Wir haben es einfach gemacht!
Reisen in internationale Theaterwelten
Herausgegeben von Siegmar Schröder und Henning Fülle
Geschichten und Biografisches aus 40 Jahren Theaterlabor Bielefeld
Theater der Zeit
Wir haben es einfach gemacht!
Dieses Buchprojekt wurde gefördert von der Kunststiftung NRW.
Mit finanzieller Unterstützung durch den Landschaftverband Westfalen-Lippe und die Sparkasse Bielefeld.
Dank an die Fotograf*innen für die unentgeltliche Überlassung der Rechte.
Wir haben es einfach gemacht!
Reisen in internationale Theaterwelten Herausgegeben von Siegmar Schröder und Henning Fülle
Redaktionelle Mitarbeit: Mareike Zimmermann
Siegmar Schröder: Vorwort ...................................................................................................................................................................... 9 Henning Fülle: Einleitung ........................................................................................................................................................................ 10 Kapitel 1 Ein bisschen Romantik war auch dabei – vor der Gründung des Theaterlabors
Zum Auftakt: Henning Fülle und Siegmar Schröder im Gespräch ..............................................................................................13 Siegmar Schröder: Wie alles anfing – Pippo oder die Kunst, vom Stuhl zu fallen .................................................................. 24 Siegmar Schröder: Gaetano Cartolaro – alles für die Katz? ....................................................................................................... 27 Siegmar Schröder: Ingemar Lindhs Bewegungskompositionen ................................................................................................ 28 Gespräch mit Michael Grunert, Theaterlabor Bielefeld ................................................................................................................ 31 Siegmar Schröder: Ausflug nach Italien ......................................................................................................................................... 36 Henning Fülle: Impulse von den Rändern ...................................................................................................................................... 40
Kapitel 2 Aufbrüche in Italien
Siegmar Schröder: Teatro Nucleo ................................................................................................................................................... 45 Gespräch mit Horacio Czertok, Teatro Nucleo .............................................................................................................................. 47 Siegmar Schröder: Cowboy im Café ............................................................................................................................................... 59 Interview mit Robert Jakobsson, Teater Albatross ...................................................................................................................... 60 Gespräch mit Nullo Facchini, Teatret Cantabile 2/Tan Tou.......................................................................................................... 62
Kapitel 3 Quellen des „Dritten Theaters“
Siegmar Schröder: Workshop mit Stanisław Scierski .................................................................................................................. 71 Dariusz Kosińskij, ehemaliger Programmdirektor Grotowski Institut: Von der polnischen Tradition zur weltweiten Avantgarde und darüber hinaus – Jerzy Grotowski .......................................... 73 Eugenio Barba, Odin Teatret: Das Dritte Theater ........................................................................................................................... 79 Richard Gough, Centre for Performance Research: Back of Beyond.......................................................................................... 81
Kapitel 4 Selbstermächtigung zur widerrechtlichen Ausübung der Schauspielkunst
Siegmar Schröder: Die Gründung des Theaterlabors ................................................................................................................... 91 Siegmar Schröder: Paratheater im Wald von Brzezinka .............................................................................................................. 93 Gespräch mit Rolf Michenfelder, Theater neben dem Turm ....................................................................................................... 95 Elisabeth Bohde, Theaterwerkstatt Pilkentafel: Europäisches Theater? ................................................................................. 105 Henning Fülle: Das Theaterlabor als Selbstermächtigung......................................................................................................... 111
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Kapitel 5 Home and Away – die Entstehung des internationalen Festival- und Koproduktionsnetzwerks
Gespräch mit Danièle Marty, Compagnie du Hasard ................................................................................................................. 117 Siegmar Schröder: Koproduktion mit Brith Gof .......................................................................................................................... 127 Mike Pearson, Brith Gof: The Disasters of War – Arminius ...................................................................................................... 129 Siegmar Schröder: Die ISTA und Tor 6 ......................................................................................................................................... 133 Siegmar Schröder: Die große Zäsur und die Prager Connection ............................................................................................. 135 Gespräch mit Linnea Happonen, Krepsko ................................................................................................................................... 139 Siegmar Schröder: The Last Hours ............................................................................................................................................... 144 Henning Fülle: Verdichtung von der Bewegung zur Institution ................................................................................................. 149
Kapitel 6 Weiterbildung und Pädagogik
Gespräch mit Teresa Nawrot, Reduta Berlin ............................................................................................................................... 153 Gespräch mit Margaret Pikes, Roy Hart Theatre ........................................................................................................................ 165 Gespräch mit Walter Ybema, Theaterassoziation Frankfurt ..................................................................................................... 171 Siegmar Schröder: Das Theaterlabor und die Pädagogik ......................................................................................................... 176 Tilman Rhode-Jüchtern: Europa wird gemacht – ein Bottom-up-Projekt .............................................................................. 179
Kapitel 7 Internationales Erfahrungsfeld
Siegmar Schröder: Die Zeit der Festivals ......................................................................................................................................185 Siegmar Schröder: Banff und Sundance .......................................................................................................................................187 Gespräch mit Michel Jaquelin, Association Arsène ................................................................................................................... 190 Gespräch mit Michelle Thrush, Making Treaty Seven ................................................................................................................ 195 Gespräch mit Leo Bassi .................................................................................................................................................................. 199 Henning Fülle: Internationale Vernetzung, Kooperation und Koproduktionsnetzwerke........................................................ 210
Kapitel 8 Zwillinge und Wegbegleiter Gespräch mit Denise Clarke, One Yellow Rabbit ......................................................................................................................... 215 Siegmar Schröder: Ein Mann mit Hut und Cowboystiefeln – Michael Green ........................................................................ 223 Siegmar Schröder: Begegnung mit Ismael Ivo ............................................................................................................................ 227 Siegmar Schröder: Das Blaue Theater in Belgrad ....................................................................................................................... 228 Nenad Čolić, Plavo Pozorište: Brief an einen Freund ................................................................................................................. 231 Marcin Herich, Teatr A Part: Von Katowice nach Bielefeld ....................................................................................................... 237 Dijana Milošević, Dah Teatar: Leben in einem Atemzug ............................................................................................................ 243
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Gespräch mit Axel Tangerding, Meta Theater ............................................................................................................................. 247 Gespräch mit Heiki Ikkola, Societaetstheater/Compagnie Freaks und Fremde .................................................................... 250 Henning Fülle: Paradigmenwechsel der 1990er Jahre .............................................................................................................. 254 Kapitel 9 Mit einem Bein im Gefängnis – kulturpolitische Perspektiven
Siegmar Schröder: Der Zweck heiligt die Mittel .......................................................................................................................... 257 Hans-Joachim Wagner: Arbeiten im internationalen Kontext – das Theaterlabor Bielefeld und die Kunststiftung NRW .. 259 Siegmar Schröder: Das Theaterlabor und die Immobilien ........................................................................................................ 262 Gespräch mit Fritz Achelpöhler, ehemaliger Kommunalpolitiker ............................................................................................. 263 Gespräch mit Andreas Kimpel, ehemaliger Kulturamtsleiter in Bielefeld ............................................................................... 265 Henning Fülle: Kulturpolitischer Ausblick .................................................................................................................................... 271
Kapitel 10 Lebenswerke
Gespräch mit Angelika Göken, Theaterlabor Bielefeld ............................................................................................................... 273 Siegmar Schröder: Was bewegt .................................................................................................................................................... 281 Siegmar Schröder: Koproduktionen mit Yoshi Oida ................................................................................................................... 282 Gespräch mit Yoshi Oida ................................................................................................................................................................ 283 Gespräch mit Eugenio Barba, Odin Teatret .................................................................................................................................. 290 Siegmar Schröder: Die Jubiläen des Odin Teatret ...................................................................................................................... 299 Gespräch mit Duccio Bellugi-Vannuccini, Thêatre du Soleil ..................................................................................................... 301
Kapitel 11 Was bleibt? Was wird?
Siegmar Schröder: Es gibt ein internationales Leben nach dem Theaterlabor ..................................................................... 307 McArthur Matukuta, Easter Theatre Festival: Für nachhaltigen Wohlstand – meine Austauscherfahrungen ................. 311 Zum Schluss: Siegmar Schröder und Henning Fülle im Gespräch .......................................................................................... 312
Anhang
Zeittafel der internationalen Arbeiten Siegmar Schröders/Theaterlabor Bielefeld ............................................................... 319 Personenregister .............................................................................................................................................................................. 331 Weiterführende Links ...................................................................................................................................................................... 345
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Theaterlabor, No. 2 Absurdesque, 2017
Siegmar Schröder: Vorwort Liebe Leserinnen und Leser!
Wir möchten Sie gerne auf eine europäische Theaterreise mit kleinen Abstechern nach Übersee mitnehmen, die wir anlässlich des 40-jährigen Gründungsjubiläums des Theaterlabor Bielefeld unternehmen. Viele Beiträge, Gespräche und Interviews beleuchten die internationale Szene, in der sich das Theaterlabor bewegt hat, aus verschiedenen Blickwinkeln. Persönliche und biografische Episoden vermitteln ungewöhnliche Einblicke in dieses internationale Theaterleben der letzten Jahrzehnte und es entsteht ein Gesamtbild des Netzwerks, das keinen Namen hat. Ein Netzwerk der Theater am Rande, das von einer Generation von Theaterschaffenden aufgebaut wurde, die eine Kulturlandschaft mit vielen Spielorten hervorgebracht haben. Während der Arbeit an diesem Buch wurde mir immer mehr der Umfang und die Bedeutung dieser gelebten Kulturarbeit bewusst. Ich hatte manchmal das Gefühl, wie ein Archäologe in meinem eigenen Leben zu graben. Die meisten Fundstücke bezogen sich auf die Anfangszeit, Wander- und Lehrjahre und den Aufbau des eigenen Projekts. Aber auch in den anderen Biografien sind wir auf interessante Geschichten gestoßen: wie wir zu dem wurden, was wir sind.
Viele Protagonist*innen unserer Theaterszene hatten ursprünglich gar nicht den Wunsch, Künstler*in zu werden, aber Faszination und Attraktivität dieses ‚anderen‘ Theaters führte zu einem neuen Verständnis der darstellenden Künste und es betraten viele eigenwillige Menschen die internationalen Bühnen. Es war mir eine große Freude, nun abseits von eng getakteten Theaterprojekten und -festivals viele jener Künstler*innen zu treffen, die mich nachhaltig beeinflusst haben und die wie Weggefährt*innen einen parallelen künst-
lerischen Lebensweg durchlaufen haben. Wir konnten uns mehr Zeit als gewöhnlich für den Austausch und die Reflexion nehmen und dadurch habe ich viele Dinge erfahren, die für mich neu waren. Dieses Buch kann nur einen Teil der internationalen Arbeit ausführen und nur einen kleinen Bruchteil des Gesamtwerks des Theaterlabors darstellen. Es gibt keine strenge Chronologie in diesem Lesebuch, man kann ihm aber wie einem Theaterstück in dem von der Dramaturgie/Regie zugedachten Ablauf folgen.
Fast alle Texte sind eigens für dieses Buch entstanden; die wenigen Ausnahmen sind gekennzeichnet. Die meisten Beiträge und Interviews verwenden im Original das generische Maskulinum, und wir haben das nicht redaktionell korrigiert. Wir können aber versichern, dass bei diesen Passagen immer alle geschlechtlichen Identitäten angesprochen werden. Am Ende des Buches gibt es Verweise auf Artikel und Interviews, die den Weg in diesen Band nicht gefunden haben. Material des ‚Making-of‘ sowie weitere Fotos und Videolinks werden auf der Website: http://theaterlabor.institute zu finden sein. Dort wird in absehbarer Zeit auch ein umfassendes Archiv entstehen. Deaux, Südfrankreich, im Februar 2024
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Henning Fülle: Einleitung Das 1983 von Siegmar Schröder in Bielefeld gegründete Theaterlabor ist eines jener Häuser, die beispielhaft für die Entwicklung der Zweiten Säule der deutschen Theaterlandschaft stehen. Aus einer Sehnsucht nach Veränderung der eingefahrenen Lebensmodelle in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und inspiriert von der Jugendrevolte von 1968 wandten sich gegen Ende der 1970er Jahre eine große Zahl junger Menschen der sogenannten Alternativbewegung zu. Die unternahm es, freiheitlichere, naturgemäßere, sozialere Formen gemeinsamen Lebens und Arbeitens zu erproben, um so ,hier und jetzt‘ die Gesellschaft praktisch und beispielhaft zu verändern.
Kunst und Kultur und vor allem das Theater hatten dabei eine Vorreiterrolle inne. In den USA und in Europa außerhalb Deutschlands waren Projekte entstanden, die auf die Zivlisationskatastrophen des 20. Jahrhunderts reagierten, die radikale Veränderungen von Kunst und Gesellschaft forderten, und mit diesen Veränderungen bei sich selbst begannen: das Teatr Laboratorium Jerzy Grotowskis in Polen, die Truppen Teatro Potlach und Teatro Nucleo in Italien, die Theaterforschungen Peter Brooks und vor allem Eugenio Barbas Odin Teatret standen für das Dritte Theater der Selbstermächtigung, das sich 1976 in Jugoslawien zum BITEF-Festival (Beogradski Internacionalni Teatarski Festival) traf. Hinzu kamen aus den USA das Living Theatre, Bread and Puppet, La MaMa, die Fools aus den Niederlanden und Brith Gof aus Wales – von ihnen allen kamen die internationalen Impulse, denen Siegmar Schröder auf seinem Gründungs- und Entwicklungsweg folgte.
Diesen Weg sind auch viele andere Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland gegangen. In diesem Buch wird er dokumentiert anhand von Interviews und Originalbeiträgen der internationalen Protagonist*innen, mit denen das Theaterlabor in Austausch und Kooperation gestanden hat. Erzählungen, Analysen sowie Anekdoten zeigen die Entwicklung dieses Dritten Theaters:
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von den frühen kulturellen, künstlerischen und politischen Impulsen über die Bewegung, die schließlich auch in Deutschland zur Institutionalisierung des Freien Theaters führte.
Anlass für dieses Buch war nicht so sehr ein Jubiläum, auch wenn im Jahr 2023 für so einige Gründungen der 40. oder sogar der 50. Geburtstag hätte gefeiert werden können. Vielmehr steht die Gründergeneration inzwischen unmittelbar vor der Notwendigkeit, die geschaffenen Strukturen an Nachfolgende aus den Händen zu geben und das künstlerische Erbe zu archivieren. Aus den Diskussionen darüber hat Siegmar Schröder sich entschlossen, seinen Entwicklungsweg aufzuarbeiten und hat mich – als Autor von „Freies Theater. Die Modernisierung der Theaterlandschaft“1 dafür als Mitstreiter gewonnen.
Dieses Buch kann und will nur ein Teil der notwendigen Aufarbeitung der bislang immer noch randständig behandelten Geschichte des ‚anderen‘ Theaters in Deutschland sein. Auf der Website der Theaterwerkstatt Pilkentafel findet sich neben deren Archiv die Dokumentation des Projekts Weggefährten, das auch ein Ausgangspunkt für diese Aufarbeitung war. Weitere Einzelstudien – in welcher Form auch immer – müssen folgen, um das Bild zu vervollständigen und die Bedeutung der zweiten Säule der Theaterlandschaft auch kulturpolitisch ins richtige Licht zu rücken – und nicht zuletzt, um den inzwischen alt gewordenen Protagonist*innen für ihre Lebenswerke die angemessene, verdiente Anerkennung zu erweisen. Ich wünsche ertragreiche und unterhaltsame Lektüre.
Berlin, im Februar 2024
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Henning Fülle, Freies Theater. Die Modernisierung der Theaterlandschaft 1960–2010,
Berlin 2016 (= Theater der Zeit, Recherchen Nr. 125).
Theaterlabor, Kamikaze, 2002
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Ein bisschen Romantik war auch dabei – vor der Gründung des Theaterlabors Zum Auftakt: Henning Fülle und Siegmar Schröder im Gespräch am 6. August 2023 in Berlin Henning Fülle _ Ich möchte einen Blick zurückwerfen und stelle am Anfang die ganz pauschale Frage: Wenn du dir die Geschichte von 40 Jahren Theaterlabor anschaust, was hast du bewirkt?
Siegmar Schröder _ Das ist ja schon die ganz schwierige und auch grundsätzliche Frage: Was kann Theater überhaupt bewirken?
HF _ Diese Frage wollte ich nicht stellen. Führ dir vor Augen: Was hast du bewirkt in diesen 40 Jahren? Du hast dein Leben diesem Projekt ganz offenkundig gewidmet, sehr stark, sehr ausführlich. Was ist die Bilanz des Aufwands, den du da betrieben hast? Der Arbeit, die du da reingesteckt hast? Was ist dabei rausgekommen?
SSch _ Ich fange mal bei mir an. Ich habe ein wirklich erfülltes künstlerisches Leben gehabt und konnte im Prinzip alles umsetzen, was ich an künstlerischen Visionen im Kopf hatte. Das Letzte, was ich noch gerne machen wollte, was bei mir noch auf meiner ‚Visionsagenda‘ stand, war eine große internationale Koproduktion mit verschiedenen Theatergruppen, die wir im Laufe der Jahre kennengelernt hatten. Das haben wir 2018 und 2019 auch noch erleben können. HF _ Welche Produktion war das?
SSch _ Das war The Last Days of Mankind, nach Karl Kraus, Gruppe ohne Namen, Straßentheater, 1979
eine Inszenierung mit Schauspielerinnen und Schauspielern aus der Ukraine, aus Schottland, Frankreich, Serbien und aus Polen. Zusammen mit unserem polnischen Partner, dem Teatr A Part, und unserem Partner in Edinburgh, Leith Theatre, hatten wir dann auch drei Spielorte: Bielefeld, Edinburgh und Katowice, an denen wir diese wirklich große Inszenierung umsetzen konnten. Und wir hatten zweimal eine sehr bekannte Gruppe dabei, The Tiger Lillies. Wir hatten drei wirklich sehr unterschiedliche Inszenierungen, und bei der zweiten in Katowice war ich am glücklichsten, da gab es einen sehr schönen Kontrast zwischen The Tiger Lillies, die das Ganze sehr kabarettistisch aufgezogen haben – so ein bisschen Wienerisch –, und den ziemlich harten, auch abstrakten Bildern, die wir dagegengestellt haben. Das fand ich vom Kontrast her sehr gelungen.
Das ist die Bilanz meines persönlichen Aufwands: persönliche künstlerische Befriedigung. Das ist eben tatsächlich ein zentraler Aspekt, und ich bin da so ehrlich und offen, dass ich das sage. Alles, was ich im Bereich der Kunst kennengelernt habe, hat bei mir Visionen erzeugt. Ich wollte selbst etwas umsetzen und das habe ich dann irgendwie geschafft. Dadurch bin ich eigentlich extrem zufrieden mit meinem Leben, weil ich ganz viel von diesen Projekten umgesetzt habe. Es gibt noch so ein paar Sachen in der Schublade, die ich nicht geschafft
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habe, bei denen ich immer noch denke, da wäre noch ein Projekt. Aber ich hatte schon sehr früh in meinem Leben, mit Anfang 50, das Gefühl, ich hätte mein Lebenswerk eigentlich bereits erbracht.
deine künstlerischen Visionen weitgehend umsetzen können. Du hast aber auch eine Institution geschaffen. Welche Bedeutung hat diese Institutionalisierung der Infrastruktur für die Umsetzung dieser Lebenspraxis?
SSch _ Diese Vision hat sich im Laufe der Zeit entwickelt. Anfangs war sie noch nicht greifbar. Ich hätte sie nicht formulieren können. Aber es war eine Ansammlung von verschiedenen Aspekten, unter anderem tatsächlich sehr praktischer Natur, wie man Körpertraining, eine über die Grenzen gehende Körperarbeit umsetzen kann, nicht nur für mich selbst als Schauspieler, sondern auch in dem Zusehen, wenn Leute eine ganz starke körperliche Präsenz auf die Bühne bringen. Der zweite Aspekt sind natürlich auch die Ästhetiken, die ich gesehen habe, die mich total angefixt haben, und die vielen Möglichkeiten, ein ganz eigenes Spiel mit dem Publikum zu entwickeln. Und der dritte Aspekt sind Experimente im eigenen Raum des schauspielerischen Handelns und Experimente wiederum mit Zuschauer*innen an verschiedenen Orten und auch thematisch, um ganz spezifische Produktionen zu entwickeln. Das hat sich im Zeitraum bis 1983 ergeben. Da gab es eine Grundlage, deswegen kam ich ja auf die Idee, eine eigene Gruppe aufzumachen. Ohne diese Art von grundlegender Vision wäre ich nicht nach Bielefeld zurückgekommen.
Die zweite Sache ist natürlich die Infrastruktur und die Institution selbst, die man geschaffen hat. Das ist insofern wenigstens schön, als es materiell vorhanden ist. Das kann man bespielen, das ist real, das funktioniert. Materiell haben wir einen sehr schönen Theaterraum in Bielefeld, der weiterhin benutzt wird und auch für andere kulturelle Zwecke bespielt werden kann. Da bin ich schon stolz darauf, dass ich auch die Architektur, die Einrichtung mitgestaltet habe, den ganzen Umbau, dass wir das gemeinsam so gebaut haben.
HF _ Ich gehe noch mal einen kleinen Schritt zurück. Du hast gesagt, du hast weitgehend deine künstlerischen Visionen umsetzen können. Ich versuche zu rekapitulieren: Wie hast du deine Theaterarbeit begonnen? Über deine Anfangszeit sprichst du sehr stark im Sinne von Zufälligkeit, von Kontingenz und von sehr elementaren körperlichen Interessen und Wünschen, von Entgrenzung, Überschreiten von Regeln und Experimenten. Sind die künstlerischen Visionen daraus erst entstanden? Oder hast du Dinge gesehen, Beispiele gesehen in Italien oder sonst wo, die dich angeregt haben? Ich befrage hier an der Stelle noch mal den Begriff der künstlerischen Vision, ob das tatsächlich der Ausgangspunkt dieser Lebenspraxis gewesen ist oder ob es da eine Differenz gibt.
HF _ Okay. Die Frage war, was hast du bewirkt? Du hast also
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SSch _ Ich glaube, dass es in Bezug auf künstlerische Hinterlassenschaft wesentlich schwieriger zu greifen ist, was ich bewirkt habe. Natürlich könnte man jetzt noch mal sehen, welche Zuschauer sich noch an welche Stücke erinnern und was sie für sie persönlich bewirkt haben, da wird es sicherlich auch viele sehr positive Rückmeldungen geben. Dennoch bleibt es ungreifbar, was man tatsächlich bei den Interaktionen mit den Menschen, mit dem Publikum bewirkt hat. Das ist ganz schwierig zu fassen und vielleicht auch ein großes Problem bei der weiteren Tradierung dieser Arbeit, bei der Archivierung. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, die lebendig und wahrhaftig etwas von dem abbildet, was damals in den Aufführungssituationen geschah?
HF _ Was würde passieren, wenn jetzt irgendjemand auf die Idee käme und sagen würde: Wir nennen eine Straße nach Siegmar Schröder? Oder den Platz, an dem das Theater ist? Oder das Theater? Der hat so viele Verdienste erworben, hat quasi sein halbes Leben da reingesteckt und das alles entwickelt und geschaffen. Dem wollen wir jetzt eine Repräsentanz geben, damit er im öffentlichen Gedächtnis der Stadt verankert ist. SSch _ Das wird definitiv nicht passieren. HF _ Warum nicht?
SSch _ Das passiert deswegen nicht, weil ich mich niemals in irgendeiner Weise so in die Stadtgesellschaft eingegliedert habe, dass ich ein wichtiger Repräsentant geworden wäre. Wir waren immer Außenseiter. Wir wurden auch viele Jahre total missachtet und nicht in die etablierte Kulturszene in Bielefeld aufgenommen. Auch deswegen gab es erst nach 36 Jahre langem Kampf überhaupt zum ersten Mal einen vernünftigen Betriebskostenzuschuss und einen Mietvertrag, der das Ende eines aufwendigen Etablierungsprozesses widerspiegelt. Aber genau das war schon der Zeitpunkt, an dem ich mich verabschiedet hatte. Ich hatte es geschafft, dass wir etabliert waren. Aber es war nie so, dass wir in irgendeiner Weise dort geliebt wurden und enge Beziehungen hatten. Der Standort ist für mich sehr stark eine Zweckgeschichte gewesen. Bielefeld hat sehr gut funktioniert, von der Größenordnung der Stadt mit der Universität und dem ganzen kulturellen Umfeld. In den 1980er Jahren wurden dort viele Projekte initiiert und wir fanden die Menschen, mit denen wir sehr lange in einer Gruppe arbeiten konnten. Wir konnten ein sehr gutes Publikum bilden, wir hatten ein Umfeld von ca. 2.000 Leuten, die das Theater immer wieder besuchten.
HF _ Gehen wir mal weg von der individuellen Perspektive. Ich stelle die Frage noch mal: Das Theaterlabor ist Bestandteil einer größeren kulturellen Bewegung jener Jahre gewesen. Wenn du jetzt mal über den Tellerrand von Bielefeld hinausguckst auf die Bundesrepublik – auf Westdeutschland wahrscheinlich erst mal nur –, was hat für dein Empfinden die Bewegung bewirkt, diese Theaterbewegung? Ihr wart ja nicht alleine. Das Weggefährten-Projekt hat einiges gezeigt, doch auch weit darüber hinaus. Wie würdest du das beschreiben? Welche Bedeutung hatte die Bewegung des Freien Theaters, was hat sie bewirkt aus der Perspektive von heute?
SSch _ Wir waren tatsächlich gar nicht so stark in diese deutsche Bewegung eingebunden. Wir hatten unseren Fokus ganz klar auf internationaler Vernetzung und hatten da unsere Bezugspunkte, bei denen wir wussten, da wird sehr starkes Theater gemacht, woran wir uns orientieren wollten. Wir hatten im Ausland andere befreundete Theater gefunden, mit
denen wir sehr viele Jahre immer wieder im Austausch standen. Dort fühlten wir uns als Bestandteil einer internationalen Theaterbewegung. In Deutschland war das deutlich weniger, bis auf ganz wenige, mit denen wir ab und zu auch etwas gemacht haben. Es gab aber nicht diese Art von Überschneidung, dass wir uns jetzt künstlerisch so angezogen gefühlt hätten, sondern es waren Theatergruppen, die ähnlich wie wir auf der Suche nach ihrer eigenen Stärke waren. Es gab also eine parallele Entwicklung. Insofern sind wir schon Weggefährten, weil wir etwas parallel gemacht haben: in der Recherche und auf der Suche nach dem eigenen Stil und so weiter. Wir haben uns jedoch nicht als gemeinsame Bewegung verstanden. Deswegen ist auch der internationale Aspekt im Buch so stark, weil es das eigentlich ist, was uns ausgemacht hat. Daher kam unsere Qualität, auch die ästhetischen und methodischen Vorbilder. HF _ Hat sich da so etwas wie eine ‚Blase‘ gebildet – ob jetzt national und international sei dahingestellt –, die so vor sich hin gearbeitet und gewirkt hat und ansonsten nicht viel Außenwirkung entfaltet hat? Würdest du das so beschreiben?
SSch _ Es gab auch diesen Aspekt. Zwischendurch wurde gemutmaßt, dass es sich bei uns um eine Sekte handele. Manchmal gab es Fragen: Was macht ihr denn mit diesen internationalen Gruppen? Da sind ja nur wirklich wenig Zuschauer. Und was macht ihr eigentlich bei diesen Austauschprojekten?
