserem europäischen und


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Mittelmeerraum der Himmel in den vergangenen Jahrtausenden langsam, aber stetig wieder entvölkert und das dort verortete göttliche Personal sowohl Struktur als auch Charakter dramatisch verändert hat. Wenn überhaupt, glaubten alte Griechen und Römer und ebenso etwa die alten Germanen an eine große Zahl verschiedenster Götter und Gottheiten. Ihnen wurden klar eingegrenzte Kompetenzen zugeschrieben wie für Liebe, Krieg, Handel oder Wetter, ferner sehr eingegrenzte Macht, moralische Leere und ein starkes Bedürfnis, sich unentwegt gnädig stimmen zu lassen durch Gebet, Opfer und anderes gefälliges Tun. Jüdischer, christlicher und islamischer Monotheismus machte dieser bunten Vielzahl den Garaus, setzte an ihre Stelle ein einziges übernatürliches Wesen und schraubte dafür die Anforderungen an diesen einen Gott beträchtlich höher: Sowohl seine Macht als auch seine Zuständigkeiten wurden grenzenlos, und als Ausdruck davon tauchte das Konzept eines Schöpfers auf, der Erde und Universum geschaffen hatte und jedenfalls alle Mittel in der Hand hält, jegliches irdische Geschehen zu lenken nach seinen Vorstellungen. Jedenfalls hat speziell die christliche Lehre das Konzept überwunden, im Himmel herrsche göttliche Willkür, fernab von irgendwelchen ethischen Verpflichtungen, die nur für Menschen Geltung besäßen. Stattdessen warb sie überaus erfolgreich um Gefolgschaft mit der Idee göttlicher Liebe zu Mensch und Schöpfung, verkörpert im gekreuzigten Jesus Christus als Erlösungsverheißung. Indessen setzt sich der Prozess der Ausdünnung religiöser Vorstellungen in unseren Tagen fort. Ein längerfristiger Trend, an dem auch das Aufkommen bedrohlicher fundamentalistischer Tendenzen sowohl im Islam wie im Christentum nichts zu ändern vermag. Nicht nur, dass jedenfalls im modernen Europa eine Minderheit den Gottesglauben ablehnt oder ihm zumin-

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Peter Henkel: Irrtum Unser! oder Wie Glaube verstockt macht

dest so gleichgültig und fremd gegenübersteht, dass es nahezu auf das Gleiche herauskommt. Sondern: Das gedankliche Bild von Gott verschwimmt immer mehr, immer undeutlicher werden seine Konturen, Begriffe wie „Religion à la carte“ haben in einschlägigen Studien bekanntlich längst ihren festen Platz erobert. Halten sich die einen noch in Anlehnung an Bibel und kirchliche Verkündung an eher traditionelle Vorstellungen, so nehmen am anderen Ende der Skala immer mehr Menschen, eben weil sie vom Glauben doch nicht lassen wollen, Zuflucht zu Äußerungen wie dieser: „Ich glaube, dass es da etwas gibt.“ Auch ein derart verschwiemeltes Bekenntnis, das gleichwohl oft mit bemerkenswerter Entschiedenheit daherkommt, lockt mit zahlreichen und beileibe nicht zu unterschätzenden Vorteilen. Es erspart jeglichen theoretischen Aufwand und die Mühe, sich mit den Überlieferungen von Volksglauben und theologischer Dogmatik näher vertraut zu machen oder gar auseinanderzusetzen. Auch dass diese leichenblasse Aussage Streit auslöst oder womöglich Kritik, muss niemand befürchten. Zugleich aber lässt sie die Option offen, sich bei Bedarf und passender Gelegenheit problemlos in christliche Traditionskompanien einzureihen, wovon bekanntlich immer noch Unzählige weidlich Gebrauch machen. Und die aus Kindertagen vertraute Angst, dermaleinst wegen Unglaube den Böcken zugeteilt zu werden und damit ewiger Verdammnis anheimzufallen, erscheint vielen durch dieses vage Credo offenbar hinreichend gebannt. Nicht zu unterschätzen ist schließlich, dass auch hier ein spiritueller Durchblick reklamiert wird, eine Vogelperspektive, die mehr zu sehen erlaube als Niederungen oder bloße Fassaden. Und, ganz wichtig für die Beschwörungen von den Kanzeln herab und die


