Tectum Leseprobe Rebe Luther

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Bernd Rebe

Die geschรถnte Reformation Warum Martin Luther uns kein Vorbild mehr sein kann. Ein Beitrag zur Lutherdekade

Tectum Verlag


Bernd Rebe Die geschönte Reformation. Warum Martin Luther uns kein Vorbild mehr sein kann. Ein Beitrag zur Lutherdekade Tectum Verlag Marburg, 2012 ISBN: 978-3-8288-3016-5 Umschlagabbildung: Martin Luther, Porträt von Lucas Cranach d.Ä., bearbeitet (upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b0/Martin_Luther_by_ Lucas_Cranach_der_Ältere.jpeg)

Druck und Bindung: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten Besuchen Sie uns im Internet www.tectum-verlag.de

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Den Menschen gewidmet, die freundlich sorgend und umsorgt in der Evangelischen Stiftung Neuerkerode oder in vergleichbaren Einrichtungen Orte zum Leben schaffen.

Die Beiträge »Was dürfen wir glauben?« und »Luther als Reformator katholischen Glaubens« sind in einer komprimierten Fassung im MERKUR. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken erschienen, und zwar der letztgenannte Beitrag in Heft 722 vom Juli 2009 unter dem Titel »Die Reformation – ein unvollendetes Projekt. Von der dunklen Seite des D. Martin Luther« und der erstgenannte Beitrag in Heft 754 vom März 2012 unter dem Titel »Was dürfen wir glauben? Vom Umbruch der Religionen und den Herausforderungen des Christentums«. Der Nachdruck in erweiterter Fassung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Redaktion des MERKUR.

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Inhalt Einleitung: Im Glauben geht es um unsere Orientierung in der Welt Was dürfen wir glauben?

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Vom Umbruch der Religionen und den Herausforderungen des Christentums

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1. Zeichen des Umbruchs

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2. Ursachen des Umbruchs

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2.1 Lebensweltliche Krisenursachen

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2.2 Ideenpolitische Krisenursachen

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2.3 Folgen der wissenschaftlichen Aufklärung

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3. Religionen als komplexe Kulturphänomene

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4. Die Herausforderungen des Christentums

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5. Die irreale Glaubensbotschaft des Jesus aus Galiläa

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6. Notwendige Abschiede

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7. Das Reformdilemma der christlichen Kirchen

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Luther als Reformator katholischen Glaubens

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Kann die mittelalterliche Glaubenslehre des „großen Reformators“ uns noch als Orientierung dienen?

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1. Von der dunklen Seite des D. Martin Luther

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2. Das verborgene Luther-Dilemma des deutschen Protestantismus

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3. Luthers Glaubensenge

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4. Luther, in Teufelsangst und Hexenwahn

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5. Luther, »hitzig und lüstig in der heiligen Schrift«

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6. Luther und die Unausweichlichkeit der »Sünde«

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7. Luthers demütigender Gott

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8. Luthers später Antijudaismus und seine schlimmen Folgen

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9. Die Nachkriegsmühen der deutschen Protestanten im Umgang mit Luthers Antijudaismus

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10. Von der überschätzten Reformation zur verschütteten Praeformation: Das Glaubenswagnis der Goethezeit

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10.1 »Die philosophische Umbildung der Religion« 10.2 Die Ablehnung der anthropomorphen Enge des Christentums 10.3 Der Toleranzgedanke der Aufklärung und die von ihr propagierte Eigenverantwortung im Glauben 10.4 Die erkenntniskritischen Einsichten der Kantischen Philosophie 10.5 Das neue Naturverständnis in Literatur und Naturphilosophie Anmerkungen

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Warum Martin Luther uns kein Vorbild mehr sein kann

EINLEITUNG: IM GLAUBEN GEHT ES UM UNSERE ORIENTIERUNG IN DER WELT »Die Spitze und Krönung der menschlichen Kulturpyramide wird von der R e l i g i o n gebildet. Alles andere ist nur der massive Unterbau, auf dem sie selbst thront, hat keinen anderen Zweck, als zu ihr hinanzuführen. In ihr vollendet sich die Sitte, die Kunst, die Philosophie. „Die Religion“, sagt Friedrich Theodor Vischer, „ist der Hauptort der geschichtlichen Symptome, der Nilmesser des Geistes.“« (Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit1)

In einer Zeit, in der alle gewohnten Orientierungen in dramatischen Umbrüchen begriffen sind, stellt sich umso stärker auch die Frage nach der Orientierungsverlässlichkeit im Glauben. Immanuel Kant hatte den hierbei unterstellten Zusammenhang in der Fragendreiheit formuliert: »Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun?«, die wir nun aktualisieren und generalisieren dürfen in: »Was können wir wissen? Was dürfen wir glauben? Was sollen wir tun?« Die tiefere Wahrheit oder doch Weisheit dieser Fragentrias liegt in der Erkenntnis, dass Voraussetzung für unser Handeln nicht nur unser Wissen und unsere Erfahrung sind, sondern auch unser Glaube: Was wir tun »sollen«, hängt nicht nur davon ab, was wir wissen (können), sondern auch davon, was wir glauben (dürfen). Das »Dürfen« beim Glauben bezieht sich hierbei nicht auf eine glaubenspolizeiliche Begrenzung dessen, was uns zu glauben erlaubt ist, sondern dieses »Dürfen« ist bezogen auf den Zusammenhang von Glauben und Orientierung in der Lebenswirklichkeit in dem Sinn, dass ein wirklichkeitsgerechter Glaube für uns – ergänzend zu unserer Vernunft und Erfahrung – hilfreich sein kann bei unserem Verständnis von Leben, Welt und Sterben und jeden-

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falls bei den schweren und grundlegenden Entscheidungen, vor die wir gestellt werden. Damit ist zugleich die Frage von Franz-Josef Paulus beantwortet, ob denn »moderne Gesellschaften auf die soziokulturelle Fundierung durch religiöse Überzeugungen verzichten (können)«, die sich ihm in Anbetracht der Konzentration auf das Glaubensthema stellt.2 Glauben im Sinn des Glaubendürfens ist damit konstitutiv wirklichkeitsbezogen, und hierin liegt der Hauptunterschied zu den überkommenen Religionen, die in ihrem Grundcharakter für uns heute kulturhistorische Erzählungen sind. Als solche sind sie durch folgende Wesensmerkmale gekennzeichnet: (1) Sie haben ihren Ursprung in Jahrtausende zurückliegenden, zum erheblichen Teil später hinzuerfundenen und in ihrem wirklichen Geschehen weitgehend ungewissen Ereignissen. (2) Sie sind damit geprägt durch Glaubensannahmen ihrer Entstehungszeit, die sich ihrerseits schon durch Jahrhunderte, wenn nicht in Jahrtausenden herausgebildet hatten. So sind im Christentum Elemente altägyptischer und persischer Religionen unübersehbar, die – bei aller Unterschiedlichkeit – eines gemeinsam hatten: Sie propagierten die Existenz jenseitiger Mächte (in welcher Form auch immer), denen sie Einfluss auf das Leben der Menschen zusprachen. Nicht nur diese im Grunde archaische Vorstellung hat auch das Christentum geprägt, sondern es sind auch gesellschaftliche Überzeugungen und tradierte soziale Riten und Regeln in das Christentum eingegangen, wie insbesondere die Minderbewertung der Frau, die zu seiner Entstehungszeit und in seinem Entstehungsumfeld galten. (3) Sie beziehen sich alle auf Stifterpersonen, denen eine besondere Legitimation bei der Glaubensbegründung zugesprochen wird (Moses – Jesus –Mohammed). (4) Sie Entwicklung der überkommenen Religionen folgt einem Prozess, der dem der Kosmogonie entspricht: Auf den Urknall der Glaubensoffenbarung folgt eine Zeit der Ausbreitung des jeweiligen Glaubens, die zugleich eine Zeit der Herausbildung bestimmt-unbestimmter Glaubensannahmen und Heilsversprechen ist. (5) Jede dieser überkommenen Religionen erhebt für sich einen Ausschließlichkeitsanspruch in dem Sinn, dass die jeweilige Religion die Alleingültigkeit des von ihr vertretenen Glaubens in Anspruch nimmt und die Bejahung eines anderen Glaubens oder die Ablehnung aller etablierten Glaubensangebote als »Ungläubigkeit« ablehnt.