Es gab tatsächlich Arbeiten, die wir für uns und ein kleines, besonders interessiertes Publikum gemacht haben. Aber wir hatten erkannt, dass wir als Freies Theater auch eine Beziehung zur Stadtgesellschaft herstellen mussten, und so begannen wir mit soziokultureller Arbeit in unserem Umfeld. Dort gab es eben nicht nur Zuschauer, die zu irgendwelchen abgefahrenen Theateraktionen mit internationalen Theatern kamen, sondern auch Leute, die in der Nähe wohnten, die sich in kulturellen Vereinen betätigten, mit denen wir zusammen Aktionen machen konnten. Kulturelle Bildung nennt man das heute. Wir haben tatsächlich mit kleineren Stadtteilfesten angefangen und verschiedene Spielformen entwickelt, bei denen
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wir unterschiedliche Leute mit einbeziehen konnten. Das hat sich dann noch einmal weiterentwickelt zu riesigen, spektakulären Aufführungen, bei denen wir teilweise bis zu 500 Personen mit einbezogen, auf irgendeinem großen Platz in der Innenstadt zu spielen – nicht nur in Bielefeld, sondern auch in Osnabrück, Lemgo, Minden … Große, spektakuläre Inszenierungen, die teilweise auch an der Stadtgeschichte orientiert waren. Das heißt, es gab also einen wichtigen Zweig unserer Arbeit, der eine Vernetzung innerhalb der gesamten Region bewirkte.
Das Internationale war für uns ein zentraler Aspekt, aber wir konnten uns nicht nur allein darauf konzentrieren. Das wäre bei der Größe und Bedeutung der Stadt nicht gegangen, dann hätten wir die Verankerung innerhalb der Stadtgesellschaft nicht hinbekommen. Deswegen sind wir immer zweigleisig gefahren. Die Straßentheaterstücke, die wir entwickelt haben, waren natürlich nicht nur international tourfähig. Auch in der Umgebung, vor allem in Nordrhein-Westfalen, gab es damals eine Vielzahl von Städten, die Kultur ‚umsonst und draußen‘ anboten und sehr viele Theater eingeladen haben. In den 1990er Jahren war das wirklich ein sehr großer Markt, wo man sogar auch tatsächlich Geld verdienen konnte und wo wir sehr viel Öffentlichkeitswirksamkeit hatten. Und dazu kamen die Projekte, bei denen verschiedene Institutionen in die Arbeit einbezogen wurden, das gehörte eigentlich auch immer dazu. Dass wir nicht als exotische Insel innerhalb der Stadt erschienen. Dadurch konnten wir auch zumindest einige Renovierungsgelder für das erste Haus einwerben und merkten, dass es auch Politiker gab, die auf unserer Seite waren, nicht unbedingt im Kulturausschuss, aber andere, die gesehen haben: Oh, da wird eine wichtige soziokulturelle Arbeit gemacht. Über diese Schiene kamen wir letztlich zu unserem zweiten Theaterhaus: dass wir das große Gebäude auch renovieren, umbauen und bespielen durften. Im Prinzip hat sich die Arbeit innerhalb der Stadtgesellschaft so bezahlt gemacht.
HF _ So wie du das jetzt geschildert hast, komme ich auf die Idee zu fragen: Ist möglicherweise das zentrale Kriterium, das das Freie Theater vom deutschen Stadt- und Staatstheater
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unterscheidet, dass ihr sagt: Wir machen das für uns. Wir machen es dann öffentlich, aber die Impulse sind zuerst inhaltlich und formal unsere. Ist das das zentrale Merkmal, das Freie Theater vom Stadt- und Staatstheater unterscheidet?
SSch _ Man könnte ja mal umgekehrt beim Staats- und Stadttheater fragen, wer von denen ein eigenes Theater aufmachen würde und wie sie sich ein eigenes Theater vorstellen würden. Das ist ganz wichtig, dass man diese Selbstbezogenheit hat zu sagen: Ich will hier ein Theater aufbauen. Dabei ist es egal, ob ich das als Kollektiv oder als Einzelperson mache. Ich muss das Projekt vor Augen haben und ich muss es durchsetzen. Und das sind Dinge, die nicht nur rein künstlerisch betrachtet werden können. Deswegen wollen viele vom Stadt- und Staatstheater das nicht, weil das nämlich sehr, sehr viel Organisatorisches braucht. Man muss plötzlich sehen, wie komme ich an Geld heran – ganz viele solche Dinge. Oder auch selbst die Technik mitmachen und mit anpacken. Das sind ja Dinge, die sind gerade in der heutigen Zeit völlig undenkbar. Das heißt, der Wille war extrem, so etwas machen zu wollen, und basierte auf einem subjektiven Motiv, das sich zwar auf eine Veröffentlichung richtet, ja, aber eigentlich wollen wir unsere Kunst machen. Und dafür ist es notwendig, alles zu kontrollieren, Geld zu besorgen, vielleicht ein Haus zu haben, vielleicht sogar Geld für ein Festival zu bekommen. Um dadurch schlussendlich künstlerische Freiheit zu gewinnen, sodass ich meine Vision einer künstlerischen Tätigkeit umsetzen kann. Es war insofern ein ganz klarer antiinstitutioneller Ansatz, also anders als die Stadt- und Staatstheater. Dann kam hinzu, dass wir sehr furchtlos waren. Wir haben auch Sachen gemacht, mit denen man normalerweise nicht in die Öffentlichkeit gehen würde, weil sie vielleicht zu abstrakt, zu abgefahren, zu experimentell oder auch zu unausgegoren waren. Aber durch die Sicherheit dieser gesamten Arbeit, die wir abgeliefert haben, auch der soziokulturellen und sonstigen Arbeiten, konnten wir uns Experimente erlauben, die völlig verrückt waren. HF _ Das führt mich gleich zu meiner nächsten Frage. Du beschreibst diese Vorgänge immer sehr stark in der ersten Person: ich, Siegmar. Als eine individuelle Leistung. Ich kon-
trolliere immer Gruppenstrukturen, in denen das stattgefunden hat, kollektive, also gar Kollektivstrukturen. Die Frage hat zwei Dimensionen: Wie bedeutsam sind für die Realisierung der Visionen kollektive oder Gruppenstrukturen? Das ist die erste Hälfte der Frage, und die zweite Hälfte der Frage lautet: Was ist daraus geworden?
SSch _ Fangen wir mit der zweiten Hälfte an, weil sich dadurch erklärt, dass ich in der ersten Person spreche. Die kollektive Arbeit mit der Gruppe hat auf eine bestimmte Weise tatsächlich ein Ende gefunden. Deswegen bin ich jetzt von der Definition her auf einmal Einzelkünstler und nicht mehr Gruppenmensch. Dadurch spreche ich automatisch von Ich in der Vergangenheit. Aber tatsächlich war es so, dass ich als Künstler gar nicht existiert hätte ohne das Kollektiv, ohne die Gruppe. Ich hätte auch kein Theater, hätte nichts auf die Beine stellen können, wenn wir nicht die ganze Zeit im Kollektiv, im Team zusammengearbeitet und die Dinge gemeinsam besprochen, mit der gemeinsamen Kraft aufgebaut hätten.
Wir haben es so gemacht, dass wir im Prinzip auf eine Weise konsensorientiert gearbeitet haben. Wenn ich zum Beispiel eine Idee hatte und nicht alle davon überzeugt waren, dann haben wir daran gearbeitet, dass sich alle so weit einbringen konnten, um einen maximalen Konsens ohne Aufgabe der künstlerischen Idee zu erreichen. Aber ich hätte keine Theaterproduktionen machen können, wenn nicht die Schauspieler davon überzeugt gewesen wären, dass das, was sie da machen, richtig und gut ist. Das wäre nicht gegangen. Es gab immer eine Art Konsens. Aber es gab auch eine Arbeitsteilung. Dramaturgische Fragen wurden immer in der Gruppe besprochen: was man eigentlich mit dem Stück aussagen möchte, welche methodischen, stilistischen, ästhetischen Recherchen man angeht etc. Die Regie wurde dann von mir geführt und hier wurden keine endlosen zermürbenden Diskussionen geführt. Das Kollektiv entschied auch strategische Prozesse gegenüber der Stadt Bielefeld, wie wir an irgendwelche Ressourcen herankommen. Wir hatten manchmal im Team Differenzen bei solchen Entscheidungen, die große organisatorische Leistungen von uns selbst verlangten.
HF _ Hast du das verlangt?
SSch _ Nein, zum Beispiel bei den internationalen Theaterfestivals war nicht von vornherein klar, dass alle auch als Organisatoren antreten sollten, aber in diesem Zusammenhang war klar, dass man dadurch Vorteile haben würde. Wir würden andere Theater oder auch wichtige Theatermacher persönlich kennenlernen und vielleicht würde sich etwas daraus ergeben. Also diese strategischen Vorüberlegungen, dass es eine künstlerische Auswirkung haben kann, auch wenn man vorher organisatorisch investieren muss. HF _ Nochmals zurück zum Organisationsprinzip. Du beschreibst den Vorgang, dass du eine Idee hast und ein Überzeugungsprozess entwickelt werden muss. Gibt es dieses Prinzip, dass das bessere Argument sich durchsetzt? Und was passiert, wenn dieser Überzeugungsprozess nicht alle erreicht, kann es dann auch sein, dass jemand aus der Gruppe ausscheidet?
SSch _ Wir hatten natürlich Konflikte wie in jeder Gruppe und es gab dann auch tatsächlich Leute, die gesagt haben, wir wollen diese Arbeit so in der Art nicht weitermachen, und gegangen sind. Es sind auch immer wieder neue eingestiegen, doch wir hatten über viele Jahre ein sehr stabiles Kernensemble. Und dennoch gab es eine gewisse Fluktuation. Je länger das Ensemble in dieser Kernstruktur arbeitete, desto schwieriger wurde es hineinzukommen, gerade auch für jüngere Leute. Es gab eine bestimmte Gruppendynamik und man war sehr gut aufeinander eingespielt. Deswegen konnten wir auch die Organisationsleistungen für die großen Festivals erbringen. Wir kannten uns, wir hatten natürlich Vertrauen zueinander, wussten allerdings auch, wo unsere Grenzen waren. Wir waren sehr effizient. HF _ War deine Position in dieser Gruppe in irgendeiner Weise trotzdem herausgehoben? Dass du zum Beispiel ein Ideengeber, Impulsesetzer oder so was gewesen bist? Oder war auch diese Funktion eine Art von Primus-inter-Pares-Rolle als künstlerischer Leiter?
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SSch _ Ich hatte das ganze Projekt gegründet, war all die Jahre der künstlerische Leiter und habe dadurch die meisten Ideen eingebracht, auch die meisten strategischen. Diese Vision, die ich damals hatte, wurde Schritt für Schritt umgesetzt, doch es gab mehr und mehr immer wieder einzelne Situationen, in denen ich selbst vielleicht auch gerade keine gute Idee hatte oder meine künstlerische Idee nicht stark genug war, und dann kamen eben sehr gute Einwände oder Vorschläge von anderen Mitgliedern, wo wir gesagt haben, oh ja, das ist gut, orientieren wir uns in diese Richtung. Ich weiß noch, dass die ziemlich erfolgreiche Produktion Body Fragments auf Grundlage der Werke von Francis Bacon zustande kam. Der Vorschlag kam von Michael Grunert. Es gab also öfter solche Vorschläge, dafür habe ich ja immer einen Rahmen geschaffen, in dem die Schauspieler selber viel Freiraum hatten und ihre eigene Recherche machen und ihre eigenen Ideen einbringen konnten. Es funktionierte nicht nach dem Motto: Ich habe eine Idee und alle mussten nach meiner Pfeife tanzen. Im Gegenteil: Ich war auf die Vorschläge der anderen angewiesen. Meine Ideen waren so labil, dass sie als Grundlage für eine Produktion nicht funktioniert hätten. Ich war immer darauf angewiesen, dass alle mit einstiegen, irgendwie eine eigene Art von Enthusiasmus entwickelten und sagten: Ich recherchiere in diesem Bereich, dort bringe ich noch ein Objekt ein und dann spiele ich mal Musik vor, die dazu passen könnte. Da kam unglaublich viel von den Schauspielern. HF _ Wie ist das an sein Ende gekommen?
SSch _ Mit den Jahren, glaube ich. Etwas Abnutzung, Ermüdungserscheinungen. Eine Schauspielerin aus dem alten Kern ist gegangen, weil ihr alles zu viel war. Die ganze Verantwortung für alles, also nicht nur Schauspielerei, sondern die gesamte Organisation, die Spielstätte, das nächste Festival und die Finanzen im Kopf zu haben und hier noch einen Antrag zu stellen und nachts wegen der finanziellen Unsicherheiten nicht mehr schlafen zu können. Das tut mir dann auch leid, wenn ich merke, dass diese Überlastung mit unseren finanziellen Mitteln nicht lösbar ist. Unsere Arbeitsweise bringt
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einen gewissen Verschleiß mit sich. Es ist eben eine extreme Belastung für eine relativ kleine Gruppe, einen so großen Betrieb zu führen. Ein anderer Schauspieler sagt: „Ich möchte mit meinen 60 Jahren nicht mehr diese Straßentheaterarbeit machen und den Lkw beladen und dann vielleicht um zwei Uhr nachts nach Hause kommen. Das will ich nicht mehr, das kann ich nicht mehr.“
Also ist die Gruppe sozusagen nach und nach im Verschleiß, in der Abnutzung auseinandergefallen. Wir haben nicht unbedingt eine wirkliche Alternative gefunden, auch unserem Alter entsprechend weiterzuarbeiten. Wir haben es finanziell nicht geschafft, gleichzeitig ein junges Ensemble mit ein- und aufzubauen, obwohl wir mehrere Versuche gestartet hatten.
Die Notwendigkeit des Generationswechsels war uns durchaus bewusst, doch es war finanziell nicht drin. Wir hätten sonst wirklich eine Parallelgruppe aufgebaut und versucht, dann eben mehr und mehr uns anderen Bereichen zuzuwenden, gerade die Älteren, aber das war leider so nicht machbar. Das hätte zu große finanzielle Aufwendungen gebraucht. Es gab dann weitere Alterserscheinungen, zum Beispiel die Aussage: Ich bezeichne mich jetzt erst mal nicht mehr als Gruppenmitglied, mache aber ganz viele Projekte noch weiterhin in dem Rahmen. Es gab zwei Personen, die sich eher als assoziierte Mitglieder sehen, sich jedoch nicht mehr der ganzen Gruppendynamik aussetzen wollten. Ich selbst lag auch in diesem Trend mit der Entscheidung, ein Sabbatjahr einzulegen. Möglicherweise hatte ich da bereits eine Art von Abschluss vorbereitet, die Leitungsfunktion nicht mehr über eine längere Zeit auszuüben. HF _ Okay, dann könnte man daraus den Schluss ziehen, dass dieser Ansatz mit kollektiven gemeinsamen Entscheidungsund Überzeugungsprozessen, so ein Ensemble zu gestalten, ein Theater zu entwickeln, aufzubauen und international zu vernetzen, vielleicht ein Generationenprojekt ist, das sozusagen mit der Generation derer, die das angefangen haben, möglicherweise auch an ein Ende oder an eine Grenze kommt. Ich frag noch mal deswegen, weil du sagst, um die Nachwuchsstrukturen aufzubauen, hat das Geld gefehlt.
Die finanziellen Mittel haben euch am Anfang gefehlt und auch zuletzt. Ihr habt diesen Mangel mit unendlichem Einsatz kompensiert, manche sagen mit Selbstausbeutung, mit unbezahlter Arbeit und mit ideeller Gratifikation. Die jungen Leute, die da möglicherweise interessiert werden könnten, sind offenkundig nicht bereit, diesen Vorschuss an Energie aufzubringen, also stellt sich insofern noch mal die Frage, ist das ein Generationenprojekt, das mit dem altersbedingten Ausscheiden seiner Protagonisten möglicherweise beendet ist?
SSch _ Mittlerweile glaube ich: ja, weil die komplette gesellschaftliche Situation in der damaligen Zeit, in der wir das angefangen haben, von den Visionen auch in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht geprägt war. Wir hatten einen ganz spezifischen Antrieb, das kann ich heutzutage nicht mehr verlangen. Das heißt, es gibt eine neue Generation mit ganz anderen Blickwinkeln auf Gesellschaft, auf Politik, auf die darstellende Kunst, mit der auszuhandeln wäre, wie sie ihren Platz in dieser Infrastruktur erobern und wie sie dann ihre eigenen Ideen umsetzen kann. Ich hätte keine Tradierung der Methode und der Ästhetik vom Theaterlabor gewollt, weil das auf jeden Fall nicht funktioniert hätte. Das Theaterlabor ist tatsächlich mein Leben, also ganz viel von der Ästhetik, ist auch meine Ästhetik. Das ist sehr persönlich geprägt. Diese Kunst kann man nicht einfach übertragen, deswegen kann auch eine neue Generation im Prinzip nur die tolle Infrastruktur übernehmen. HF _ Heißt das also: Was ihr vererbt, ist eigentlich nur die Infrastruktur. Gebäude, Technik, Büroräume und ein bisschen Fundus? Und was sie damit machen, bleibt ihnen überlassen?
SSch _ Ich glaube ja. Also so wie es im Augenblick aussieht, wird ein Versuch unternommen, dass auch Traditionen weiterleben sollen. Es handelt sich um eine ehemalige Schauspielerin aus dem Theaterlabor, die die Leitungsfunktionen übernommen hat. Aber letztlich muss natürlich diese Entwicklung irgendwo hinführen, sodass eine eigenständige künstlerische Handschrift entsteht. Und dazu müssen eigentlich auch in künstlerischer Hinsicht ähnliche Prozesse stattfinden wie bei
uns damals. Nämlich dass man sich etablieren muss, diesen langen Kampf führen muss, bis man mit der künstlerischen Handschrift akzeptiert wird, dass man tatsächlich auch mal auf ein Festival eingeladen wird – und zwar nicht nur deshalb, weil man die Marke Theaterlabor behalten hat. Aber wie das jetzt mit dieser neuen Besetzung läuft, das weiß ich nicht. Ich bin bewusst draußen und rede da jetzt nicht rein. Das heißt, dass ich auch den Erfolg nicht beurteilen kann.
HF _ Das, was du abgibst, sind hauptsächlich Strukturen und was wird mit deinem künstlerischen Nachlass?
SSch _ Mit diesem Buch versuche ich, einen Teil meines künstlerischen Nachlasses aufzuarbeiten. Aber es wird weiterhin sehr viele Fragen zur Archivarbeit geben, wie man sie lebendig gestalten kann und wie man mit dem Wissenstransfer umgeht. Kann man unser methodisches Arbeiten auch heute noch weiter vermitteln? Gibt es ein Interesse dafür an Schauspiel- oder Hochschulen? Es gibt dazu verschiedene Projektideen. Das ist für mich jetzt auch noch mal neu, weil ich es nun aus einer anderen Perspektive sehe. Ich sehe da 50 Umzugskartons voll mit irgendwelchen Dingen und ich weiß noch nicht genau, wie ich die sortieren kann. Wenn ich jetzt wieder in der ersten Person spreche, dann deshalb, weil ich derjenige bin, der diese Motivation hat, Archivmaterialien zu retten und in irgendeiner Weise zugänglich zu machen. Wenn ich es nicht tun würde, würden die Kartons im besten Fall in einer großen Ecke im Lager verstauben. Im schlechteren Fall würde Archivmaterial weggeworfen, so, wie bereits jetzt das gesamte Onlinearchiv der Website verschwunden ist. Zunächst müsste ich das Material sichten und damit eine Bestandsaufnahme über 40 Jahre Theaterarbeit erarbeiten. Wenn plötzlich Zeit da wäre zu reflektieren, das wäre sehr spannend. In der Dynamik eines Theaterbetriebs gibt es die normalerweise nicht. Dann könnte ich dir deine Frage beantworten, was ich bewirkt habe und was meine Hinterlassenschaft ist.
Es sind immer diese Wirkungen im Detail. Da sind Zuschauer, die Aufführungen gesehen haben und sagen: Oh, das war jetzt
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wirklich sehr, sehr stark, das hat mich betroffen. Es ist aber nicht die Wirkung, dass man hinterher ein Denkmal bekommt oder dass es nachher Siegmar-Schröder-Theater heißt. Es sind wirklich diese vielen kleinen Dinge, die da passiert sind, und es gibt immer mal wieder jemanden, den ich irgendwo treffe und der mir sagt: „Ach, damals habe ich das gesehen, das habe ich immer noch in Erinnerung.“ Wenn es 30 Jahre her ist, dann sind das schöne kleine Momente, aber es ist nicht die große gesellschaftliche Veränderung. Wir sind nur ein kleines Sandkorn in diesem ganzen Getriebe, wir haben in Bielefeld eine schöne Spielstätte aufgebaut und auch international gibt es Spuren, die wir hinterlassen haben. Theater ist eben nur ein flüchtiges Medium, darauf habe ich mich eingelassen. Informationen darüber werden in diesem Buch oder auch im Internet auffindbar sein, viel mehr ist es nicht. Und damit muss ich jetzt zurechtkommen.
HF _ Wie würdest du das einschätzen? Welche Bedeutung hat das Theater in unserer kultur- und gesellschaftspolitischen Medienlandschaft? Geht mit dem Generationswechsel möglicherweise auch ein grundlegender Bedeutungsverlust für das Live-Ereignis auf einer Spielfläche vor Zuschauern einher?
SSch _ Es gibt zwei Phänomene. Das eine ist, dass es in Deutschland in der Öffentlichkeit ein starkes Bedürfnis gibt, das Theater als solches zu retten, das Medium und vor allem die Gebäude als Institution. Das ist hierzulande immer schon stark gewesen und sehr besonders. Das führt jedoch nicht zu einer Diskussion, wie weit das Medium als solches noch eine Relevanz hat. Und ich glaube, dass wir da nach wie vor in einer Krisensituation sind, auch weil sehr viele Theater versuchen, jetzt mit all den neuen Medien mitzuhalten und in der gleichen Dynamik zu arbeiten. Das wird nicht zielführend sein. Ich glaube, wenn überhaupt, wird Theater sich wieder im totalen Kontrast zur sonstigen Gesellschaft in der ganzen Stärke zeigen können und im analogen Spiel. Das ist die Perspektive. Und das wird niemals verloren gehen: Wenn ich da eine Person auf der Bühne habe, die vor mir etwas Körperliches macht, die spricht, die singt, das ist so eine Art von urmenschlicher Kommunikation, die wir nicht kaputt kriegen können, die ist einfach
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da, die ist möglich. Und auch wenn die Zuschauer die neuen Entwicklungen im Kopf haben und eine dementsprechende Erwartungshaltung, dann kann die analoge Bühnenhandlung, wenn sie stark genug ist, funktionieren. Auch meine letzten Theatervisionen gingen in die Richtung, etwas extrem Reduziertes, Einfaches zu machen. Bei dem (auto-)biografischen Erzähltheater, das ich ja jetzt noch weiterbetreibe, funktioniert das sowieso, da erreiche ich mit den Zuschauern immer eine persönliche Ebene. Ästhetische Experimente, die sehr einfach, sehr klar sind, bei denen alles ausgeschaltet wird, was ablenkt, werden die Zukunft definieren und auch die Notwendigkeit von darstellender Kunst beweisen. HF _ Die ganzen institutionellen Auswüchse, die es da so bis in die Gegenwart gegeben hat, die können ja dann eigentlich weg?
SSch _ Möglicherweise sind bestimmte Dinge heutzutage überflüssig geworden, da das gesamte gesellschaftliche Leben und die gesamte gesellschaftliche Kommunikation zu 99,5 Prozent nur noch über Social Media läuft und Internet, das heißt, wir befinden uns in einer solchen Gesellschaft, in der das Medium Theater als solches so nicht vorkommt.
HF _ Aber wie verhält sich genau diese Erkenntnis zu dem Satz: Es ist dann letztlich die Situation, in der es einen Spieler gibt und einen Zuschauer, die sei nicht totzukriegen – wie verhält sich das zueinander?
SSch _ Ich mache im Augenblick eine Art von künstlerischer Pause und glaube, dass es für mich persönlich irgendwann genau diese Situation wieder geben wird, als jemand, der so etwas produziert, das berührt. Auch an großen Häusern kann so etwas passieren, nur die Voraussetzungen sind schlechter, wenn auf einer großen Bühne für 1.000 Zuschauer eine Magie erzeugt werden soll. Vieles von dem experimentellen Theater in meiner ganzen Laufbahn war auch immer am intensivsten, wenn die Situation am klarsten und am kleinsten war. In Wohnzimmern, bei Leuten privat, waren die Auseinandersetzungen am stärksten und wir haben da die intensivsten Gespräche mit den Zuschauenden geführt. Das hat sich immer wieder
abgebildet: Je intimer ich werde, je näher ich auch die Zuschauer an meine eigene Welt heranlasse, desto mehr kann ich an Kommunikation erreichen, desto mehr öffnen sich wiederum die Zuschauer. Dort findet man, wie Nullo (Facchini) es schön gesagt hat, das „human specific“. Und das ist auch tatsächlich eine wichtige Frage: Wie gehe ich mit dem Gegenüber um?
HF _ Wenn du sozusagen aus der Erfahrung deines Theaterlebens einen Wunsch oder eine Forderung oder einen Rat an die nachfolgende Generation formulieren solltest, welcher wäre das? SSch _ Zu jungen Leute würde ich immer sagen: Geht auf Reisen, macht so was Ähnliches wie das, was ich selber gemacht habe. Geht irgendwo hin, arbeitet da mit, seht, wie das in der Praxis funktioniert. Seht euch um nach Meistern, obwohl dieser Begriff natürlich total anachronistisch wirkt. Seht euch nach Leuten um, die ihr Handwerk außerordentlich gut machen und eine bestimmte Art von ästhetischer Umsetzung bringen, dass man davon total beeindruckt ist. Seht euch an, was die machen, und lernt davon.
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Abb. S. 22: Bekereke (Spanien), 1985, S. 23: Leo Bassi, 1986; Gruppe ohne Namen, Straßentheater, 1979
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Siegmar Schröder: Wie alles anfing – Pippo oder die Kunst, vom Stuhl zu fallen Es gab in meiner Jugend mehrere neue Strömungen im Theaterbereich, die nach Deutschland kamen. Es gab die Foolsbewegung mit Clowns wie Jango Edwards, die mich nicht sehr ansprach, da ich mich nicht als Teil der Hippiebewegung verstand und ich die künstlerischen Resultate als zu oberflächlich empfand. In Amsterdam ging es für die meisten Deutschen mehr ums Kiffen als um die Kunst. Es gab die Beeinflussung durch die amerikanische Szene (Living Theatre, Bread and Puppet), zu der ich nur wenig Kontakt hatte. Ich fand mich dort aber auch ästhetisch nicht wieder, es war mir nicht abstrakt genug. Und dann gab es die Einflüsse von Grotowski und dem Odin Teatret, die über die bereits gewachsene italienische Szene des Dritten Theaters auch nach Bielefeld kamen, oder einen Workshop mit dem italienischen Teatro Tawa aus Bozen, von deren Theatertraining ich später Übungen in mein Programm übernahm, oder ein Straßentheaterstück vom Teatro Nucleo, das mich sehr begeisterte. Man fühlte sich im Publikum direkt attackiert, man wusste nie, wo es weiterging, von welcher Seite die nächste Schauspielattacke kam, und war von dieser Energie, Akrobatik, dem Stelzenlaufen, den Feuerspielen und der selbstgemachten Musik fasziniert. Später erklärte der Regisseur, dass er Strategien der Kriegsführung von Carl von Clausewitz für seine Straßentheaterarbeit als Grundlage genommen hatte. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass ich kurze Zeit später selbst als Schauspieler beim Teatro Nucleo mitspielen würde.
