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Ensemble&Regie Premieren14

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12 Ensemble

Sandra Flubacher. Marina Galic. Bernd Grawert. Julian Greis. Lisa Hagmeister. Jens Harzer. Johannes Hegemann. Pascal Houdus. Maike Knirsch. Felix Knopp. Ole Lagerpusch. Hans Löw. Oliver Mallison. Björn Meyer. Karin Neuhäuser. Barbara Nüsse. Meryem Öz. Christiane von Poelnitz. Tim Porath. Toini Ruhnke. Merlin Sandmeyer. Gabriela Maria Schmeide. Maja Schöne. Cathérine Seifert. Steffen Siegmund. LisaMaria Sommerfeld. Stefan Stern. André Szymanski. Oda Thormeyer. Rosa Thormeyer. Victoria Trauttmansdorff. Tilo Werner. Jirka Zett. Sebastian Zimmler.

Gäste Jonas Anders. Patrick Bartsch. Vernesa Berbo. Carolina Bigge.

Antonia Bill. Stephan Bissmeier. Anna Blomeier. Bruno Cathomas.

ShahMo Darouiche. Nail Dog ˘ an. Julia Förster. Franziska Hartmann.

Christoph Hart. Peter Jordan. Daniel Kahn. Nils Kahnwald. Otja Henock Kombaekua. Ben Kandukira. Lizette Vezemboua Kavari. BenjaminLew Klon. Wolfram Koch. Mirco Kreibich. Solomia Kushnir. Matthias Leja. Daniel Lommatzsch. Rasha Nahas. Thomas Niehaus. Rainer Piwek. Jörg Pohl. Matze Pröllochs. Falk Rockstroh. Sebastian Rudolph. Mariana Sadovska. Lia S‚ahin. Dimitrij Schaad. Stephan Schad. Lukas Schätzke. Günter Schaupp. Rudolf Dantago Schimming. Cornelia Schirmer. Hartmut Schories. Paul Schröder. Shahin Shekho. Alexander Simon. Rafael Stachowiak. Birgit Stöger. Anna Michelle Tehua. Nicki von Tempelhoff. Angelika Thomas. GlennNora Zeupareje Tjipura. Abdoul Kader Traoré. Vetunjona Uarije. ˙ Idil Üner. Gift Uzera. Marina Wandruszka. Florentine Weihe. Philipp Weggler. Francesca Waehneldt.

13 Regie

Regie Thorleifur Örn Arnarsson. Franziska Autzen. Jan Bosse. Erik

Gedeon. Dimiter Gotscheff †. Gernot Grünewald. Leander Haußmann. Samieh Jabbarin. Peter Jordan. Amir Reza Koohestani. Leonhard Koppelmann. Bastian Kraft. Katja Langenbach. Anne Lenk. Alia Luque. AnnaSophie Mahler. Ewelina Marciniak. Hakan Savas‚ Mican. Kornél Mundruczó. David Ndjavera. Sebastian Nübling. Antú Romero Nunes. Toshiki Okada. Luk Perceval. Stefan Pucher. Yael Ronen. Christopher Rüping. Helge Schmidt. Kirill Serebrennikov. Branko Šimic´. Johan Simons. Charlotte Sprenger. Jette Steckel. Michael Thalheimer. ˙ Idil Üner.

Junge Regie Simone Geyer. Peter Thiers.

Spielzeitauftakt auf der Alster

Herzzentrum XII Ein Herzzentrum über die Schönheit von & mit Navid Kermani Szenische Einrichtung Jette Steckel 29. August

Auf der Alster, Bootsverleih und Restaurant Bobby Reich

Bleibe doch nur einen Augenblick, Du bist so schön! Kann man mit Schönheit die Welt retten? Wir beginnen die Spielzeit mit Schönheit! Und mit der Frage, die am Anfang eines jeden „Herzzentrums“ steht: Was ist uns jetzt wichtig? Alles, was uns umgibt und ausmacht, kann unter Aspekten und Widersprüchlichkeiten der Schönheit betrachtet werden, die weit über das landläufige Wohlgefallen hinausgehen. Seit 2012 verbindet das Ensemble des Thalia Theater eine enge Zusammenarbeit und Freundschaft mit dem Schriftsteller und Publizisten Navid Kermani, dessen Texte auch in diesem „Herzzentrum“ der Ausgangspunkt sind für die Suche nach der Durchdringung von Schönem und Realem. Und wo geht das besser als in idyllischer Umgebung in Ruderbooten und Kanus auf und an der Außenalster? Das Ensemble begegnet dem Publikum wie gewohnt in kleinen Gruppen und immer wieder neu – diesmal unter freiem Himmel und vor allem zu Wasser.

P r e m i e r e n

16 Shockheaded Peter nach Motiven aus „Der Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann Regie Peter Jordan & Leonhard Koppelmann Thalia Theater 21. August

Junkoper von den Tiger Lillies, Julian Crouch und Phelim McDermott, Musik von Martyn Jacques

Jeder kennt ihn, „Pfui, den Struwwelpeter!“ und seine Gleichgesinnten, den Suppen-Kaspar, Zappel-Philip oder Hans-Guck-in-dieLuft. Sie sind zu prototypischen Figuren der Abschreckungspädagogik geworden. Der Psychiater Heinrich Hoffmann erfand sie 1845 und untertitelte die Urfassung des „Struwwelpeter“ mit „Lustige Geschichten und drollige Bilder“. So lustig endet es aber für keine seiner Figuren, denn sie lernen: Wer nicht hören will, muss fühlen! In „Shockheaded Peter“ begehren die Kinder auf gegen die Autoritären und den vorauseilenden Gehorsam. Verstoßen und isoliert leben sie auf engem Raum irgendwo im Abseits der Gesellschaft. Zwischen Anarchie und Selbstdisziplinierung erziehen sie sich gegenseitig – aber wer bestimmt hier eigentlich was richtig ist und was falsch? In pointiert-komischen und surrealen Bild- und Musikwelten erzählt das Ensemble des Thalia Theater die Horror-Geschichten um den Ungekämmten mit den langen Fingernägeln. Und ihre Musik ist live – arrangiert im schräg-makabren Stil der britischen Band „The Tiger Lillies“ – zwischen Punk, Kunstmusik, Vaudeville, Blues und Falsett-Gesang.