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Ein konstitutiv wirklichkeitsverbundener Glaube hat einen anderen Grundcharakter als die überkommenen Religionen und nimmt in jeder der fünf Positionen eine andere, zum Teil diametral entgegengesetzte Position ein: In seinem Grundcharakter ist er keine kulturhistorische Erzählung, sondern lebt als tagtäglich neuer Versuch, mit der Unfassbarkeit der Schöpfung in dankbarer Teilhabe und freundlichem Respekt gegen alle anderen umzugehen. In Kapitel 10 von „Luther als Reformator katholischen Glaubens“ habe ich einen skizzenhaften, unvollständigen und vorläufigen Bericht über das Glaubenswagnis der Goethezeit gebracht, der das Bild der eigentlichen, aufklärungsgeprägten »deutschen Religion« – im Gegensatz zur glaubensemanzipatorischen Überhöhung der Reformation – wieder in Erinnerung bringen soll (unten S. 85ff). Damit zu den Unterschieden zwischen einem wirklichkeitsverbundenen Glauben und den überkommenen Religionen in den fünf aufgezählten Gesichtspunkten: Zu (1): Der wirklichkeitsverbundene Glaube hat seinen Ursprung nicht in einem Jahrtausende zurückliegenden Geschehen mit allen Ungewissheiten und Unschärfen in seiner Weitergabe und allen späteren Hinzudichtungen, sondern seine konstitutive Wirklichkeitsverbundenheit zeigt sich in seiner unverlierbaren Gegenwärtigkeit an jedem Tag und in jedem Augenblick, in dem an einem verantwortbaren Verhältnis zur Unbegreiflichkeit der Schöpfung in Dankbarkeit und Demut gearbeitet wird. Zu (2): Ein wirklichkeitsverbundener Glaube schleppt nicht die überlebten, unaufgeklärten Glaubensannahmen unendlich ferner Zeiten mit sich herum, sondern sucht sich in der Aufnahme aller begründeten neuen Erkenntnisse und aufgeklärten Einstellungen ständig weiterzuentwickeln, ohne modischen Verbiegungen des Zeitgeistes oder der pseudowissenschaftlichen Reduktion auf einen im Grunde wissenschaftlich nicht mehr haltbaren Agnostizismus zu erliegen. Zu (3): Ein wirklichkeitsverbundener Glaube beruft sich nicht auf die Lehre einer angeblich hierzu besonders legitimierten Stifterperson, die vor Jahrtausenden gelebt hat (und der über die unvorstellbaren Zeitdistanzen alle guten Eigenschaften dieser Welt angedichtet werden können), sondern ruft jeden Einzelnen von uns in die Glaubensverantwortung, anstatt ihn mit einem vorgegebenen Glaubenskanon zu entmündigen. Zu (4): Ein wirklichkeitsverbundener Glaube kennt keinen »geistigen Urknall« in seinem Entstehen, sondern geht von der aufgeklärten Über-

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zeugung aus, dass sich dieser Glaube zusammen mit der geistigen Entwicklung der Menschheit und ihrem wachsenden Einsichtsstand in die Konstitution von Welt und Kosmos langsam herausbildet. Zu (5): Einem wirklichkeitsverbundenen Glauben ist jeder Ausschließlichkeitsanspruch fremd, denn er sieht jeden Einzelnen mit dem gleichen Recht ausgestattet, seine Glaubensverantwortung wahrzunehmen, und er respektiert im Rahmen der gleichen Grundrechtsgeltung für alle und der Wahrung des friedlichen Umgangs miteinander die Ergebnisse dieser Glaubensbemühungen in aller denkbaren Unterschiedlichkeit. Auch verbietet ihm der Ausschließlichkeitsanspruch der anderen Religionen, selbst einen solchen zu erheben. Nun ist Kritik am Christentum nichts Neues, sondern ein treuer Begleiter seiner Existenz seit Jahrhunderten. Und vielleicht hat diese perennierende Kritik – als Ventil des Überdrussdrucks und Korrekturen bewirkendes Element – mehr zu seinem Überleben beigetragen, als die affirmative Beschwörung der alten Formeln. »Ohne die atheistische, die nihilistische, die skeptische Herausforderung gibt es keine gute Theologie, das kann man ohne Übertreibung sagen« hat selbst die evangelische Theologin Petra Bahr, die Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, eingestanden.3 Allerdings befürchtet sie, dass »die Eventisierung und Infantilisierung der ehrwürdigen abendländischen Religionskritik…in vollem Gange« sei. Wenn es auch einige populistische Erscheinungsformen der Religionskritik geben mag, die eine solche Befürchtung nahelegen, so ist doch für jeden, der die Auseinandersetzung um den christlichen Glauben verfolgt, erkennbar, wie virulent die anschwellende Intensität des Fragens nach der Tragfähigkeit seiner Grundlagen ist. Die Ernsthaftigkeit dieses Fragens zeigt sich nicht nur in einschlägigen Diskussionen, die immer wieder die existenzielle Betroffenheit vieler Teilnehmer durch Glaubensfragen erweisen, sondern auch in der Qualität und differenziert-kundigen Argumentation einschlägiger kritischer Literatur, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Allerdings muss man drei Kritikfelder unterscheiden, nämlich die Religionskritik, die Kirchenkritik und die Reformationskritik, und das heißt eben auch Lutherkritik. Kirchenkritische Stellungnahmen gibt es zuhauf, und zwar in religionsverneinendem wie in religionsbejahendem Zusammenhang. Sie sind von begrenztem Wert, denn wie es etwa Parteienkritik, Gewerkschaftskritik, Bankenkritik und Kritik an sonstigen etablierten Institutionen gibt, so gibt es eben auch Kirchenkritik – so what? Bei den religionskritischen Äußerungen gibt es dagegen in neuerer Zeit eine bisher nicht beachtete Besonderheit, die allerdings alle Alarm-