Ein weiterer Italiener war der Schauspieler Gaetano Cartolaro, der eine sehr spannende Workshoparbeit machte, die aus Elementen von der Mime-Decroux-Schule und seiner Zeit beim Thèâtre du Soleil zusammengesetzt war.
Meine damalige Suche nach Theaterformen, die mich ansprachen, war sehr intuitiv. Ich hätte nicht formulieren können, dass ich gerne abstrakt arbeiten möchte. Ich wusste auch noch nichts von meinen eigenen Verrücktheiten, die ich im Theater ausleben wollte. Es gab nur Indizien für spätere Affinitäten.
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Ein Lehrer empfahl mir zum Beispiel das Buch Das Theater und sein Double von Antonin Artaud. Ich fand es extrem faszinierend, hatte das Gefühl, direkt persönlich angesprochen zu werden, hätte aber zu dem Zeitpunkt mit 18 Jahren nicht erklären können, um was es in diesem Buch eigentlich ging. Wenn ich mich daran erinnere, wie sich meine frühe Kindheit anfühlte, dann kommt mir das Wort „Muff“ in den Sinn. Ich wuchs noch in einer Zeit auf, die so anders war, dass ich heute noch staune, welcher gesellschaftliche Wandel damals vollzogen wurde.
In der ersten Klasse bekam ich von meiner Lehrerin eine kräftige Ohrfeige, und als ich mit der roten Wange nach Hause kam, ging mein Vater sofort zu der Lehrerin und erklärte ihr, dass die Prügelstrafe in den Schulen abgeschafft sei und sie sich doch bitte daran halten solle.
Später am Gymnasium bestand ein deutlicher Unterschied zwischen den älteren Lehrern, die noch im Faschismus gedient hatten und eine Strenge, Unnahbarkeit und Ungerechtigkeit ausstrahlten, und den Jüngeren, die etwas zugewandter und freundlicher waren. In einer reinen Jungenklasse und mit dem damit verbundenen Mobbing war die Schule zu dieser Zeit eine schülerfeindliche Umgebung, die man möglichst ohne seelische und körperliche Blessuren hinter sich bringen musste. Meine Eltern waren sehr engagiert und wollten, dass es uns Kindern besser ginge als ihnen, und uns die Bildung ermöglichen, die ihnen verwehrt war, aber sie waren noch in ihren eigenen Blessuren gefangen, die ihnen durch die Kriegszeit zugefügt wurden. Allein die neue elektrische Musik, die nun über meine älteste Schwester ins Haus kam und die ich auch begeistert hörte, führte bei uns zu einem klassischen Generationskonflikt. Wenn ich mich selbst auf Fotos meiner Kindheit sehe, erkenne ich in der Körperhaltung eine Beklemmtheit, an die ich mich
beim Betrachten körperlich erinnere. Wie so viele meiner Generation und der 68er wartete ich auf die Erlösung aus der muffigen Umgebung. Bei mir kam sie in Form einer Reformschule und den damit verbundenen Theatererfahrungen.
Wie durch ein Wunder durfte ich mit 15 Jahren nach der mittleren Reife von dem schrecklichen Gymnasium weg in die benachbarte Großstadt Bielefeld auf die Reformschule Oberstufenkolleg gehen, wo radikale Reformen versucht wurden. Sie wurde ein Jahr zuvor gegründet: Es gab nur junge, engagierte Lehrer*innen, keine Zensuren, alle waren nett – das genaue Gegenteil meiner alten Schule. Der Projektunterricht führte dazu, dass wir über eine mehrwöchige Phase nur zu einem Thema arbeiten konnten, und ich wählte Theater. Bereits im zweiten Theaterprojekt hatte ich meine erste Begegnung mit einem internationalen Künstler und gleichzeitig meine Initiation. Als Gastdozent wurde der Italiener Giuseppe Ingala (Pippo) eingeladen, einen Clownsworkshop mit uns durchzuführen. Es zeigte sich, dass er einen sehr extremen körperlichen Ansatz hatte, der mich total faszinierte. Die erste Übung war: Man setze sich auf einen Stuhl und kippe nach hinten, um sich dann kontrolliert mit den Armen abschlagend rückwärts auf die dünne Matte fallen zu lassen.
Dieses Bild war symbolisch für meinen persönlichen Aufbruch aus dem Muff. Ich hatte mit 15 Jahren meine eigene Wohnung, ging auf diese paradiesische Schule und traf einen solch verrückten Clown, der mit all seinen Fallübungen uns nicht nur zu jeder Menge blauer Flecken verhalf, sondern uns auch beibrachte, wie man seine eigenen Grenzen überwinden kann. Ich habe dieses Geschenk angenommen und mich auf viele Stühle gesetzt und rücklings in viele Wagnisse gestürzt.
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Theaterlabor, MiM (Meister und Margerita), 1986
Siegmar Schröder: Gaetano Cartolaro – alles für die Katz? Ich nahm 1979 an einem Theaterworkshop in Bielefeld teil, der diese Intensität hatte, die ich so liebte: harte körperliche Arbeit mit Akrobatik und dann die erste Begegnung mit der Masque Neutre. Gaetano Cartolaro2 gab den Begriff „Feuer“ in den Raum und die Person mit der Maske machte eine Improvisation dazu. Das Ergebnis war beeindruckend, da die neutrale Maske durch die körperliche Aktion eine persönliche Färbung bekam. Man meinte, einen Charakter darin erkennen zu können. Das Mittel der Improvisation wurde in meinem späteren Arbeitsleben das wichtigste Instrument, um an das expressive Material heranzukommen, das ich für die jeweiligen Stücke benötigte. Gaetano wollte in Köln ein Theater aufbauen, also zog ich nach Köln, um dort dabei zu sein. Eine ehemalige Reithalle einer alten Kaserne befand sich in einem Zustand, der noch weit davon entfernt war, als Theater genutzt werden zu können. Ein sandiger Fußboden, mit Kalkfarbe übertünchte Ziegelwände und nur zwei kleine Extraräume für unsere Besprechungen und für die Kaffeepause.
Das Projekt Theater Die Bacchanten stand noch ziemlich am Anfang. Eine kleine Truppe von Schauspielwilligen hatte vor ein paar Monaten begonnen, unter der Leitung von Gaetano erste Arbeiten am Gebäude vorzunehmen. Wir hatten eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Köln-Kalk und schliefen zu viert in dem einen Raum und aßen in dem anderen. Ich hatte einen Job bei der Post gefunden und arbeitete von sechs bis zehn Uhr als Eilbote in einem der fünf Fahrradbezirke der Kölner Innenstadt. Ich durfte sogar einmal ein Telegramm an Heinrich Böll aushändigen. Danach ging ich zum Renovieren in unseren Reitstall. Dort wurde gerade die alte Kalkfarbe von den Wänden abgekratzt und die darunter befindlichen Ziegel freigelegt, weil Gaetano von dem Theaterraum von Grotowski so beein2
druckt war. Für uns war die Arbeit härter als die körperliche Arbeit im Workshop und die Kalkfarbe in den Augen löste eine Bindehautentzündung aus. Überhaupt fiel ich nach 16 Stunden körperlicher Arbeit abends in einen tiefen Schlaf.
Da ich einen VW-Bulli hatte, musste ich Material besorgen. Geschenkte Ziegel aus Bielefeld transportieren, Stahlträger von Kölner Baustellen besorgen – es durfte alles nichts kosten. Ein Bielefelder Architekt zeichnete kostenlos Pläne für den Umbau und Gaetano musste viele Workshops auswärts organisieren, um Geld für die Baumaßnahmen zu beschaffen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nicht so viele Bauprojekte gesehen, doch ich hatte den Eindruck, dass es auf diese Weise nicht realisierbar wäre. Ein wunderschöner Lichtblick war in dieser Zeit, dass Gaetano zu uns sagte, wir sollten unbedingt nach München fahren, um dort möglichst viele Veranstaltungen des Theaterfestivals anzusehen. Dort trafen wir dann endlich wieder auf die Theaterwelt, wegen der wir diese Renovierungsarbeiten unternahmen. Odin Teatret, Teatro Nucleo, Piccolo Teatro di Pontedera, Living Theatre … Es war sehr inspirierend. Ich blieb nicht mehr lange bei Gaetano, da ich nicht so richtig daran glauben konnte, dass er jemals ein Theater eröffnen würde. Es blieb also eine Episode von insgesamt vier Monaten, die ich dort verbrachte.
Einige Zeit später hatte er dann in dem Gebäude tatsächlich eine Theaterschule aufgemacht, die jedoch scheinbar nicht so gut lief. Etwas später fuhr ich noch mal vorbei. Mittlerweile war dort ein Geschäft für Tierfutter eingezogen. Auf dem Schild draußen stand der Name: „Alles für die Katz“.
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Gaetano Cartolaro hatte in Paris bei Etienne Decroux gelernt und kurze Zeit beim Théâtre du Soleil gearbeitet. Er zeigte uns einmal den Film 1789, in dem man ihn als Schauspieler
sehen konnte. Nach einigen Fehlversuchen, eine Schauspielschule und ein Theater aufzubauen, hatte er sich der bildenden Kunst zugewandt. Er verstarb im Februar 2023.
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Siegmar Schröder: Ingemar Lindhs Bewegungskompositionen Manchmal waren die Begegnungen in meinem Leben, die meine Arbeit nachhaltig beeinflusst haben, ziemlich kurz und wie im Falle von Ingemar Lindh dennoch denkwürdig.
1981 fand ein Workshop des Odin Teatret3 mit ihm in Marburg statt. Ich hatte davon mitbekommen und sofort dort angerufen, um mich anzumelden. Mir wurde gesagt, dass dieser Workshop nur Marburger Schauspieler*innen vorbehalten sei. Da ich unbedingt daran teilnehmen wollte, fuhr ich trotzdem hin und bekam vor Ort dieselbe Auskunft. Die Marburger Theaterleute hatten diesen Workshop organisiert, und da er sehr begehrt und die Teilnehmerzahl begrenzt war, hatten sie vereinbart, keine auswärtigen Teilnehmer*innen aufzunehmen. Ich passte den Leiter vor der Tür ab und sprach ihn an. Dass ich extra von weit hergekommen sei, um bei ihm zu lernen, und ob es nicht doch möglich wäre teilzunehmen. Er sprach daraufhin noch einmal mit den Marburger Organisatoren, die hart blieben. Als er mich dann ziemlich verzweifelt sah, fragte er nach, ob ich nicht wenigstens zusehen dürfte, und so erbarmten sich die Marburger schließlich.
Was die Marburger Theaterleute zu dem Zeitpunkt nicht wissen konnten, war, dass ich auch als Zuschauer einige geheime Mysterien der darstellenden Künste nach Bielefeld entführen konnte. Grundlegende Techniken und Prinzipien des körperlichen Theatertrainings hatten mir in diesem zweitägigen Workshop so sehr gefallen, dass sie immer wichtiger Bestandteil meiner pädagogischen Arbeit blieben.
Ingemar hatte unter anderem bei Etienne Decroux in Paris gelernt, so wie Gaetano Cartolaro auch. Einige akrobatische Elemente waren ähnlich, aber ansonsten unterschieden sich die beiden Methoden schon sehr. Sie hatten jeweils eine eigene Weiterentwicklung genommen und sich von der Mime Corporel entfernt. 3
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Ähnlich war auch Ingemars gewisse Härte in seiner Didaktik. Die erste Übung hatte es in sich. Die Teilnehmer*innen sollten über einen Stuhl seitwärts springen – aus dem Stand über den gesamten Stuhl samt Lehne. Das führte schnell zu einigen blauen Flecken, doch die Grenzüberschreitungen wurden belohnt. Es zeigte sich nach dem Überwinden der Schwierigkeiten bei allen Teilnehmer*innen eine starke Motivation und Sicherheit, auch die anderen gestellten Aufgaben lösen zu können. Die körperlichen Übungen waren allesamt sehr herausfordernd: flach auf dem Boden liegend mit einem Impuls in die Hocke schnellen oder kniend die Füße flach auf dem Boden liegend überraschend in die Hocke springen, dasselbe mit einer halben Umdrehung. Es gab viele Impulsübungen, die immer ein Überraschungselement und eine starke energetische Ausstrahlung beinhalteten, es gab Übungen, die langsam oder in Zeitlupe ausgeführt wurden und durch die jeweilige körperliche Schwierigkeit Spannung ausstrahlten, und es gab solche Übungen, die die verschiedenen Ebenen der Aktion – im Stehen, Sitzen, Knien oder Liegen – miteinander verbanden. Dieser Teil des Workshops war für mich insofern noch nichts Neues, da sich andere Workshops mit Pippo, Teatro Tawa oder Gaetano mit ähnlichen Übungen beschäftigt hatten, doch was dann kam, war auch für mich eine neue Dimension: Die Teilnehmer*innen sollten nun mehrere Übungen miteinander kombinieren und nach ein paar Stunden wurde eine Bewegungskomposition aus all diesen Übungen. Es gab keine spannungslose Unterbrechung mehr, sondern dieses erhöhte Energieniveau wurde beibehalten und in einer körperlichen Dramaturgie gestaltet. Man konnte jederzeit mit einem Impuls attackieren oder in Zeitlupe das Tempo verzögern. Jede*r Schauspieler*in konnte mit einer Bewegungskomposition eine eigene Geschichte ‚erzählen‘.
Ingemar Lindh hatte mit jungen Schauspieler*innen des Odin Teatret gearbeitet, war aber kein Mitglied. Er konnte eine Zeitlang mit seiner eigenen Gruppe dort arbeiten. Später nannte sich seine Gruppe Institutet för Scenkonst.
Ingemar arbeitete dann mit einer Schauspielerin, die die Übungen bereits verinnerlicht hatte, und demonstrierte, wie sich die Bewegungsdramaturgie unter dem Einfluss von inneren Bildern und Subtexten verändern konnte. Plötzlich sah ich nicht mehr die Übungen, sondern eine Handlung. Mit den inneren Bildern änderte sich die Haltung der Arme und der Hände und der Gesichtsausdruck. Ich versuchte später, diese Übungen und die Komposition für mich selbst als Schauspieler zu nutzen. Ich empfand es immer als ein Instrument, das das individuelle Körpertraining vereinfacht. Man konnte Musik dazu nutzen, um in einen Bewegungsfluss zu kommen, und hatte den Effekt, dass man bereits nach kurzer Zeit aufgewärmt, wach und bereit für weitere Aufgaben wie Improvisationen oder Aufführungen war. Dass ich bei dem Workshop nur als Zuschauer dabei sein durfte, hatte noch einen weiteren Effekt. Bei der Anstrengung der Schauspieler*innen mit den anspruchsvollen Übungen konnte ich das Drama sehen, bevor irgendein Text rezitiert wurde. Der Raum war so voller Energie. Es musste doch möglich sein, so etwas auf eine Bühne zu bringen.
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Theaterlabor, Walkact aus Tagvögel in Aalborg, Dänemark, 1992
Gespräch mit Michael Grunert, Theaterlabor Bielefeld Siegmar Schröder _ Du bist immer schon einer der ältesten von uns gewesen und schaust deswegen jetzt auf ein paar Jährchen mehr zurück. Du bist ja tatsächlich Teil der 68erGeneration, während ich doch eher ein Nachkömmling bin. Du warst damals für mich wie ein großer Bruder, als wir zusammen in Köln bei Gaetano, beim Aufbau des Theater Die Bacchanten mitgewirkt haben. Das heißt, du hast das alles schon in einem anderen fortgeschritteneren Lebensabschnitt erlebt, während ich noch ganz jung und unbedarft anfing. Wie warst du auf die Idee gekommen, Theater zu machen? Hat dich dein Umfeld beeinflusst?
Michael Grunert _ Es hatte vor allem damit zu tun, dass ich auf der Suche nach der Verbindung von gemeinsamem Arbeiten, gemeinsamem Wohnen und gemeinsamem Leben war und wie man das zusammenbringen könnte. Ich hatte beinahe mein Studium abgebrochen und es nur damit zu Ende gebracht, dass ich meine Examensarbeit über den Studienabbruch geschrieben habe. Nach diesem Abschluss an der Hochschule habe ich nach solchen Möglichkeiten gesucht; das war eher intuitiv als bewusst. Ich bin 1975 nach Portugal gefahren und habe in einer Landbesetzerkooperative ein dreiviertel Jahr gearbeitet. Gemeinsam haben wir für 45 Leute gekocht, die Gartenkulturen gemacht und so weiter.
Als ich zurückgekommen bin, habe ich ein Buch über die Erfahrungen in Portugal geschrieben und bin in Kassel in eine Zwölfer-WG gezogen, um herauszufinden, wie das mit gemeinsamem Wohnen und Arbeiten gehen könnte. Aber wir haben dort nicht gemeinsam gearbeitet: Ich habe im Krankenhaus gejobbt und einen Lehrauftrag an der Kasseler Uni gehabt. Dann erzählte mir eine Freundin aus Köln, dass es dort einen italienischen Schauspieler gäbe, der Theaterkurse anbietet. Also habe ich meine Zelte in Kassel abgebrochen, bin nach Köln gefahren und habe an dem Workshop bei Gaetano Cartolaro teilgenommen. Das war im Herbst ‘79.
Nach diesem äußerst intensiven vierwöchigen Workshop – sechs Arbeitstage in der Woche, von morgens bis abends
Körpertraining, Akrobatik und so weiter – habe ich spontan entschieden, mit diesem Typen weiter zusammenzuarbeiten, und mir eine Unterkunft in Köln gesucht. Es war so, dass Gaetano aus den Workshops, die er gemacht hat, versucht hat, eine Gruppe zu formieren, mit der er kontinuierlich und langfristig zusammenarbeiten konnte und die er gleichzeitig ausbilden wollte. Ich bin mehr und mehr mit der Methodik, den Arbeitsweisen von Gaetano vertraut geworden und habe mit ihm sehr intensiv zusammengearbeitet.
SSch _ Ich war auch für ein paar Monate Teil dieser Gruppe und wir sind 1980 zusammen auf das Münchner Theaterfestival gefahren. War das für dich das erste Mal, dass du diese internationalen Theater live gesehen hast? Waren das deine ersten Eindrücke als Zuschauer?
MG _ Was mich vorher schon sehr beeindruckt hatte – ich glaube 1978 oder 1979 –, war eine Aufführung von Cuatrotablas. Und zwar haben sie ein Stück mit ganz wenigen Requisiten gezeigt, natürlich mit so wenig, weil sie aus Südamerika kamen, nur mit ein paar Koffern. Sie zeigten ein Stück über die Kolonialisierung durch die Spanier. Das hat mich sehr beeindruckt. Dann gab es in Köln noch den von der Commedia dell'arte inspirierten Pantomimen Milan Sladek, von dem ich ein Stück gesehen hatte, bei dem er zur Musik Bilder einer Ausstellung von Mussorgski spielte. Das waren zwei intensive Theatererlebnisse. Dann sind wir zusammen nach München gefahren und haben dort das Festival erlebt. Es gab Theateraufführungen, die meist in großen Zirkuszelten stattfanden, wo ich verschiedene Theatergruppen und Inszenierungen gesehen habe: das Teatro Potlatch zum Beispiel und auch Kontakthof von Pina Bausch. Das weiß ich noch: Wir sind unter der Zeltplane durchgekrochen, weil es keine Tickets mehr gab. Wir haben unter der Tribüne hockend durch die Beine der Zuschauer hindurch die Aufführung von Pina Bausch gesehen. Das fand ich sehr toll. Und es gab – auf jeden Fall sehr beeindruckend für mich – die Aufführung von Brechts Asche des Odin Teatret auf einem
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großen Dachboden irgendwo in der Stadt. Das Publikum saß im Viereck um die Seiten der Aktionsfläche. Es war eine Collage zu Stücken von Brecht und zu seiner Biografie. Der Rhythmus, die Vielfalt und die Dynamik in diesem Stück haben mich wirklich beeindruckt. Passend dazu hat Eugenio Barba an einem anderen Tag eine Arbeitsdemonstration mit Iben Nagel-Rasmussen vorgeführt. Und ich weiß noch: Er hat ihr etwas zugeflüstert, zu dem sie eine choreografische Improvisation zeigte. Nachdem sie die noch einmal wiederholt hatte, belegte Eugenio die Impro mit verschiedenen Inhalten: Man könne das so oder so sehen, die eine oder die andere Geschichte erkennen. Nachher berichtete er, dass er ihr das Wort „Hanoman“ zugeflüstert hatte, was in der indischen Mythologie der Affenkönig sei. Zum Affenkönig hatte sie improvisiert, was wiederum vom Regisseur interpretierend genutzt werden konnte – je nach Kontext oder Zusammenhang. SSch _ Ich hatte mir das Odin Teatret damals nicht angesehen, da sich unsere Gruppe das Programm aufgeteilt hatte, weil wir ja möglichst viel sehen und erleben wollten. Ich habe es deshalb erst später in Italien kennengelernt. Kurz nach meinem Festivalbesuch habe ich das Theater Die Bacchanten verlassen. Du bist aber noch ein paar Jahre geblieben.
MG _ Und ich habe dann noch ein sehr interessantes Festival in der Emilia-Romagna erlebt. Ich glaube, das war wohl 1981. Und zwar hatte Gaetano uns, seiner Kerntruppe – zwei Männern und einer Frau – jeweils einen Brief mitgegeben. Wir sind nach Italien gereist, nach Santarcangelo, und haben die Briefe verschiedenen Theaterleitern übergeben. Wir wussten nicht, was drin stand, es waren Empfehlungsschreiben. Ich war dem Piccolo Teatro di Pontedera zugewiesen worden, die beiden anderen dem Teatro Tascabile und der Akademia Ruchu. Ich konnte kein Italienisch und bin hinter – wie heißt er noch mal?
SSch _ Roberto Bacci.
MG _ Ja, hinter Roberto Bacci hergetrottet und musste verschiedene Dinge erledigen, musste einen Ghettoblaster tragen … Bacci und ich sind zum Sportplatz gegangen, da waren zwei große venezianische Puppen. Vier Schauspieler
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seiner Truppe krochen in diese vier Meter hohen Puppen rein; der eine musste unten schieben und der andere betätigte die Arme und die Augenlider und so weiter. Es kam Opernmusik aus dem Ghettoblaster, und für mich blieb das alles sehr geheimnisvoll. Ich dachte: Was ist denn das? Bin ich hier bei einer Theaterprobe, was soll das Ganze? Bis ich verstand, dass es um die Oper Tosca ging. Nach einigen Tagen, unmittelbar vor dem Festival, kamen verschiedene Opernsänger, die sich auf den Balkon des Priesters auf dem Kirchplatz stellten. Dazu kam ein kleines Orchester mit zehn, zwölf Musikern. Es spielte die Musik von Tosca, die Sänger sangen vom Balkon und die Truppe von Roberto Bacci bewegte die verschiedenen venezianischen Großgruppen. Und ich war der Briefträger: Ich musste das tödliche Messer der Tosca-Puppe an die Hand kletten und einen Brief übergeben und so weiter und so fort – es war eine beeindruckende Aufführung.
Sehr schön war, dass alle Gruppen, die sich zum Festival trafen, zwei Gemeinschaftsproduktionen gemacht haben. Einmal eine Gemeinschaftsproduktion, eine Performance nur für die künstlerisch beteiligten Menschen, ohne Öffentlichkeit und ohne Zuschauer, die nicht Künstler waren. Das fand ich sehr berührend. Es waren Beiträge aus verschiedenen Projekten, Produktionen, aber auch Improvisationen, die auf der Burg bei Santarcangelo stattfanden. Die zweite Produktion war eine 18-Stunden-Performance, die auf dem zentralen Platz stattfand, beim Sant Arcangelo, beim heiligen Engels-Bogen. Es fing morgens um vier Uhr an und hörte abends um zehn Uhr auf. Und jede Stunde wechselte der Schauspieler, die Schauspielerin mit einem Fallschirm, der einen Außerirdischen symbolisieren sollte, der an diesem Engels-Bogen gelandet war und die Stadt entdeckte. Parallel liefen jede Stunde unterschiedliche Aktionen um den Bogen herum. Es gab einen Musiker vom Cardiff Lab, der ein Lied mit vielen Strophen komponierte, und alle möglichen Leute sangen dieses Lied. Gaetano Cartolaro war inzwischen auch angekommen und machte eine KehrChoreografie mit 20 Leuten, die Besen schwangen – eine Choreografie, um den Platz vorzubereiten, morgens in aller Frühe. Und dann kamen die verschiedenen verrückten Clowns mit ihren Objekten. Auch das war sehr schön.
Ich habe auch bei Die sieben Todsünden, einer Aufführung des Living Theatre, mitgearbeitet, die in Form einer Prozession durch Santarcangelo ging. In der ausführlichen Vorbereitung gaben Mitwirkende des Living Theatre einen Workshop zum Thema Biomechanik, da war ich auch dabei. Die Zeit mit diesen beiden Festivals ist mir sehr lebhaft in Erinnerung. Dazu habe ich noch einen Butoh-Workshop mitgemacht und afrikanisches Trommeln gelernt, Anfang der Achtzigerjahre … SSch _ Ist das eine Art von Basis gewesen für alles, was du später ästhetisch im Theater gemacht hast?
MG _ Meine Zeit mit Gaetano von Herbst 1979 bis zum Frühjahr 1983 war stark geprägt vom Theaterbau. Wir waren aus unserem Proberaum rausgeworfen worden und standen 1979/80 vor der Frage, wo wir die Ausbildung weitermachen könnten. Gaetano hatte die Idee, ein eigenes Theater zu bauen. Er hat langfristig eine ehemalige preußische Militärkaserne gemietet, die wir dann in den folgenden Jahren ausgebaut haben. Diese Zeit mit Gaetano war extrem konfliktreich; ich will nur noch die letzte Phase meiner Zusammenarbeit mit ihm beschreiben: Das Theater war fertiggebaut und die Schule sollte mit einem Festival des dokumentarischen Films zum Thema „Rituale“ offiziell eröffnet werden. Ich bin also nach Göttingen gefahren und habe 14 Tage lang in einem Institut für Dokumentarfilm geforscht und gesucht. Das war eine sehr interessante Recherchequelle zu den Ursprüngen des Theaters, weil die technische Entwicklung des Films am Anfang des vorigen Jahrhunderts so weit fortgeschritten war, dass man gutes filmisches Material zu einer Zeit bekommen konnte, in der die Globalisierung noch nicht so weit entwickelt war, als dass die ursprünglichen Lebensbedingungen von Völkern, die im Urwald lebten, zerstört waren. Es gab einen großen Schatz von dokumentarischem Material über Verwandlungsprozesse unter Drogeneinfluss, Rituale, religiöse Formen, Mischformen von Theater und religiösen Riten, die auf den Ursprung des Theaters hinwiesen. Mit diesem Material bin ich nach Köln gefahren und Gaetano hat sich gefreut. Und dann sagte er: „Michael, wenn du an der Schule mitmachen willst, sagst du
ab jetzt ‚Sie‘ zu mir und zahlst 500 Mark im Monat wie alle anderen Schüler, die jetzt auflaufen.“ Da habe ich gesagt: „Das mache ich nicht!“ – und bin gegangen.