17 Herkunft von Saša Stanišic´ Regie Sebastian Nübling Thalia Gaußstraße 22. August

„‚Herkunft‘ ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt“, schreibt Saša Staniši´c über seinen 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman. Saša Staniši´c wurde 1978 in Višegrad geboren. Dass man einmal von ihm sagen würde, er stamme aus Bosnien, war zum Zeitpunkt seiner Geburt keinesfalls ausgemacht. Er kam in einem Land zur Welt, das nicht mehr existiert: Jugoslawien. Als der Vielvölkerstaat auseinanderbrach, gelang der Familie 1992 die Flucht nach Deutschland. Saša Staniši´c schreibt: „‚Herkunft‘ ist ein Buch über ein Land, das es heute nicht mehr gibt, eine zersplitterte Familie, die meine ist. Es ist ein Buch über die Frage, was zu mir gehört, ein Selbstporträt mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstporträts. ‚Herkunft‘ ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre. ‚Herkunft‘ ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung. Ein Buch über Sprache und Scham, Ankommen und Zurechtkommen, Glück und Tod.“

Aus einem Lebenslauf, den Staniši´c für die Ausländerbehörde verfasst, wird eine große, autofiktionale Erzählung, die alle vereinfachenden Diskurse zum Thema Heimat und Identität hinter sich lässt. Heute lebt Staniši´c in Hamburg. Sein Roman „Vor dem Fest“ wurde 2019 von Charlotte Sprenger auf die Bühne des Thalia Gaußstraße gebracht. Hier kommt nun auch „Herkunft“ zur Aufführung, in der Regie von Sebastian Nübling.

18 Der Idiot von Fjodor M. Dostojewskij Regie Johan Simons Thalia Theater 4. September

Alles scheint in elektrisches Licht getaucht. Fürst Myschkin, ein im höchsten Grade origineller Mensch, überrascht seine Umgebung mit seiner unkonventionellen Art, die Welt zu betrachten. Gerade aus einem Schweizer Sanatorium entlassen, kommt er mit dem Kaufmann Rogoschin ins Gespräch, der ihm von seiner qualvollen Leidenschaft für Nastassja erzählt. Später begegnet Fürst Myschkin dieser schönen Frau, die alle Welt verrückt macht – und will sie heiraten. Es ist der Sturz in einen dunklen Tunnel und in helle Verzweiflung voll Liebe und Hass, epileptischen Anfällen und Intrigen ohne Ende.

Nach „Deutschstunde“, „Der Schimmelreiter“ und „Fountainhead“ ist „Der Idiot“ Johan Simons’ vierte Romanbearbeitung für das Thalia Theater. Diesmal erkundet er gemeinsam mit dem Ensemble Dostojewskijs Welt, in der ein Personal distanzloser Originale aufeinandertrifft, die „man alle hinter Glas setzen sollte“, wie es im Roman heißt. Dostojewskij sagte in seinem Todesjahr 1881: „Man nennt mich einen Psychologen: das stimmt aber nicht. Ich bin nur Realist im höheren Sinne, d.h., ich schildere alle Tiefen der menschlichen Seele.“

19 GRM Brainfuck Das sogenannte Musical von Sibylle Berg Regie Sebastian Nübling Uraufführung Thalia Theater 10. September

Originalmusik von Ruff Sqwad Arts Foundation / UK

„GRM Brainfuck“ ist ein Blick nach vorn im Zorn auf eine nahe Zukunft und handelt doch von nichts anderem als unserer Gegenwart. Es ist eine Generalabrechnung, die so düster wie vital ausfällt. Wie unter einem Brennglas wird hier sichtbar gemacht, was die gesammelten Miseren und Fehlentwicklungen unserer Zeit ausmacht: soziale Ungleichheit, Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, Rassismus, flächendeckende digitale Überwachung, Entsolidarisierung als Prinzip. „GRM Brainfuck“ macht die Wut, Verzweiflung und Lebenssehnsucht einer Gruppe an den Rand gedrängter junger Menschen zum Mittelpunkt einer Welterzählung. Früh auf sich selbst gestellt, bilden sie eine aneinander Halt suchende, verschworene Gemeinschaft, eine aus der Not geborene Ersatzfamilie. Ihr Ziel: nie mehr verletzt zu werden. Vom Radar der Sozialbürokratie verschwunden, schlüpfen sie immer wieder durch die schmalen Ritzen des Systems. Ihr Überlebenselixier: Grime, kurz GRM, die größte musikalische Revolution seit dem Punk.

Sebastian Nübling hat am Thalia zuletzt Saša Staniši´c’ „Herkunft“ inszeniert und Navid Kermanis „Die Nacht der von Neil Young Getöteten“ als musikalischen Trip auf die Bühne gebracht. Er ist ein Spezialist für Uraufführungen von Sibylle Berg, die aus ihrem 2019 erschienenen Roman „GRM Brainfuck“ eigens eine Theaterfassung gemacht hat. Die Originalmusik dazu kommt aus London: vom Grime-Kollektiv Ruff Sqwad Arts Foundation. Koproduktion mit dem Festival Theater der Welt 2021 Düsseldorf, Düsseldorfer Schauspielhaus und Ruff Sqwad Arts Foundation, London

20 Blick von der Brücke von Arthur Miller Regie Hakan Savas‚ Mican Thalia Gaußstraße 18. September

Das Schicksal des Hafenarbeiters Eddie Carbone erzählt nicht nur vom Zusammenbruch eines veralteten Männlichkeitsideals, sondern auch vom Verschwinden körperlicher Arbeit. Gemeinsam mit seiner Frau Beatrice hat Eddie sich im Schatten der Brooklyn Bridge mit harter Arbeit eine Existenz aufgebaut. Jetzt wird er plötzlich nicht nur von den Containern, sondern auch von einer neuen Generation von Einwanderern abgelöst. Dem jungen Rodolpho, kaum der Armut in seinem Heimatland Sizilien entkommen, fällt in Amerika alles leicht. Je mehr sich Eddies Welt verändert, desto verzweifelter versucht er, am Gewohnten festzuhalten. Als seine Ziehtochter Catherine unabhängige Entscheidungen trifft und Rodolpho New York zeigt, und sich auch Beatrice nicht länger unterordnen will, dreht Eddie durch. In seiner Wut wendet er sich ausgerechnet gegen diejenigen, die bei ihm Schutz gesucht haben.

Arthur Miller, Sohn einer polnisch-jüdischen Familie, die aus Europa in die USA kam, ist mit seinen zeitkritischen Dramen bis heute auf den Bühnen der Welt präsent. Wie schon in „Tod eines Handlungsreisenden“ erzählt Miller in „Ein Blick von der Brücke“ von der Krise eines Mannes, dessen Weltbild in seinen Grundfesten erschüttert wird. Gemeinsam mit Live-Musikerin Rasha Nahas und dem Ensemble des Thalia Theater schlägt Regisseur Hakan Sava‚s Mican mühelos den Bogen vom Einwanderungsland Amerika über die sogenannte „Gastarbeitergeneration“ in Deutschland bis nach Hamburg heute.