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glocken im kirchlichen Umfeld zum Schrillen bringen sollte: Diese Kritiken werden nicht nur von der Basis der Gläubigen artikuliert, nicht nur von innerhierarchischen Amtsträgern vorgebracht (und dann, jedenfalls in der katholischen Kirche, als »Ungehorsam« abgebügelt), sondern die eigentlich nachdenkenswerte Kritikurheberschaft findet man im Kernbereich der (evangelischen) Theologie (worauf ich noch wiederholt und differenziert eingehen werde, s. unten … ). Das bedeutet aber nicht weniger und nicht mehr als die Erkenntnis, dass die zur Pflege, Deutung und Erklärung des christlichen Glaubens von Amts wegen Berufenen selbst zur Notwendigkeit eines Glaubenswandels gefunden haben. Die christliche Kirche steht damit nicht nur und nicht einmal in erster Linie in der Bewahrung ihres Glaubens gegen atheistische, nihilistische und agnostische Zweifler, sondern in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen geistigen Bewahrungsinstanz, der Theologie. Dieser Kritikstand markiert wohl eine qualitativ völlig neue Herausforderung für den christlichen Glauben, der sich die hierzu Berufenen stellen müssen. Schließlich geht es um die Reformations- und Lutherkritik. Im Unterschied zur Kirchen- und Religionskritik, die – wie schon festgestellt – den christlichen Glauben seit Jahrhunderten begleitet und die in hunderten von Schriften und sonstigen Stellungnahmen ihren Niederschlag gefunden hat, findet man in Untersuchungen zur Reformation und in Luther-Biografien – mit noch zu behandelnden, neueren Ausnahmen – eine bemerkenswerte Kritikverhaltenheit. Problematische Aspekte werden zwar nicht völlig unterschlagen, aber eher in Nebensätzen und untergeordneten Darstellungsteilen verharmlost und relativiert. Dort, wo man an manifesten Fehlorientierungen des »großen Reformators« nun gar nicht mehr vorbeikommt (wie etwa bei seinem beißenden Judenhass, hierzu unten S. 72), hat man Zuflucht zu der palliativen Zauberformel der »historischen Kontextualisierung« genommen: Luther war eben ein Kind seiner Zeit und man war damals eben antijüdisch eingestellt. Versuche, Luthers unmäßigen Judenhass »aus der zeitgeschichtlichen Situation« heraus zu entschuldigen, zu mildern, zu entschärfen und damit für die evangelische Tradition erträglich zu machen, hat es immer wieder gegeben. Dieses Verfahren der historischen Kontextualisierung in beschönigender Absicht hatte schon der evangelische Theologe Walther Bienert in seinem 1982 erschienenen Quellenbuch mit Einführungen und Erläuterungen »Martin Luther und die Juden« angewandt.4 Allerdings hatte Bienert sein Programm, Luther aus der »zeitgeschichtlichen Situation« heraus verstehen zu wollen, »in die hinein Luther sprach« und die »an noch Schlimmeres gewöhnt war«, derart überstrapaziert, dass dieser Umwertungsversuch von Luthers antijüdischen Hasstiraden fehlschlagen

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musste. So hatte Bienert Luthers »treuen Rat«, die Synagogen anzuzünden, durch den Hinweis zu relativieren versucht, dass »die meisten Synagogen in der Zeit nach 1349« (dem Jahr, in dem die Judenverfolgung in Straßburg und anderen großen deutschen Städten sich in besonders gnadenlosem Morden austobte) »schon verbrannt worden waren«.5 Karlheinz Deschner stellt hierzu in Band 8 seiner »Kriminalgeschichte des Christentums« sarkastisch fest: »Somit kann da der Rest wohl gar nicht mehr so groß, Luther wieder nicht so schlimm gewesen sein? Jedenfalls, beruhigt sein kundiger Gefolgsmann, war Luthers Rat, die Synagogen zu verbrennen, „damals nichts Außergewöhnliches“, er war „von vielen Kirchenmännern vorher und gleichzeitig erteilt worden“ und – er kam, Herz, was wünschst du mehr, „der Volksstimmung entgegen“.«6 Ebenso relativiert Bienert Luthers Aufforderung zur Bücherverbrennung mit dem Hinweis auf bereits geschehene Bücherverbrennungen, selbst an damals renommierten Universitäten, und auch Luthers Aufforderung zur Judenvertreibung zeigt Luther in Anbetracht der allerorten bereits durchgeführten Judenexilierungen (auch) in Deutschland nach Bienert »auch hierin (als) ein Kind seiner Zeit und im politischen Bereich weitgehend vom Zeitgeist irregeführt.« Bienert versucht hier eine doppelte Relativierung von Luthers ausgeprägtem Judenhass: Einmal durch die von Luther befolgte Üblichkeit von Judenverfolgungen und zum Zweiten durch die Abdrängung seiner Verirrungen ins Politische – wo doch Luther selbst immer wieder betont hatte, dass sein Judenhass theologisch motiviert war, also im Kernbereich seiner Kompetenz wurzelte, und nicht nur auf einem ihm fremd gebliebenen Nebenfeld irdischer Intrigen seinen Ursprung hatte. Karlheinz Deschner (a.a.O., S. 425) hat gegen die Relativierungsversuche von Luthers Vorschlägen zur Judenverfolgung als Befangenheit in vorreformatorischen Haltungen darauf hingewiesen, dass mit der Übernahme der tradierten Judenfeindschaft durch Luther »diese Judenfeindschaft eben nicht mehr nur „vorlutherisch“ (war), sie war eben auch lutherisch. War sie nicht mehr nur „vorreformatorisch“, sie war auch reformatorisch. War sie nicht mehr nur „spätmittelalterlich“, sie war auch frühneuzeitlich. Sie gehörte eben jetzt nicht „nicht zur reformatorischen Theologie“, sie gehörte jetzt dazu!«7 Neuestes Beispiel für den Versuch, durch historische Kontextualisierung Luthers antijüdische Giftigkeiten auch reformationsgeschichtlich hoffähig zu machen, ist die 2011 erschienene Untersuchung des renommierten Göttinger Reformationsgeschichtlers Thomas Kaufmann über »Luthers „Judenschriften“«, die schon in ihrem Untertitel »Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung« in schöner Offenheit ihr historisch-