Danach habe ich gesucht, wo es für mich hingehen könnte, bis ich zwei Jahre später, nachdem ich erst mal länger in der Markthalle in Köln und in einer Reifenfirma gearbeitet hatte und Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte, dich angerufen und gefragt habe: „Gibt es wieder Festivals in Italien? Ich habe daran so schöne Erinnerungen.“ Und du hast gesagt: „Nein, leider ist die Zeit für diesen Sommer vorbei, aber wir machen im Theaterlabor ein Stadtteilfest. Komm doch mal her zu uns und guck dir das an.“ Und damit begann meine Zeit im Theaterlabor. SSch _ Und wie es der Zufall so wollte, hast du dann bei uns auch die Gruppe wieder getroffen, die du in deinem Theaterleben zuallererst gesehen hattest: Cuatrotablas. MG _ Ja.
SSch _ Und du hast die Rolle des King Lear unter der Regie von Mario Delgado (Cuatrotablas) gespielt. Überhaupt gibt es in dieser Zeit eine kompakte Liste von Namen der internationalen Theaterszene, denen wir immer wieder begegnet sind, auch mit dem Theaterlabor. Wie ist das für dich rückblickend gewesen: Hast du diese Vision von Zusammenarbeiten und leben umgesetzt?
MG _ In einer gewissen Weise schon. Die Vorstellung, gemeinschaftlich zu arbeiten und zusammenzuwohnen, war die Vision eines Zwanzigjährigen. Wir haben soziale Verantwortung füreinander getragen und künstlerisch, experimentell gemeinsam geforscht – das war das Projekt, das wir uns realisiert haben, und ich bin sehr glücklich darüber, das erlebt und mitgeprägt zu haben.
SSch _ Gab es Besonderheiten, die du gerne erzählen möchtest? MG _ Ich habe sehr schöne und wertvolle Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit Plavo Pozorište (Belgrad). Da kamen zwei Gruppen zusammen, die sich getraut haben, Einblicke in
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ihre sehr persönlichen Arbeitsweisen zu gewähren, und darauf aufbauend gemeinsam kreativ waren. Das ist für mich eine wertvolle Erinnerung. Und dann habe ich so viele Aufführungssituationen in starker Erinnerung, wie wir zum Beispiel Body Fragments in White Horse (Yukon, Kanada) gespielt haben – nein, es war Absurdesque, das haben wir dort gespielt! Wie wir in Tartu (Estland) Tagvögel gespielt haben, vor diesem etwas erstarrten, verwunderten Publikum an einem Tag, an dem Leute mit lauter Blumen in der Hand durch die Stadt zogen. Es war alles recht fremdartig, oder? Oder die hart gekochten Eier bei einem offiziellen Empfang in irgendeiner Stadt in Ungarn. SSch _ Ich erinnere mich mehr an die Buttercreme. Auf der Fahrt waren wir vorher schon in einem Restaurant eingekehrt und satt, als wir ankamen. Und sie hatten alles aufgefahren: Schinkenröllchen mit Buttercreme und Eier und alles, was man mit Buttercreme so gestalten kann. Wir aßen dann nur noch aus Höflichkeit etwas mit.
MG _ Oder die Empörung der Zuschauer in Luckenwalde, als wir dort Vaterland gespielt haben: ihre Empörung darüber, dass wir Deutschland so dargestellt haben, als würde der nationale Egoismus immer in die Katastrophe führen. So kurz nach der Wende waren die Zuschauer empört, dass dieses tolle kapitalistische Deutschland sich selber so schlechtmacht. Es gab richtige Diskussionen, nicht nur in Brandenburg, auch in Łodz (Polen).
SSch _ Ja, die erste Tournee in Brandenburg hatte etwas von Ausland, gerade mit diesem Stück. Die Zuschauer haben so komplett anders reagiert als im Westen.
MG _ Ja.
SSch _ Wir haben es dann irgendwann abgesetzt, weil uns die Zeitenwende auch ein bisschen überraschte, auch das ganz neue, völlig andere Verständnis von Deutschland, das sich uns nun offenbarte. Wir hatten das Stück in einer Zeit entwickelt, als die Zeitenwende so noch nicht absehbar war.
MG _ Mir fällt noch das Jahr 2000 ein als das härteste Jahr, das wir jemals erlebt haben: Wir machten den Umzug in das
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neue Haus, der Boden im Theatersaal war noch klebrig, die Farbe war noch nicht trocken. Wir wussten nicht, wie diese riesige Lichtanlage genau funktionierte, und das größte Festival, das wir jemals gemacht haben, fand zur Eröffnung statt. Gleichzeitig war die ISTA (Internationale Schule für Theateranthropologie) daran angeschlossen und belegte mit 140 Teilnehmern komplett das Haus Neuland in der Nähe von Bielefeld. Wir betreuten Aufführungen nicht nur im neuen Theaterlabor, sondern auch noch im alten Saal, wo wir den anderen Teilnehmern auch unsere eigene Aufführung zeigten. Es wurde im Zirkuszelt, in der Stadthalle und überall gespielt, zum Beispiel in der Kirche in Bethel, wo ich die Gruppe Gardzienice (Polen) betreut habe. Dort musste ein komplettes Theater eingebaut werden, und es gab Konflikte, weil der Regisseur so anspruchsvoll war und immer neue Scheinwerfer verlangte. Das führte dazu, dass ich die Gruppe von morgens acht Uhr bis nachts um zwei Uhr betreut habe. Ich bin um 2:30 Uhr übermüdet nach Hause gefahren und hatte auch prompt einen Totalschaden mit einem Leihwagen. Ich habe die Polizei gerufen, das Auto an die Seite gestellt, bin nach Hause gegangen, habe sehr kurz geschlafen und bin um acht Uhr wieder in der Kirche gewesen. Und drei Tage später sind wir mit unserem Straßentheaterstück Jules Vernes Welt mit einem 7,5-Tonner und unserem Lkw mit Anhänger und 13 Personen nach Łodz gefahren. Dort haben wir diese Katastrophenaufführung gemacht. Es hat durchgängig geregnet und wir mussten alles mit Planen abdecken. Es kamen nur wenige Zuschauer und das Hotel war total schrecklich. Karin (Wedeking) weinte bitterlich. Leo (Altenburg) und ich sind dann noch in Łodz geblieben und haben auf dem Festival eine FaustInszenierung gespielt, in der ich Mephisto war und Leo Faust. Einen Tag vor der Premiere sind Leo und ich nach Görlitz gefahren, haben eine weitere Jules Vernes Welt-Aufführung gespielt und sind in der Nacht zurück nach Łodz gefahren für die Faust-Aufführung am nächsten Tag. Leo und ich hatten durchgesetzt, dass wir das Hotel wechseln konnten, wir waren jetzt besser untergebracht, aber es war wirklich Schlag auf Schlag. Was wir da alles gemacht haben in diesem Jahr!
SSch _ Das hatten wir schon bei Gaetano gelernt. Ich weiß noch: Ich bin morgens um sechs zur Post gegangen und habe dort vier Stunden gearbeitet, dann haben wir bis abends um zehn Uhr das Theaterhaus renoviert und schliefen danach in einem Vier-Matratzen-Zimmer. MG _ Es war eine Zwei-Zimmer-Wohnung, ein Wach-Zimmer und ein Schlaf-Zimmer. So war das eben, das haben wir so gemacht. SSch _ Aber es war auch gefährlich. Wir wissen, dass viele Leute Unfälle hatten, so wie du in der Ausnahmesituation auch. Wir sind immer an unsere Grenzen gegangen. MG _ Ich war froh, dass es inzwischen Airbags gab.
SSch _ Aber du warst gar nicht schuld an dem Unfall.
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MG _ Nein, es gab noch einen Prozess danach. Ja, und ich war nicht schuld.
Dieses Gespräch führte Siegmar Schröder am 26. August 2023 in Bielefeld.
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Siegmar Schröder: Ausflug nach Italien Eigentlich war es nur der Stress mit meiner damaligen Freundin, der mich in ein weiteres italienisches Abenteuer warf. Mein Freund Harald Otto Schmid 4 hatte sich für ein dreimonatiges Seminar über die Commedia dell’Arte in Venedig angemeldet und fragte mich, ob ich einen kleinen Transport mit seinen Sachen dorthin machen könnte. Ich fuhr damals einen alten VW-Bulli und fand die Idee verlockend, ein wenig Abstand zu meinem Privatleben zu nehmen. Da mein Freund noch keine Unterkunft in Venedig hatte, verbrachten wir unsere erste Nacht im Bulli. Ich schlief vorne auf der Sitzbank und wurde mitten in der Nacht geweckt, weil mich jemand an den Füßen berührte. Ich wachte auf – und blickte in den Lauf einer Pistole.
Der Polizist sprach sehr schlecht Englisch und versuchte uns zu erklären, dass es dort, wo wir lagerten, sehr gefährlich sei, und wir lieber woanders hinfahren sollten. Wir fanden dann einen illegalen Parkplatz auf dem Gelände des Güterbahnhofs, wo auch Einheimische ihre Autos abstellten. Es war dort so verwinkelt, dass ein Abschleppwagen nicht hinkommen würde, so stuften wir das Risiko des Wildcampens als relativ gering ein.
Ich begleitete meinen Freund zum ersten Treffen beim Teatro All’ Avogaria und fragte, ob ich bei dem Theaterkurs auch mitmachen könne. Sie stimmten zu, aber es stellte sich heraus, dass es in Venedig keine Wohnmöglichkeiten gab. Also hausten wir zunächst für ein paar Wochen in meinem Bulli am Güterbahnhof (im Januar!) und liefen jeden Tag durch die Stadt zum Theater. Neben der faszinierenden Schönheit von Venedig im Nebel hatten diese Übernachtungen im kaum isolierten VW-Bus aber auch etwas ziemlich Unromantisches: Der gefrierende Nebel sorgte für eine Schicht Raureif auf unseren Schlafsäcken und wir waren morgens immer sehr froh, in die bald angestammte Bar zu kommen, wo der heiße Cappuccino 4
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im Stehen uns erwärmte. (Im Sitzen kostete der Kaffee mehr und das konnten wir uns nicht leisten.) In der Toilette der Bar machten wir uns für das Training fertig. Und dann beschäftigte uns die ganzen Tage das intensive Studium der Commedia dell’Arte, das aus verschiedenen körperlichen Elementen zusammengesetzt war, der geschichtliche Hintergrund und das Einstudieren verschiedener Szenen von Goldoni bzw. Gli ultimi Carnivali di Venezia von Giovanni Poli, dem früheren Leiter des Teatro All’ Avogaria.
Herausragend war dabei die Arbeit mit Tomaso Tedesca über Bewegungsabläufe der Zanni, der rauen Gesellen, die aus den Wäldern Bergamos mit starkem Dialekt und ungehobeltem Verhalten in die Welt der Zivilisation eindrangen. Sie bewegten sich wie balinesische Tänzer mit weit ausholenden Bewegungen der Beine und mit angewinkelten Knien und waren allein durch ihren Gang bereits Karikaturen. Damals gab es keine Überlieferung der Ausbildung für die Commedia dell’Arte, aber Giovanni Poli hatte sich wie ein Archäologe um eine lebendige, in die Moderne übertragene Methode verdient gemacht. Die Bewegungsabläufe wurden aus alten Zeichnungen und Gemälden hergeleitet. In der späteren Verschriftlichung der improvisierten Stücke durch Goldoni wurde deren wilder Charakter geglättet. Die Zanni verschwanden mit der Zeit und ein weniger rebellischer Arlecchino übernahm ihre Rolle. Die Stücke waren im Repertoire vieler italienischer Theater, doch es wurden eigentlich nur Klischees bedient. Giovanni Poli war einige Jahre zuvor gestorben und das Theater versuchte nun, sein Erbe zu bewahren. Abends kehrten wir immer in den nicht wintertauglichen Bulli zurück und hatten nachts bei Frosttemperaturen leichten „Schneefall“ durch unsere feuchte Atemluft. Am frühen Morgen nach einer solchen frostigen Nacht wurden wir wieder einmal von der Polizei geweckt. Diesmal allerdings mit einem
Harald Otto Schmid hat nach seiner Zeit in Italien zusammen mit Dietlind Budde in Bielefeld 1993 das Alarm Theater gegründet.
großen Kommando. Unter vorgehaltenen Maschinenpistolen mussten wir so, wie wir in den Schlafsäcken lagen, aussteigen und uns auf die Bahngleise stellen. In Unterhosen und barfuß standen wir dort von ca. zehn Polizisten einer Spezialeinheit umzingelt, die sehr nervös an den Abzügen ihrer MP spielten. Wir versuchten, uns nicht zu bewegen, da wir den Eindruck hatten, dass das gefährlich werden könnte, aber wir zitterten beide vor Kälte. Die Polizisten ließen sich viel Zeit, den Bulli zu durchsuchen und unsere Papiere zu überprüfen. Wir hatten natürlich keine Aufenthaltsgenehmigung und standen an einem Ort, an dem sich keine Touristen aufhielten. Irgendwann überzeugten wir den Commandante davon, dass wir harmlos waren und die Waffen wieder gesichert werden konnten, sodass wir nicht aus Versehen wegen unserer Zitterbewegungen erschossen wurden. Bald verschwand das Sonderkommando auch wieder. Erst später wurde uns klar, dass dieser Polizeieinsatz im Zusammenhang mit der Entführung von Aldo Moro durch die Roten Brigaden stand: Die Polizei zeigte überall Präsenz und verhagelte den Einheimischen die Freude an den Festlichkeiten des venezianischen Karnevals. So rückte zum Beispiel auf dem Campo Santa Margherita, auf dem eine Tanzveranstaltung angekündigt war, kurz vor deren Beginn eine Hundertschaft Carabinieri an; und ich erlebte eine Szene, die sich mir nachhaltig einprägte, da sie zeigte, was mit zivilem Engagement möglich ist. Zunächst waren viele Menschen, die feiern wollten (auf diesem abgelegenen Platz waren das eher Einheimische und nicht so viele Tourist*innen wie sonst in der Stadt), aufgebracht wegen der Polizeipräsenz. Allen war bewusst, dass inmitten der Tanzenden weder Aldo Moro noch seine Entführer zu finden sein würden. Dann gingen einige verbal auf die Polizisten los und verwickelten den Einsatzleiter in aufgeregte Diskussionen. Ein Fotograf schoss ein paar Bilder, woraufhin er festgenommen wurde und den Film herausrücken sollte. Das brachte das Publikum noch mehr auf. Protest wurde laut, mehr und mehr Leute schlossen sich an und die gesamte Hundertschaft zog sich schließlich zurück. Dann wurde Musik gespielt und gefeiert. Zwei Dinge erlebte ich dort, die ich von Deutschland so nicht kannte: die Zivilcourage, gegen einen als ungerechtfertigt empfundenen
Polizeieinsatz sofort zu reagieren, und den Rückzug der Polizei, der möglicherweise sogar mit der Einsicht verbunden war, dass ein solcher Aufmarsch beim Karneval der Bevölkerung nicht etwa ein Gefühl von Sicherheit gab, sondern massives Unbehagen auslöste. In Deutschland gab es in vergleichbaren Situationen wenig Courage und eine zurückweichende Polizeieinheit wäre als Zeichen der Schwäche nicht möglich gewesen. Im Gegenteil hatte ich in völlig friedlichen Situationen regelrecht aggressive Aktionen der Polizei gegen Demonstrierende erlebt, weil sie mit Konfrontation nicht anders umgehen konnte. Wir waren in Deutschland noch sehr von den Erfahrungen aggressiver Einsätze bei Demonstrationen gegen Atomkraft in Brokdorf und Grohnde geprägt.
Ich stand nun vor der Aufgabe, eine neue Sprache (Italienisch) zu lernen, begleitet vom Veneziano und Bergamasco der Commedia dell’Arte. Wir waren Ausländer und vieles, was in Deutschland selbstverständlich war, wurde hier zum großen Problem. Allein schon die Suche nach einer besseren Wohnmöglichkeit. Zum Glück fanden wir einen Deutschen, den Direktor eines im Aufbau befindlichen europäischen Instituts für Denkmalpflege auf der Insel San Servolo, der uns anbot, für ein paar Wochen in dessen noch nicht belegten Gästezimmern zu wohnen. Wir freuten uns sehr über den Komfort mit fließend warmem Wasser und Badezimmer, mussten aber doch noch manchmal im Bulli übernachten, wenn wir die letzte Fähre vom Festland abends um halb zehn nicht erreichten. Die Insel war irgendwie unheimlich. Manchmal hatten wir das Gefühl, dass es dort spukte. Die ganze Insel war als eine psychiatrische Anstalt genutzt worden, die, wie so viele im Zuge der großen italienischen Psychiatriereform geschlossen worden war. Ein kleiner Teil der Insel am Anleger war noch von Menschen mit psychischen Problemen bewohnt. Ergänzend dazu gab es in der Stadt eine Auffangstation, falls jemand von ihnen die letzte Fähre verpasste. Einige Gebäude waren frisch renoviert und einer neuen Bestimmung übergeben worden, wie zum Beispiel das Gebäude des Europäischen Zentrums für Denkmalpflege, in dem wir wohnten. Kurz dahinter befand sich
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ein Bauzaun, der die Insel teilte, und man konnte anhand des Baumbewuchses erkennen, dass dieser Teil seit Jahrzehnten nicht genutzt wurde. Wir waren sehr neugierig und sind auf die andere Seite des Zaunes geklettert und konnten in ein verlassenes Gebäude gehen, in dem eine unheimliche Atmosphäre herrschte. Wir fanden eine Druckkammer und Elektroschockgeräte unter einer dicken Staubschicht, eine verschlossene Tür und wunderten uns darüber, warum denn innerhalb des zugänglichen Gebäudes eine Tür verschlossen war. Also gingen wir von außen zu dem Fenster und machten Räuberleiter, um abwechselnd hineinzusehen. Ein Arbeitszimmer mit einem großen Tisch und einem wandfüllenden Regal – dieses Bild hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt und ich kann es heute noch, nach über vierzig Jahren, ganz genau abrufen. Auf dem Tisch lagen verschiedene Instrumente wie Skalpelle, Klammern, Scheren und Tupfer, soweit man es unter der fingerdicken Staubschicht erkennen konnte. Durch die dichten Spinnweben hindurch sah man ein großes Glas mit einem Gehirn in einer Flüssigkeit. Dahinter im Regal befanden sich ca. 30 weitere Gläser mit Gehirnen und eine ähnliche Anzahl an Totenschädeln, mit kleinen Schildchen versehen. Wir waren ziemlich geschockt, wandten uns ab und sahen hinter dem Haus einen kleinen Hügel, der in der Lagune von Venedig keinen natürlichen Ursprung haben konnte. Es stellte sich heraus, dass dort menschliche Knochen herausragten und diese mit Erde und Kompost vermengt aufgeschüttet worden waren. Für uns war es logisch, dass dies die zugehörigen Gebeine waren, die man dort unter dem Hügel vergraben hatte, da beim Eingraben in die Erde das Grundwasser der Lagune verseucht worden wäre. Da diese Schädel, Gehirne und Gebeine nicht im eigentlichen Sinne bestattet worden waren, malten wir uns aus, was vor 40 Jahren im Zweiten Weltkrieg in dieser Psychiatrie wohl vor sich gegangen sein mochte.
Wir nahmen dann noch Bilder aus dem Bereich der Art brut als weitere Arbeitsgrundlage hinzu und bekamen vom örtlichen Metzger ein Schafshirn, an dem wir ‚Hirnstrommessungen‘ vornahmen … Ich habe auch einige halbherzige Recherchen zu der Fragestellung, was mit diesen Menschen auf San Servolo passiert war, angestellt, jedoch gemerkt, dass selbst die italienische Forschung große Probleme hatten, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und zu klären, ob es in Italien medizinische Versuche oder Euthanasie an Insass*innen psychiatrischer Einrichtungen gegeben hat.
30 Jahre später, bei einem Besuch der Kunst-Biennale von Venedig, war auch die Insel San Servolo ein Ausstellungsort. Sie war komplett renoviert und ich musste mich orientieren. Das Zimmer mit den Gehirnen war nun ein Gästezimmer und auf dem Hügel befand sich eine Aussichtsplattform aus Beton, von der aus man einen schönen Blick auf die Lagune hatte. Ich frage mich, ob man beim Umbau die Knochen geborgen und zusammen mit den Gehirnen und Schädeln ordentlich bestattet hatte – oder ob sie noch unter der Betonplatte lagen?
Auch jetzt nach über vierzig 40 Jahren ist das Kapitel für mich nicht abgeschlossen und ich muss mich vielleicht noch weiter künstlerisch damit auseinandersetzen.
Dieses Thema ließ mich in meinem ganzen Theaterleben nicht mehr los. Eine Arbeit, Seance von 2017, war direkt davon inspiriert. Bei unseren ersten Improvisationen, die wir in der Toskana in einer Scheune machten, arbeiteten die Schauspieler mit geschlossenen Augen. Ich erzählte dazu diese Szenerie.
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Theaterlabor, Plakat Séance, 2014
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Henning Fülle: Impulse von den Rändern Wenn ich mich an meine eigenen Aktivitäten und Lektüren in den 1970er Jahren erinnere – ich habe von 1969 bis 1975 in Marburg studiert und bin anschließend nach Westberlin gegangen –, fällt mir bei den in diesem Kapitel versammelten Berichten und Schilderungen vor allem auf, dass die Akteur*innen, die hier sprechen, das getan, praktiziert haben, worüber ich vor allem gelesen und – freilich durchaus leidenschaftlich – diskutiert habe, in manchen Seminaren, in selbst organisierten Arbeitskreisen, Basisgruppen in und an der Peripherie der Universität. Aber auch am Kneipentisch oder in Wohngemeinschaften am Küchentisch.
Von besonderer Bedeutung und Atmosphäre und den Kontext deutlich treffend, sei hier Peter Schneiders Lenz5 genannt, jene Paraphrase auf Georg Büchners Erzählung über die tragische Figur des Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz, der etwa eine Generation vor Büchner gelebt hatte. In ihrer beider Leiden an den vor- und nachrevolutionären Zuständen in Deutschland um die Wende zum 19. Jahrhundert spiegelte Schneider die westdeutschen Zustände nach 1968, dem Jahr der Revolte: die in sozialliberalem Reformismus verfestigte Wiederherstellung eines nur leicht modernisierten Kapitalismus und die abstrakte Sterilität der Neuen Linken. Diese begab sich in den 1970er Jahren auf die Pfade einer hedonistischen Lebensreform oder in die schrecklich ernst gemeinten studentischen Reenactments einer Kommunistischen Partei oder den ebenso schrecklich ernst gemeinten Gang in den Untergrund der RAF und der Bewegung 2. Juni. Vor diesen Hintergründen schienen die Entwicklungen in den europäischen Ländern, in denen die Linke nicht radikal ausgerottet worden war, ersehnte Möglichkeiten des Ausbruchs aus den deutschen Zuständen: so in Frankreich, wo die dortige 1968erRevolte die Verbindung mit den Gewerkschaften erreicht und die IV. Republik an den Rand des Umsturzes gebracht hatte; so in Italien, wo die Kommunistische Partei in der Kommunal5
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Peter Schneider: Lenz, Berlin: Rotbuch Verlag 1973.
und Regionalpolitik sowohl die Industriearbeiterschaft als auch die Landarmut im Mezzogiorno zu organisieren vermochte und einen „Euro-Kommunismus“ genannten Sonderweg jenseits der Moskauer und der Pekinger Variante hervorbrachte; so in Portugal, wo 1974 revolutionäre Offiziere im Bündnis mit den Gewerkschaften, den Commissiones Orbreras, das faschistische Salazar-Regime stürzen konnten. Das waren für Schneider und viele junge Menschen, die die im Zuge der sozialliberalen Bildungsreform rasant wachsende Universitätslandschaft bevölkerten, Ansätze politischer Praxis, nach der sie sich sehnten.
Überhaupt war PRAXIS! für viele ein Fanal, an dem sich die Geister schieden: machen, eingreifen, etwas umsetzen, verändern und zwar hier und jetzt, anstatt durch endlose Theoriebildung und Analyse Wege zur Mobilisierung des ‚revolutionären Subjekts‘ zu finden, der Arbeiterklasse, die sich aber so gar nicht anschickte, dieser ihr zugedachten Funktion nachzukommen. Für die einen wurde diese Forderung nach Praxis zum heftig gefühlten Imperativ, für andere jedoch zum Ausdruck orientierungsloser voluntaristischer Handwerkelei, die sich moralisch verbrämte und sich so gegen die Kritik der Strateg*innen, der ewig diskutierenden Intellektuellen, immunisierte. Die in diesem Kapitel versammelten Erzählungen und Berichte über das Umfeld, in dem Siegmar Schröder zum Theaterpraktiker wurde, zeigen dabei in der Tat die Kräfte, das Vermögen solcher Praxis, die aber häufig aus zufälligen Konstellationen und spontanen Entscheidungen entstand und tatsächlich auch von einem gewissen Voluntarismus getragen war. Die Energien, die solche Praxis antrieben, hatten eine innere Bereitschaft und tiefe Bedürfnisse nach Autonomie und Entgrenzung zur Voraussetzung; zu ihrer Realisierung bedurfte es aber auch gewisser Freiräume, die sich sowohl aus Verunsicherungen der Elterngeneration ergaben wie auch aus den
wohlmeinenden liberalen Reformen vor allem im Bildungsbereich. Die Reformschule nach der Konzeption Hartmut von Hentigs und die Reformuniversität in Bielefeld eröffneten ebensolche Freiräume für einen jungen Mann, dem die Kunst und das Theater nicht in die Wiege gelegt waren. Ausprobieren, der subjektiven Intuition folgen, „einfach machen“ lautete zunächst eine Devise Siegmar Schröders; dem Zufall, dem Einfall folgen, ohne den strengen Blick auf die Folgen, weder beabsichtigte noch unvermutete. Tiefes, existenzielles Erleben und Erfahren und die Sehnsucht danach waren Kriterien für Entscheidungen und Handeln, wofür das Feld der Kunst die Möglichkeiten bereithielt. Dieses spontane „mal mitmachen“ und dann da „hängen bleiben“, von dem die hier zu Worte kommenden Akteur*innen (und viele andere) berichten, hat oftmals Biografien einschneidend verändert – wenn auch für manche mit anderen, problematischeren Ausgängen als die positiv-produktiven, von denen hier berichtet wird.
Ich selbst betrachtete die Bemühungen um Praxis damals eher skeptisch bis ablehnend und war der Überzeugung, dass es zunächst der soliden Theoriebildung bedürfte, als Voraussetzung dafür, neues Klassenbewusstsein in der Gesellschaft zu verbreiten. In diesem Sinne habe ich mich bald nach dem Ende des Lehrerstudiums der gewerkschaftlichen Jugendbildungsarbeit und später der politischen Bildung zugewandt. Selbstaufklärung als Voraussetzung für die Aufklärung der Arbeiterjugend, darum kreiste die innere Orientierung, in der ‚Praxis‘ vor allem intellektuelle Praxis war, im Gegensatz zu jener eingreifenden, unmittelbaren, konstruktiven, der nicht nur die Theaterleute jener Jahre folgten.