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Traktate unserer Prediger: Die religiöse Sichtweise bewahrt davor, die materielle Welt schon für das Ganze zu halten. Es ist dieses Gefühl der Nähe zu etwas Erhabenem, der persönlichen Teilhabe an etwas Großem und Unbesiegbaren, das ein überaus starkes Motiv für ein religiöses Bekenntnis darstellt. In der Rhetorik des Theologen Gregor Maria Hoff: „Die anthropologische Unruhe erfindet immer neue Geschichten. Sie präparieren den unabschaffbaren Gedanken, dass nicht alles ist, was in der Welt aufgeht.“ So soll auf einer intellektuellen Ebene Raum und Legitimität entstehen für das Festhalten an Mythen und Riten: „Auch andere einschneidende Ereignisse (neben dem Tod, P. H.) – eine Heirat, die Geburt des ersten Kindes – lassen heutzutage in vielen Menschen die Frage laut werden, wie man diese Marksteine des Lebens aus dem Alltagseinerlei heraushebt. Wirkt nicht eine Hochzeit allein auf dem Standesamt schnöde und glanzlos? Lässt nicht ein kirchlicher Rahmen, mit Orgelmusik, Predigt und dem Versprechen vor Gott – ‚bis dass der Tod euch scheidet‘ –, ganz andere Saiten in der menschlichen Seele anklingen? Bei solchen Gelegenheiten kommt eben noch etwas Drittes ins Spiel zweier Menschen, eine schwer fassbare transzendente Qualität, die eine Zeremonie zum Sakrament transformiert und auf eine neue Bedeutungsebene hebt. ‚Denn was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.‘ Weil viele das Bedürfnis nach einer solch spirituellen Dimension spüren, erleben die Kirchen bei Hochzeiten, Begräbnissen oder Taufen einen Ansturm auch derjenigen, die sonst nie auf den Kirchenbänken zu finden sind. Manche fühlen dabei vielleicht sogar einen religiösen Schauer, erinnern sich an Kindheitserfahrungen oder lassen sich von den ungewohnten Worten einer Predigt kurzzeitig ergreifen. Andere, abgebrühtere Zeitgenossen sehen das heilige Sakrament lediglich als stilvolle Dekoration, die einfach dazugehört. Danach drängt man schnell wieder ins Freie. Jetzt wird aber gefeiert!“ (Ulrich Schnabel, „Die Vermessung des Glaubens“, 470)

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Jedenfalls: Der phraseologische Charakter eines Bekenntnisses zu einem angeblich „da“ existierenden „Etwas“ schreckt niemanden mehr. Was nicht erstaunen muss, denn bei näherem Hinsehen deckt ja selbst dies noch jene elementaren Bedürfnisse und Interessen ab, die menschheitsgeschichtlich an der Wiege der Religion gestanden haben dürften: Auch dieses so undefinierte „Etwas“, das es an diesem ebenfalls nicht näher beschriebenen Ort namens „da“ geben soll, wird gedacht als schützende Hand, verfügt in der Fantasie seiner Anhänger über erhebliche Steuerungspotenziale und ist jederzeit ohne jede Anstrengung und aus nahezu beliebigem Anlass ins Feld zu führen, wenn nach Erklärungen gesucht wird: etwa für Schönheit und Zielgerichtetheit in der Natur oder für eine schicksalhafte Begegnung. Der deutsche Anthropologe Volker Sommer hält es für nützlich, auch einem falschen Glauben anzuhängen, denn es sei „schwieriger, an nichts zu glauben, als irgendeiner Ansicht anzuhängen, und sei sie noch so absurd“. Um hier nicht einem übertriebenen Kulturpessimismus das Wort zu reden, sei hinzugefügt: Das gilt für viele, aber glücklicherweise keineswegs für alle Menschen; und die Hoffnung, dass ihre Zahl auf lange Sicht wächst, muss der Ketzer nicht heute schon fahren lassen. Neben den schon erwähnten Bedürfnissen nach Schutz und Beistand, nach Trost und Erklärung dürften noch wesentlich kompliziertere Zusammenhänge eine erhebliche Rolle spielen. Feuerbach, Freud und Nietzsche im deutschen Sprachraum haben hier komplexe Überlegungen angestellt, David Hume oder William James im angelsächsischen. So hat Religion ganz offenkundig auch sehr direkt zu tun mit Macht. Man lese beispielsweise in der Bibel und in den nicht enden wollenden Beschwörungen, die in den Texten der Gesangbücher beider christlicher Konfessionen zu finden sind, man staune über die vom Geis-