21 Die Jakobsbücher nach Olga Tokarczuk Regie Ewelina Marciniak Deutschsprachige Erstaufführung Thalia Theater 19. September

Olga Tocarczuk, Literaturnobelpreisträgerin 2018, hat mit „Die Jakobsbücher“ einen großen historischen Roman für unsere Zeit geschrieben. Eine Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen. Fremdsein ist hier nicht nur unproblematisch, sondern schärft auch den Blick: „Wer hat uns eingeredet, dass es gut und trefflich sei, stets und ständig dazuzugehören? Nur der Fremde versteht die Welt.“

Im 18. Jahrhundert, einer Zeit der kulturellen, politischen und religiösen Vielfalt, will der charismatische Religionsführer Jakob Frank seinem Volk, den Juden Osteuropas, Orientierung bieten und es in die Moderne führen. Von seiner Gefolgschaft wird er als Messias verehrt, von der katholischen Kirche der Ketzerei beschuldigt und verfolgt. Er muss aus Polen fliehen, zieht durch Europa und wechselt vom Judentum zum Islam und schließlich zum Christentum. Als Sektenführer schart er tausende Menschen um sich, die sich nach Gemeinschaft sehnen, und macht sich Tausende zum Feind. 2019 in Deutschland erschienen und von der Kritik bejubelt, brachte der Roman seiner Autorin in ihrer Heimat Polen auch Anfeindungen und Morddrohungen ein, denn obwohl im 18. Jahrhundert angesiedelt, kann er als Gegenwartskommentar gelesen werden. Die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak und Bearbeiter Jarosław Murawski erzählen „Die Jakobsbücher“ als europäische Geschichte von Migration, Menschenrechten, und sozialer Revolution.

Gefördert durch #2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland e.V. aus Mitteln des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat

22 Transit nach Anna Seghers Regie Amir Reza Koohestani Thalia Gaußstraße 25. September

Tausende suchen einen Weg heraus aus Europa, kämpfen um Visa und Transits und hoffen verzweifelt, mit einer der wenigen Schiffspassagen dem Krieg zu entkommen. Unter ihnen ein junger Deutscher: Mit falschen Papieren aus einem Arbeitslager geflohen, strandet er im überfüllten Marseille. Hier trifft er Marie und ihren Liebhaber, einen Arzt. Die junge Frau ist auf der Suche nach ihrem Mann, von dem sie beim Einmarsch der Deutschen in Paris getrennt wurde. Er ist ihr Garant für das rettende Visum, solange sie ihn nicht findet, kann sie Marseille nicht verlassen. Noch weiß sie nicht, dass er nicht mehr lebt – und ausgerechnet jener junge Flüchtling, der in sie verliebt ist, per Zufall die Identität des Toten angenommen hat. Anna Seghers, 1941 selbst über Marseille nach Mexiko geflohen, erzählt in ihrem berühmten Exil-Roman eindrücklich von ihren Erlebnissen mit jenem Transitzustand, der heute für Millionen von Menschen bittere Lebensrealität ist. Für das Thalia Theater adaptiert Regisseur und Drehbuchautor Amir Reza Koohestani „Transit“ zusammen mit seinem CoAutor Keyvan Sarreshteh. Der international arbeitende iranische Regisseur liest den Roman vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen. Weil die Pandemie reale Begegnungen immer mehr in den virtuellen Raum verlegt hat, wird das rettende Botschaftsgebäude bei Koohestani endgültig zur Black Box. Seine drei in existenzielle Not geratenen Liebenden verlieren sich in einem anonymen, kafkaesken System, das im Kontakt mit dem realen Menschen versagt. Dem individuellen Schicksal gegenüber ist man blinder denn je.

Koproduktion mit dem Kunstfest Weimar 2021

23 Krum. Ein Stück mit zwei Hochzeiten und zwei Begräbnissen von Hanoch Levin Regie Kornél Mundruczó Deutschsprachige Erstaufführung Thalia Theater im Oktober

„Ich habe es im Ausland zu nichts gebracht, Mutter! Ich habe kein Geld verdient und habe mich nicht verlobt. In meinem Koffer ist nichts als benutzte Unterwäsche.“ Krum kehrt nach Hause zurück. Noch ist nicht klar: Ist Krum selbstbewusst oder nur komplett verloren? Der Dramatiker Hanoch Levin, in Israel ein Star der zeitgenössischen Dramatik, treibt seinen Antihelden in die radikale Selbstgenügsamkeit. Ein moderner Wiedergänger jener poetischen Faulpelze, die von einer besseren Zukunft träumen, ohne irgendetwas dafür tun zu wollen. Nicht besonders zeitgemäß, wenn alles unter das Paradigma der größtmöglichen Effizienz gestellt wird. Krums Verhalten ist die Essenz der Frage „Warum?“; er ist ein Überlebenskünstler, die reine Verunsicherung. Durch die jüngsten Erfahrungen hat sich gezeigt: wir leben in struktureller Ungewissheit. Aber wir wollen Gewissheit! Verpassen wir deswegen ständig unser eigentliches Leben? Warum bleiben wir in der Mittelmäßigkeit gefangen, in der jede und jeder um sein kleines Stück Bedeutung ringt?

Kornél Mundruczó ist einer der wichtigsten, international arbeitenden Theater- und Filmregisseure der Gegenwart. Sein jüngster Film „Pieces of a Woman“, bei den Filmfestspielen in Venedig 2020 u.a. für den Goldenen Löwen nominiert, gehört auf Netflix zu den erfolgreichsten Filmen des Jahres 2021. Die ursprüngliche Theaterversion vom TR Warszawa ist im November am Thalia Theater zu Gast. Nach seiner vielbeachteten Aktualisierung des Molnár-Klassikers „Liliom“ am Thalia Theater inszeniert Mundruczó nun eine Neuentdeckung: die deutschsprachige Erstaufführung von „Krum“.