Und neben der Praxis die Internationalität: Erinnert sei vor allem an das „arme“, körperliche Theater, das Jerzy Grotowski in Polen in seinem Laboratorium entwickelt hatte und das einen zentralen Impuls für Eugenio Barbas Odin Teatret in Holstebro bildete; an Peter Brook, der in England und dann Frankreich Wege aus dem erstickenden Traditionalismus suchte; an die 6
Ansätze des französischen Théatre National Populaire der Planchon, Blin, Mnouchkine – neue künstlerische Aufbrüche zu einem „Dritten Theater“, wie Eugenio Barba es 1976 bezeichnete 6. Dazu die Einflüsse vor allem aus den USA, von wo aus die kunstrevolutionären Tendenzen, die in den1930er Jahren aus Deutschland, aber auch aus Russland vertrieben worden waren, gewissermaßen zurück nach Europa kamen: Living Theatre, Bread and Puppet Theatre, La MaMa etc., die teilweise noch mit Erwin Piscators Dramatic Workshop in New York in Berührung gekommen waren oder mit Lee Strasbergs Version – Actor’s Studio – der Methodik Stanislawskis. Und nicht zu vergessen: die Theoretisierung der antiautoritären Revolte als modern-zeitgemäßer Weg in die Revolutionierung der spätkapitalistischen Gesellschaft durch den exilierten Herbert Marcuse. Überall waren kulturelle und politische Aufbrüche wahrzunehmen – nur in Deutschland war das kurze antiautoritäre Aufblühen rasch wieder versandet. Solch internationalistische oder auch nur italien-, spanien-, portugalsüchtige Romantik hatte die grauenvolle Vertreibung und Auslöschung aller nicht-deutschen und nicht-germanischen, nicht-arischen Kunst und Kultur und ihrer Protagonist*innen durch die Nazis als Hintergrund in Deutschland: Vorbilder und Lehrer*innen für solche Aufbrüche waren in nennenswertem Umfang in Westdeutschland tatsächlich einfach so gut wie gar nicht anzutreffen. Da waren Hartmut von Hentigs Laborschule und Oberstufenkolleg, durch das Siegmar Schröder gegangen ist, schon eine fast revolutionär zu nennende Ausnahme, obwohl sie sich doch nicht so verstand: Liberal wäre die richtige Bezeichnung. Wolfgang Abendroth war in Marburg der einzige tatsächlich als Kommunist zu bezeichnende akademische Lehrer an einer westdeutschen Universität – der freilich durch seine Verbindungen zur kommunistischen Praxis der osteuropäischen Länder und der DDR nicht gerade für ein befreites, befreiendes Denken und Handeln stand. Es gab also für den Aufbruchswillen und das Aufbruchsdenken der jungen Generation, die die festgefügten Regeln und Normen
Eugenio Barba, Das Dritte Theater, in: ders.: Jenseits der schwimmenden Inseln, Reinbek: Rowohlt 1985, S. 215–217.
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der Nachkriegsrestauration infrage stellte, im Lande selbst politisch oder künstlerisch kaum Personen oder Institutionen der Orientierung und Perspektivierung ihrer Sehnsüchte. Die radikale Aufbruchsrhetorik, die auch als eine gewisse Romantik lesbar ist, war jedenfalls auch blanker Reflex auf die gesellschaftliche und kulturelle Tabula rasa, die die Nazis im Deutschen Reich hinterlassen hatten.
Für mich selbst war in jenen Jahren vor allem die englische Sprache der Beat-Musik und die französische Sprache Schlüssel zu jener Internationalität, die ich als Tramper auf ausgedehnten Reisen durch ganz Westeuropa zu leben suchte: auf dem Damrak in Amsterdam, am Piccadilly Circus in London, um die Place Pigalle und auf dem Boulevard St. Michel in Paris zum Beispiel, wo sich die Hippies – deutsch: Gammler – trafen, die Herbert Marcuse mit seinem Bild von der „Großen Weigerung“ im Blick hatte, die sich den Konsensen der spätkapitalistischen Gesellschaft entzogen.
Und schließlich: der Körper! (Und auch: die Seele!) Ich will das ebenfalls (wie hinsichtlich der Antinomie von Theorie und Praxis) mit Blick auf das private Erleben beschreiben. Intellektualität und Theoriebildung als Hauptwege der Selbstbildung entsprachen einer tiefen Dissoziation von Körperlichkeit und Gefühl, die ich dann bald als adoleszierender junger Mann zunächst als dumpfe Unfähigkeiten und als tief schmerzlich erlebt und durchlitten habe. Erst langsam und spät, mithilfe verschiedener Psychotherapien (und als selbsttherapeutisch zu verstehender Beziehungsexperimente) habe ich den Zugang zu den vitalen Funktionen von Liebe und Sexualität gefunden. Dieses keineswegs individuelle Schicksal, das von Margarete und Alexander Mitscherlich, Alice Miller und anderen als das Generationsthema der Kriegskinder und -enkel beschrieben wurde, ist nicht Gegenstand dieses Buches und soll hier auch nicht weiter ausgebreitet werden. Aber vor diesem Hintergrund sind sowohl die Verweigerung von Praxis wie auch die ungeheure Sehnsucht nach Körperlichkeit, nach Gefühl, Erleben und Erfahren und Entgrenzung als gesellschaftliche Reaktionen jener Generation der Kinder der Kriegseltern
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– auf deren Beschädigungen, Traumatisierungen und Unfähigkeiten – zu verstehen. Insofern sind die Übungen, das Training die Prozesse für die Protagonist*innen des Dritten Theaters manchmal wichtiger als die Ergebnisse in Gestalt von Theaterereignissen, von denen übrigens als Kunst zu sprechen in diesen 1970er Jahren durchaus noch verpönt war.
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Theaterlabor, Straßenparade, 1984
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Theaterlabor, Straßenparade, 1984
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Aufbrüche in Italien Siegmar Schröder: Teatro Nucleo Harald hatte in Erfahrung gebracht, dass das Teatro Nucleo, das wir zusammen in Bielefeld gesehen hatten, nicht weit von Venedig seinen Sitz hatte; und so fuhren wir nach Ferrara, um zu erfahren, dass es dort direkt nach unserem Seminar in Venedig einen internationalen zweiwöchigen Theaterworkshop geben würde. Dieser Workshop hatte die Intensität, die ich mir immer gewünscht hatte. Zum Beispiel arbeiteten wir einmal die ganze Nacht durch und mussten am nächsten Morgen bei der Akrobatikstunde besonders vorsichtig sein. Über Grenzen zu gehen und körperliches und psychisches Neuland zu betreten, war für mich genau die richtige Herausforderung, nachdem das Seminar in Venedig ein wenig gemütlich gewesen war. Nach dem Workshop wurde ich gefragt, ob ich als Schauspieler direkt in das Theater einsteigen wolle – und ich war bereit! Auch Harald durfte in einer Schülergruppe weiter dabei sein und ist später als Schauspieler eingestiegen. Ich verdiente zum ersten Mal mit dem Theaterspielen etwas Geld! Es waren ungefähr 700 DM im Monat und sie nannten es „Stipendium“, weil es damit steuerfrei war. In den folgenden Monaten machte ich verschiedene Erfahrungen, die für meine Vision von einem eigenen Theater grundlegend wurden.
Zunächst wurde ich mit einer Rolle in dem Straßentheaterstück Luci bedacht, das mich ein Jahr zuvor als Zuschauer so fasziniert hatte. Nun war ich derjenige, der ins Publikum rasen durfte, der einen Feuerteufel spielen durfte und mit zwei weiteren Spielern gemeinsam einen riesigen Feuerball zu spucken hatte. Während einer Vorstellung in Wiesbaden tätschelte mir ein
Zuschauer den Kopf und ich verstand erst im Nachhinein, dass er die Flammen in meinen Haaren löschte, die sich durch heruntertropfendes Kerosin entzündet hatten.
Ich lernte den intensiven Tourneebetrieb kennen, an Orten in Süditalien wie Conversano, Bari, Locorotondo und Taranto. Die Aufbauphasen in der Tageshitze ohne Schatten waren extrem hart, aber die Aufführungen in der frühen Dunkelheit mit der angenehmen Wärme waren sehr schön. Es gab dann eine Deutschlandtournee und wir trafen viele Künstler*innen immer wieder (La Banda Osiris, Leo Bassi, Gardi Hutter, Magic Bustric etc.).
Ein großes Ereignis war das Theaterfestival des Teatro Nucleo in Copparo (Copparo e i Teatri), zu dem Gruppen aus Europa und Südamerika eingeladen waren. Ich wurde als Aufbauhelfer und Techniker eingesetzt, weil ich behauptet hatte, etwas von Elektrizität zu verstehen. Ich schaffte es allerdings, einen großen Spezialdimmer, der mit Starkstrom gespeist wurde, in die Luft zu jagen, weil die Belegung der Kontakte und die Kabelfarben in Italien doch anders waren als in Deutschland. Die Theatergruppe trug es mit Fassung und es wurde eine improvisierte Lösung gefunden, nur die Legende vom deutschen Ingenieursgenius bekam einen ordentlichen Kratzer ab. Es entstand eine wunderbare Gemeinschaft aller Beteiligten und wir feierten trotz der starken Arbeitsbelastung nächtelang.
Wir wurden zu weiteren der zahlreichen Festivals in Italien eingeladen, die das Land zu jener Zeit in eine blühende Kulturland-
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schaft verwandelten. Vor allem die Emilia-Romagna war damals stark kommunistisch geprägt und überall gab es Kulturereignisse umsonst und draußen. Wir spielten auf vielen der „Feste dell’Unita“ (Pressefeste der kommunistischen Parteizeitung) und es wurden Förderungen für Freie Theater eingeführt.
Beeindruckend war vor allem das Festival von Santarcangelo. Dort spielten wir unsere Theaterstücke und wurden auch noch an einer gemeinsamen ungewöhnlichen Aufführung mit Leo Bassi beteiligt. Ich war vom Teatro Nucleo verantwortlich für diese Koproduktion, und es war das erste Mal, dass ich mich mit dem Thema „site-specific“ befasste. Wir spielten in einem ehemaligen Steinbruch und bezogen eine Gruppe örtlicher Motocrossfahrer ein. Leo begann mit seinem Bühnenprogramm, wurde dann aber von den Motocrossfahrern entführt und durch die Stelzenläufer des Teatro Nucleo wieder befreit (oder es war umgekehrt?). Wir hatten sehr großen Spaß und genossen die Freiheit, die uns die Festivalleitung gewährte.
Es war sicherlich kein Zufall, dass ich mit der Koordination dieser Aktion betraut wurde, da Cora Herrendorf und Horacio Czertok als seriöse Leitungspersonen des Teatro Nucleo ihr sehr skeptisch gegenüberstanden. Sie erkannten, dass ich mit meiner naiven Spielfreude unbefangener an eine solche Inszenierung gehen würde. Diese Variationsbreite zwischen ernsthafter, harter Theaterarbeit und den freien Kräften des unbefangenen Spiels hat auch mein weiteres Theaterleben immer wieder geprägt. Ernsthafter ging es da wieder zu, als sich das Odin Teatret für eine Woche in Bologna einfand und wir zusammen mit anderen Theatern aus der Region an einem Workshop mit Eugenio Barba teilnahmen. Ich erfuhr in dieser Arbeit, wie mit verschiedenen Subtexten dieselbe schauspielerische Handlung unterschiedliche Bedeutungen haben konnte, und dass Regieführen eine Art Spiel sein und damit auch für mich interessant sein könnte. Ich erlebte das Spiel mit den Bedeutungen und der Vieldeutigkeit, das Spiel mit den Zuschauer*innen, das Spiel mit Zeit und Raum, das Erzeugen von Spannung, jenseits von Elektrizität und jenseits eines Textes eines Theaterstücks. Ich erfuhr die Möglichkeit, Autorenschaft, Drama-
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turgie und Regie in der Person des Theatermachers zu verschmelzen. Ohne es schon zu wissen, hatte sich bei mir wieder ein Samenkorn eingenistet. Die Aufführungen von Il Milione (über Marco Polo) und Brechts Asche 2 waren vielleicht der Zenit in der Kunst des Odin Teatret und begegneten mir genau zum richtigen Zeitpunkt als Anschauungsmaterial, wie man Regie und Schauspiel zur Perfektion bringen kann.
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Gespräch mit Horacio Czertok, Teatro Nucleo Siegmar Schröder _ Ich habe im Laufe des Schreibens und beim Führen der Gespräche festgestellt, dass die Anfänge und ersten Motive eine sehr starke Bedeutung für die darauffolgenden Entwicklungen hatten, ebenso das gesellschaftliche Umfeld, Einflüsse, Vorbilder und Idole. Du hast Jahre vor mir in Argentinien begonnen. Wie war das dort?
Horacio Czertok _ Für mich hat alles während des Militärdiensts angefangen, den ich als Soldat in Commodoro Rivadavia in Patagonien, Argentinien, geleistet habe. Ich hatte oft Zeit und wenn ich die Erlaubnis zum Ausgang hatte, ging ich in die Stadt, die die größte in Patagonien war. Ich suchte Kontakt, Freundschaften und Frauen. Wir suchten Zeitvertreib. Ich hatte damals nichts mit Theater zu tun, eigentlich gefiel es mir gar nicht. Auch wenn mich meine Familie oft ins Theater mitnahm, weil das bürgerliche Familien so taten, langweilte ich mich dort zu Tode. Es hatte einen muffigen Geruch, nach Alter und nach Staub. Die Schauspieler machten merkwürdige Bewegungen und sprachen merkwürdige Texte. Es war mir nicht wichtig, um welchen Text es sich handelte, es war vor allem die Art und Weise, wie sie sich auf der Bühne verhielten, die mir nicht gefiel. Ich mochte dagegen das Kino. Dorthin ging ich, so oft ich konnte. Meine Kultur war insofern vor allem kinematografisch geprägt. Ich habe in diesen Jahren grandiose Filme gesehen – zum Beispiel gab es ein deutsches Kino mit Filmen von Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff.
Die französischen Filme der Nouvelle Vague wurden dort ebenso gezeigt wie die italienischen Neorealisten Visconti, Fellini und Antonioni. Auch die Literatur hatte großen Einfluss auf mich, da ich eine Leseratte bin (Topo di Biblioteca). Eines Tages erzählte mir ein Freund von einem Theaterlehrer aus Buenos Aires; ich meinte, dass das nichts für mich wäre, aber er erklärte, dass auch viele schöne Mädchen dabei wären. Dazu muss man wissen, dass es in jenen Jahren schwierig war, sich Frauen zu nähern. Es herrschte eine große Distanz.
Beim Theaterspielen war es aber möglich, Nähe herzustellen. Eine dieser Frauen, denen ich da begegnet bin, habe ich dann tatsächlich später geheiratet (Cora Herrendorf). SSch _ Passierte das im ersten Workshop?
HC _ Nein, in einem der folgenden. Aber es war immer dasselbe: Man ging hin, um Frauen zu treffen. Hätten die Frauen sich mehr für die Konditorei interessiert, dann hätte man eben das Konditorenhandwerk gelernt. Doch irgendetwas hat mich dann doch gepackt und ich begann, mit einer Gruppe zu arbeiten. In einem unserer ersten Stücke im Jahr 1969 hatten wir schon viel von dem umgesetzt, was ich vom Theater wollte. Es gab keine erkennbare Ordnung und die Zuschauer mussten sich zufällig herumstehende Stühle nehmen. In der Mitte war ein großer Müllberg als Bühnenbild aufgehäuft. Sehr laute Musik von Creedence Clearwater Revival lief. Und diese etwas verlorenen Zuschauer, die für das Große Haus bezahlt hatten, mussten sich irgendwo hinsetzen und damit den Raum gestalten. Wir erzählten eine Geschichte des letzten Menschen, der einen Atombombeneinschlag überlebt hat. Nach einer Weile trifft er einen anderen, der ihm sagt, dass er nicht allein ist. Sie erzählen sich Geschichten und Gedichte und der Erste meint, dass es schön ist, einen anderen Menschen getroffen zu haben. Der andere sagt: „Nein, ich bin kein Mensch“ und öffnet sein Hemd, unter dem blinkende elektronische Bauteile zu sehen sind. In einer anderen Szene ging es um die aktuelle politische Situation in Argentinien: Demonstrationen, in die die Polizei schoss, Menschen, die dabei starben. Statt dieses Thema direkt umzusetzen, haben wir zwei Schauspieler wie in einer Bar hingesetzt, die sich unterhalten. Einer spricht darüber, dass diese Demonstranten doch Idioten seien und zu Hause bleiben sollten, statt ein solches Chaos anzuzetteln. Man sehe doch, was in Córdoba passiert sei. (In Córdoba gab es im Mai 1969 bei einer Demonstration 13 Todesopfer.) In diesem Moment fängt plötzlich eine Frau im Publikum an zu weinen. Sie weint derart heftig, dass das Publikum nicht weiß,
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ob es sich der Frau zuwenden oder dem Bühnengeschehen weiter folgen soll. Da diese Frau sehr laut weint und nicht aufhört, unterbricht einer der Schauspieler die Szene und fragt sie, was denn passiert sei. Und sie antwortet, dass ihr Bruder bei der Demonstration in Cordoba getötet worden sei. Der Schauspieler geht mit der Frau daraufhin aus dem Saal und ich als Techniker sage zum Publikum, dass die Vorstellung hier leider abgebrochen werden müsse. Man könne das Eintrittsgeld zurückerstatten. Das Publikum war sehr verunsichert und verließ den Raum nicht. Stattdessen diskutierte es miteinander, ob die Frau vielleicht eine Schauspielerin wäre. So wurden Diskurse über Authentizität geführt. In Wirklichkeit war die Frau eine Schauspielerin unserer Gruppe, die nach der Stanislawski-Methode so starke Gefühle produzieren konnte, dass sie heftig weinen musste. Ich habe also schon in dieses Stück vieles von dem hineingebracht, was ich in den folgenden fast 60 Jahren gemacht habe – unter anderem, wie man elegant das Publikum hinters Licht führen kann. Wenn ich das jetzt lange ausgeführt habe, dann deswegen, weil alles Weitere sich daraus entwickelt hat. Es wurde aus der Idee geboren, den Moment der Begegnung mit den Zuschauern maximal auszukosten. Es geht darum, diesen Moment explodieren zu lassen, wie es zum Beispiel auch Leo Bassi macht. Die wirkungsvolle Provokation, bei der die Leute im Theater nicht weg können, sondern reagieren müssen.
SSch _ Diese Art von Theater war für dich interessant im Gegensatz zum klassischen Drama?
HC _ Das andere konnte ich nicht aushalten. Das war ja nur Blablabla. Mir ging es um die Beziehung zum Zuschauer, der sich getroffen fühlen sollte, provoziert von wirklichen Fakten.
Ich ging dann nach Buenos Aires und traf dort auf die Comuna Baires mit Renzo Casali, auch eine Gruppe von ‚Verrückten‘, die authentisches Theater machen wollten. Auch sie wollten ein Theater machen, das Grenzen aufhob, die Grenzen des Lebens und Arbeitens. Sie warfen das vorhandene Geld zusammen, um nur Theater zu machen. Wir wollten eine andere Welt und hatten keine Zeit, darauf zu warten, dass jemand sie
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veränderte, also machten wir es selbst und sofort. Das war wirklich stark. Einige Jahre haben wir so gelebt und waren für die Stadt ein Skandal, vor allem für die linken Gruppierungen. Wir waren der Rauch in ihren Augen. „Seht, ihr redet darüber, wie die Zukunft sein könnte, aber wir machen sie jetzt und hier.“ SSch _ Keine Theorie, sondern Praxis?
HC _ Das war viel Arbeit. Wir mussten die Besten sein, also arbeiteten wir an der Stimme, an der Akrobatik, am Schauspiel. Es begann eine Art Training, das wir nicht vom Odin Teatret oder anderen kannten. Ich las ein Buch, das mir sehr gefiel, das Barba über Grotowski geschrieben hatte und das vom „armen Theater“ nur mit Körpern handelte.
Wir hatten aber auch das Modell des Living Theatre vor Augen, das Julian Beck und Judith Malina bereits 1947 gegründet hatten, in meinem Geburtsjahr, und das nun bereits 20 Jahre auf dem Buckel hatte. Sie hatten eine Gruppe, eine anarchistische Gemeinschaft gegründet und machten ein Theater, bei dem die Schauspieler die Objekte waren, ein wahrhaft armes Theater, aber reich an Enthusiasmus. Sie waren das Modell, auf das wir uns bezogen. Das einzige Problem des Living Theatre war, dass sie ‚weiß‘ waren. Sie waren US-Amerikaner, die in Lateinamerika nicht gut angesehen waren. Sie waren die Alliierten der Feinde des Volkes, obwohl sie gegen den Kapitalismus waren. SSch _ Hat das Living Theatre zu der Zeit nicht in Argentinien gespielt?
HC _ Nein, sie waren nie in Argentinien, jedoch in Brasilien. Es war die Zeit des Vietnamkriegs und sie waren vehement dagegen. Sie machten Aufführungen auf Plätzen und in den Straßen. Sie machten Stücke gegen die „Marines“, die freiwilligen amerikanischen Militaristen, wirklich sehr stark. Also waren sie ein Bezugspunkt für die Comuna Baires. Aber auch Grotowskis Arbeit über das orientalische Theater interessierte uns sehr, wir waren neugierig in alle Richtungen. Das ging alles ganz gut bis zum nächsten militärischen Staatsstreich (1976), nach dem wir aus Argentinien fliehen mussten.
SSch _ Seid ihr sofort geflüchtet?
HC _ Nein, wir haben noch zwei Jahre im Verborgenen durchgehalten und gehofft, dass es vorbeigehen würde, da es in Argentinien immer solche Militärputsche gab, aber diesmal hörte es nicht auf, sondern wurde immer schlimmer mit Tausenden von Verschwundenen und Toten – unvorstellbar. Ich hatte schließlich Militärdienst geleistet, ich war Soldat in derselben Armee gewesen, die als etwas Gutes galt, auf das man stolz sein sollte: Sie hatte uns von der Herrschaft der Spanier befreit. Aber nun beging diese Armee undenkbare Gräueltaten. Also mussten wir aus dem Land fliehen. SSch _ Ihr konntet euch auch deswegen eine Zeit über Wasser halten, weil ihr eine Theaterzeitschrift herausgebracht habt.
HC _ Die Gruppe wollte sich selbst finanzieren und wir konnten zu der Zeit keine Stücke verkaufen. Also gaben wir die Theaterzeitschrift teatro ’70 heraus, wodurch 20 Leute finanziell überleben konnten. Es gab ja noch kein Internet, es war schwierig, an Informationen über die kulturellen Entwicklungen in der Welt heranzukommen. In Buenos Aires gab es Hunderte von Theatern und Tausende von interessierten Zuschauern. In der ersten Ausgabe sprachen wir vor allem über unser Theater, was wir wollten, wie wir arbeiteten und lebten, und die Leute kauften die Zeitschrift. Später wurde dann die gesamte argentinische Theaterszene abgebildet.
SSch _ Hast du in dieser Zeitschrift dann auch über das Odin Teatret geschrieben und so Kontakt zu Barba bekommen?
HC _ Sicher. Und wir nahmen alle Texte, die wir irgendwo finden konnten. Wir stahlen aus anderen Veröffentlichungen. Wir kümmerten uns nicht um Copyright, wir wollten die Texte herausgeben.
Wir haben dann als Comuna Baires eine erste Reise nach Europa gemacht, weil unser Stück Water Closet ironischerweise ausgewählt wurde, um Argentinien beim Festival in Nancy (Frankreich) 1973 zu repräsentieren. In der Zeit war es das wichtigste Festival für revolutionäres und avantgardisti-
sches Theater in Europa. Das Festival schickte Botschafter in viele Länder, die jeweils das beste Theaterstück eines Landes aussuchen sollten. Nach Argentinien kam Jean François Labouverie, ein Schauspieler des Thèâtre du Soleil. Er musste sich sehr bemühen, unser Stück zu sehen, weil alle ihn zu sich einladen wollten, damit er ihr Stück sah. Er ging aber in unser kleines Theater im Zentrum von Buenos Aires, und das Stück gefiel ihm sehr gut. Er sagte zu uns: „Ich werde euer Stück einladen, aber behaltet es für euch, weil sie mich sonst massakrieren.“ Als dann verkündet wurde, dass wir Argentinien in Nancy vertreten würden, kamen viele Zuschauer und viel Presse zu unseren Aufführungen.
Als wir in Nancy ankamen, begrüßte uns der Festivaldirektor Jack Lang, der dann später französischer Kulturminister werden sollte. Auf dem Festival waren auch Leute aus Italien von der Lotta Continua, also der extremen Linken, die unsere Arbeit sahen und sich in die Comuna Baires verliebten. Sie holten uns nach Italien und wir machten dort eine große Tournee vom Norden bis in den Süden. Wir waren auf dieser Tournee im selben Zirkel zusammen mit Dario Fo. Als wir wieder nach Argentinien zurückkehrten, änderte sich dort die Situation. Sie war vorher schon unangenehm, doch nun wurde es gefährlich. Ich wurde von einer Militäreinheit festgenommen. Ich wurde gefoltert und über längere Zeit sehr schlecht behandelt. Das löste in der Comuna eine große Unruhe aus. Alle wollten nun aus Argentinien fortgehen. Wir bekamen zwar noch Gelder von einigen europäischen Vereinigungen, aber als ich wieder freigelassen wurde – ich war in einem sehr schlechten Zustand, aber konnte mich noch bewegen –, hielten wir mit der Comuna eine Versammlung ab, auf der fast alle der Meinung waren, dass man Argentinien nun verlassen müsse. Nur Cora und ich waren dagegen. Wir waren der Meinung, dass man in Argentinien noch arbeiten konnte und dass noch ein Rest Demokratie vorhanden war. Es war 1974, noch nicht 1976. Wir entschieden also, dass wir uns trennen müssten, und so gründeten wir das Teatro Nucleo (Comuna nucleo). Wir machten die Zeitschrift weiter, und irgendwann kam Material von Eugenio Barba an, den ich nicht persönlich kannte,
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Teatro Nucleo mit Luci, 1982
der mir aber als Herausgeber des Buches über Grotowski bekannt war. Niemand in Lateinamerika kannte zu der Zeit das Odin Teatret. Wir hatten eine Auflage von 3.400 Exemplaren. Die Hälfte davon verkauften wir und die andere Hälfte konnten wir umsonst versenden, da bei der argentinischen Post Büchersendungen nichts kosteten. Also verschickten wir unsere Zeitschrift an alle Theatergruppen in Lateinamerika. Es war gewissermaßen auch eine politische Aktion, um mit den anderen in Kontakt zu treten. Wir widmeten die Ausgabe dem Odin Teatret, auch weil sie denselben Fotografen hatten wie wir: Toni D’Urso hatte die Comuna Baires fotografiert und auch für das Odin Teatret gearbeitet. Wir nahmen seine Fotos als Grundlage und hatten so den Schwerpunkt Odin.
Das Odin Teatret war später im selben Jahr auf das Festival in Caracas (Venezuela) eingeladen, das wegen seines Ölreichtums gut bezahlen und die wichtigsten Theater aus Europa einladen konnte. Als das Odin Teatret in Caracas ankam, gingen sie davon aus, dass niemand sie kennen würde, doch im Gegenteil waren viele südamerikanische Theatergruppen dorthin gepilgert, um das Odin Teatret zu treffen, weil sie unsere Zeitschrift gelesen hatten. Eugenio schrieb uns einen Brief, in dem er sich für die Veröffentlichung bedankte. So entstand unsere Freundschaft. Für ihn war Südamerika wichtig wegen Theatern wie Cuatrotablas, die er sonst nicht kennengelernt hätte. Es ging immer auch darum, Kontakte herzustellen. Ich bin von meiner ursprünglichen Ausbildung her Elektriker, so versuche ich, „Kontakte“ herzustellen.