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wertendes Verniedlichungsprogramm bekennt.8 Es ist geradezu spannend, in dieser Schrift den Kampf des Autors um die Bewahrung von Luthers Vorbildstellung für uns Heutige vor dem Hintergrund seines differenzierten reformationsgeschichtlichen Detailwissens nachzuvollziehen. Freilich kann er Luthers Judenfeindschaft nicht unter den Tisch kehren, ja, er betont sogar die antijüdische Kontinuität von Luthers milderen antijüdischen Frühschriften zum ungezügelten Judenhass in der drei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1543 verfassten Spätschrift »Von den Juden und ihren Lügen« (hierzu unten S. 72ff), aber er streut doch immer wieder verstehende und Luther exkulpierende Passagen oder Begrifflichkeiten ein, so etwa dort, wo er Luther als »Wittenberger Prophet« oder als »Propheten Gottes« bezeichnet.9 Dieselbe Tendenz ist bei Kaufmanns Behandlung von zwei zentralen Aspekten von Luthers Judenfeindschaft erkennbar, nämlich bei der Aufhellung ihrer Folgen und bei ihrer Rechtfertigung durch die »historische Kontextualisierung«. Die Letztere würde ja an Überzeugungskraft verlieren, würde man die nicht-judenfeindlichen Strömungen in der damaligen gelehrten und öffentlichen Meinung benennen, denn dann würde die Rechtfertigung von Luthers (angeblich zeitgebundenem) Judenhass arge Kratzer bekommen. Und hier waren es vor allem die Humanisten, die über Luther hinausgehend Elemente der Aufklärung vorwegnahmen und den Juden zumindest neutral gegenüberstanden. Kaufmann aber erklärt ganz am Ende seiner Schrift (auf S. 180) sachlich falsch selbst Erasmus als »in einem tief verwurzelten Judenhass gefangen«.10 Tatsache ist, dass Erasmus lediglich im Zusammenhang mit der Reuchlin-Affäre gegen Pfefferkorn einige (unglückliche) antijudaistische Äußerungen getan hatte, aber im Grundtenor gegen den Antijudaismus Stellung bezogen hatte.11 Kaufmann reiht auch Philipp Melanchthon gegen ganz andere Stimmen in die Phalanx der Judengegner ein. Merke: Luther war eben wie alle. Diese entschuldigende Sichtweise ist schon deshalb nicht haltbar, weil Luther eben kein bloßer Judengegner war, sondern (in seiner Spätzeit) einen exterminatorischen Judenhass predigte. Die Auseinandersetzung mit der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Luthers Judenhass verbietet sich Kaufmann »angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes«.12 Hier ist also besonders dringend aufklärende Nacharbeit erforderlich, wie ich sie im 8. und 9. Kapitel von »Luther als Reformator katholischen Glaubens« in zugegeben kursorischer Weise zu leisten versuche. Kaufmanns bis an die Grenze des wissenschaftlich Vertretbaren gehende Lutherfreundschaft – wofür man wohl auch wegen seiner Vorsitzendenposition im Verein für Reformationsgeschichte Verständnis haben könnte – lässt befürchten, dass das Luther-

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jubiläum, jedenfalls in der Grundtendenz, zu einer möglichst affirmativen, aber eigentlich unwahrhaftigen Jubelfeier verkommen wird. Und ob die aufrichtige Margot Käßmann als EKD-Beauftragte für das Reformationsjubiläum hieran etwas ändern kann, wird sich zeigen. Denn für den protestantischen Teil des Christentum hat das Jahr 2017, in dem sich der (wohl nur in der Legende geschehene) Luthersche Thesenanschlag als das die Reformation auslösende Ereignis zum fünfhundertsten Mal jährt, eine geradezu magische Bedeutung. Ist nicht durch die Reformation, in der Egon Friedell in seiner epochalen »Kulturgeschichte der Neuzeit« den Begründungsakt der »deutschen Religion« (eine sehr nachdenkenswerte Überschrift über das Reformationskapitel!) sieht, die mittelalterliche, Rom-orientierte Verstocktheit des Christentums samt damaligem Ablasshandel ein für allemal überwunden? In der Tat gibt es und hat es seit Jahrhunderten immer diese Sicht gegeben, dass Martin Luther mit der Reformation etwas ganz Neues geschaffen und den alten Glauben von seiner Rückständigkeit befreit habe. Ja, bei manchen wird die Reformation sogar in ein Flair von Aufklärung gehüllt. Und in der Tat hat ja Luther mit seiner Lehre vom Laienpriestertum den Einzelnen gegen die Bevormundungsansprüche der Kirchenhierarchien in eine höchst moderne Glaubensverantwortung gerufen – aber in einen Glauben woran? »Die Freiheit eines Christenmenschen« war für ihn keine wirkliche Glaubensfreiheit, sondern nur Freiheit von den Behelligungen der Welt und vor allem von der »Sünde« in der festen Einbindung in den christlichen Glauben, und zwar mit den Inhalten, wie er – Luther – sie aus seinem absolut gesetzten Bibelverständnis verkündete. Und da muss man nun mal genau hinschauen und sich mit Luthers dunklen Seiten und der Unbedingtheit seines ganz und gar mittelalterlich gebliebenen Glaubensverständnisses auseinandersetzen – wie es denn überhaupt bei dem Semimillennium des Reformationsbeginns nicht in erster Linie um die erneute Nachzeichnung der Historie des damaligen Geschehens gehen sollte – das ist inzwischen hundertfach geschehen und hat freilich sein eigenes geschichtswissenschaftliches Recht –, sondern es muss vor allem um die Frage gehen, ob Luthers Glaubenslehre für uns Heutige und für zukünftige Generationen noch eine Leitbedeutung haben kann. Da Luther ja keine neue Religion wollte, sondern mit seinem zu Recht Re-Formation genannten Wirken den alten Glauben reinigen und in seiner neu freigelegten Ursprünglichkeit alleinige Geltung verschaffen wollte, sind in der »Lutherdekade« zwei Fragenkreise zu behandeln, nämlich einmal die Haltbarkeit der Grundlagen des christlichen Glaubens überhaupt (hierzu der erste Beitrag: »Was dürfen wir glauben?«) und zweitens die Auseinandersetzung mit Luthers reformierter Glaubensleh-

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re (hierzu der zweite Beitrag: »Luther als Reformator katholischen Glaubens«). In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um die Auseinandersetzung mit Luthers Glaubenslehre selbst, sondern auch um die verstörenden Wirkungen, die insbesondere seine wuterfüllte Judenfeindschaft über die Jahrhunderte hatte und untergründig wohl auch weiterhin hat: Gerade hierin zeigt sich aber, dass es beim LutherSemimillennium nicht um eine bestätigende Rückbesinnung gehen sollte, sondern vor allem um die aktuelle Bedeutung von Luthers Glaubensverständnis und damit, wie schon bemerkt, natürlich auch um die Frage, ob Luther uns noch Glaubensvorbild sein kann. Wie sehr dieses Thema in der »Lutherdekade« an Aufmerksamkeit gewinnen wird, zeigt auch die neueste, hochkritische Veröffentlichung des Philosophen, Theologen und Kirchenkritikers Hubertus Mynarek hierzu.13 Mynarek »entmythisiert, entmystifiziert, entdivinisiert ohne alle Einschränkungen und Verschleierungen Martin Luther, zeigt seine vergessenen, verdrängten, öffentlich tabuisierten und totgeschwiegenen Aspekte, um jedem an der vollen Wahrheit Interessierten die Möglichkeit zu geben, sich ein Gesamtbild von ihm als Charakter, Lehrer und Täter zu machen. (Es sei) höchste Zeit, nach 500 Jahren die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen, den ungeschminkten, ungeschönten Luther in seiner ernüchternden, befremdenden, ja auch erschreckenden Realität der Öffentlichkeit zu präsentieren, die kirchlich produzierte, staatlich geförderte Licht- und Kultgestalt des Reformators auf ihr wahres, weit geringeres Maß zurückzuführen.«14 Während Mynarek in dieser Zielformulierung seiner LutherRecherchen im Vorwort seiner Schrift noch ausgesprochen zurückhaltend ist, findet er in seinem Text zu apodiktisch formulierten Verurteilungen des Wittenbergers von geradezu lutherscher Wucht: So im Zusammenhang mit Luthers Verunglimpfung der Täufer, die er »Wiedertäufer« nannte, als Ketzer. Luther habe »ganz im Stil der katholischen Inquisitoren des Mittelalters … die Bürger zum allgemeinen Denunziantentum auf(gerufen)« und damit »in geradezu klassischer Weise die Planken für den modernen Obrigkeits- und Überwachungsstaat im Sinne Orwells bereitet.« Und weiter: »Luther ist kein (tief-)religiöser Reformator, sondern ein von tausend Teufeln Besessener und Gerittener.« Luther ist nach Mynarek »also auch nicht bloß irgendein Sektenjäger, sondern geradezu der von tausend Teufeln des Hasses und der Mordlust getriebener klassischer Typ des Ketzer- und Sektenvernichters, ein Großinquisitor neuen Stils…«, »das Beispiel eines der übelsten und eifrigsten Sektenjäger aller Zeiten…«15

