Programmheft KLANG DER ZEIT

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Klang der Zeit

Festkonzert zur Eröffnung des RUN

Unsere Identität basiert auf der Wahrnehmung von Raum und Zeit. Doch was wäre, wenn Zeit in Wirklichkeit nicht „vergeht“, wenn Gegenwart und Vergangenheit nur ein Konstrukt unserer Vorstellung sind? Neueste Forschungen im Bereich der Quantentheorie offenbaren ein überraschendes Bild von unserer Realität.

Im Rahmen der Eröffnung des Regensburger Zentrums für ultraschnelle Nanoskopie (RUN) begeben sich die Universität und das Philharmonische Orchester Regensburg auf Spurensuche in den Mikrokosmos unserer Existenz. Philosophische Fragen und wissenschaftliche Erkenntnisse werden musikalisch erlebbar. Gemeinsam fragen wir: Was ist Zeit und wie könnte sie klingen?

In Kooperation mit dem Graduiertenkolleg 2905 „Ultraschnelle Nanoskopie“ und dem Sonderforschungsbereich 1277 „Emergent relativistische Effekte in kondensierter Materie“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Klang der Zeit

FESTKONZERT ZUR

ERÖFFNUNG DES RUN

Dirigent

GMD Stefan Veselka

Konzept

Pia-Rabea Vornholt

Prof. Dr. Rupert Huber

Videodesign

Dr. Markus Huber & Sven Stratmann

Moderation

Pia-Rabea Vornholt

Wissenschaftliche Mitwirkung

Prof. Dr. Rupert Huber

Prof. Dr. Jascha Repp

Prof. Dr. Christine Ziegler

Solistinnen & Solisten

Carlos Araújo, Yui Iwata-Skweres, Armand Fauchere, Susanne Strelow, Balint Földi & Lukas Zeilinger

Philharmonisches Orchester

Regensburg

8.5.2024

Audimax

Programm

GYÖRGY LIGETI (1923–2006)

POÈME SYMPHONIQUE für 100 Metronome

RICHARD STRAUSS (1864–1949)

ALSO SPRACH ZARATHUSTRA (Sonnenaufgang)

RICHARD WAGNER (1813–1883)

Vorspiel zu PARSIFAL

JOHN ADAMS (*1947)

SHORT RIDE IN A FAST MACHINE Fanfare für Orchester

PAUSE

RICHARD STRAUSS

ALSO SPRACH ZARATHUSTRA (Der Genesende) (Auszug)

JOHN ADAMS

TROMBA LONTANA

Fanfare für Orchester

TOMASZ SKWERES (*1984)

CLOSE-UP für Flöte, Bassklarinette, Violine, Violoncello & Zuspielung

Uraufführung der Neufassung | Auftragswerk

JOHN CAGE (1912–1992)

4’33

TOMASZ SKWERES

IMPROVISATION ÜBER EIN THEMA DES BOLÉRO

Uraufführung | Auftragswerk

MAURICE RAVEL (1875–1937)

BOLÉRO

Wie klingt Zeit?

PIA-RABEA

VORNHOLT

„Zeit ist, was die Uhr anzeigt.“ Dieser zunächst sehr simpel klingende Satz Albert Einsteins war ein Ergebnis jahrzehntelanger Forschung über die Beschaffenheit von Raum und Zeit. Seit der Antike hat das Phänomen der Zeit nicht nur die Philosophie und die Wissenschaft fasziniert, sondern auch die Kunst, allen voran die Musik. Schließlich scheint in ihrem ewigen Fließen ein noch unbekanntes Geheimnis über unsere menschliche Existenz verborgen zu sein. Der Philosoph Aristoteles sagte, die Zeit sei das Maß der Veränderung. Und tatsächlich ist es genau das, was wir heute sicher wissen und was auch in Einsteins Worten steckt: Die Zeit ist eine Aufeinanderfolge von Zuständen, eine Entität, die sich genau messen lässt – sogar akribisch genau. Ihr Verlauf lässt sich sowohl mit dem Sekundenzeiger als auch mit dem periodischen Ticken eines Metronoms erfassen, das uns in der Musik das „Tempo“ vorgibt. Wie „schnell“ die Zeit vergeht, ist dabei in jeglicher Form relativ. Ähnlich wie in György Ligetis POÈME SYMPHONIQUE schwingt jedes kleinste Teilchen im Universum in seinem ganz individuellen Takt. Auch psychologisch ist die Zeit ein relativer Begriff: In Wagners Oper PARSIFAL sagt Parsifal: „Ich schreite kaum, doch wähn’ ich mich schon weit“, und Gurnemanz antwortet: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“ Ein Moment wird zur erlebten Ewigkeit. Der Verlust eines Zeitgefühls gelingt Richard Wagner musikalisch durch eine