Es gab also in Argentinien bereits die Grundlage für die spätere Arbeit: eine Idee für die Gruppe und der Autonomie. Unabhängig in jeder Hinsicht zu sein, sich nicht von den Mächtigen finanzieren lassen und nicht in ihre Dienste zu treten. Uns faszinierte die Idee von Straßentheater sehr, aber in Argentinien war das nicht möglich. Es war verboten, und man hätte auf uns geschossen. Wir sind in kleine Dörfer gegangen, um dort ein einfaches Publikum zu finden. Uns interessierte das Volk als Publikum, nicht die Bürgerlichen. Das Schlimme am bürgerlichen Theater war das Publikum. Wir wollten ein populäres Theater mit hoher Qualität machen. Wir wollten sehr hart
arbeiten, um sehr gut zu werden und eine hohe Qualität zu erreichen. Wir wollten verständlich sein, ohne zu reden, auch weil wir ein reisendes Theater machen wollten. So konnten wir dann auch in Italien auftreten, ohne Italienisch zu sprechen. Es war wie eine Wiedererfindung der Commedia dell’Arte. Die Italiener hatten diese fantastische Theaterform erfunden, die sich in alle Welt ausbreitete, bloß nicht in Italien. Die Italiener haben sie begraben. Sie spielen zwar den Arlecchino wie im 17. Jahrhundert, aber nicht mehr als Volkstheater mit hoher Qualität. Die Schauspieler, die den Arlecchino erfunden hatten, würden sich schämen, mit dieser Maske in der heutigen Zeit aufzutreten. Sie machten ein aktuelles Theater, das ihre Zeit reflektierte, mit großem körperlichen Einsatz, mit viel Intelligenz, um damit reisen zu können. In Italien gab es zu der Zeit so viele verschiedene Sprachen. Hier in Ferrara sprach man Ferrarese, aber schon im Veneto verstand man diese Sprache nicht mehr. Und mit welcher Sprache hätte man im Süden auftreten sollen? SSch _ Ihr hattet Kontakte nach Deutschland, Frankreich und Italien, warum also Ferrara?
HC _ Als wir aus Argentinien geflüchtet sind, gab es erst mal keinen Ort, an den wir gehen konnten. Wir kamen zunächst bei Freunden in Mailand unter. Dort wurden wir vom Direktor der Psychiatrie in Ferrara, Antonio Slavich, kontaktiert. Es ging um einen Kongress zur „Neuen Psychiatrie“, den Franco Basaglia mit seiner Organisation Demokratische Psychiatrie veranstaltete. Wir hatten in Buenos Aires bereits viele Jahre in der großen Psychiatrie mit 10.000 Insassen gearbeitet. Dort wurde viel Theater gespielt, und wir entwickelten eine Nähe zu den Patienten und zur Psychologie. Man konnte von der Psychologie lernen, wie sich ein Charakter entwickelt und wie man jemand anderes sein konnte. Durch diesen Bezug hatten wir Basaglia auf einer Konferenz in Buenos Aires kennengelernt. Basaglia wollte die italienischen Psychiatrien schließen. Er sagte, dass das Irrenhaus kein Ort sei, um zu heilen, sondern um krank zu
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werden. Es war ein sehr bedeutsamer Moment, doch die Demokratische Psychiatrie stand vor dem Problem, dass nur die fortschrittlichen Ärzte einen Systemwechsel wollten. Die Patienten wollten das nicht, sie hatten Angst davor, die Anstalten zu verlassen. Die Menschen in den Städten wollten den Wechsel auch nicht, da sie davon ausgingen, dass die ‚Verrückten‘ gefährlich seien. Auch die Mehrzahl der Ärzte wollten keine Veränderung, weil sie ihre Position verlieren würden. Die Pfleger wollten es ebenfalls nicht, weil sie arbeitslos geworden wären. Niemand wollte den Wechsel. Es war eine unmögliche Situation. Einige sagten: „Ja, ihr habt recht, aber die Anstalten sind immer noch die beste Lösung, die wir haben.“ Deshalb haben sich die revolutionären Mediziner an die Künstler gewandt und Slavich suchte Theaterleute. Er hatte schon viel versucht, aber die Theaterleute wollten lediglich ihre Aufführungen in den Anstalten machen, sich aber nicht auf gemeinsame künstlerische Prozesse einlassen. Basaglia regte auf dem Kongress an, dass Slavich die Theaterleute aus Buenos Aires nehmen sollte, da sie bereits Erfahrungen gesammelt hätten.
Und so kam es, dass wir ein Projekt in der Psychiatrie von Ferrara machten, mit dem Ziel, die Institution überflüssig zu machen. Wir arbeiteten an Stücken mit den Insassen, arbeiteten mit den Pflegern und den Ärzten, bildeten eine gemeinsame Gruppe und traten mit der Stadtgesellschaft in Verbindung. Wir veränderten die Realität. Die Leute aus der Stadt kamen nun in die Psychiatrie, um dort Theatervorstellungen zu besuchen. Wir veränderten die Polarität und arbeiteten an dem wichtigsten Thema: die Angst zu überwinden. Wir sind auch mit den Patienten hinausgegangen und stellten fest, dass ein großer Teil der Patienten über viel Geld verfügte, das sie ausgeben konnten. Einmal gingen wir mit einer Gruppe von zwölf Frauen Kleider und Schminkutensilien einkaufen. Sie machten sich schön und waren überglücklich. Die Händler in Ferrara fanden das auch eine gute Idee. In der Psychiatrie waren 1.200 Insassen, das waren 1.200 Kunden. Die kulturelle Arbeit hatte beruhigende Wirkung. Man sah, dass die Patienten nicht gefährlich waren, man konnte sich unterhalten. Es
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war ein Paradigmenwechsel. Wir haben daran über ein Jahr gearbeitet, und dann wurden Wohnungen angemietet, in denen Wohngemeinschaften begründet wurden und die Patienten kamen nach und nach aus der Psychiatrie heraus. Wir stellten für diese ganze Arbeit nur eine Bedingung: Wir wollten den leer gewordenen Teil der Anstalt als Theater nutzen. Die Patienten gingen und wir kamen und bauten unser Theater hinein. Wir hätten nirgendwo ein Theater angeboten bekommen. Wir nutzten so viele Räume, wie wir für den Aufbau der Gruppe benötigten, für Proben und Aufführungen und um Leuten aus der ganzen Welt Bildungsangebote zu machen. Wir veranstalteten internationale Seminare und einen großen Kongress über die Liberalisierung der Anstalten. Wir waren im Fernsehen – zu der Zeit warst du wichtig, wenn du im Fernsehen warst. Noch Jahre später sprachen mich Leute deswegen an. Das hob den Wert unserer Arbeit. Über Jahre wollten wir eigentlich nach Buenos Aires zurückkehren. Wir wollten wieder nach Hause, doch das war nicht möglich. Dann wurden Kinder geboren, die in Italien aufwuchsen, und es wurde immer schwieriger, von dort wegzugehen. Letztlich war Ferrara nicht schlecht. Wir hatten dort keine Konkurrenz. SSch _ Als ich 1982 zu euch kam, war eure Situation schon sehr stabil.
HC _ Sicher, wir haben uns sehr schnell in der Stadt etabliert. Wir sahen die Chance und haben sie ergriffen. Tauchte die Frage nach einem Holzfußboden für den Theatersaal auf, haben wir ihn schnell zusammengezimmert. Man verkauft eine Theateraufführung, kauft davon das Holz und verlegt es. Wir haben nie auf die Kulturadministration gewartet, dass sie für uns etwas tut. Wir hatten immer die Vorstellung, dass niemand etwas für dich tut. Du musst es selbst tun. Dieser Stolz, diese Hartnäckigkeit trieb uns vorwärts. SSch _ Hattet ihr das Gebäude besetzt?
HC _ Am Anfang hatten wir einen Vertrag, dass wir die Arbeit in der Psychiatrie machten und dafür umsonst die leer stehenden Räume nutzen konnten. Nach dem Projekt gab es eine Art Duldung durch die Stadt, da die Räume eigentlich an die Stadt
Workshop beim Teatro Nucleo, 1982
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zurückgegeben werden sollten. Wir gründeten eine Kooperative und konnten noch einige Jahre dort sein. SSch _ Du sprachst darüber, dass die kulturelle Situation in Italien nicht gut war, als ihr dort ankamt. Ich hatte einen gegenteiligen Eindruck, als ich einige Jahre später dort war.
HC _ Ja, da gab es eine große Öffnung mit vielen Festivals, doch die Phase hat nicht lange gedauert. Die Italiener sind leider sehr wechselhaft. Wir hatten jedenfalls angesichts des Unglücks, dass wir unser Land, unser Zuhause, unsere Freunde verloren hatten, auch das große Glück, mitten in die revolutionäre Psychiatriebewegung hineingeraten zu sein und an dem großen Reformprojekt, das von solcher humanitärer Bedeutung war, mitwirken zu können. Und wir hatten ein Theater! Wir wurden auch manchmal eingeladen, an Stadttheatern zu inszenieren. Ich habe es versucht, aber es stellte sich als unmöglich heraus, dort etwas zu schaffen. In einem Stadttheater hast du keine Freiheit. Es kommandiert nicht der Direktor, sondern vielmehr der Hausmeister, der um acht Uhr abends mit dem Schlüssel kommt und alle hinauswirft. Sicherlich mit guten Gründen wegen der Sicherheit etc., aber kreatives Arbeiten war so unmöglich. Wir arbeiteten gerne nachts, das ging nicht. Du kannst dir den Text nicht aussuchen, da der Dramaturg darüber bestimmt. Du kannst die Schauspieler nicht auswählen, vielleicht zwei, drei, aber die Hauptrollen werden vom Haus besetzt. Man muss das Bühnenbild bereits einen Monat vor Probenbeginn entschieden haben und dann während der Proben kannst du nichts mehr verändern.
SSch _ Die Dynamik der Gruppe Teatro Nucleo war besonders. Ein Kollege, der beim Teatro Potlach war, erzählte mir von ähnlichen Dingen dort: sehr früh aufstehen, den Tag mit Training und Akrobatik anfangen und dann bis in den Abend diszipliniert arbeiten. HC _ Normal.
SSch _ Aber diese Dynamik war schon sehr speziell, so kannte ich das von den Theatergruppen in Deutschland nicht.
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HC _ Ich weiß. Auf diese Art und Weise sind unsere Schauspieler sehr gut geworden. Paolo Nani ist ein Beispiel. Er kam als sehr schüchterner Junge zu uns und konnte sich nicht äußern. Er ist zu einem großen Schauspieler herangewachsen. Natürlich habe ich mit ihm gearbeitet, aber vor allem hat er selbst an sich gearbeitet. Er hat sich wie der Baron von Münchhausen am eigenen Schopf gepackt und aus seinem persönlichen Sumpf gezogen. Später hat er das Teatro Nucleo verlassen und seine eigenen Dinge durchgezogen. SSch _ Es ging also auch darum, seine eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln und seine Schauspielerpersönlichkeit zu finden.
HC _ Den eigenen Sinn, die eigene Authentizität. Es ist ein Paradox, da das Theater ein Mittel der Täuschung ist. Man täuscht etwas vor, um keine Angst zu haben und sich selbst zu finden und authentisch zu sein. Das Publikum will das. Und je mehr wir uns mit den Medien weiterentwickeln, desto mehr ist es notwendig, den wahren Menschen zu sehen, der wie ein Mann oder eine Frau riecht. Diese Arbeitsweise ist nicht nur hart. Sie macht auch viel Freude. Die Mönche leben auch so und die Tänzer. Siegmar, kennst du einen einzigen Tänzer, der nicht früh aufsteht und sein Training macht? Und je älter er wird, desto mehr muss er trainieren. SSch _ Auch die Artisten arbeiten so.
HC _ Ein Geigenspieler hat es nicht einmal gelernt und kann es dann, nein, er muss immer wieder die Skalen üben, hochrunter, hoch-runter. Und je älter er wird, desto mehr muss er gegen die Arthritis ankämpfen. Warum kann ein Stadttheaterschauspieler abends um acht betrunken im Theater auftauchen, um dann seine Rolle bis zehn Uhr zu spielen? Es ist eine Frage der Mentalität. Du musst dein Instrument üben und das Instrument bist du. Ich weiß, dass das schwierig ist, aber Arbeit ist eben schwierig. Wenn wir mit 100 Leuten arbeiten, dann kommen zwei davon für uns infrage. Und letztlich entscheiden nicht wir darüber. Ich habe mich zum Beispiel darüber amüsiert, dass ihr, Otto
(Harald-Otto Schmid) und du, aus Venedig kommend an dem internationalen Seminar teilgenommen habt. Du warst sofort sehr klar. Du hast einen Charakter angenommen und es hatte Qualität. Otto machte eher einen verlorenen Eindruck. An einem gewissen Punkt entschieden wir, dass du die richtige Person bist, die in die Gruppe kommen sollte, und Otto nicht. Otto war am Boden und wütend. Mit all seiner Energie ging er in die Schülergruppe und wollte es uns zeigen, dass er es doch auch kann. SSch _ Schließlich wollte er es mehr als ich.
HC _ Er hatte andere Bedürfnisse. Du hast dir alles angesehen und wolltest verstehen, wie es funktioniert, um mit dem Wissen dein eigenes Projekt in Deutschland aufzumachen. SSch _ Ja, manchmal bin ich zu schnell.
HC _ Wir hatten in den Folgejahren eine gute Beziehung. Du hast die Qualitäten unserer Arbeit verstanden und auf dieser Grundlage etwas in Deutschland aufgebaut. Für uns war das perfekt. Denn je mehr Gruppen in der Welt sind, die mit dieser Idee arbeiten, desto mehr Raum gibt es für uns. Es funktionierte gleichermaßen für dich und für uns.
Wir stellten also fest, dass wir für die Gruppe die falsche Person gewählt hatten. Die richtige Person wäre die gewesen, die wir zurückgewiesen hatten. Otto fühlte sich provoziert. Er hätte gehen können, wenn er gewollt hätte. Wir haben ihm gesagt, dass es seine Entscheidung sei. Dann gab es einen entscheidenden Zufall. Wir spielten unsere Straßenparade Luci und Otto sollte Requisiten von einem Ort zu einem anderen transportieren, so dass sie in der folgenden Szene zur Hand waren. Otto sagte zu mir: „Ich kann das doch nicht in Alltagskleidung machen“ und setzte sich aus dem Fundus einen sowjetischen Kapotthut auf und ging damit durch die Zuschauer. Sie sahen nur auf ihn, der nichts Besonderes machte, nur ein paar Objekte hin und her trug. Dennoch hatten sie nur Augen für ihn. Interessant, nicht wahr?
SSch _ Er war er selbst, aber hat im selben Moment zugleich einen Charakter entwickelt.
HC _ Ja, sie sahen ihn an und er reagierte auf seine Weise, es war wie eine Theaterübung. Ich habe viel gelernt daraus. Ich dachte: „Die dummen Zuschauer, die sich nicht die Kapriolen der ‚richtigen‘ Schauspieler ansehen. Alle sehen auf Otto, der eigentlich nichts macht.“ Er war aber eine Figur. Das sind Dinge, die du nicht an einer Theaterschule lernen kannst – ich war auf keiner –, sondern nur, wenn du aufmerksam beobachtest. Du beobachtest Verhalten und lernst. Vor allem lernst du zu verstehen, was du nicht willst. SSch _ Die Schule des Lebens zeigt, was funktioniert und was nicht.
HC _ Schließlich haben wir das verstanden. Nicht wir wählen die Personen aus, die mit uns zusammenarbeiten, sondern sie wählen uns. Wenn jemand bleiben will, ist es die richtige Person. Je mehr dir ein Mensch gefällt, desto wahrscheinlicher ist es, dass er nicht bleibt. SSch _ Wie veränderte sich die Gruppe in den darauffolgenden Jahren?
HC _ Die Gruppe hat sich damit beschäftigt, wie sie überleben konnte, was sie tun konnte, um zu wachsen. Eine Person konzentrierte sich auf die Stimme, eine andere auf Musikinstrumente. Und mit dem Schlaf, der sich durch die anstrengende Arbeit ergab, kamen wieder neue Träume. Denk nur an die MirKarawane (Friedenskarawane), die wir neun Jahre nach unserer Ankunft in Ferrara veranstaltet haben. Schon im ersten Jahr nach unserer Ankunft haben wir das Festival Copparo e i Teatri organisiert, das dann weitere vier Jahre bestand. Wir hatten die Idee und haben es gemacht. Es war ein schönes Festival. Die Idee der Mir-Karawane kam, als wir auf Tournee waren. Wir waren es leid, nur auf den Festivals zu spielen, ohne die anderen Gruppen sehen zu können. Wir wollten sie wirklich kennenlernen und mit ihnen Zeit verbringen. Wir wollten ein Ambiente schaffen, in dem sich die Akteure austauschen konnten, so wie wir es bereits auf den eigenen Festivals ausprobiert hatten. Die Mir-Karawane vereinigte all unsere guten Ideen, nur in Groß – sehr groß. Es gab noch die Berliner Mauer, es gab noch die Sowjetunion. Es gab die Neugier auf
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andere Länder wie zum Beispiel Polen. Wir sind in Länder gefahren, in die niemand wollte. Wir verdienten unser Geld mit Aufführungen in Deutschland und fuhren nach Polen, weil es da das beste Theater der Welt mit Grotowski und Kantor gab. Dort gab es Andrzej Wajda und Gruppen wie Osmego Dnia. Da wollten wir hin. Die Festivals in Polen zahlten nur das Benzin ab der Grenze, und man bekam wenig zu essen. Also finanzierten wir uns selbst. Es lohnte sich aber auch wegen des fantastischen Publikums. Der Sozialismus war sicherlich in vielerlei Hinsicht problematisch, doch im Theaterbereich waren die Polen top. Dort trafen wir dann weitere Menschen und Gruppen, die sich der Mir-Karawane anschlossen. Slawa Polunin mit Licedei durfte nicht im Ausland auftreten, nur in Polen. Wir hatten Glück, das wir ihn dort auf dem Festival in Jelenia Góra trafen.
Das Projekt war wie ein großes reisendes Festival von Süden nach Norden, von Westen nach Osten, bei dem wir sechs Monate zusammenlebten – sechs Monate! Über drei Jahre haben wir damit zugebracht, Geld für das Projekt zu organisieren. Wir hatten uns vorgenommen, 100 Millionen Lire (damals ca. 100.000 DM) einzuwerben, doch es war klar, wenn das Geld nicht zusammenkommt, machen wir es trotzdem. Die Basis für Grundausstattung und Versorgung bekamen wir zusammen, auch weil Jack Lang mittlerweile Kulturminister in Frankreich war und das Projekt gut fand. Die Belagerung der Berliner Mauer durch die Mir-Karawane erinnerte ihn an die Französische Revolution. Die DDR war wirklich schwierig. Ich bin mehrmals dort gewesen, um mit dem Kulturminister über die Möglichkeit zu sprechen, die Mir-Karawane auch nach Ostberlin zu bringen.
SSch _ Aber es war nicht möglich, das Projekt auf der anderen Seite der Mauer zu realisieren?
HC _ Du musst wissen, dass sogar das sowjetische Kulturministerium an Honecker geschrieben hat, dass sie mitmachen sollten, aber sie sagten: „Nein.“ Ganz am Schluss gaben sie nach und sagten zu, dass wir einen Platz in Potsdam bespielen könnten. Der Platz war aber wie ein Lager umzäunt. Sie
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wollten die totale Kontrolle. Da haben wir schließlich aufgegeben und die DDR nur auf dem Weg von Prag nach Westberlin durchfahren. In Prag war die Situation ganz anders; auch dort wurde alles kontrolliert. Aber Vaclav Havel organisierte vor Ort die Mir-Karawane. Wir machten unsere erste Aufführung auf dem Wenzelsplatz, 25 Jahre nach dem Aufstand von 1968, dem Prager Frühling, und ich wollte die Stimme von Vaclav Havel in die Performance Vocifer Azione einbinden. Sein Buch Briefe an Olga. Betrachtungen aus dem Gefängnis war gerade erschienen und er sprach uns einige Passagen auf Band, nicht bei sich zu Hause, weil er Angst hatte, wieder ins Gefängnis zu kommen, sondern direkt vor Ort. Abends bei der Aufführung waren Tausende von Zuschauern da, die enthusiastisch reagierten, als sie seine Stimme erkannten. Das war im Juli, und im November war er tschechischer Präsident. Das Theater kann solche außergewöhnlichen Momente schaffen. Heutzutage vielleicht weniger, aber man versucht es dennoch. SSch _ Bist du für die heutige Zeit und für die Zukunft pessimistisch?
HC _ Nein, das Theater hat Tausende von Jahren überdauert. Es hat Imperien aufkommen und niedergehen sehen. Es ist immer noch da. Grotowski hat gesagt: Je mehr der Mensch sich der Technologie zuwendet, desto mehr wendet sich das Theater dem Menschen zu.
Ich mache das seit einigen Jahren mit der Theaterarbeit in Gefängnissen. Es gibt Parallelen zu der Geschichte der Psychiatrie. In den Gefängnissen werden die Menschen nicht besser. Im Gegenteil – sie lernen dort, noch krimineller zu werden. Jeder, der in ein Gefängnis gesteckt wird, wird dort zum Kriminellen, allein um zu überleben. Wir haben dort unsere Theaterarbeit gemacht und durften dann sogar mit unserer Aufführung ins Stadttheater von Ferrara. Alle Welt kam dorthin und bewunderte die energiegeladenen Schauspieler. Auf diese Weise ändern wir etwas. Sobald wir in ein Gefängnis gehen, um dort zu arbeiten, ändern wir das Gefängnis, weil wir Theater nicht machen können in einer eingeschlossenen Situation, ohne Freiheit. Wenn man in ein Theaterlabor geht,
muss man frei sein. Es gibt also ein großes Veränderungspotenzial durch das Theater.
Ich bin nach wie vor von dieser Arbeit überzeugt und es sind immer mehr Akteure, die in den Gefängnissen der Region diese Arbeit aufnehmen. Mittlerweile haben wir ein Bündnis mit allen Kulturakteuren gegründet, die in Gefängnissen arbeiten, und betreiben eine Schule für diejenigen, die diese Arbeit machen wollen.
SSch _ Vor vielen Jahren war ich auf einem Festival in Volterra und wollte eine bekannte Gruppe sehen, die auch mit Häftlingen agierte. Die Vorstellung fiel leider aus, da auf der Fahrt zum Festival alle geflohen waren. HC _ Ach du Scheiße! Liebe Güte! (Ah, merda!) Das kann passieren. Bei uns nicht, da wir sehr gute Kontrollen haben. Das war aber keine gute Idee – wohin sollten sie denn fliehen?
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SSch _ In die Freiheit?
HC _ Die Freiheit ist teuer.
Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 3. Januar 2024 per Videocall. Übersetzung aus dem Italienischen: Siegmar Schröder
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Abb. S. 22/23: xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Siegmar Schröder: Cowboy im Café In der Zeit der großen Reformen in Italien wandelte sich auch das Straßenbild. Man sah nicht-normtypische Menschen in der Öffentlichkeit. Auf dem Weg zur Arbeit beim Teatro Nucleo gingen wir morgens in eine Bar, um den üblichen Cappuccino mit einem Cornetto zu uns zu nehmen. Meist kam um diese Uhrzeit um kurz vor sieben Uhr auch ein Cowboy in die Bar. Mit zwei Pistolen bewaffnet und mit einer Weste und Cowboyhut ausgestattet ging er leicht breitbeinig direkt zum Tresen, wo er sein Glas Milch bekam. Kurze Zeit später, an einer Straßenkreuzung, wurde der Verkehr von einem Polizisten gelenkt. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es kein echter Polizist war. Doch er machte seine Sache sehr gut, und die Verkehrsteilnehmer*innen und wir als Fußgänger befolgten seine Anweisungen. Wir gingen dann weiter zum morgendlichen Training in das Theater, das in einem leer stehenden Trakt einer ehemaligen großen psychiatrischen Anstalt untergebracht war. Das Teatro Nucleo hatte einige Jahre zuvor diese Räumlichkeiten gefunden. Ein kleiner Teil des Gebäudes auf der anderen Seite eines Innenhofs war noch von sehr ‚schweren Fällen‘ bewohnt, mit denen wir manchmal interessante Begegnungen hatten.
wieder Kleidungsstücke geflogen kamen; abends sammelten die Wärter sie wieder ein. Einmal probten wir an der Stelle die Musik für unsere Straßenparade und plötzlich landete ein Haufen Exkremente auf der Trommel. Wir verstanden das nicht als Zustimmung und verlegten unseren Probenort. Wahrscheinlich befand sich hinter der hohen Mauer die Abteilung für die schweren autistischen Fälle. Ich konnte zu dem Zeitpunkt nicht wissen, wie sehr mich dieses Thema in meinem späteren Leben als Vater eines autistischen Jungen einholen würde.
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Bei unserer Stimmarbeit, bei der wir versuchten, die ganze Breite der menschlichen Stimme auszuloten und dabei auch viele ‚unmenschliche‘ Laute erzeugten, kam oft eine Resonanz vom Innenhof, wenn wir bei offenem Fenster arbeiteten. Es wurde geschrien, gelacht, lamentiert, dass es sich manchmal wie ein Dialog der Stimmen anhörte. An einer Stelle im Hof gab es eine hohe Mauer, über die im Laufe des Tages immer
Theateraktion mit Leo Bassi, 1986
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Interview mit Robert Jakobsson, Teater Albatross Siegmar Schröder _ Was machte die Faszination für das Theater für dich aus, als du jung warst?
Robert Jakobsson _ Als Kind ging ich manchmal mit meiner Mutter in unser örtliches Stadttheater. Es hat mir zwar gefallen, aber nicht besonders. Mit 22 Jahren sah ich zufällig in Wrocław (Breslau) Grotowskis Apocalypsis cum Figuris. Ich wusste nicht, dass es sich um ein berühmtes Theater und ein berühmtes Stück handelte. Ich war nur zufällig eingeladen worden und wollte gar nicht unbedingt dorthin: Theater auf Polnisch?! Doch der Abend hat mein Leben verändert. Die Erfahrung war ruhig und tiefgründig, ich sah mich als Teil des großen Kosmos. Ich beschloss, dass ich eines Tages selbst Theater machen würde. Fünf Jahre später begann ich, den Plan umzusetzen, etwas Ähnliches zu machen wie das, was ich gesehen hatte. Ich stieß auf ein Buch über die Inszenierung, die ich in Wrocław gesehen hatte, und begriff, dass ich Grotowski gesehen hatte! Durch das Buch erfuhr ich auch vom Odin Teatret; ich nahm Kontakt auf – und alles begann. SSch _ Erzähl von deiner Zeit im Teatro Nucleo und dem kulturellen Leben dieser Zeit.
RJ _ Zusammen mit Ulf Skogsén und Pita Fridell arbeitete ich vier Jahre lang in einer Gruppe mit dem Namen Eldteatern. Wir waren im Wesentlichen Autodidakten. Allerdings wurden wir zeitweise von Ingemar Lindh angeleitet, einem Schüler von Etienne Decroux, der uns einige Werkzeuge aus Grotowskis Akrobatiktraining nahebrachte. Hauptsächlich haben wir aber allein gearbeitet – in den tiefen Wäldern Schwedens. Wir kamen in „Kulturhusets“ von Bauernverbänden unter. Oft gaben sie uns unseren Trainingsort (und Schlafplatz) mehr oder weniger umsonst. Das waren die späten 1970er Jahre. Wir waren jung und ein Teil dieser Generation des politischen Aufbruchs, Linksradikalismus wurde damals unter Kulturschaffenden kaum infrage gestellt. Eldteatern machte ein recht komplexes Theater: Es ging uns mehr darum, Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu geben.