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Das Fazit zu Luthers Bedeutung für die evangelischen Kirchen heute ist nach Mynarek: »Luthers Initialzündung hat unabsehbare Folgen. Eine „Kirche“, die sich von solch einer Gestalt wie derjenigen Luthers herleitet, trägt eine riesenschwere, fatale Hypothek mit sich. Der düstere, blutrünstige, bluttriefende Schatten des „Reformators“ lastet unheilschwanger über dieser „Kirche“ und ihren Verkündern wie Anhängern. Luther erfüllt ja auch fast jeden kriminellen Tatbestand i n p u n c t o fünftes Gebot. Er müsste nach allgemeinem heute propagierten Rechtsbewusstsein und –empfinden, wenn dieses keine parteilichen Ausnahmen einbaut, ins Gefängnis oder in die Psychiatrie. Er ist das klassische, unüberbietbare Musterbeispiel grenzenloser Intoleranz. An sich müsste jeder evangelische Christ, der sich das klarmacht, aus seiner Kirche austreten. An sich müsste auch eine Kirche wie die evangelisch-lutherische, die derart maßgebend von Luther als ihrem Stifter und Lehrer abhängt, als verfassungsfeindlich und kriminell eingestuft werden, nicht nur ihrer nie ausdrücklich widerrufenen Grundaussagen und Loyalitäten wegen, sondern auch deshalb, weil ihre Sektenbeauftragten weiterhin ganz praktisch das Handwerk der totalen Diffamierung und Diskriminierung ihnen nicht genehmer Bewegungen ausüben und fortsetzen.«16

Damit sehe ich meine Hauptaufgabe darin, zwischen historischer Schönfärberei und schrankenloser Verdammung der Reformation und des Reformators einen Weg einzuschlagen, der durch Aufhellung wesentlicher Aspekte des Reformationsgeschehens und seiner Folgen den Wissens- und Bewusstseinsstand verbessern und eine eigene, möglichst unabhängige Beurteilung von beiden möglich machen soll.

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WAS DÜRFEN WIR GLAUBEN?

Vom Umbruch der Religionen und den Herausforderungen des Christentums »Ich möchte an dieser Stelle noch einige Anmerkungen zu einigen bisherigen Reaktionen auf das hier in überarbeiteter Ausgabe neu vorgelegte Buch machen, weil sie … den völlig unbefriedigenden Stand der gegenwärtigen intellektuellen Auseinandersetzung mit den tradierten, immer noch sehr einflussreichen Religionen deutlich machen können. Diese Auseinandersetzung ist immer noch geprägt von einem so nicht mehr erwarteten Ausmaß an Verdrängung, Desinformation, Inkonsequenz, Dialogverweigerung, aber auch Konfliktscheu, Feigheit und Anpassung an mächtige und reiche Institutionen. Das kaum zu überschätzende Ausmaß an Halb- und Unwissen über grundlegende Glaubenstatsachen, biblische und andere klassische Texte, historische Begebenheiten, eine »schizoide« Spaltung zwischen fachtheologischer Relativierung und nach wie vor gepredigter und immer noch ziemlich ungebrochener volkskirchlicher) Gläubigkeit (vgl. auch Lüdemann zur entsprechenden Schizoidie der Pfarrerausbildung, besonders in der evangelischen Kirche) sind weiter kennzeichnend für die gegenwärtige religiöse Situation.« (Franz Buggle in seiner Streitschrift Denn sie wissen nicht, was sie glauben17)

1. Zeichen des Umbruchs Die religiöse Situation der Zeit ist durch eine verwirrende Unübersichtlichkeit gekennzeichnet, in der sich aber dennoch zwei vordergründig entgegen gesetzte Strömungen beobachten lassen: Da ist einmal ein rasanter Bedeutungsverlust von Religionen und Religiosität zu beobach-

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ten, andererseits aber auch eine fast erschreckende Zunahme an religiös motivierten, sogar politisch wirksamen Positionen und Verhaltensweisen, durch die unser friedliches Zusammenleben und die bisher fraglose Geltung grundrechtlicher Freiheiten bedroht werden. Die Bedeutungszunahme des Religiösen zeigt sich nicht nur an den fundamentalistischen Rändern der drei Großreligionen, nicht nur in der Inanspruchnahme religiöser Jenseitsgewissheiten für Terrorakte, sondern sie zeigt sich – in ihrer eigentlich bedrohlichsten Erscheinung – im evangelikalen Fundamentalismus vor allem in den USA. Hartmut Heuermann hat in seiner grundlegenden Studie »Religion und Ideologie. Die Verführung des Glaubens durch die Macht«18 schon auf das Entstehen des Fundamentalismus in den USA hingewiesen, wo ein Autorenkollektiv protestantischer Theologen zwischen 1910 und 1915 ein zwölfbändiges Manifest »The Fundamentals: A Testimony to the Truth« veröffentlicht hatten. Nach Heuermann war »das Opus…eine aus Sorge um Glaubensverfall und Unbehagen am Säkularismus verfasste Denkschrift zur Erneuerung christlichen Glaubens durch Festigung biblischer Fundamente«, und wirkt der Fundamentalismus als »ein Politikum erster Ordnung« notwendig in die Gesellschaft hinein. Einen neuen Höhepunkt in der fundamentalistischen Verirrung hat im ersten Halbjahr 2012 der republikanische Vorwahlkampf markiert, in dem zwei (zum Glück nur vorübergehende!) Kandidaten jedes irgendwie gehaltvolle Programm oder auf die pressenden realen Probleme des Landes bezogenen Aussagen vermieden und fast ausschließlich nationalistisch-fundamentalistische Phrasen und religiöse Scheingewissheiten popularisiert haben. Während nun dieser (hoch problematische) Bedeutungszuwachs des Religiösen durchaus aggressive und messianische Züge trägt, vollzieht sich sein Bedeutungsverlust mehr im Stillen und in der Erstarrung traditionalistischer Riten und Formeln. Wer jemals eine bürgerlich-christliche Trauerfeier miterlebt hat – und mit zunehmendem Alter macht man diese Erfahrung immer häufiger –, der muss als empfindsamer Mensch der Erfahrung zustimmen, dass das eigentlich Deprimierende dieser Leichenbegängnisse die leere Theatralik der Rituale und die Zuflucht zu den alten Leerformeln ist, die keinerlei Trost mehr spenden können. Aber nun kommt meine eigentliche These, die auch das »vordergründig entgegengesetzt« im Eingangssatz erklärt: Beides, der Bedeutungszuwachs des Religiösen und sein Bedeutungsverlust, sind Ausdruck derselben Malaise, nämlich dem Fehlen eines wirklichkeitsverbundenen Glaubens, der den Menschen Halt und Orientierung geben und ihnen nachvollziehbare Hinweise auf die Beantwortung der Fragen geben kann, die für sie in ihrem Leben und Erleben wirklich wichtig sind. Die Fundamentalisten klammern