24 Die Räuber von Friedrich Schiller Regie Michael Thalheimer Thalia Theater im Oktober

Frei, freier, die Räuber! Oder? Der Mensch ist nicht frei. Weder von physischen noch von sozialen Zwängen, deswegen hängt er ständig in irgendwelchen Systemen fest. Das wusste schon Friedrich Schiller und propagierte die Freiheit des Menschen von allen moralischen Verpflichtungen, seine Entgrenzung und den Exzess. Aber nur im Spiel, im Schein, in der Kunst – einem Ort völliger Anarchie, weil alles, was dort passiert, keine echten Folgen hat. Dafür war bei der skandalösen Uraufführung der „Räuber“ 1782 in Mannheim wohl noch niemand bereit. Zwei ungleiche Geschwister spielen ihre Befreiung durch: Karl fällt auf Glückssuche von einem Extrem ins andere. Er ist nicht dumm und ungerecht genug fürs Spießertum und nicht brutal genug zur Konsequenz. In ihm brennt die aufklärerische Sehnsucht nach einer gerechten sozialen Wirklichkeit, aber die Zweifel überfallen ihn – und seinesgleichen verraten seine Ideale. Franz sehnt sich nach Anerkennung und setzt dafür auf scharfen Verstand. Er kommt über seine Benachteiligung nie hinweg, geht über Leichen und daran zugrunde. Die Weltbilder sind spannungsvoll: Wie soll man handeln? Und zwar so, dass die Freiheit der anderen nicht beschnitten wird?

Michael Thalheimer, der am Thalia Theater sehr erfolgreiche und wegweisende Arbeiten für das Regietheater entwickelte und u.a. mit „Liliom“ 2000, „Liebelei“ 2002 und „Lulu“ 2004 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, kehrt nach über 10 Jahren mit Schillers Epochenlabel über Aufbruch und Geworfenheit zurück.

25 Die Wildente oder Der Kampf um die Wahrheit frei nach Henrik Ibsen Regie Thorleifur Örn Arnarsson Thalia Theater im November

Je schwieriger die Lage zu sein scheint, je weniger man Fakten glaubt, desto drängender wird sie eingefordert und geleugnet zugleich: „die Wahrheit“. Aber lässt sich komplexe Realität auf wahr oder falsch herunterbrechen? Auch wenn man sich nach Eindeutigkeit sehnt – gibt es sie überhaupt? Die menschliche Notwendigkeit, sich vor den Zumutungen des Lebens hinter Lügen und einfachen Wahrheiten zu verschanzen, ist eines der Lebensthemen des norwegischen Autors Henrik Ibsen. In „Ein Volksfeind“ macht ein Wissenschaftler die Entdeckung, dass das Wasser des heimischen Kurbades verseucht ist. Mit großer Beharrlichkeit und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen drängt er darauf, dass der Betrieb, von dem die Stadt lebt, umgehend geschlossen wird. In „Die Wildente“ fristet eine Familie ihr kleines Leben und erzieht mit einer sorgsam voreinander verborgenen Lüge ein Kind. Geht es nicht allen gut damit? Was passiert, wenn das Aufdecken von Geheimnissen in Ruin und Zerstörung führt? Und wer hat das Recht, seine Sicht der Dinge im Namen einer selbsternannten Moral durchzusetzen? In der Figur des Wissenschaftlers Gregers Werle, der sich entschlossen gegen die Verhältnisse auflehnt, verschränkt Thorleifur Örn Arnarsson beide Ibsen-Dramen miteinander. In surrealen Bildwelten schafft der isländische Regisseur ein komplexes, vieldeutiges Kaleidoskop radikaler Sinn- und Wahrheitssuche.

26 Eurotrash von Christian Kracht Regie Stefan Pucher Thalia Gaußstraße im November

Also, mit dem Rollator, mothers little helpers und einigen WhiskeyFlaschen im Gepäck begibt sich der Erzähler auf einen skurrilen Road-Trip mit seiner exzentrischen Mutter. Mit dem Taxi lässt sich das ungleiche Paar quer durch die Schweiz fahren, immer auf der Flucht vor der Einsamkeit, raus aus einem durch Geld vergifteten Leben. Auf dem Rücksitz eine Plastiktüte mit obszön viel Geld – 600.000 Franken in Scheinen, von der Mutter höchstpersönlich bei ihrer Züricher Privatbank abgehoben. Von der wohlstandsverwahrlosten Wohnung am Zürichsee über das Chalet in Gstaad geht es rasant in die Untiefen der persönlichen und kollektiven Vergangenheit. Immer angetrieben von dem glühenden Wunsch, die schmutzigen Aktiengewinne aus der Waffenindustrie durch Verschleudern und Verschenken so schnell wie möglich loszuwerden. Eine letzte gemeinsame Reise, die Mutter und Sohn in einer Weise zusammenbringt, wie das Leben es nicht geschafft hat. Mitten hinein in die dunklen Ecken der Familien-Vergangenheit, vom SpringerHochhaus in Hamburg bis in die Villa des Nazi-Großvaters nach Sylt – oder doch ins Jenseits nach Afrika? Die Kreatur Mensch hinter einer splitternden Luxus-Fassade – was ist authentisch, was Fiktion? Ein hoch amüsantes Spiel mit biographischen Details und eine hinreißende Parodie. Direkt von der Short List des Leipziger Buchpreises fürs Theater adaptiert von Pop-Regisseur Stefan Pucher.

„‚Eurotrash‘ ist atemberaubend anders: Christian Kracht mixt Nazis, Geld, Familie und Vergangenheitsbewältigung – und trickst dabei alle aus.“ Die Zeit

27 Der Tod in Venedig von Thomas Mann Regie Bastian Kraft Thalia Gaußstraße im Januar

„Wer außer sich ist, verabscheut nichts mehr, als wieder in sich zu gehen.“

Die Cholera geht um. Unauffällig versucht man, Venedigs Straßen zu desinfizieren. Heimlich wird abgewogen zwischen Seuchenschutz und den Interessen von Fremdenverkehr und kürzlich eröffneter Gemäldeausstellung. Verlässliche Auskünfte über Infektionszahlen gibt es nicht, doch das Gerücht einer bevorstehenden Ausgangssperre kursiert unter den Einheimischen. Die internationale Bohème, die im Grand Hotel die Sommerfrische genießt, ahnt nichts von der Gefahr. Wohlhabende Franzosen, Polen, Russen, Engländer und Deutsche genießen zwischen Strand und Speisesaal das dekadente Leben am Lido. Der bürgerliche Schriftsteller Gustav von Aschenbach entdeckt im polnischen Jungen Tadzio den Inbegriff von Schönheit und Vergänglichkeit. Fatalistisch verliert sich der seriöse Deutsche in dieser letzten selbstzerstörerischen Leidenschaft. Als er von der Epidemie erfährt, beschließt auch er, zu schweigen: angezogen vom Ausnahmezustand, dem „phantastischen Grauen“ der Seuche, diesem „schlimmen Geheimnis der Stadt, das mit seinem eigensten Geheimnis verschmolz und an dessen Bewahrung auch ihm sehr gelegen war“. Zeit seines Lebens auf Würde und Disziplin bedacht, wirft er seine Selbstachtung und Moral über Bord und gibt sich dem Verfall hin.