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te des Kotau bestimmten Anrufungen Allahs durch Muslime, die sich nicht genug tun können, die grenzenlosen Optionen ihres Gottes zu rühmen, der immerzu als der Barmherzige zu preisen ist – und oft genug das Gegenteil verkörpert. Auch historisch und bis in unserer Gegenwart übt Macht eine enorme Anziehungskraft aus, etwa auf Priesterkasten, die sich materielle und politische Pfründe sicher(te)n, dazu theologische Monopole und Exklusivrechte bei der Aufführung einschlägiger Praktiken. Auf verschlungene Weise ist Macht aber selbst für den unprivilegierten Durchschnittsbürger oder gar für den, der am Ende der gesellschaftlichen Leiter steht, wesentlich. Nicht allein wegen des Glanzes, der von Höherrangigen für sie abfällt, sondern durch den Akt der Unterwerfung. Zumal wenn sie nicht erzwungen wird, sondern freiwillig erfolgt, enthält sie oft genug den Wunsch, gewissermaßen hinterrücks an etwas Großartigem, nämlich Herrschaft, teilzuhaben.

Die Angst vorm Aus Der Wunsch, irgendwie dem Verhängnis der eigenen Endlichkeit zu entkommen, gehört im religiösen Motivgebäude zum Fundament. Das bleibt auch angesichts der unbestreitbaren Erfahrung richtig, dass viele Menschen dem eigenen Ende mit einer gewissen Gelassenheit, ja sogar Gleichgültigkeit entgegensehen. Andere müssen den Gedanken an den Tod nach Kräften verdrängen, um leben zu können. Im Unterbewusstsein begleitet sie dennoch ständig die Bedrohung durch den letzten, radikalen, irreparablen Verlust des eigenen Ich. Deshalb nimmt in den fünf Weltreligionen der Glaube, nach dem physischen Tode gehe es auf irgendeine Weise mit dem Individuum weiter, einen zentralen Platz ein. Freilich bestehen zwischen ihnen

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denkbar große Differenzen darüber, wie man sich diese jenseitige Existenz vorzustellen habe; schon allein das entlarvt die oft zu hörende Behauptung, irgendwie sagten und meinten doch alle Religionen dasselbe, als oberflächlichen Unfug. Jedenfalls ist auch hier das Interesse am Werk, Religion aufzuwerten und gegen Kritik abzuschirmen, indem man sie hinstellt als etwas Großes, woran die Gattung Mensch nicht vorbeikommt. Hinduismus und Buddhismus gehen davon aus, dass eine unsterbliche Seele sehr verschiedene leibliche Hüllen annimmt und sowohl als Mensch wie auch als Tier auf der Erde lebt, und das womöglich unzählige Male. Ganz anders die drei Monotheismen aus dem Mittelmeerraum mit ihren Mythen von Jüngstem Gericht, Paradies und Hölle, bei denen bekanntlich so etwas wie Seelenwanderung nicht vorkommt und nur eine einzige irdische Station vorgesehen ist. Der Gedanke, der Mensch müsse seine Reinkarnation womöglich erleben als Ochs oder Regenwurm, erscheint ihnen zu Recht fremd, wenn nicht lächerlich. Wie beim Glauben an Gott liegen beim Glauben an ein Leben nach dem Tode keinerlei Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieser exzentrischen Annahme vor. Für Unzählige ist sie jedoch genau das Gegenteil und die Überzeugung, man werde drüben seine Lieben wiedersehen, das Normalste von der Welt und zugleich eine unabdingbare Stütze im Leben: „Nein, ich habe in diesem Leben zu viel gelitten, um nicht ein anderes zu erwarten, ich fühle es, ich glaube es, ich will es, ich hoffe darauf, ich werde es bis zum letzten Atemzug verteidigen.“ (Jean-Jacques Rousseau)


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