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sich mangels einer ihnen erreichbaren Alternative an die Scheingewissheit der alten Glaubensformeln; und für die aus der Religionsgläubigkeit Hinausgleitenden sind diese alten Glaubensformeln überlebt: Beide verweigern sich der (zugegeben schweren) Aufgabe, zu einem Glauben zu finden, der alle Erkenntnisse und verbliebenen Ungewissheiten, zu denen die Menschheit gelangt ist, in sich aufnimmt und der dennoch für ihr Leben hilfreich ist. Dabei kommt den Religionen als »Nilmessern des Geistes« und ihrem Umbruch vielleicht die für unsere zivilisierte Orientierungsfähigkeit eigentlich entscheidende Bedeutung zu. Es ist eine notwendige geistige Orientierungsleistung gefragt, der wir uns bisher verweigern – aus Gründen, die Franz Buggle im Eingangszitat zu diesem Beitrag zutreffend gekennzeichnet hat. Nun kann man bei Schärfung der Aufmerksamkeit im bildmächtigen Rauschen der medialen Informationsstrudel unübersehbare Zeichen des Bedeutungszuwachses und zugleich des Umbruchs der Religionen erkennen. Diese Zeichen sind entsprechend der komplexen Natur von Religionen (hierzu mehr im 3. Kapitel) in allen ihren Erscheinungsformen auszumachen. Und sie sind vor allem bei den drei Weltreligionen – dem Judentum, dem Christentum und dem Islam – zu finden (auf die ich mich aus Gründen der besonderen Betroffenheit und der mangelnden Vertrautheit insbesondere mit asiatischen Religionen beschränken will). In allen drei Religionen regt sich zunehmend Unzufriedenheit mit den in verfestigten Riten erstarrten Glaubensübungen, mit den nur aus dem abgelebten Zeitgeist ihrer weit entfernten Entstehungszeit erklärbaren Fehlorientierungen und ihren in so manchem aufklärungsfeindlichen Verhaltensanweisungen. Es ist deshalb nur zu verständlich, dass sich in allen drei Religionen zunehmend Unzufriedenheit mit ihren als Mythen und schönen Märchen erkannten Grundannahmen, mit ihren theologischen Konstrukten und zu Glaubensgeschichten und Glaubensbildern geronnenen Erwartungshoffnungen regt und dass der Ruf nach Glaubenserneuerung unüberhörbar wird, wenngleich er bei den etablierten Glaubenswächtern noch immer auf taube Ohren stößt. Unter den stärksten Veränderungsspannungen steht wohl der Islam: Wenn eine Religion mit ihren Jenseitsversprechungen Menschen dazu bringt, sich und andere in die Luft zu sprengen, zeigt sich ein zutiefst menschenfeindlicher Zug in dieser Religion. Ebenso menschenfeindlich sind die Einschüchterungspraktiken und barbarischen Exekutionsriten nach den Gesetzen der Scharia, nicht nur in den sogenannten »Gottesstaaten«, sondern auch in den autoritär-patriarchalisch regierten Staaten des Mittleren Ostens. So wird berichtet, dass etwa in Saudi-Arabien weiter-

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hin die Steinigung von Frauen wegen (angeblichen) »Ehebruchs« praktiziert wird. Necla Kelek19 und Ayaan Hirsi Ali20 haben eindringliche Belege für die Diskriminierung von Mädchen und Frauen in islamisch geprägten Gesellschaften gebracht. Diese und andere Verkrustungen in den islamischen Staaten haben einen ausgewiesenen Kenner der islamischen Welt wie den Ägypter Hamed Abdel-Samad zu der Prognose gebracht: »Die islamischen Staaten werden zerfallen, der Islam wird als eine politische und gesellschaftliche Idee, er wird als Kultur untergehen.« 21 Aber selbst im europäisch-westlichen Umfeld – und gerade hier! – zeigt der islamische Glaube ein auch ihn kennzeichnendes Oszillieren zwischen fundamentalistischen und liberal-gläubigen Orientierungen. Da existieren in Deutschland auf der einen Seite die vier großen Islamverbände Ditib, Islamrat, VIKZ und ZMD, die »im Zweifelsfall … für das Alte stehen« und damit »ganz im Geiste des traditionellen Denkens als natürliche Vertreter der Muslime« gelten, »allzumal sie die Gläubigen auch nicht auf den anstrengenden Weg der Veränderung und der Selbstkritik führen wollen«, wie die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung feststellt.22 Diese rückwärtsgewandte Geisteshaltung findet nun Unterstützung bei den »jungen Konservativen«, die Kaddor dort folgendermaßen kennzeichnet: »Sie sind 20 bis 40 Jahre alt, hier geboren oder in jungen Jahren nach Deutschland gekommen, selbstbewusst, gebildet, in der Regel studiert, mit starkem Interesse für Religion. Die jungen Konservativen sind keine Fundamentalisten. Sie sind keine Salafisten mit Backenbart, langem Gewand und Häkelkäppi. Sie folgen einem diffusen, von theologischem Halbwissen gezeichneten Bild von Religion, das sich vorwiegend auf die Vorstellungen der eigenen Familien gründet und an die Traditionen aus deren Herkunftsländern anknüpft. Durch ihr Auftreten versuchen sie, ihrem Gedankengebäude einen modernen Anstrich zu geben.«

»Theologisches Halbwissen«: Hiermit ist auch für die »jungen Konservativen« im Islam ein Zentralproblem der Glaubenserneuerung benannt, das allerdings in allen drei Buchreligionen das Haupthindernis jeder Glaubenserneuerung kennzeichnet, nämlich die geistesgeschichtliche Unterbilanz im Wissen der jeweiligen Religionsanhänger um die Entwicklung ihrer Religion und ein mangelndes Bewusstsein vom Weltbild ihrer Religion. Diese Defizite hat nach Kaddor bei den »jungen Konservativen« eine »mangelnde Selbstvergewisserung« zur Folge, die sich in einer »Dagegenhaltung« manifestiert: »Die jungen Konservativen sind dagegen, dass sich der Islam verändert…Das Praktische an der Dagegenhaltung ist: Man muss sich nicht mit eigenen Positionen befassen, und der Schein des Einvernehmens bleibt gewahrt.«