Bastian Kraft inszenierte am Thalia Theater u.a. „Amerika“ nach Franz Kafka, „Der zerbrochne Krug“ (ausgezeichnet mit dem RolfMares-Preis) und „Dancer in the Dark“. Immer wieder adaptierte er bedeutende Romane für die Bühne, beispielsweise Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ (Frankfurt) sowie Thomas Manns „Die Buddenbrooks“ (Zürich) und „Felix Krull“ (Volkstheater München).

28 Der schwarze Mönch von Kirill Serebrennikov nach Anton Tschechow Regie Kirill Serebrennikov Uraufführung Thalia Theater im Januar

Inspiriert von der Philosophie Nietzsches, der Schauerromantik von Edgar Allan Poe und einer alten arabischen Fabel stellt Tschechow in dieser nahezu unbekannten und sehr besonderen Erzählung die ganz großen Fragen. Und wie immer stellt er sie „nur“, allerdings mit der diagnostischen Schärfe und Lakonie eines Arztes, Antworten maßt er sich nicht an. Kirill Serebrennikov radikalisiert Tschechow – immer tiefer und tiefer schraubt sich sein musikalisches Rondo in schmerzhafte Grundfragen hinein: Ist es nicht so, dass jeder Mensch als etwas Eigenes und Besonderes, ja etwas Schönes wahrgenommen werden möchte, mit dem Recht auf Individualität und Freiheit? Und um seine Bedeutung ringt – immer wieder bis an die Grenze zu Überspanntheit und Selbstverlust? Aber ist es nicht gleichzeitig so, dass Leben nur möglich ist, wenn man in Demut dient und bescheiden bleibt? Tschechows Bild hierfür ist ein Gärtner, der mit Hingabe und Liebe sein Stück Erde, einen Garten pflegt, der ihm den Rhythmus, was gerade zu tun ist, vorschreibt. Dieser Garten, an dem er sich abarbeitet – er könnte die Welt sein. Da bleibt wenig Raum für exzentrische Freiheitsträume. Zu Ende gedacht: Auf der einen Seite steht immer wieder die Maßlosigkeit unseres Wollens und Wünschens, auf der anderen die „Kränkung“ des Menschen, nichts Besonderes zu sein, sondern genauso hinfällig und anfällig wie alles andere in der Natur auch. Wie kommen wir aus diesem Konflikt heraus? Ein Gärtner, seine Tochter, ein Zerrissener, und ein untoter schwarzer Mönch, der wie der fliegende Holländer… ja was? Eine internationale Produktion von und mit deutschen, russischen und lettischen Schauspielern, Musikern, Sängern, Performern und Tänzern

Gefördert durch

29 Doughnuts von Toshiki Okada Regie Toshiki Okada Uraufführung Thalia Gaußstraße im Januar

Die Welt ist wie ein Doughnut: viel Rand und in der Mitte ein Loch. Die Gefahr lauert überall! Ein perfektes Sinnbild für ein modernes Phänomen: eine Spezies erobert einen fremden Lebensraum und stiftet Verwirrung. Ein Bär im Supermarkt, der Sturm aufs Kapitol, ein mutierendes Virus oder Social Media ohne Herzen. Irgendwann weiß niemand mehr, ob die eigene Denkweise noch stimmt – und das nicht zuletzt, weil der Menschheit eine Neudefinition ihrer Werte abverlangt wird, die sich in ungewohnter Hochgeschwindigkeit vollzieht.

Der japanische Dramatiker und Regisseur Toshiki Okada ist bekannt für seine eigenwillige Formsprache und die Beschäftigung mit kulturellen Umbrüchen. Zusammen mit seiner Kompanie Chelfitsch ist Okada international mit seinen Arbeiten regelmäßig auf Festivals in Asien, Nordamerika und Europa zu Gast.

An den Müncher Kammerspielen entstand „The Vacuum Cleaner“, womit er 2020 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. „Doughnuts“ auf der Studiobühne in der Gaußstraße ist Okadas erste Arbeit am Thalia Theater.

30 Neue Inszenierung Regie Hakan Savas‚ Mican Thalia Gaußstraße im Februar

Hier bleibt Platz für aktuelle Entscheidungen! In Berlin geboren, in der Türkei aufgewachsen, verbindet Hakan Sava‚s Mican in seiner Arbeit Räume und Zeiten. „Vögel“, gelobt als „kluges Schauspielertheater“, führt mit Live-Musik auf der Bühne mitten hinein in die Gegenwärtigkeit des Israel-Palästina-Konflikts. Auch Arthur Millers Einwanderer-Drama „Blick von der Brücke“ kommt bei Mican mühelos im Heute an. Jetzt folgt die dritte Arbeit des Regisseurs mit dem Thalia-Ensemble!

31 Das mangelnde Licht von Nino Haratischwili Regie Jette Steckel Uraufführung Thalia Theater im Februar

Manchmal ist mit der Erinnerung keine Gegenwart möglich. Zu schmerzhaft, sich unentwegt vorzuhalten, dass man am Leben geblieben ist. Drei Frauen treffen sich 2019 in Brüssel auf der Retrospektive ihrer toten Freundin, einer renommierten Fotografin. Ihre Bilder sind Anlass für das gemeinsame Erinnern, zurück nach Tiflis, Ende der 80er Jahre: Vier junge, selbstbestimmte Frauen leben ihre besondere Freundschaft und berauschen sich an ihren ersten Lieben. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan. Sie feiern die Gnadenfrist, die ihnen die Unkenntnis über die Zukunft gewährt, darüber, was die ersten Jahre der georgischen Unabhängigkeit mit sich bringen werden: Bandenkriege, Kalaschnikows, Panzer und einen Staat, der keine Sicherheit mehr garantiert. Trotzdem gab es Menschen, die sich dafür entschieden haben, Menschen zu bleiben und diese Entscheidung gegen alle Widerstände verteidigten. Man hat immer eine Wahl, aber vielleicht nicht immer die Kraft, die richtige zu treffen.

Hausregisseurin Jette Steckel vollendet mit der Inszenierung von „Das mangelnde Licht“ nach „Das achte Leben (Für Brilka)“ und „Die Katze und der General“ die Trilogie ihrer Adaptionen der großen Nino-Haratischwili-Romane für die Bühne. Und stellt erneut die Frage nach der Verantwortung für das eigene Handeln in einer Welt, die jeder Logik zu entbehren scheint.