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Eldteatern hatte großen Erfolg und tourte viel in Europa. Auf einer Tournee in Italien lernten wir Nucleo kennen. Sie halfen uns bei den Auftritten in Ferrara, in verschiedenen Vororten. Als Eldteatern sich auflöste, ging ich zum Teatro Nucleo. Ich war froh, eine Art Schüler und nicht mehr für die Leitung des Theaters verantwortlich zu sein. Das gesamte kulturelle Leben in Ferrara war für mich das Teatro Nucleo. Wir arbeiteten pausenlos. Riesige Steinsäle, kalte Winter, ich sprach kein Italienisch, die ‚verrückten‘ Leute auf der anderen Seite der Mauer. Ich habe meine Frau dort kennengelernt. Und ebenso Aasa, die Frau, mit der ich jetzt seit 20 Jahren zusammen bin. Dafür bin natürlich dankbar. Andererseits herrschte am Teatro Nucleo eine autoritäre Struktur und Atmosphäre, die das Leben manchmal schwierig machte. Ich kehrte dann zurück nach Schweden und gründete das Teater Albatross.
SSch _ Was hat es mit deiner besonderen Beziehung zur jüdischen Kultur und den afrikanischen Projekten auf sich?
RJ _ Ich habe mich immer für das interessiert, was die Leute „schwierige Themen“ nennen. Zuerst habe ich mich viele Jahre lang, vor der Nucleo-Zeit, mit der russischen Revolution beschäftigt. Beim Nucleo kam mir dann der Gedanke, ein Holocaust-Theaterstück zu machen. Nachdem ich das Teatro Nucleo verlassen hatte, machte ich das Stück mit Nadia, meiner Exfrau aus Ferrara: Black Flowers. Eines der ersten Male, dass wir dieses Stück spielten, war in Bielefeld in einem Zirkuszelt. Das Theaterlabor war der Veranstalter. Da das Thema, sagen wir mal, ‚jüdisch‘ war, bekam es viel Aufmerksamkeit bei den jüdischen Gemeinden in ganz Europa. Und da meine Art des Theatermachens stark an Recherche gebunden war, wuchs das Ganze; ich wollte mehr und mehr wissen. Ein Stück folgte auf das andere. Und als wir kürzlich zur russischen Revolution zurückkehrten, wurde daraus ein Stück über die russischjüdische Geschichte.
Mit der Outdoor-Performance HOLY! über den Holocaust kamen wir nach Afrika, nach Kamerun. Ein sehr spektakuläres Stück, inspiriert von dem polnischen Bildhauer Wladyslaw Hasior. In Kamerun beschloss ich, in die Demokratische Republik Kongo zu reisen, um das Marabout-Theater kennenzulernen. Und Aasa und ich besuchten ein Fischerdorf in Kamerun. Diese beiden Reisen eröffneten neue Welten und Arbeiten für viele Jahre. Im Kongo machten wir ein Stück über die Geschichte des Landes um 1900. In Ebodje, einem Fischerdorf am Atlantik in Kamerun, begannen wir, Filme und Theaterstücke darüber zu machen, wie der Mensch mit dem Meer umgeht: Überfischung, Wasserverschmutzung, Lärmverschmutzung usw. Die Arbeit darüber und mit dem Meer weckte unser allgemeines Interesse am Thema „Mensch und Natur“. Die letzten 15 Jahre haben wir uns der Ökologie und dem Überleben des Planeten gewidmet. Und seit einigen Jahren auch wieder der russischen Revolution.
Du siehst, dass meine Theaterarbeit den Wegen folgte, auf die mich meine Neugierde führte: zu Begegnungen mit interessanten Menschen, auf all die Reisen zu Forschungszwecken. Und Kunst war immer meine Inspiration, Kunst und Menschen. Ob Skulpturen, Gemälde, Filme, Theater – und Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen. Das war essenziell! SSch _ Erzähle von der Zusammenarbeit mit dem Theaterlabor, der Gruppe mit dem Parallelleben.
RJ _ Ich lernte dich, Siggi, in Ferrara kennen. Für Albatross bedeutete es viel, sowohl auf dem Weg in den Süden nach Italien im Spätherbst 1984 als auch auf der Rückreise im Frühjahr 1985 beim Theaterlabor in Bielefeld zu sein. Das Theaterlabor organisierte wie schon so oft Unterkünfte für uns und Möglichkeiten zu spielen. Wir hatten oft ein gutes Publikum in Bielefeld. Freunde. Einmal haben wir eine Zusammenarbeit in Bielefeld gemacht: Die Auferstehung, ein Film und ein Theaterstück. Tonnen von Sand füllten das Theater. Dem Publikum schien es sehr zu gefallen. Der Film ist nie richtig fertig geworden. Bo Harringer, der Fotograf, hat ihn kürzlich gesehen. Er war sehr überrascht
und froh: „So ein Film!“ Wir haben darüber gesprochen, den Film fertigzustellen und ihn richtig zu veröffentlichen. Der Film (die nicht fertige Version) und das Theaterstück im Theaterlabor haben sowohl in Schweden als auch in Deutschland fantastische Kritiken bekommen. Es war immer eine Ehre, das Theaterlabor zu besuchen, aber wir hätten mehr Dinge zusammen machen sollen. SSch _ Welche Gedanken machst du dir über das Erbe, die Archivierung, soziale Absicherung und das Älterwerden in der Kunst?
RJ _ Erbe? Was meinst du damit? Wer die Arbeit von Albatross fortsetzen wird? Ich denke niemand. Einige Leute sind von unserer Arbeit beeinflusst, aber sie gehen ihren eigenen Weg, was sie auch tun müssen.
Archiv? Es gibt unser Buch und so quasi die Kontrolle über die Geschichte unserer Arbeit. Einige Theaterwissenschaftler zeigen Interesse. Soziale Absicherung? Ich lebe von meiner Rente und vom Teater Albatross.
Mit der Kunst alt werden? Schwierig. Ich bin wirklich ein alter Kerl, ich passe nicht in die heutige Welt. Ich denke, ich habe der Welt wichtige Dinge zu sagen, aber durch mein Alter und mit dem Älterwerden werde ich oft ausgeschlossen. Ich verstehe die Jungen und ihren Fanatismus nicht. Und sie verstehen mich nicht.
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Das Interview führte Siegmar Schröder im Mai 2023 per E-Mail. Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Zimmermann
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Gespräch mit Nullo Facchini, Teatret Cantabile 2/Tan Tou Siegmar Schröder _ Im Moment bist du sehr beschäftigt, du arbeitest an der Inszenierung einer Oper. Wo machst du das? In Kopenhagen?
Nullo Facchini _ Im größten dänischen Gefängnis ganz in der Nähe von Kopenhagen. Alle Gefangenen wurden verlegt. Es wird umgebaut und in ein großes Wohnhaus umgewandelt. Aber vorher haben wir noch Zeit, dort eine Oper zu inszenieren, bei der sich das Publikum durch das Gebäude bewegt, durch verschiedene Räume.
NF _ 20 Jahre, denke ich, bzw. zwischen 19 und 21.
HF _ Und welchen Schulabschluss hattest du? Oberschule? NF _ Ja, Oberschule.
HF _ Und du konntest einfach reisen, Eugenio hinterherfahren? Wie ging das? Wie hast du damals deinen Lebensunterhalt verdient?
SSch _ Es ist jetzt 41 Jahre her, dass wir uns im Teatro Nucleo in Ferrara getroffen haben. Erzähle uns, woher du damals kamst und wer deine Idole waren, deine Helden im Theater.
NF _ Ich habe nichts verdient. Ich hatte keine Familie. Meine Eltern waren beide tot; meine Mutter war erst kurz vorher gestorben. Ich hatte deshalb ein bisschen Geld, das ich jeden Monat aus dem Erbe meiner Mutter bekam, und das reichte zum Leben.
Henning Fülle _ Wie alt warst du damals?
Oh Gott! Du weißt, dass es noch kein Internet (und keine Mobiltelefone) gab. Auch konnte man von Italien aus nicht so einfach ins Ausland telefonieren. Das war damals hoffnungslos. Und es war auch hoffnungslos für mich, eine ausländische Telefonnummer herauszubekommen. Das Einzige, was ich tun konnte, war, wieder nach Hause zu fahren. Ich grübelte ein paar verwirrte Stunden darüber, was ich jetzt machen sollte, und beschloss dann: Wenn ich dem Odin Teatret nicht beitreten kann oder sechs Monate warten muss, um sie zu fragen, dann mache ich einfach mein eigenes Theater. Das war meine einzige Alternative. Ich erinnerte mich, dass es in meiner Heimatstadt einen Pfarrer gab, der auch Künstler war: Er war Maler und Bildhauer und machte eine Menge interessanter Avantgardesachen. Außerdem leitete er eine kleine Theatergruppe mit jungen Leuten, sehr jungen Leuten, mit
NF _ Ich glaube, es war 1980. Ich wollte eigentlich zu einem Folkmusik-Festival in der Schweiz fahren. Ich ging auf die Piazza meiner kleinen Stadt in Italien und fragte meine Freunde: „Hey, wer will mitkommen und Folkmusik hören?“ Alle lehnten ab: „Nein, wir können nicht mitkommen, weil wir zu einem Straßentheater-Festival fahren.“ Ich fragte: „Was ist das? Macht das Spaß?“ – „Ja, komm doch mit!“ So lernte ich das Theater kennen. Und ich weiß nicht mehr, ob es bei diesem Festival war oder später bei einem anderen, aber ich lernte schon früh das Odin Teatret kennen. Sie waren auf Tournee. Ich glaube, es war die Aufführung von Brechts Asche. Alle Arten von Körpertheater und Straßentheater faszinierten mich sehr. Als ich diese Aufführung sah, war ich wirklich verblüfft. Ich war begeistert von der Methodik der Arbeit, der Dramatik der Aufführung und ihrer emotionalen Wirkung, die sie für mich hatte. Also begann ich, dem Odin Teatret in Italien nachzureisen zu anderen Festivals, bei denen ich ihre Arbeit sehen konnte. Ich ging zu Diskussionsveranstaltungen mit ihnen und sah Trainingsdemonstrationen. Sie waren ziemlich lange in Italien, ein oder zwei Monate, und ich reiste ihnen nach. Und, ja: Mein Interesse wuchs.
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Ich beschloss, mein ganzes Geld von der Bank abzuheben und zum Odin nach Dänemark zu fahren. Und das tat ich: Ich nahm das Geld, stieg in den Zug und zog in die Welt. Als ich so eines Morgens beim Odin Teatret in Holstebro an die Tür klopfte, öffnete ein Techniker und erzählte mir, dass die Truppe gerade zwei Tage zuvor zu einer sechsmonatigen Tournee nach Südamerika aufgebrochen war.
Schülern der Oberschule. Also dachte ich: Okay, ich werde den Priester fragen, ob ich mit einigen der Schüler arbeiten kann. So würde ich meine eigene Theatergruppe gründen. Ich erinnere mich: Für die Rückreise nahm ich einen Flug statt des Zuges, denn jetzt hatte ich es eilig. Ich hatte einen Plan. Ich erinnere mich, dass ich im Flugzeug etwas aufschrieb; ich habe das Papier immer noch. Ich schrieb die Prinzipien, die Arbeitsregeln und die künstlerische Vision der Theatergruppe auf, die ich aufbauen wollte.
Als ich wieder in meiner Heimatstadt war, habe ich keinen meiner Freunde besucht. Ich hatte mich für immer verabschiedet, und das blieb auch so. Ich ging direkt dorthin, wo der Priester seine Proben abhielt. Mein Plan war zu fragen, ob jemand daran interessiert wäre, mit mir an einigen Abenden zu arbeiten. Ich stellte mich dem Priester vor und sagte: „Ich bin ein Schüler des Odin Teatret“, was in gewisser Weise eine Lüge war – andererseits auch wieder keine, denn ich fühlte mich wirklich so. Ich hatte die Bücher gelesen und die Arbeitsdemonstrationen gesehen, und jetzt war ich hier und sie in Südamerika. „Ich würde gern einige dieser jungen Leute einladen, mit mir abends zu arbeiten.“ Ich dachte, wenn ich in dieser kleinen Stadt Anfang der 1980er Jahre Odin Teatret sage, ist das ein obskures Wort, aber nein! Der Pfarrer meinte: „Ein Student vom Odin! Ich bin ein großer Fan. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich habe zu viel zu tun für diesen ganzen Unterricht, dieses ganze Theater. Warum übernimmst du das nicht? Ich werde dich dafür bezahlen.“ Und ich sagte: „Okay, toll, so machen wir’s.“
So war ich verantwortlich für 50 bis 60 – ich weiß nicht mehr, wie viele es waren – theaterinteressierte Oberschüler. Sie trafen sich zwei Stunden pro Woche am Nachmittag. Ich wollte körperliches Theater machen, aber sie hatten keine Ahnung, was das bedeutete. Sehr schnell wurden aus den 60 40, dann 20. Und als der Priester ein paar Monate später kam, um die Arbeit zu sehen, waren es weniger als zehn. Aber er mochte die Arbeit und ermutigte mich weiterzumachen. Mit fünf oder sechs dieser Leute begann ich dann, täglich zu arbeiten, nachmittags und abends. Und irgendwie entwickelte sich diese
kleine, junge Truppe. Unsere erste Aufführung war beim Karneval in Venedig. Es gab ein Programm für Straßentheater und jeder konnte einfach mitmachen. Wir hatten ein Straßentheaterstück vorbereitet, das um Mitternacht aufgeführt werden sollte. Ich erinnere mich nicht an den Titel, ein langer Titel wie Die Transformation des zivilisierten Lebens nach der großen Revolution, so etwas in der Art. Ich kam zu dem Schalter, an dem die Offiziellen saßen, und sie fragten mich nach dem Titel der Aufführung. Dann fragten sie nach dem Namen der Gruppe. Wir hatten nie darüber nachgedacht. Aber es war eine Performance über das Laufen, sehr körperlich, mit viel Gesang, in der Nacht, auf den Brücken von Venedig. Also antwortete ich: „Cantabile“, wie es mir in diesem Moment einfiel, weil es eine Performance über das Singen war. SSch _ Cantabile hieß also deine erste Gruppe?
NF _ Ja. Aber als wir von Venedig zurück nach Ferrara kamen, fand ich einen Brief vom Teatro Nucleo in Ferrara. Sie hatten gehört, dass jemand vom Odin Teatret in Ferrara war, und luden mich ein, sie zu treffen. Ich rief sie an: „Hören Sie, ich bin nicht vom Odin Teatret. Ich habe ihre Arbeit studiert und bin ihnen nachgereist. Aber ich bin nicht Teil vom Odin. Ich arbeite nur mit ihren Methoden mit diesen jungen Leuten!“ Ich habe ihnen genau gesagt, wie die Dinge lagen. Und trotzdem meinten sie: „Kommt und zeigt uns euer Training, macht eine Arbeitsdemonstration in unserem Theater.“ Und so waren wir ein paar Tage danach in dem großen, schwarzen Raum – du erinnerst dich? SSch _ Ja, sehr genau.
NF _ Wir haben unser körperliches und vokales Training vorgeführt, einfach mit voller Kraft. Ich glaube, wir hatten noch nie mit so viel Intensität und Energie gearbeitet – etwa eine Stunde lang. Es war wirklich sehr energiegeladen. Am Ende saßen sie alle da und schauten nur. Stille. Sie schauten uns an. Wir zogen uns wieder an, und dann war es, ich glaube, Horacio (Horacio Czertok, Leiter des Teatro Nucleo), der sagte: „Der erste Stock dieses Gebäudes ist leer. Wollt ihr dort einziehen und es für euer Theater nutzen? Es ist natürlich umsonst.“
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SSch _ Weil das Gebäude besetzt war. Das Teatro Nucleo hatte das ganze Gebäude besetzt.
NF _ Ja. Der erste Stock bestand aus vielen Zimmern, einfach riesig. Wir sagten zu und zogen ein. Und dann wurden wir im selben Jahr, das war 1981, zum Copparo-Festival eingeladen. Ich habe dafür eine Performance über Kafkas Leben mit den Frauen inszeniert. In der Gruppe waren außer mir nur Frauen, und so musste ich etwas für diese Besetzung schreiben. Die Aufführung wurde dann als Abschlussaufführung des Festivals gespielt. SSch _ Du warst also schon mehr als ein Jahr in Ferrara in dem Gebäude, als ich dort ankam.
NF _ Dann kam es natürlich, dass die Oberschüler mit der Schule fertig wurden. Sie waren sehr interessiert und engagiert, aber das Theater war immer nur ihr Hobby und jetzt wollten sie an die Universität gehen. Doch für mich sollte das das Leben sein! Als dann alle zum Studieren weggingen, bot mir das Nucleo an, bei ihnen zu arbeiten, sie hatten eine Gruppe von jungen Schauspielern. Siggi (Siegmar Schröder) war einer von ihnen. Und wahrscheinlich warst du älter als ich, oder sind wir gleich alt, Siggi? SSch _ Ich bin 1960 geboren.
NF _ Ich auch. Ja, wir waren alle ungefähr im gleichen Alter, trotzdem haben sie mich darum gebeten, mit euch zu arbeiten, mit dir und Otto, Ich weiß nicht mehr, wer da noch war. Aber das war nur für kurze Zeit. Und dann war’s das erst mal. Ich hörte dort auf, weil ich keine andere Arbeit hatte, kein anderes Einkommen. Sie schlugen mir vor, als Trainer zu arbeiten, sie gaben mir Räume und Möglichkeiten zu arbeiten, aber keine Bezahlung. Also musste ich gehen. Auf meine Frage, was ich tun sollte, riet mir Horacio: „Geh raus, du hast Erfahrung, geh und unterrichte Workshops irgendwo außerhalb, geh nach Europa.“ Und dann half er mir mit einem Kontakt zum Bürgermeister der Stadt Copparo. Dort gab es ein riesiges Sportzentrum mit Volleyball und so weiter, das bestand aus drei Etagen. Und eine dieser Etagen stand leer. So bekam ich einen Raum, ohne dafür zu bezahlen. Jetzt musste ich nur
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noch Leute finden. Horacio meinte: „Gib Workshops, und wenn du gut bist, werden die Leute dir folgen.“ Und genau das ist passiert. Ich bin nach Dänemark, Schweden, Deutschland und Holland gereist, habe jeweils ein paar Tage Workshops gegeben und überall die besten Schüler gefragt: „Willst du nach Copparo kommen, eine Theatergruppe gründen und eine Menge Geld mitbringen, weil ich keins habe?“ Nach einem Jahr in Copparo hatten wir unseren ersten Auftritt. Danach habe ich allen gesagt: „Jetzt geht bitte nach Hause und versucht, das Stück in eurem Land zu verkaufen.“ Und diejenige, die später meine erste Frau wurde, Tina, war die Einzige, die zurückkam und die Aufführung an das Roskilde-Festival verkauft hatte. HF _ Roskilde war doch ein Rockfestival, oder?
NF _ Das ist es immer noch, ja. Aber 1984 gab es zum ersten Mal ein Zelt, ein Zelt für Theater. Und Tina hatte es geschafft, uns dort zu buchen. Wir bereiteten eine Aufführung vor, die sehr musikalisch war. Sie handelte von Meso, einem weißen Musiker in den 1930er Jahren. Er war Trompeter. Er hatte sich in den Schwarzen Jazz verliebt, aber keine der Schwarzen Bands wollte ihn haben. Sie wollten ihn nicht, weil er weiß war. Es war also eine seltsam umgekehrte Geschichte, und ich hatte das Gefühl, dass meine Geschichte ein wenig mit seiner Geschichte verbunden war, in der es darum ging, irgendwie zurechtzukommen, es einfach zu versuchen. Am Ende schaffte er es, in einer Band von Schwarzen akzeptiert zu werden. Aber er wurde eigentlich mehr durch sein Buch als durch seine Musik berühmt. Seine Autobiografie ist sehr schön. Als wir dann in Dänemark waren, bekamen wir mehr Arbeitsangebote. Also war ich plötzlich im selben Land wie das Odin Teatret, das ich aber erst 20 Jahre später kennengelernt habe. In der Zwischenzeit hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihnen. SSch _ Und 1987 hast du uns zu dem Waves-Festival nach Kopenhagen eingeladen.
NF _ Ja. Es findet immer noch alle zwei Jahre statt. Und dieses Mal, im August 2023, das erste Mal ohne mich.
Teater Albatross (Robert Jakobsson), 2003
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HF _ Du hast ja erzählt, dass du keine formale Ausbildung hattest. Und du hast von dem Prozess des ‚Misserfolgs‘ erzählt, dass so viele Leute die Gruppe verließen. Kannst du uns mehr über deine Motivation erzählen? Woher hast du die Sicherheit genommen zu sagen: Ich habe zwar kein Geld und keine Ausbildung, aber ich werde ein Theatermann sein und ich werde mein Leben lang Theater machen.
NF _ Ich kann es eigentlich auch kaum glauben, wenn ich jetzt zurückdenke, aber ich glaube, die Kraft kam daraus, nichts zu verlieren zu haben. Sicher hat das, was ich vom Odin in Italien gesehen hatte, eine Rolle gespielt und auch das GrotowskiBuch. Es gab ein Buch, das Barba geschrieben hatte, das ich kaufen wollte, aber nicht fand. Dafür fand ich das berühmte Für ein armes Theater von Jerzy Grotowski, in dem Techniken und Übungen beschrieben werden. Ich habe einfach das Training gemacht und anderen das Training so beigebracht, wie ich es aus dem Buch entnehmen konnte, ohne jemals Grotowski-Aufführungen oder -Trainings gesehen zu haben. Doch ich wusste, dass das, was ich in allen Arbeitsdemonstrationen und Vorträgen des Odin erlebt hatte, auf der gleichen Linie lag. Ich hatte also die Bücher, machte die Übungen und versuchte, meine Version von dem zu schaffen, was ich von diesen Übungen verstand, und irgendwie wurde das sehr stark. Ich war immer noch bewegt von dieser einen Aufführung des Odin Teatret. Die anderen Arbeiten des Odin, das Theater auf Stelzen, war nicht wirklich interessant für mich. Weißt du, ich war ein elternloser Typ, der in der Schule nicht lernte und nie aufpasste. Ich hatte eigentlich keine Identität und kein Ziel im Leben. Und plötzlich gab es eine Sache, zu der ich mich hingezogen fühlte, von der ich sehr fasziniert war, und dafür habe ich alles gegeben. Endlich war ich bereit, mich für etwas in meinem Leben zu engagieren.
SSch _ Ich sage immer, wir haben es einfach gemacht. Wir begaben uns hinein, ohne viel nachzudenken, ohne viel zu planen. Die nächsten Schritte zeigten sich wie selbstverständlich, und wir gingen immer weiter. NF _ Genau, so war es. Eine langfristige Planung gab es nicht.
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Das würde ja auch beinhalten, dass man auf eine Theaterschule geht und so.
SSch _ Wir haben gar nicht darüber nachgedacht, ob wir eine spezielle Ausbildung brauchten. Wir dachten, wir können das jetzt einfach machen. Es war ein Selbstvertrauen, das zu der Zeit sehr verbreitet war.
NF _ Ich erinnere mich, dass der erste Workshop, den ich unterrichtete, in Köln stattfand. Ich habe keine Erinnerung daran, ob du oder jemand anderes in Deutschland mir geholfen hat, ein bisschen Werbung zu machen. Es gab zwölf Teilnehmer und die arbeiteten tatsächlich mit mir und gaben nicht auf, wie die Oberschulmädchen aus Ferrara, weil ich mich verbessert hatte und wahrscheinlich auch, weil sie sich entschieden hatten, körperliches Theater zu lernen. Insgesamt war es eine große Folge glücklicher Zufälle. SSch _ Unsere nächste Begegnung war beim ersten WavesFestival: Wie war es für dich, ein internationales Festival zu kuratieren? Das war ja noch ganz neu!
NF _ Ich glaube, ich bin einfach dieser Welle von Aktivitäten gefolgt, die ich beim Nucleo gesehen hatte, und ich war sehr beeindruckt von dem Festival in Copparo. Wie hieß es noch gleich genau? SSch _ Copparo e i Teatri?
NF _ Ich hatte ja auch viel Kontakt zum Teatro Tascabile in Italien. Renzo Vescovi besuchte oft das Odin und war oft in Kopenhagen, um für eine Nacht bei mir zu schlafen. Es bestand natürlich das Bedürfnis, andere Menschen zu treffen, die auf ähnliche Weise arbeiteten. Auch um Leute wie dich, Siggi, wiederzufinden, die am Anfang meiner Reise gestanden hatten. Wir entdeckten, dass es gar nicht so schwierig ist, Geld zu bekommen. Es war schon immer etwas einfacher, Geld für ein Festival aufzutreiben als für unsere eigene Arbeit. Aus irgendeinem Grund gefällt das den Politikern besser, vermutlich weil sie da mehr Möglichkeiten für das allgemeine Publikum sehen. Wir sind also den Weg gegangen, den viele von uns gegangen sind, und haben auch ein Festival gemacht.
Und zu diesem Festival, ich weiß nicht mehr, warum und wie, habe ich eine Gruppe namens Brith Gof eingeladen. Aus Wales, erinnerst du dich? Habt ihr auch mit ihnen zusammengearbeitet?
SSch _ Ja, wir hatten eine Zusammenarbeit, und erst vor einigen Tagen habe ich ein Interview mit Richard Gough geführt. Er schreibt etwas für mein Buch, natürlich über Mike Pearson, der für mich eine sehr wichtige Person war. NF _ Vielleicht warst du es, der mir geraten hat, sie einzuladen? Ich erinnere mich nicht mehr. SSch _ Ich hatte sie 1985 das erste Mal gesehen, auf dem Festival in Blois in Frankreich.
NF _ Dann warst du es, ja. Ich erinnere mich jetzt, dass du darüber gesprochen hast. Und ich war sehr inspiriert von der Aufführung, die sie zum Waves-Festival mitbrachten. Mit dieser Inspiration ging ich in eine eigene neue Produktion, bei der es um das Leben von Frauen in Kriegszeiten ging. Und diese Aufführung hat dazu geführt, dass das dänische Kulturministerium anfing, uns zu unterstützen. Sie war sehr, sehr erfolgreich, auch wenn sie ganz anders war als das, was Brith Gof machte. Ich erinnere gar nicht genau an ihre Waves-Performance, doch sie hat mich dazu inspiriert, eine Struktur zu entwickeln, die aus großen Vignetten bestand, wie kleine einminütige Dialoge, und der Rest war rein körperlich. Ja, diese Performance hat uns wirklich weitergebracht und von da an entwickelte sich alles.
SSch _ Es gibt mehr Gemeinsamkeiten bei den Einflüssen, als ich erwartet habe. Natürlich Odin und Grotowski und Nucleo, das war klar, aber die Bedeutung von Brith Gof für dich kannte ich nicht.
Wir hatten also eine Zeitlang eine Art paralleles Leben, doch ich glaube, an einem Punkt hast du dich in eine ganz andere Richtung orientiert, weg vom Odin und weg von Brith Gof, weg von allem, was ich vorher kannte.
NF _ Ja, ich weiß nicht, was sich geändert hat. Es kam allmählich. In gewisser Weise interessierte ich mich mehr und mehr
für die Arbeit von Robert Wilson mit seiner sehr, sehr visuellen, aber nicht so sehr physischen Arbeit, und ich erhielt viele Einladungen aus Deutschland. Aus Rheinland-Pfalz kamen Einladungen zu Projekten im Freien, wir haben Dantes Hölle umgesetzt, wir haben Hamlet gespielt; wir haben das an der Loreley gemacht. Und auf seine Weise war es immer noch physisch, aber ein bisschen mehr, mehr ... SSch _ Bilder-Theater?