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Auf der anderen Seite gibt es durchaus aufklärerische Strömungen im europäischen Islam, wie sie etwa in der Gründung des »Verbands demokratisch-europäischer Muslime«, des »Liberal-Islamischen Bundes« und der »Fraueninitiative säkularer Musliminnen« zum Ausdruck kommen. Diesem Aufklärungsspektrum ist auch Navid Kermanis Koranverständnis nach der Igaz-Lehre zuzurechnen, wonach der »Wundercharakter des Koran« sich aus seiner »stilistischen Unnachahmlichkeit«, also aus seiner poetischen Ausnahmequalität, ergibt.23 Es wird deutlich, welche Spannungsbreite der Islam zu überbrücken hat und welche Eruptionen deshalb möglich sind. Auch bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die revolutionären Befreiungsbewegungen in mehreren arabischen Staaten auf die kulturelle Prägekraft und die politische Legitimationskraft des Islam haben werden. Ebenso ist die Auseinandersetzung mit der europäischen Kultur, dem Christentum und dem Judentum für den Islam eine noch nicht bestandene Herausforderung. Und man kann wohl nicht ausschließen, dass ein in diesen Auseinandersetzungen modernisierter Islam eines nicht allzu fernen Tages dem petrifizierten Islam in seinen Stammländern den Rang ablaufen wird. So hat der Kulturanthropologe Werner Schiffauer eine »Ethnographie« der Milli-Görus-Bewegung unter dem Titel »Nach dem Islamismus«24 vorgelegt, in der er in dieser Gemeinschaft, die in Deutschland meist nur als möglicher Verfassungsfeind wahrgenommen wird, die Herausbildung einer neuen Generation von Intellektuellen beschreibt, die den Islamismus überwinden und den Islam von der politischen Instrumentalisierung befreien könnte. Jedenfalls fehlt schon wegen dieses prekären Zustandes des Islam jeder angstvollen Prognose, Deutschland werde in soundso vielen Jahrzehnten »ein islamisches Land« sein, das reale Unterfutter. Allerdings ist Wachsamkeit geboten! Die scheint etwa in Nordrhein-Westfalen nicht gegeben zu sein. NRW plant als erstes Bundesland, zum Schuljahr 2012/13 den islamischen Religionsunterricht flächendeckend als ordentliches Lehrfach einzuführen. Dieses Lehrangebot soll durch einen achtköpfigen Beirat begleitet werden, in den die vier großen Islamverbände Ditib, Islamrat, VDKZ und ZDM je ein Beiratsmitglied delegieren sollen. Die anderen vier Plätze werden von der Landesregierung besetzt – allerdings nur im Einvernehmen mit diesen vier Islamverbänden: »Andersdenkende haben damit schlechte Karten«, wie Lamya Kaddor zu Recht feststellt. Offenbar ist man sich in Düsseldorf bei aller gutartigen Kooperationsbereitschaft mit den offiziellen Islamverbänden nicht bewusst, in welche Richtung damit langfristig die Weichen für die Entwicklung des Islam gestellt werden.

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In besonderer Weise zeigt auch das Judentum Zeichen des Umbruchs. Ich spreche hier in pauschalierender Ausdrucksweise von »dem Judentum«, obwohl doch auch diese Religion zahlreiche Facetten aufweist, insbesondere die Unterschiede zwischen der Orthodoxie und der Praktizierung eines aufgeklärt-kultivierten Glaubensverständnisses zu sehen sind. Und ich bin mir bewusst, dass bei der herrschenden und historisch verständlichen Überempfindlichkeit gegenüber kritischen Stimmen aus Deutschland (das Missverstehen von Günter Grass’ »Was gesagt werden muss« ist nur das neueste Beispiel hierfür) sehr schnell das Verdikt des Antisemitismus zur Abwehr der Kritik genutzt wird, aber: Gerade wir judenfreundlich Eingestellten sollten insofern einen normalen Umgang mit der Politik der israelischen Regierungen und mit anderen Erscheinungsformen jüdischen Lebens pflegen, als wir uns auch hier die Freiheit zur Kritik nehmen, die wir auch gegenüber anderen Ländern und gegenüber unseren eigenen Regierungen und Lebensformen in Anspruch nehmen. Und die jüdische Religion ist ja die Mutter der semitischen Religionen; von ihr zu schweigen, sie von der Kritik an den überkommenen Religionen auszunehmen, ist schon deshalb nicht möglich. Ein grundlegender Unterschied im Verständnis des Judentums besteht zwischen seiner Bedeutung als Religion in der Diaspora und als staatsideologischer Legitimationsgrundlage: Während der in der Diaspora von Menschen jüdischen Glaubens praktizierte Glaube im Wesentlichen der Rückversicherung kultureller Gemeinsamkeit dient (und nicht so sehr der Glaubensversicherung), hat das Judentum nach dem vorherrschenden politischen Selbstverständnis im Staat Israel eine staatsideologische Legitimationsfunktion erhalten. Und hier baut sich ein Spannungsverhältnis auf, dessen Sprengkraft sowohl für den Staat Israel, für sein politisches Leben und für seine Anerkennung in der Welt, aber auch für das Judentum als Religion eine subversive Kraft entfalten könnte. Während nämlich der Staat Israel als ein multiethnisches, demokratischfreiheitliches Gemeinwesen mit hochentwickelter Zivilisation einer der modernsten Staaten der Welt ist (wenn nicht sogar der modernste!), verliert sich sein staatsideologischer Legitimationsanspruch aus der Religionsgeschichte als eines »jüdischen Staates« in nicht mehr fassbaren, mythologischen Erzählungen weit entfernter Frühzeiten, die »das Produkt der Imagination späterer Epochen« sind. (Shlomo Sand25) Kann ein hoch entwickelter, auf wissenschaftliche Rationalität angewiesener Kulturstaat zur Begründung seines höchst realen Existenzrechts in feindlicher Umwelt wirklich auf die Beweiskraft mythologischer Erzählungen bauen?

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Ein weiterer, höchst problematischer Aspekt für die lebenspraktische Bedeutung des jüdischen Glaubens ist sein Charakter als einer Erwartungsreligion. Sieht man von der imaginierten Verleihung der Zehn Gebote an Moses durch Gott auf dem Berg Sinai als Gründungsakt der jüdischen Religion vor undenklichen Zeiten ab, ist das Kernstück des jüdischen Glaubens die Erwartung, dass erst »mit der Ankunft des messianischen Königs aus dem Stamme Davids … die ersehnte Rettung mit der allgemeinen Rückkehr nach Jerusalem (kommt). Zur Erlösung gehört bekanntlich auch die Auferstehung der Toten, denn auch sie sollen in die Heilige Stadt zurückkehren«. (Sand26) Das bedeutet, dass die in der Dauererwartung einer so vorgestellten Erlösung lebenden Menschen jüdischen Glaubens das Leben im Hier und Jetzt nur als Übergangsexistenz begreifen können, quasi ein Leben in der Wartehalle: Diese Glaubensüberzeugung muss zu einer Haltung prekärer Distanz zu den Anforderungen des realen Lebens führen, wie sie ja in der Tat beim orthodoxen Judentum zu beobachten ist. Israelische Regierungen können denn auch seit jeher ein leidvolles Lied von den Privilegien singen, die die der Orthodoxie verpflichtete politische Partei ihnen abgerungen hat und ständig neu abringt. Aber auch im Christentum sind die Zeichen des Umbruchs unübersehbar, und sie zeigen sich sowohl in der Religionskritik wie in der Kirchenkritik: So reklamieren im katholischen Christentum nicht nur aufgeklärte Glaubensanhänger in der Wir-sind-Kirche-Bewegung das Eigenrecht der Gläubigen gegen römische Bevormundung, sondern in ihrem Memorandum »Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch« fordern sogar 143 Theologen tiefgreifende Reformen der katholischen Kirche. Und auch im Protestantismus erwächst eine noch unsicher tastende Glaubenserneuerung aus dem Kern der Glaubenslehre, nämlich aus der evangelischen Theologie und darüber hinaus durch ein sehr ernsthaftes, wissenschaftlich fundiertes Schrifttum, auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Die Missbrauchsfälle in konfessionellen Heimen, Schulen und anderen kirchlichen Einrichtungen haben nicht nur der Unzufriedenheit mit der überkommenen Vertuschungsstrategie der Kirchen im Interesse des für sie vorrangigen Schutzes ihrer Institutionen und Funktionsträger neue Nahrung gegeben, sondern hängen auch mit der Aufgabe der Glaubenserneuerung, wenngleich nur in subtil aufspürbarer Weise, zusammen: Die ihre Vertrauenspositionen – insbesondere gegenüber Jugendlichen – missbrauchenden Priester, Pfarrer und kirchlichen Hilfspersonen sind sich ihrer eigenen Glaubensverantwortung offenbar nicht