RHYT HM ISC H ER SOG

VOM QUAN T EN

RAUSC H EN

INSPIRIER T

Überlagerung mehrerer langsamer Metren sowie eine zyklische Modulation durch alle zwölf Tonarten. Doch wie könnte es klingen, wenn wir einmal tatsächlich in den Mikrokosmos hineinzoomen würden? Die Quantenphysik offenbart uns: Die Materie besteht aus winzigen Elementarteilchen und kleinsten Energieportionen, die sich rasend schnell bewegen. Nichts ist statisch. Um dies als Menschen zu erforschen, bedarf es ultraschneller Mikroskope, solche wie sie zukünftig im RUN betrieben werden. Die Frage, wie Schnelligkeit und vor allem Beschleunigung klingen könnte, hat sich der amerikanische Avantgarde-Komponist John Adams gestellt: Die Orchesterfanfare SHORT RIDE IN A FAST MACHINE gehört zu seinen berühmtesten Werken im post-minimalistischen Stil. Der rhythmische Sog entsteht nicht zuletzt durch die – für den Minimalismus typische – loopartige Wiederholung einzelner Melodiezellen. Dem durchgehenden Schlag des Holzblocks setzen das Blech und die tiefen Streicher sich verschiebende, rhythmische Motive entgegen. Ein ähnlich pulsierendes – nur deutlich subtileres – Kontinuum kreiert John Adams in seinem im selben Jahr 1986 komponierten Werk TROMBA LONTANA . Das stetige Ticken von Klavier, Harfe und Perkussion zusammen mit harmonischen Überlagerungen suggerieren einen Klangrausch, aus dem sich schließlich die Melodie zweier Solo-Trompeten hervorhebt. So werden auch im RUN einzelne zu analysierende mikroskopische Teilchen aus dem scheinbar chaotischen Gesamtsystem herausgegriffen. Die Frage, wie das „Quantenchaos“ klingen könnte, stellt sich der zeitgenössische Komponist Tomasz Skweres ganz unmittelbar in seinem Kammerstück CLOSE-UP . Die vier Soloinstrumente Flöte, Bassklarinette, Violine und Violoncello kombiniert mit einer vom Quantenrauschen inspirierten Zuspielung

DIESES S T ÜCK IST VOLLER KLANG

erkunden darin die imaginativen Klangwelten innerhalb eines Atoms. Sowohl musikalisch als auch grundsätzlich quantenphysikalisch stellt sich die Frage: Agiert im Mikrokosmos der reine Zufall oder folgen die Einzelprozesse doch einem gewissen System, das sich unserer Wahrnehmung entzieht? Ist das Chaos der Urspung unserer Existenz, aus dem alles hervorgeht, so wie es aus dem Kontra-C in den Bässen zu Beginn von Strauss' berühmtem Sonnenaufgang aus ALSO SPRACH ZARATHUSTRA frei nach Friedrich Nietzsche anzuklingen scheint? Das Spiel mit Zufall und Determinismus findet seinen musikalischen Ausdruck unmittelbar in György Ligetis POÈME SYMPHONIQUE . Den Formgedanken dieser 100 individuell tickenden Metronome beschreibt der österreich-ungarische Komponist selbst als „Wechselspiel zwischen individuellen determinierten periodischen Rhythmen und einer zusammengesetzten, polyrhythmischen Gesamtstruktur“. Obwohl die Addition der verschieden langen Einzelperioden zufällig geschieht, ist die zeitliche Entfaltung der Gesamtform determiniert. Diese sogenannte experimentelle Musik fand vor allem in den Kompositionen des Amerikaners John Cage in den 50er- und 60er-Jahren ihren Höhepunkt. In seinem berühmtesten Werk 4’33 wird die Stille beziehungsweise der Raum selbst zur Musik. Cage sagte dazu: „Dieses Stück ist nicht wirklich still. Es ist voller Klang, aber Klänge, an die ich vorher nicht dachte und die ich wie die anderen zum ersten Mal höre.“ Inspiriert vom Zen-Buddhismus sei das, was wir hören, bestimmt von unserer eigenen Leerheit. Alles kann aus dem Nichts entstehen. Die Überzeugung der antiken und post-idealistischen Philosophie, dass es in diesem Sinne den leeren Raum nicht gebe, bestätigt auch die Quantenphysik. Diese sagt auch: Prozesse scheinen dem Prinzip der größten Wahrscheinlichkeit zu folgen. Durch Kopplung und Syn-

chronisation findet der Mikrokosmos seine Ausprägung in unserer makroskopischen Welt. Auch in Maurice Ravels BOLÉRO finden solche Kopplungen sowohl rhythmisch als auch melodisch statt: Nach Melodie-Dopplungen im Unisono bringt schließlich eine Ü berlagerung von Tonarten völlig neuartige Klangfarben hervor. Und erinnert daran, dass die Fantasie unserer makrokosmischen Welt genau in diesem Prinzip ihren Ursprung hat: der Komplexität. Dies alles bringt uns nun wieder zurück zu der Frage nach der Zeit: Wenn man die Zeit über die Bewegung definiert und es keinen Stillstand gibt, dann gibt es auch die Zeit. Und auch wenn philosophisch nicht klar ist, ob man sie für die Beschreibung unserer Realität wirklich braucht, so erleben wir den Verlauf der Zeit und den „Klang“ der Zeit in keiner Kunstform so unmittelbar wie in der Musik.

