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Liebes Publikum

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Abos

Abos

4 Liebes Publikum,

Theaterintendanten sind manchmal seltsame Vögel, nicht selten überwältigt von ihrer eigenen Bedeutung und der des Theaters. Das sichert ihnen in der Theaterliteratur den Status einer komischen Figur. Vor über 20 Jahren schrieb der skurrile Literaturaußenseiter Gert Jonke die theatrale Phantasie „Es singen die Steine“. Im Reich der Poesie ist eben alles möglich, da können sogar Steine singen. Weil alles möglich ist, darf sich dort ein Theaterintendant nach einer Zeit ganz unpandemischer Theater- und Büchereischließungen in eine aberwitzige Phantasterei hochschrauben und von seinem Publikum schwärmen, das durch Kulturverzicht fast verrückt und irre geworden sei. Vor die Wahl zwischen Buch und Wurst gestellt, entscheiden sich die Menschen hier natürlich gegen die Wurst und für das Buch! Für geistige Nahrung statt Ernährung! Ja, mehr noch: Sie wollen lieber ausgemergelt, aber mit klarem Kopf leben als fettleibig und mit einschrumpfendem Hirn! Und so geht es immer weiter: Eine Theaterkarte ist ihnen deutlich wichtiger als ein neues Hemd, und wenn alle Stricke reißen, verzichten sie auch noch auf das Hemd und sitzen sogar halbnackt im Zuschauerraum – so die Phantasie dieses wahnwitzigen Theaterintendanten…

Nun denn ….????.....????? ….. ????? ……????.....???????......???....

Wir freuen uns auf Sie, wenn wir uns – alle etwas durchgeschüttelt, aber vielleicht dann doch „weder ausgemergelt noch halbnackt“ – wiedersehen und der Satz „Wir kennen uns vom Sehen!“ wieder stimmig wird. Wenn das Leben in der Stadtgesellschaft wieder losgeht und wir uns gemeinsam auf die Suche nach neuer Lebensfreude machen: Leben, Lieben, Feiern, Arbeiten, Gemeinschaft suchen – viel mehr brauchen wir nicht, das aber unbedingt. Und die Kunst: Als Spiegel zu dem, was wir sind, was wir leben und erleben – ästhetische Bewältigung von Welt. In Geschichten und Erzählungen. Im Erzählen und Erinnern bleibt zurück, was das Leben nicht halten kann. Es sind Geschichten gegen unsere Vergänglichkeit, gegen den Tod. Insofern ist das Theater eine Feier des Lebens.

Ich freue mich, wenn unser großes Repertoire wieder gezeigt werden kann, ich freue mich aber auch auf viele neue Projekte – soviel Neues gab es ja noch nie! Ich freue mich z.B. auf Dostojewskijs „Der Idiot“, der wie ein naives Kind an das Gute glauben will – eine vollkommen altmodisch-überholte, „uncoole“ Idee, dieses „Gute“, und doch Zielpunkt von gesellschaftlicher wie persönlicher Sehnsucht

nach einer Zeit der Verheerungen. Ist es möglich, das Schöne und das Gutsein als gesellschaftliches Experiment noch einmal neu zu denken? Ist es lächerlich, an diese Möglichkeit zu glauben? Die Aufrichtigkeit dieser „Idiotisch“-kindlichen Figur bricht sich an einer Welt, in der bei Dostojewskij das Humankapital zum reinen Geschäft geworden ist.

Einer der künstlerisch schönsten Momente in dieser eher freudlosen Zeit ereignete sich übrigens, als Barbara Nüsse als altersloses Pippilotta-Kind auf den „Eisernen Vorhang“ des Thalia in riesigen Lettern „Villa Kunterbunt“ schrieb. Und dann nach einem kleinen, aber wichtigen Augenblick der Besinnung noch ein Herz statt eines Punktes auf das i kringelte. Ja, dachte ich bei mir, so kann alles gut werden, wenn die Welt als Bühne und die Bühne als Welt wieder ein bisschen eine Villa Kunterbunt werden darf, mit der Kindlichkeit des Spiels, mit Kunst und Leben, mit Herz und Hirn, so wie auch bei Albert Camus nach der „Pest“ das Leben wieder losgeht… JETZT!

Joachim Lux

„Auf allen Plätzen wurde getanzt. Der Verkehr hatte von einem zum anderen beträchtlich zugenommen, und die zahlreicher gewordenen Autos kamen in den überfüllten Straßen nur mühsam vorwärts. Die Glocken der Stadt läuteten den ganzen Nachmittag mit aller Kraft. Mit ihren Schwingungen erfüllten sie den blaugoldenen Himmel. In den Kirchen wurden nämlich Dankgebete gesprochen. Aber zur gleichen Zeit waren die Vergnügungsorte zum Bersten voll, und in den Cafes wurde unbekümmert um die Zukunft der letzte Alkohol ausgeschenkt. An den Schanktischen drängte sich eine gleichermaßen erregte Menschenmenge, darunter viele eng umschlungene Paare, die sich nicht vor Zuschauern scheuten. Alle schrien oder lachten. Den Vorrat an Leben, den sie während der Monate angelegt hatten, da ihr Lebensflämmchen noch ganz niedrig brannte, gaben sie an dem einen Tag aus, der wie der Tag ihres Überlebens war. Am nächsten Tag würde das eigentliche Leben mit seiner Vorsicht anfangen. Im Augenblick verbanden sich die Leute sehr verschiedener Herkunft und tranken Brüderschaft.“ Albert Camus: Die Pest, 1947

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