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bewusst bzw. bewusst gewesen, sondern sehen und sahen die im Zweifel vergebensbereite Kirche als verantwortliche Glaubensverwalterin an. Schließlich zeigt sich der Bedeutungsverlust jedenfalls der etablierten Religionen auch in der hohen Zahl der seit Jahren anhaltenden Kirchenaustritte. Kirchenaustritte und Konfessionslosigkeit, die ja auch Zeichen des Rückgangs von Kirchenbindung und christlicher Gläubigkeit sind, stimmen nicht nur durch ihre schiere Zahl (über sechs Millionen in etwa zwanzig Jahren in Deutschland) nachdenklich, sondern gewinnen dadurch besondere Indikationskraft, dass sie überdurchschnittlich unter den Gebildeten und unter großstädtischen Verhältnissen zunehmen: »Einigermaßen intakte konfessionelle Milieus existieren überwiegend in ökonomisch zurückgebliebenen Regionen.« (F. X. Kaufmann27) Soviel skizzenhaft zu den krisenhaften Symptomen in und außerhalb des Christentums. Die prekäre Situation der christlichen Kirchen zeigt sich aber eigentlich erst darin, dass die kirchliche Glaubensbotschaft in einer Zange steckt, nämlich zwischen den angedeuteten Aufklärungsströmungen einerseits und fundamentalistischen Orientierungen andererseits. Überflüssig, hier noch einmal an die Opus-DeiBewegung und andere ultrakonservative Sekten und Untergliederungen der katholischen Kirche zu erinnern; viel realer und vor allem politisch viel bedrohlicher ist der bereits eingangs erwähnte evangelikale Fundamentalismus besonders in den USA. Da sich dieser evangelikale Fundamentalismus in unglücklicher Weise mit dem realitätsverneinenden Rigorismus der politisch erwiesenermaßen durchsetzungsfähigen TeaParty-Bewegung paart, ergeben sich hieraus für Amerika und damit für die Welt durchaus beunruhigende Perspektiven. Dies zumal, da sich mit evangelikalem Fundamentalismus und Tea-Party-Bewegung in gefährlicher Weise zwei Träumertruppen zusammentun: Während der evangelikale Fundamentalismus das von den Gründungsvätern der Union flankierend gemeinte Gottvertrauen zum Ausschließlichkeitstraum erhöht, will die Tea-Party-Bewegung nicht aus dem alten amerikanischen Traum des ständigen Fortschritts und der ständigen Wohlstandssteigerung erwachen, der inzwischen längst zum Albtraum geworden ist. Es zeigt sich hieran sehr eindeutig, welch hohen, auch realpolitischen, Stellenwert die Klärung von Glaubensfragen hat. Allerdings zeigt sich die Verdichtung der Kirchen- und Religionskrisen nicht nur in solchen problematischen Entwicklungen, sondern auch in der deutlich erhöhten Intensität der Diskussion dieser Krisen und in dem erkennbaren Verlangen nach neuer Glaubensgewissheit. Wenn renommierten Zeitungen und Zeitschriften neue Rubriken zu diesem Thema einrichten (wie die Rubrik »Glauben und Zweifeln« in der

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Warum Martin Luther uns kein Vorbild mehr sein kann

»ZEIT«), wenn kirchen- und religionskritische Bücher auf Bestsellerlisten reüssieren (wie Helmut Schmidts »Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung«, Berlin 2011) und wenn etwa bei den evangelischen Kirchentagen die Suche nach neuer Glaubensgemeinsamkeit sogar bei Jugendlichen unübersehbar ist, so sind dies deutliche Zeichen für eine sogar zunehmende Bedeutung von Glaubensfragen, auf die die etablierten Amtskirchen keine befriedigenden Antworten mehr finden, vielleicht nicht mehr finden können, weil sie eben im Kern Glaubensinhalte aus einer anderen, längst vergangenen Zeit verwalten. Dies bestätigt auch Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. in seinem zweibändigen Werk »Jesus von Nazareth«28, das als eine voluntative Rekonstruktion des Göttlichen die Geschichte von Jesus’ Leben und Wirken erneut mit den bekannten Inhalten und Begleitannahmen erzählt und so als »Fünftes Evangelium« gelten könnte. Religionswissenschaftliche und historische Erkenntnisse baut Benedikt/Ratzinger nur an den Stellen und nur in der Weise ein, wie sie in seinen Rekonstruktionsduktus passen. In schöner Ehrlichkeit setzt er als Zugang zu seinem Jesusverständnis einen »Glaubensentscheid« voraus, nämlich dass »das Factum historicum … nicht eine auswechselbare historische Chiffre (ist), sondern konstitutiver Grund: Et incarnatus est – mit diesem Wort bekennen wir uns zu dem tatsächlichen Hereintreten Gottes in die reale Geschichte.«29 Mit anderen Worten: Wer diesen »Glaubensentscheid« (unausgesprochen: durch Bejahung allein des katholisch-christlichen Glaubens) nicht trifft, bleibt draußen vor. Die erneuerte Jesus-Geschichte von Benedikt/Ratzinger rotiert damit in der Immanenz der katholischen Glaubenslehre und kann alle jene Menschen nicht erreichen, die diese Glaubenslehre nicht teilen. Und wenn Benedikt/Ratzinger in seiner Regensburger Vorlesung zum Thema »Glaube und Vernunft« von 2006 einen »tiefen Einklang« zwischen christlichem Glauben und den Standards der antiken griechischen Philosophie von Wissenschaft und Rationalität behauptet hat, so muss doch klar sein, dass (insbesondere: wissenschaftliche) Rationalität von ihm immer nur als »Magd des Glaubenszeugnisses« verstanden wird (so Matthias Dobrinski in seiner Rezension des zweiten Bandes von Benedikt/ Ratzingers JesusBuch30) und nicht als glaubensunabhängiges Verfahren der rationalen Wahrheitssuche: Vernunft und Wissenschaft können aber nicht mehr als Mägde des Glaubens verstanden werden, sondern als seine ebenbürtigen Partner (hierzu noch unten, S. 29ff).

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