32 Der Sandmann Oper von Anna Calvi und Robert Wilson nach der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann Regie Charlotte Sprenger Thalia Theater im März

„Der Sandmann“ ist nicht das Sandmännchen. Er sendet auch keinen „lieben Abendgruß ehe jedes Kind ins Bettchen muss“. Er streut grobkörnigen Sand in die Augen und reißt Kindern, die nicht schlafen wollen, die Augen aus. So erzählt es E.T.A. Hoffmann in seinem berühmten Meisterwerk zwischen schwarzromantischem Schauermärchen und veritablem Albtraum. Es ist nach „The Black Rider“ – vor drei Jahrzehnten, damals zusammen mit William S. Burroughs und Tom Waits – das zweite Mal, dass sich der Theatermagier und Präzisionskünstler Robert Wilson der Schauerromantik zugewandt hat. E.T.A Hoffmanns dunkle Erzählung „Der Sandmann“, Herzstück seiner Nachtstücke, wird mit der Musik der grandiosen britischen Singer-Songwriterin Anna Calvi zu einer Black-Mirror-Opera, die sich aufmacht, der Nachtseite des Mondes und der Seele einen betörend verstörenden Besuch abzustatten. Welche kindlichen Traumata kehren in den Träumen wieder? Wo beginnt der Wahnsinn, und wie bemächtigt er sich des Lebens? Was passiert, wenn die heimlichunheimliche Praxis der Alchimisten auf die intransparente Pragmatik der modernen KI-Forschung trifft? Können wir unseren Augen noch trauen? Wie lässt sich eine aufgezogene Spieluhr aus dem Takt bringen?

Die Regisseurin Charlotte Sprenger, die „Vor dem Fest“ von Saša Staniši´c und zuletzt „Die Politiker“ von Wolfram Lotz auf die Bühne der Gaußstraße brachte, wird nun mit „Der Sandmann“ erstmals die Große Bühne bespielen.

33 Hymnen an die Nacht Ein Spektakel im Zentrum der Stadt Thalia Theater im März

„Die Aufgabe ist nicht, zu sehen, was niemand gesehen hat, sondern zu denken, was noch niemand gedacht hat über das, was alle sehen.“ Arthur Schopenhauer

Wenn es dunkel wird in der Stadt, gehen die Lichter an. In und um das Thalia Theater erklingen vor und nach „Der Sandmann“ an unterschiedlichen Stationen „Hymnen an die Nacht“. Nach der „verlorenen“ Zeit öffnen wir die Augen und begeben uns auf eine Reise, wir wechseln die Gewohnheiten, wir suchen nach einem neuen Ausdruck, wir suchen nach einem neuen Vokabular. Es geht um die zentrale Frage: Wie können Güte, Großzügigkeit und gute Laune wieder unser Leben bestimmen? Wie fangen wir nochmal ganz von vorne an? Wie können wir der Nacht gerecht werden? Die Bilder um uns herum verändern und vervielfältigen sich: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“ (Ton Steine Scherben)

„Hymnen an die Nacht“ findet erstmals zur Premiere von „Der Sandmann“ statt und an weiteren ausgewählten Vorstellungstagen.

34 Neue Inszenierung Regie Christopher Rüping Thalia Theater im April

Die ganz großen Themen sind so groß, dass im rasenden Stillstand Pirouetten gedreht und Schlagwörter hochgehalten werden, die unsere Gegenwart neu vermessen sollen. Heiner Müller schreibt: „Die zunehmende Beschleunigung der Wahrnehmung führt zum Realitätsverlust.“ – Was tun? Vielleicht zeigt der Zeigende, wie er zeigt, dass er das Zeigen zeigt. Auf geht’s, mal sehen was uns in den nächsten Monaten in einen überraschenden Theaterschwung versetzt?!

Christopher Rüping, der zuletzt mit „Panikherz“ von Benjamin von Stuckrad-Barre und „Paradies“ von Thomas Köck große Gegenwartsstoffe auf der Bühne des Thalia Theater inszeniert hat, ist ein Spezialist für überraschende Betrachtungen im Hier und Jetzt.

35 Heim | Weh Kinderkuren in Deutschland Ein dokumentarischer Theaterabend von Gernot Grünewald Uraufführung Thalia Gaußstraße im Mai

Regisseur Gernot Grünewald greift nach „Patentöchter“ am Thalia Theater ein weiteres Mal die Aufarbeitung der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte auf und untersucht, wie ihre Prägung bis ins Heute hineinreicht.

Geschätzt um die 8 Millionen Kinder, oft noch im Vorschulalter, wurden bis weit in die 1980er Jahre hinein ohne ihre Eltern in wochenlange Kinderkuren geschickt. Diese Zeit war für die Kinder größtenteils keine Erholung, sondern voll von Heimweh, Einsamkeit, Zwang und Gewalt. Erfahrungen – oft nicht erinnert oder verdrängt – die bei den Betroffenen die Haltung zum Leben unerkannt bestimmten. Die Diskussion um das, was damals geschah, und was den meisten Kindern keiner glaubte, hat gerade erst angefangen und ist doch bereits erstaunlich präsent. Medienberichte über Einzelschicksale und Recherchen engagierter Selbsthilfegruppen der ehemaligen „Verschickungskinder“ haben es geschafft, dass das Thema von den politisch Verantwortlichen nicht mehr ignoriert werden kann. Das ist gut so, denn längst ist es Zeit, diesen Teil der jüngsten deutschen Vergangenheit ans Licht zu holen. Denn was als „Kindererholung“ bezeichnet wurde, war nicht nur ein gutes Geschäft, sondern setzte an Nord- und Ostsee, im Allgäu und im Schwarzwald, das Erziehungsideal und das Menschenbild der Nazi-Zeit fort – oft mit dem gleichen Personal und unerträglichen Folgen für die Opfer.

„Das Schicksal der Verschickungskinder rührt an die Frage, wie sehr oder wie wenig die Nachkriegsgesellschaft tatsächlich mit Haltungen, Ideen und Konzepten gebrochen hat, die zum Faschismus geführt und im Dritten Reich ihre grausige Blüte erlebt hatten.“ Hilke Lorenz

36 Herzzentrum XIII Blödigkeit Ein Herzzentrum über Hölderlin von & mit Navid Kermani Szenische Einrichtung Jette Steckel

Kinder und jugendpsychiatrische Fachklinik Marzipanfabrik in Bahrenfeld im Juni

„Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen / Drum, mein Genius! tritt nur / Bar ins Leben, und sorge nicht!“ Auszug aus „Blödigkeit“ von Friedrich Hölderlin

Seit 2012 verbindet das Thalia Theater und sein Ensemble eine Zusammenarbeit und Freundschaft mit dem Schriftsteller Navid Kermani. In bislang zwölf Folgen hat sich nahezu das gesamte Ensemble mit Kermanis Texten und Gedanken an für das Theater ungewöhnliche Orte (z.B. auf ein Riesenrad, in eine Moschee, eine Flüchtlingsunterkunft und ein Laufhaus auf der Reeperbahn) begeben.