T H ERE IS NO SUC H T HING AS

AN E M PTY SPACE OR AN EMP T Y TI M E
IN FAC T TRY AS WE M AY T O M AKE A SILENCE WE CANNO

Danksagung

MITWIRKUNG BEI KONZEPTION UND IDEEN

Prof. Dr. Klaus Richter, Universität Regensburg

Prof. Dr. Ferdinand Evers, Universität Regensburg

Prof. Dr. John Lupton, Universität Regensburg

Ronny Scholz, Theater Regensburg

Tomasz Skweres, Theater Regensburg

ZEITLUPENFILM

Dr. Stephan Giglberger, Universität Regensburg

Michael Hornung, Universität Regensburg

Carmen Roelcke, Universität Regensburg

RASTERTUNNELMIKROSKOPIE

Prof. Dr. Jascha Repp, Universität Regensburg

Arbeitsgruppe Prof. Dr. Jascha Repp

Sean Schröder (Laboraufnahmen)

PHOTONENEXPERIMENT

Dr. Frank Vewinger, Universität Bonn

Tobias Inzenhofer, Universität Regensburg

Svenja Nerreter, Universität Regensburg

GEKOPPELTE METRONOME

Matthias Heinl, Universität Regensburg

Philipp Weißenberger, Universität Regensburg

Ignaz Laepple, Universität Regensburg

VIDEOEINRICHTUNG & INSPIZIENZ

Dr. Markus Huber, Universität Regensburg

Anna Schaller, Theater Regensburg

Wolfgang Frauendienst, Theater Regensburg

TECHNIK LIVE-EXPERIMENTE

Katharina Glöckl, Universität Regensburg

Simon Anglhuber, Universität Regensburg

Michael Aschenbrenner, Universität Regensburg

NIC H TS KANN

EXIS T IEREN

O H NE C H AOS

RUN

Das Regensburger Zentrum für Ultraschnelle Nanoskopie ermöglicht bahnbrechende Einblicke in den Mikrokosmos der uns umgebenden Materie. Weltweit einzigartige mikroskopische Zeitlupenkameras, wie ein jüngst in Regensburg entwickeltes Lichtwellen-Rastertunnelmikroskop, zeigen erstmalig direkt die ultraschnelle Bewegung von Elektronenorbitalen in Raum und Zeit. Eine solche „Quantenvideographie“ erlaubt es, unsere Welt gleichzeitig auf Längen- und Zeitskalen zu betrachten, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Basierend auf den Gesetzen der Quantenmechanik könnten Prozesse beobachtbar werden, die allein durch bloßes Zuschauen wesentlich verändert werden, die scheinbar in der Zeit rückwärts laufen oder keine eindeutige Zeitordnung besitzen. Die Erkenntnisse, die im RUN über den Mikrokosmos in Bewegung gewonnen werden, sollen den Weg für Quanten-, Bio- und Nanotechnologien von morgen ebnen.

S T EFAN VESELKA

DIRIGENT

Stefan Veselka gilt als einer der erfolgreichsten norwegischen Künstler seiner Generation. Er studierte Klavier am Salzburger Mozarteum und an der HdK in Berlin. Auftritte als Pianist sowie als Kammermusiker führten ihn in fast alle europäischen Länder, nach Japan und in die USA. Als Dirigent gastierte er europaweit, zuletzt u. a. an den Opernhäusern Dijon und Caen sowie an der Oper Oslo. Von 2014 bis 2021 war er stellvertretender GMD und 1. Kapellmeister am Theater Münster, zuvor war er in selber Position am Stadttheater Bremerhaven engagiert. Er war zudem Kapellmeister am Badischen Staatstheater Karlsruhe und an den Schleswig-Holsteinischen Landesbühnen. Er ist regelmäßiger Gastdirigent an der Opera Zuid. Von 2021 bis Juni 2023 war Stefan Veselka Professor für Orchester und Ensembleleitung an der HfK Bremen. Seit der Spielzeit 23/24 ist er Generalmusikdirektor des Theater Regensburg. In dieser Spielzeit übernimmt er u. a. die musikalische Leitung der deutschen Uraufführung der Oper VALUSCHKA von Peter Eötvös, der deutschen Erstaufführung der Operette DER PRINZ VON SCHIRAS von Joseph Beer und Antonín Dvořáks RUSALKA .

Impressum

BILDNACHWEIS

Coverbild © Brad Braxley, PtW | Stefan Veselka © Oliver Berg

TEXTNACHWEISE

Die Texte sind Originalbeiträge für diese Publikation.

Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

SPIELZEIT 23/24

VORSTAND

Intendant Sebastian Ritschel

Kaufmännischer Direktor Dr. Matthias Schloderer

REDAKTION

Pia-Rabea Vornholt

CORPORATE DESIGN

klein,laut

SATZ

Nina Reiß

HERAUSGEBER

Theater Regensburg | Anstalt des öffentlichen Rechts

Kommunalunternehmen der Stadt Regensburg

Bismarckplatz 7 | 93047 Regensburg

Das Theater Regensburg wird durch die Stadt Regensburg und den Freistaat Bayern gefördert.

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