Die neu eröffnete psychiatrische Einrichtung bietet stationäre und tagesklinische Behandlungsplätze für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten, dem Personal sowie Klinikleiter Professor Michael Schulte-Markwort („Familienjahre“), spielt das Thalia-Ensemble mit Texten und Gedichten von Friedrich Hölderlin.

Textgrundlage ist Navid Kermanis Buch „Bald sind wir aber Gesang“, eine Edition, die, außer dem Dichter, auch dem Briefeschreiber, Liebhaber und Mystiker Hölderlin auf den Grund geht.

37 Next Generation

Junge Regie Neue Talente entdecken: Junge Theaterschaffende haben die Möglichkeit, während ihrer Assistenzzeit am Thalia unterschiedlichste Herangehensweisen an Stoffe und deren Erarbeitung kennenzulernen – und dabei eine eigene Regiehandschrift zu entwickeln. Ausprobieren können sie sich mit ersten Arbeiten unter dem Label „Freiflug“ in der Thalia Theaterbar Nachtasyl. Ihre Abschlussarbeiten werden dann am Ende ihrer Assistenzzeit in der Reihe Junge Regie gezeigt. Theaterakademie Gemeinsam fördern die Theaterakademie und das Thalia Theater den Schauspiel-Nachwuchs. So können Schauspielstudierende oft bereits in Thalia-Produktionen auf der Bühne stehen und erste professionelle Theatererfahrungen sammeln. Die Abschlussprojekte der Schauspielstudierenden werden regelmäßig in der Thalia Gaußstraße gezeigt, häufig gemeinsam erarbeitet mit Theaterschaffenden des Thalia Theater. Körber Studio Junge Regie Einmal im Jahr trifft sich der Nachwuchs der deutschsprachigen Regiestudiengänge im Thalia Gaußstraße und präsentiert die Vielfalt der Themen und Ästhetiken, mit denen sich die Theatergeneration der Zukunft auseinandersetzt. 2021 fand das Festival pandemiebedingt erstmals in einer digitalen Doppeledition statt. Um die Sichtbarkeit der Jahrgänge 2020&2021 in der aktuellen Situation zu erhöhen, ist auf Initiative von Thalia-Intendant Joachim Lux eine gemeinsame Aktion von Thalia Theater, Körber-Stiftung und Theaterakademie Hamburg zusammen mit dem Deutschen Bühnenverein entstanden. Ziel ist es, die Theater und den Regienachwuchs in einen aktiven Dialog zu bringen und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Das nächste Körber Studio Junge Regie ist für Juni 2022 live im Thalia Gaußstraße geplant. BoyGobertPreis Die Körber-Stiftung zeichnet jedes Jahr im Thalia Theater besonders vielversprechende junge Schauspieltalente der Hamburger Sprechbühnen aus. Der Preis ging u.a. an die Thalia-Ensemblemitglieder Lisa Hagmeister, Mirco Kreibich, Julian Greis, Birte Schnöink, Steffen Siegmund und Merlin Sandmeyer.

38 Gespräche zur Gegenwart

SPIEGELGespräche live im Thalia Theater Nachdem in der letzten Spielzeit das erste – und seit langem geplante – SPIEGEL-Gespräch zum Thema „Meinungsfreiheit“ mit der Grünen-Politikerin Renate Künast und dem Journalisten Deniz Yücel am ersten Abend der Coronabedingten Theaterschließung kurzfristig abgesagt werden musste, freuen wir uns sehr, die live-Gespräche in der Spielzeit 2021&2022 wieder mit hochkarätigen Gästen aus Kultur und Politik in Kooperation mit dem SPIEGEL fortsetzen zu können. Bisherige Themen waren u.a. Klimaschutz, Digitalisierung, Fragen zur Verfassung oder die Stadt der Zukunft – an aktuellen und hochbrisanten Fragen und Themen wird es in diesen komplexen und oft verwirrenden Zeiten nach wie vor nicht fehlen.

Streit.Bar – Bücher der Gegenwart Streit.Bar will eingreifen – in den Diskurs der städtischen Öffentlichkeit und die aktuelle Debatte. Die beliebte Reihe zu Büchern, die unsere Vergangenheit und Gegenwart reflektieren und zugleich Position beziehen, findet nun bereits im fünften Jahr im Nachtasyl statt. Zu ausgewählten Themen und Büchern (ein Überraschungsbuch ist immer dabei!) diskutieren Wolfgang Knöbl, Sighard Neckel, Miriam Rürup und Hilal Sezgin. Die Reihe findet in Kooperation mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung, dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden und dem Fachbereich Sozialwissenschaften der Uni Hamburg statt.

Thalia & Thalia „Welt bleib wach“ heißt die Initiative zum 100-jährigen Bestehen der Thalia Bücher GmbH, die 2019 ins Leben gerufen wurde. Und mit ihr eine Partnerschaft zwischen dem Thalia Theater und der Buchhandlung Thalia. Um aktuelle Themen geht es bei gemeinsamen Autorenlesungen und Diskussionsveranstaltungen, live auf der Bühne oder manchmal auch als digitales Format. Ein Plädoyer fürs Lesen und Zuhören, zu Themen wie Zukunftsperspektiven, Ökologie, Nachhaltigkeit und Toleranz. Und um miteinander ins Gespräch zu kommen.

Die Thalia-Veranstaltungen im Nachtasyl werden zunächst nicht stattfinden können. Wir hoffen, dass der Barbetrieb ab September wieder beginnen wird.

39 ThaliaPodcast

Diskurs Intendant Joachim Lux nimmt aktuelle Premieren zum Anlass für Gespräche mit prominenten Gästen zu übergeordneten Themen.

„I’m mad as hell and I can’t take it any more.“ „Network“: Demokratie, Populismus und Medien. Joachim Lux und Hamburgs Senator für Kultur und Medien, Carsten Brosda, über den Film „Network“ und Kultur und Medien in Zeiten von Fake News. Das Gespräch wurde während des Corona Shutdowns im leeren Thalia Theater geführt.

„Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Kindheit bei „Pippi Langstrumpf“ und „Struwwelpeter“ Joachim Lux im Gespräch mit Michael Schulte-Markwort, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, über die Ikonen des kindlichen Ungehorsams in „Struwwelpeter“ und „Pippi Langstrumpf“

„Wir wollen niemals auseinandergehn.“ Heimat und Schlager in „Mittagsstunde“ Joachim Lux im Gespräch mit der Autorin Dörte Hansen und Rainer Moritz, Leiter des Literaturhaus Hamburg

Werkstatt Hautnahe Einblicke in die Theaterarbeit mit Dramaturgin Christina Bellingen

Starke Frauen auf und hinter der Bühne „Opening Night“ Gespräch mit Regisseurin Charlotte Sprenger über ihre Inszenierung, starke Frauen auf der Bühne und am Regiepult und ihre Erfahrung als Theaterkind in den 90er Jahren am Thalia Theater

Pop und Punk „Maß für Maß“ Der Musiker Christopher Uhe über Stefan Puchers Inszenierung, Pop und Punk, Kommunismus versus Hochkultur, und was der Schriftsteller Thomas Melle mit Shakespeare anstellt. Zu Wort kommen auch Bühnenbildnerin Barbara Ehnes, Schriftsteller Thomas Melle und Dramaturg Matthias Günther.

Rückkehr in die Heimat „Mittagsstunde“ Gespräch mit der Autorin Dörte Hansen, Regisseurin Anna-Sophie Mahler, Bühnenbilderin Katrin Connan und „Marret"-Schauspielerin Cathérine Seifert zum Thema der Rückkehr an den Ort der eigenen Herkunft

Superheldinnen „Pippi Langstrumpf“ Christina Bellingen im Gespräch mit Regisseurin Jette Steckel, „Pippi“-Darstellerin Barbara Nüsse, Kostümbildnerin Sibylle Wallum und Musikerin Anna Bauer

40 360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft

Seit Juni 2019 ist das Thalia Theater Teil des Förderprogramms „360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ der Kulturstiftung des Bundes. Ziel ist es, auf, hinter und vor der Bühne repräsentativer zu werden hinsichtlich der kulturellen Vielfalt Hamburgs.

Im Herbst 2021 werden im Rahmen des NachbarschaftenFestivals Performances kreiert, die in den Stadtteil Altona hineinhören, Zusammenhänge untersuchen und Ausdrucksformen dafür finden. Generationenübergreifende, mehrsprachige Theater-Workshops und partizipative Geschichtenerzähl-Projekte werden im Umfeld des Thalia Gaußstraße stattfinden. Perspektiven Hamburger Nachbarschaften stehen im Zentrum dieses künstlerischen Austauschs. Im Nachtasyl gibt es einen neuen künstlerischen Diskurs-Abend, gefördert durch den 360°-Fonds. Im Salon Tülüfülükülümülü wird regelmäßig Kunst gemacht, mit der wichtige Themen unserer Gesellschaft aufgeworfen werden. Das Thalia Theater beabsichtigt, strukturelle Ausschlüsse und Barrieren abzubauen. So wurden folgende Stücke aus dem Repertoire in weiteren Sprachen übertitelt: „Der Geizige“, „Hamlet“, „Die Tragödie von Romeo und Julia“ (Türkisch), „Ziegenkäse in Streichholzschachteln“ (Türkisch, Arabisch, Ukrainisch, Russisch, Englisch), „Die Jakobsbücher“ (Polnisch) und „Blick von der Brücke“ (Englisch, Türkisch).

In zielgerichteten Thalia-internen Workshops schaffen wir eine Sensibilisierung für den Umgang mit Themen der kulturellen Vielfalt. Wir möchten gemeinsam daran arbeiten, das Thalia Theater noch stärker als einen offenen Ort für Alle zu gestalten. Wenn Sie einen näheren Blick auf den Change-Prozess und die diversitätssensible Arbeit des Thalia Theater werfen möchten, Anregungen oder Fragen haben, melden Sie sich gern bei uns unter vielfalt@thaliatheater.de

Ihr Team für Diversität: Mohammed Ghunaim und Sophie Pahlke Luz

Gefördert durch 360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft

© Max Schlehuber

Nil Tülüfülükülümülü lädt regelmäßig zwei kreative, musikalische, literarische, politische Köpfe ins Nachtasyl ein.

Ziegenkäse in Streichholzschachteln, Eine Produktion des Kollektiv | All Das | / All |lab – Embassy of Hope wird in der Spielzeit 2021&2022 wieder im Thalia Gaußstraße zu sehen sein.

© Sven Malke

43 Embassy of Hope

thaliatheater.de/embassy

Café International Ein Ort der Begegnung. Der Ballsaal im Thalia in der Gaußstraße wird Mittwochnachmittags zum Café International. Bei süßem Tee und fair gehandeltem Kaffee findet ein Austausch in vielen Sprachen statt. Es gibt Gesprächsrunden zum Deutsch Lernen, Rechtsberatung, Theater- und Musikworkshops, Lesekreise, Konzerte, gemeinsames Kochen und Filmvorführungen – ein solidarischer Ort der Inklusion, der Brücken baut. Alle sind willkommen! Mittwochs 15 – 19 Uhr embassyofhope@thaliatheater.de

All | lab Nach der erfolgreichen Reihe „Stimmen aus dem Exil“ setzt das neue künstlerische Format „All | lab“ in Kooperation mit dem Thalia Theater einen neuen Schwerpunkt – weg von der Thematik des Exils, hin zu der Thematik des gemeinsamen Lebens im postmigrantischen Hamburg. Das „All | lab“ richtet sich dabei gleichermaßen an Laien und professionelle Künstlerinnen und Künstler, die sich im weitesten Sinn als postmigrantisch definieren oder sich kritisch mit dieser Definition auseinandersetzen möchten. „All“ steht dabei sowohl für das deutsche Synonym für „Universum“ als auch für das englische Wort für „alle“. So steht bereits der Titel für den globalen Anspruch, der sich in der neuen Projektreihe realisieren wird. Menschen mit Migrationsgeschichte, Geflüchtete und BPoC können in diesem partizipativen Format Themen verhandeln, die sie beschäftigen – explizit auch jenseits ihrer Migrations-, Flucht-, Exil- oder Diaspora-Erfahrungen.

Das Kollektiv | All Das | besteht aus Laien und professionellen Künstlerinnen und Künstlern, die sich kritisch mit gesellschaftlichen Strukturen sowie mit ihren Erfahrungen darin auseinandersetzen – primär als Menschen, sekundär aus ihren postmigrantischen Perspektiven.

Gefördert durch das Bezirksamt Altona

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