NF _ Ja, mehr Bilder und andere Formen von fast schematischen Bewegungsabläufen. Wir haben einige Jahre lang sehr viel in dieser Art gearbeitet. Wir sprechen jetzt über Mitte der 1990er Jahre. Ich spürte – auch wenn ich mir die Arbeit vom Odin noch einmal anschaute –, dass sie für mich schal geworden war. Ich spürte, dass sich die Thematik verändert hatte, aber der Stil derselbe geblieben war. Und ich fand, ich müsste eine neue Richtung finden, und die große Inspiration dabei war für mich die Arbeit von Robert Wilson.
HF _ Hast du damals jemals daran gedacht, an ein institutionelles Theater zu gehen, wie das dänische Rijkstheater, ein Stadttheater in Deutschland oder das Teatro Stabile, wie Georgio Strehler es gemacht hat, oder etwas Ähnliches?
NF _ Ich habe darüber nachgedacht, weil es eine schöne Sache gewesen wäre; aber ich habe mir nie vorstellen können, dass das möglich sein könnte. Ich wurde zwar manchmal eingeladen, und ich habe ein paar Projekte mitgemacht; ich unterrichtete auch ein wenig an der staatlichen Theaterschule, die sich sehr von der Schule für Bühnenkunst unterschied, an der wir unsere Methoden lehrten. Aber es fühlte sich wie eine dicke Betonwand an. Viel Widerstand gegen Körperlichkeit, viel Widerstand gegen nicht-lineares Erzählen. Und ich habe tatsächlich ein paar Einladungen zu Inszenierungen erhalten. Aber als ich dann mit diesen Schauspielern und Regisseuren arbeitete, hatte ich das Gefühl, dass eine zu große kulturelle Kluft zwischen uns stand. Heute würde es wohl kein Problem mehr sein, inzwischen hat sich in Skandinavien viel getan. In den großen Häusern wird viel experimenteller gearbeitet. Aber damals habe ich es gar nicht versucht; ich habe nie angefragt.
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Ich habe meistens zugesagt, wenn ich gefragt wurde, aber dann war ich oft auch ein bisschen enttäuscht über die Starrheit der Institution. SSch _ Ich denke, dass auch die letzte Veränderung, die du in deiner künstlerischen Ausrichtung vorgenommen hast, die vielen sehr sensiblen Momente mit Eins-zu-eins-Situationen, nicht wirklich für ein Staatstheater gemacht ist.
NF _ Nein, das ist richtig. Was wir „menschenspezifische Performance“ nennen, ist aus der Faszination entstanden, Performances in sehr großen Räumen zu machen, in denen man jeden Einzelnen in ein anderes körperliches, physisches, emotionales und somatisches Abenteuer mitnehmen kann. Und das ist immer noch das, was ich am liebsten mache. Auch wenn ich jetzt eine Oper in einem riesigen ehemaligen Gefängnis inszeniere, haben wir beschlossen, die Anzahl der Zuschauer auf 45 pro Abend zu begrenzen, damit sie sich in dem Gebäude immer noch allein fühlen können. Sie können bewegt werden und jeder sieht etwas anderes als die anderen. Und obwohl es wie eine Bühnenaufführung gestaltet ist und es in der Oper keine Eins-zu-eins-Begegnungen gibt (die hier schwierig zu realisieren wären), entsteht dennoch eine besondere Intensität mit den wenigen Zuschauern in diesen großen Räumen.
SSch _ Ich sehe wieder Parallelen! Auch wir haben in den letzten Jahren viel mit Eins-zu-eins-Situationen mit Storytelling gearbeitet, Aufführungen mit biografischem Material und Situationen vor sehr, sehr kleinem Publikum, zum Beispiel in privaten Wohnzimmern. Und vorher haben wir auch sehr, sehr große Aufführungen gemacht, site-specific und an all den riesigen Orten. Und schließlich hast du mir erzählt, dass du die Leitung deines Theaters aufgegeben hast, gleich nachdem auch ich diesen Schritt vollzogen hatte, ohne dass ich wusste, dass du es machen würdest. Auch du wolltest sagen: Vielleicht gibt es noch ein anderes Leben jenseits deiner Tätigkeit als Direktor deines Theaterunternehmens. Könntest darüber du etwas erzählen?
NF _ Es ist erst acht Monate her, dass ich mit Cantabile aufgehört habe. Das bedeutet eine enorme Freiheit, endlich nur die
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künstlerische Arbeit machen zu können. Ich hatte mich nie getraut, das zu tun. Ich habe mich nie getraut, Cantabile zu verlassen: Würde es Leute geben, die mir Arbeit anbieten, und oder muss ich dann noch mehr Büroarbeit machen, um Geld aufzutreiben? Ohne eine Institution im Rücken ist das noch schwieriger. Aber irgendwie scheint es zu funktionieren, und ich freue mich sehr auf diese letzten Jahre meines Lebens – ich weiß ja nicht, wie viele es sein werden –, in denen ich einfach Leute treffen kann, Projekte gemeinsam mit ihnen erfinden, manchmal einfach zu ihrem Traumprojekt eingeladen werden und versuchen, es in mein Traumprojekt zu verwandeln. Und, ja, das ist jetzt genauso gefährlich wie damals, als ich zum ersten Mal nach Dänemark ging. Doch es scheint zu funktionieren. SSch _ Ich möchte dir noch zu deinem Stipendium gratulieren.
NF _ Das ist nicht so außergewöhnlich in Dänemark. Es gibt jedes Jahr, ich glaube, 10 bis 15 Leute aus der Bühnenwelt, die dieses Stipendium erhalten. Ich habe mich darum beworben und es bekommen.
SSch _ Ist das für erfahrene Leute, also wenn man schon eine Art Lebenswerk vorweisen kann? Wer kann sich bewerben?
NF _ Es ist einfach Geld für eine feste Zeit. Ich könnte das Geld nutzen, um eine Produktion zu machen, oder ich könnte es auch nutzen, um zu studieren. Es ist ganz frei. SSch _ Wie heißt es? Hat das Programm einen Namen?
NF _ Es heißt einfach nur „Arbeitsstipendium des dänischen Ministeriums für Kultur“.
SSch _ Wir nehmen das als Inspiration für Deutschland.
NF _ Ja. Man bekommt Geld, mit dem man einfach machen kann, was man will. Ich muss keine Rechenschaft ablegen, nicht zeigen, wie ich es ausgebe. Es ist keine große Summe, etwa drei Monatsgehälter. Trotzdem ist es ein nettes Einkommen, ich weiß nicht genau, wie viel es in Euro ist, ca. 15.000 Euro.
HF _ Letzte Frage: Hast du Theater gemacht, um die Welt zu verändern, Nullo?
NF _ Ich hatte nie solch eine noble Vision. Das Theater hat mein Leben gerettet, hat meinem Leben einen Sinn gegeben, und es hat mir Freundschaften geschenkt. Es hat mich in vielerlei Hinsicht emotionalisiert. Erst in den letzten Jahren, in denen ich mich mit der Arbeit an menschenbezogener Performance beschäftigt habe, habe ich mich wirklich auf das Publikum konzentriert. Bei dieser Arbeit habe ich zum ersten Mal gesagt: Jetzt möchte ich lernen, wie ich dem Zuschauer eine andere Art von tiefgreifender Erfahrung vermitteln kann. Bis dahin habe ich Theater nur gemacht, weil es mich emotional berührt und verändert hat. Es war ein sehr egoistisches Projekt.
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Das Gespräch führten Siegmar Schröder und Henning Fülle per Videocall am 23. Juni 2023. Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Zimmermann
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70 Theaterlabor, Jules Vernes Welt, 1999 xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
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Quellen des „Dritten Theaters“ Siegmar Schröder: Workshop mit Stanisław Scierski Ich bin jeden Tag mit Stanisław Scierski ins Krankenhaus gefahren. Ich war für das Teatro Nucleo der Zuständige, der bei dem großen internationalen Workshop mit den Schauspielern von Grotowski für Staszek zuständig war. Ich sorgte für die Ausstattung des Raumes und für persönliche Bedarfe. Nach dem Training war sein Knie so angeschwollen, dass es jeden Tag punktiert wurde und die Flüssigkeit abgesaugt wurde. Ich fragte ihn, ob er nicht mit weniger Intensität in die körperliche Arbeit gehen könnte, aber das war ihm nicht möglich. Er stürzte sich so hinein und zog uns Workshopteilnehmer*innen damit in seinen Bann. Neben den immer wiederkehrenden Trainingsmethoden aus dem Grotowski-Repertoire wie den plastischen Elementen – Isolationsübungen, die zu Bewegungskompositionen und zu einer Bühnenkörpersprache wurden (bekannt ist ein Film, in dem man Richard Czieslak bei der Arbeit mit Schauspieler*innen des Odin Teatret beobachten kann) – und der Stimmarbeit, bei der ein gemeinsamer Ton von allen Teilnehmer*innen die tragende Grundlage für Improvisationen bildete, hatte Scierski einige besondere Methoden.
Zum Beispiel nahm er eine Aufnahme einer norwegischen Tanzmusik als Grundlage für Improvisationen zu einer Feier. Mal war es eine Geburtstagsfeier, mal eine Hochzeit, aber das Ziel war, Dinge zu tun, die man normalerweise nur im alkoholisierten Zustand tun würde. Ich sollte auf einer Kassette das Tanzstück als Endlosschleife aufnehmen. Wir tanzten dann dazu, ohne Unterbrechung über Stunden, und versetzen uns so in die Art von Trance, in der es uns leichtfiel, unbekanntes
theatralisches Terrain zu betreten und eine wirklich ekstatische Feier zu gestalten.
Unser Arbeitstag war in zwei Abschnitte geteilt: nachmittags ein Block mit den seriösen Techniken von Grotowski und abends die Improvisationen zu der großen Feier. Staszek war auch der einzige Theaterlehrer, der jemals gezielt Alkohol als Beschleunigungs- und Enthemmungsmittel eingesetzt hat. An manchen Abenden, wenn wir nicht so richtig in Schwung kamen, gab er gezielt einigen Teilnehmer*innen etwas Sekt zu trinken und dann kam das müde Tanzbein doch wieder in Schwung. Ich habe immer noch nach über 40 Jahren die Melodie des norwegischen Tanzstücks im Kopf.
Wir hatten später mal eine polnische Theatergruppe (Wiatek) in unserem Theaterlabor zu Gast, die eine Aufführung präsentierte, die mich an die Arbeit mit Staczek erinnerte. Sie machten ein unglaublich wildes Gelage mit Bier, das in Strömen floss und sich auf unserem schönen Holzfußboden verteilte und dessen Geruch noch wochenlang im Theatersaal verblieb.
Ich liebte diese nicht-spirituellen Exzesse, aber die Arbeit von Staszek wurde unter den anderen Schauspieler*innen von Grotowski, die in Ferrara ihren Workshop machten, misstrauisch beäugt. Ich gehe davon aus, dass Grotowski selber sich dieser Nähe von Spiritualität und wilden Theaterimprovisationen bewusst war. Er nutzte Trancezustände sehr gezielt, um dramatisch zu inszenieren, aber auch Regietricks, die der ‚heiligen‘ Gemeinde nicht bekannt waren.
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Staczek erzählte mir, dass die berühmte Szene in Der standhafte Prinz, in der Richard Czieslak unter der Folter Qualen leidet, mit einem Subtext ausgestattet war: Czieslak sollte sich innerlich einen ekstatischen Liebesakt vorstellen.
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Theaterlabor, Begegnungen, 1985
Dariusz Kosiński, ehemaliger Programmdirektor Grotowski Institut: Von der polnischen Tradition zur weltweiten Avantgarde und darüber hinaus – Jerzy Grotowski In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde völlig unerwartet der polnische Einfluss auf das internationale experimentelle und forschende Theater zentral. Die Hauptverantwortlichen und Akteure dieses Phänomens waren zwei große Künstler und Neuerer: Tadeusz Kantor (1915–1990) und Jerzy Grotowski (1933–1999). Ersterer stand in der Tradition der europäischen visuellen und theatralen Avantgarde und entwickelte das ursprüngliche Projekt des „Theater des Todes“. Letzterer verdiente sich seinen Ruf als einer der größten Revolutionäre des Theaters nicht so sehr durch seine drei außerhalb Polens gezeigten Inszenierungen (Akropolis, Der standhafte Prinz, Apocalypsis Cum Figuris), sondern durch seine Arbeit mit Schauspielern, die in der „totalen Handlung“ und dem Konzept des „armen Theaters“ gipfelte, das er in einem der berühmtesten Theaterbücher seiner Zeit – Für ein armes Theater (1968) – vorstellte.
Sowohl Kantor als auch Grotowski wurden außerhalb Polens als außergewöhnlich originelle Künstler wahrgenommen, doch ihre Entwicklungen stammten weitgehend aus der spezifischen Tradition des polnischen Theaters. Einen ersten Höhepunkt erlebte das polnische Theater in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Werken von Adam Mickiewicz (1798–1855) und Juliusz Słowacki (1809–1849). Obwohl beide Autoren nicht die Möglichkeit bekamen, ihre Stücke auf die Bühne zu bringen, legten sie mit ihren dramatischen Werken und ihren weitreichenden Ideen, Kunst und Metaphysik miteinander zu verbinden, die Grundsteine einer originär polnischen Theatertradition. Der wichtigste Text dazu ist Mickiewiczs Dziady (Totenfeier, 1823–1832), ein unvollendetes, offenes, wahrhaft postdramatisches Werk, das Künstler und Publikum noch heute herausfordert. Die Totenfeier verbindet das Modell des Theaters als Instrument der individuellen Transformation mit einem sozialen Ritual und politischem Protest. Es führte im Laufe seiner Aufführungsgeschichte mehrfach dazu, dass die Grenzen des Theaters überschritten und wichtige gesellschaft-
liche Ereignisse angestoßen wurden (zum Beispiel die Proteste in Warschau im März 1968 oder als jüngstes Beispiel die Proteste nach den Versuchen der rechtsgerichteten Behörden, die von Maja Kleczewska im Herbst 2022 am Słowacki-Theater in Krakau inszenierte Totenfeier zu zensieren). Auch Słowacki schrieb seiner Zeit vorauseilende Dramen (zum Beispiel Kordian, 1833; Der standhafte Prinz, 1843; Samuel Zborowski, 1844). Beide entwickelten die Vision, mit theatralen Mitteln das Individuum, die Gemeinschaft und die Welt in ihrer Lebenspraxis und ihren Haltungen zu verändern. Die Autorität, die diese Dichter in Polens Gesellschaft hatten, die im 19. Jahrhundert unter Fremdherrschaft stand, führte dazu, dass ihre Ideen wie Prophezeiungen gesehen wurden. In der folgenden Generation erlangte Stanisław Wyspiański (1869–1907), ein Krakauer Dichter, Dramatiker und Maler und selbst praktisch im Theater tätig, eine ähnliche Bedeutung. Der Autor der Dramen Wesele (Die Hochzeit, 1901), Wyzwolenie (Befreiung, 1903) und Akropolis (1904) galt als Nachfolger der romantischen Tradition, über die er jedoch auch polemisierte. In seinem Buch über Shakespeares Hamlet (1905) entwickelte er seine Vision des Dramas als Mittel zur Selbstfindung und gleichzeitig als Diagnose des gesellschaftlichen Lebens. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens 1918 bildeten all diese Ideen die Arbeitsgrundlage für alle Künstler, die es sich zur Aufgabe machten, ein originär polnisches Theater zu schaffen. Sie waren überzeugt, dass das Illusionstheater des 19. Jahrhunderts tot war. So kam es in den Werken solch einflussreicher Persönlichkeiten des polnischen Theaters wie Leon Schiller (1887–1954, der erste moderne Theaterregisseur) oder Juliusz Osterwa (1885–1947, der Schöpfer des ersten polnischen Theaterlabors Reduta) zu einer ungewöhnlich kreativen Verschmelzung: Sie verbanden die polnische romantische Tradition mit avantgardistischer Inszenierung und der Suche nach schauspielerischen Methoden,
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die anstelle der Verstellung das Entdecken und Erfahren von innerer Wahrheit zum Ziel hatten.
All das führte dazu, dass in Polen zwar ein institutionelles Unterhaltungstheater populär war, den avantgardistischen darstellenden Künsten jedoch eine größere Autorität und gesellschaftliche Bedeutung zukam. Denn sie suchten nach Möglichkeiten, die persönliche Entwicklung wirksam zu fördern und das gesellschaftliche Leben zu beeinflussen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich Polen wieder unter fremder, diesmal sowjetischer Kontrolle, das gesellschaftliche Leben wurde von der Erfahrung der Kriegskatastrophe und des Niedergangs aller bisherigen Glaubensrichtungen (nicht nur der religiösen, sondern auch der politischideologischen) beherrscht, und man stellte dringlich die grundlegende Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens und der Geschichte. In besonderer Weise wurde das Theater zu einem Raum und einem Werkzeug auf der Suche nach Antworten. Das entsprach sowohl der Tradition (bereits die Romantiker suchten die Metaphysik im Theater, weil sie die Kirche für eine gescheiterte Institution hielten) als auch den jüngsten Strömungen der europäischen Kultur. In Polen entwickelte sich zum einen das ‚Theater des Absurden‘, das sich auf das Werk des Schriftstellers, Malers und Denkers Stanisław Ignacy Witkiewicz (1885–1939) stützte, und zum anderen ein engagiertes politisches Theater, das auf unterschiedliche Weise die Zensur umging, um mit dem Publikum zu kommunizieren. Avantgardistischen Strategien wie die Ablehnung des linearen Erzählens, der Verzicht auf Protagonisten und kohärente Charaktere, die Provokation und Einbeziehung des Publikums in das theatrale Geschehen, das Spiel mit der Illusion und ihrer bewussten Auflösung, metatheatrale Verfahren und viele andere wurden und sind bis heute beliebte Mittel auch des Repertoiretheaters. Denn man war der Überzeugung, dass die Aufgabe der Bühnenkunst nicht in der Unterhaltung, sondern in der Auseinandersetzung mit der Wahrheit bestünde.
Vielleicht war es Jerzy Grotowski, der diese Besonderheit des polnischen Theaters am konsequentesten umsetzte. Und es
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war diese Konsequenz, die ihn am weitesten führte. Bei seinen Erkundungen durchlief er praktisch alle oben genannten Entwicklungsstufen des polnischen Theaters: von der Faszination für die Arbeit der Russen Konstantin Stanislawski und Wsewolod Meyerhold (Onkel Wanja nach Tschechow, Krakau 1959) über das politisch engagierte Theater (Mysterium Buffo nach Majakowski, 1960) bis zur Verbindung avantgardistischer Ansätze mit der romantischen Tradition (Dziady nach Mickiewicz, 1961; Kordian nach Słowacki, 1962). Zunächst arbeitete Grotowski an einem Repertoiretheater, verließ es jedoch bald, um die Leitung des Kammertheaters der 13 Reihen in der schlesischen Provinzstadt Opole (Oppeln) zu übernehmen. Er verwandelte es in sein theatrales Laboratorium (ab 1962 hieß das Ensemble Teatr Laboratorium). Seinem wichtigsten Ziel folgend, durch die Theaterarbeit eine säkulare metaphysische Erfahrung zu schaffen, versuchte er zunächst, eine rituelle Gemeinschaft im Theater zu etablieren (Cain nach Byron, 1960), was ihm mangels eines gemeinsamen Glaubens bald unmöglich erschien. Stattdessen versuchte er, eine „Gemeinschaft des Bebens“ zu schaffen, indem er Werte und Archetypen, die als heilig galten, angriff und entweihte (Kordian, The Tragic History of Dr Faustus according to Marlowe, 1964). Im Zuge dieser Experimente gab er die Idee der Inszenierung des Textes zugunsten einer dramatischen Überarbeitung auf: Er griff den Text durch schauspielerische Aktionen an, die im Gegensatz zu seinen Bedeutungen standen (zum Beispiel das romantische Drama Kordian in ein Irrenhaus zu verlegen).
In der Zusammenarbeit mit dem Architekten Jerzy Gurawski gab er auch die Aufteilung des Raumes in Bühne und Zuschauerraum auf, indem er den gesamten Theatersaal zum Ort des Geschehens machte und jedes Mal ein anderes Handlungsumfeld schuf. Grotowski brach auch mit der europäischen Einteilung in Schauspieler, Sänger, Tänzer und Akrobaten – Grotowskis Schauspieler lernten durch langwieriges Training, eine ganze Reihe von Fähigkeiten aus verschiedenen darstellenden Künsten zu beherrschen, auch aus dem außereuropäischen Raum.Gemeinsam mit seinen Schauspielern entdeckte Grotowski allmählich die Möglichkeit, im Rahmen
des Theaterspiels einen Prozess der organischen Verwandlung der schauspielenden Person einzuleiten und zu vollziehen, der als Höhepunkt zum ‚totalen Akt‘ führt. Dieser Prozess, der in der Zusammenarbeit mit Ryszard Cieslak in der Titelrolle von Der standhafte Prinz vollendet wurde, galt als Beweis für die Möglichkeit, einen bis dahin unerreichbaren Höhepunkt nicht nur der Schauspielkunst, sondern auch des menschlichen Potenzials zu erreichen. Das Theater, das Grotowski als „arm“ bezeichnete, erschien als ein Weg zu einer neuen Kultur, in der die Erfahrung der Überschreitung nicht an die Religion gebunden ist, sondern das Ergebnis einer Arbeit an sich selbst darstellt. Sie umfasst sowohl eine Selbst-Psychoanalyse (Arbeit mit dem Körpergedächtnis an Erinnerungen an persönliche Schlüsselerlebnisse) als auch eine theatrale Anthropologie, die zu den Quellen des Lebens vordringt, die die menschliche und die nicht-menschliche Welt verbinden. Die bei der Arbeit am Standhaften Prinzen entdeckten Möglichkeiten wurden während des dreijährigen kreativen Prozesses weiterentwickelt, der zu Apocalypsis cum Figuris führte. Die Aufführung entstand durch improvisiertes Spiel zu von den Ensemblemitgliedern ausgewählten Themen, Bildern und Situationen aus den Evangelien. Sie brach endgültig mit dem Theater der Fiktion und der inszenierten Literatur zugunsten eines Theaters als Prozess, dessen Essenz die organische Handlung ist, die sich entsprechend den Bedürfnissen jedes einzelnen Handelnden vor den versammelten ‚Zeugen‘ entwickelt. Die Aufführungen riefen sehr starke und ganz unterschiedliche Reaktionen hervor, die von der Ablehnung als Blasphemie bis hin zu ethischer Umorientierung reichten, die für viele in der Aufgabe ihrer bisherigen Lebensmodelle resultierte. Vor allem in den Vereinigten Staaten, im Kontext der sich damals entwickelnden Gegenkultur, wurde Apocalypsis als das lang ersehnte Werk rezipiert, das die Kunst von Heuchelei und Falschheit befreite. Seine Ästhetik, die frei von jeglichem Anstand war und sich fast ausschließlich auf das stützte, was die Darsteller mit ihren Körpern und Stimmen schufen, wurde vom experimentellen und unabhängigen Theater jener Zeit vielfach nachgeahmt. Und Grotowski wurde sein ‚Guru‘.
Er selbst entschloss sich 1970 zu einem radikalen Schritt: Er kündigte an, nicht mehr zu inszenieren. Nachdem er mit dem kapitalistischen Produktionssystem gebrochen hatte, führte er in den 1970er Jahren mit einer Gruppe neuer, junger Mitarbeiter Aktivitäten durch, die Paratheater oder aktive Kultur genannt wurden. Dabei erprobten sie verschiedene Möglichkeiten, vorbereitete Erfahrungen zu machen, die es den Teilnehmern (auch denen ohne praktische Ausbildung) ermöglichten, Zustände zu erreichen, die dem „totalen Akt“ nahekamen.
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Übersetzung aus dem Polnischen: Mareike Zimmermann, Deepl
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Abb. S. 76/77: Theaterlabor, MiM (Meister und Margerita), 1986
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Eugenio Barba, Odin Teatret: Das Dritte Theater 7
(Ursprünglich ein internes Dokument anlässlich eines Treffens zum Dritten Theater 1976 in Belgrad verfasst, erlangte es schnell die Bedeutung eines Manifests, das zuerst in International Theatre Informations, Paris, Herbst 1976 veröffentlicht wurde.) Ein theatralischer Archipel hat sich während der letzten Jahre in vielen Ländern gebildet. Er ist fast unbekannt, es wird wenig über ihn nachgedacht, er wird nicht auf den Festivals vorgestellt, und die Kritiker schreiben nicht über ihn. Er scheint das anonyme Extrem der von der Kulturwelt anerkannten Theaterformen zu bilden: Auf der einen Seite steht das institutionelle Theater wegen der hohen Kulturwerte, die es zu vermitteln scheint, protegiert, als lebhaftes Bild einer kreativen Begegnung von Texten der vergangenen und gegenwärtigen Kultur oder sogar als eine ‚Edel‘-Form der Vergnügungsindustrie subventioniert. Auf der anderen Seite steht das Theater der Avantgarde, der Experimente, des Suchens, schwierig oder bilderstürmerisch, ein Theater der Veränderung, der Suche nach immer neuer Originalität, das im Namen der notwendigen Überwindung der Tradition verteidigt wird und allem geöffnet ist, was in der Begegnung der Künste mit der Gesellschaft an Neuem entsteht.
Das Dritte Theater lebt am Rand, oft außerhalb oder an der Peripherie der kulturellen Zentren. Es ist ein Theater, das von Menschen gemacht wird, die sich als Schauspieler, Regisseure, als Theaterleute verstehen, ohne den traditionellen Werdegang und Ausbildungsweg durchlaufen zu haben und die daher nicht einmal als Professionelle anerkannt werden.
Aber sie sind keine Amateure. Der ganze Tag ist für sie von ihrer Theaterarbeit bestimmt: manchmal durch das, was sie Training nennen, oder durch die Vorbereitung von Aufführungen, die sich ihr Publikum erst erkämpfen müssen.
Dem traditionellen Parameter für Theater entsprechend scheint es sich um ein irrelevantes Problem zu handeln; vom soziolo7
gischen Gesichtspunkt her ist das Dritte Theater jedoch beachtenswert.
Wie Inseln, die nicht miteinander in Kontakt stehen, treffen sich junge Leute in Europa, Nord- und Südamerika, Australien und Japan; sie bilden Theatergruppen, die entschlossen sind, zu überleben. Aber diese Gruppen können nur unter zwei Bedingungen überleben: Entweder betreten sie den Rahmen des etablierten Theaters, akzeptieren so die Gesetze von Angebot und Nachfrage, den herrschenden Geschmack, geben den Vorlieben politischer und kultureller Ideologen nach und passen sich so den zuletzt beklatschen Erfolgen an; oder es gelingt ihnen, sich durch kontinuierliche Arbeit einen eigenen Bereich zu schaffen. Sie suchen dabei das für sie Wesentliche und versuchen die anderen dazu zu zwingen, diese Verschiedenartigkeit zu akzeptieren.
Vielleicht kann man gerade im Dritten Theater das sehen, was am Theater lebendig ist, eine alte Bedeutung, die dem Theater neue Energien zuführt, und die das Theater trotz allem auch in unserer heutigen Gesellschaft lebendig erhält. Verschiedene Menschen in verschiedenen Ländern der Welt erfahren Theater als eine – immer gefährdete – Brücke zwischen der Behauptung eigener Bedürfnisse und der Notwendigkeit, mittels dieser Bedürfnisse die sie umgebende Umwelt zu (er-)reichen. Warum wählen sie ausgerechnet das Theater als Mittel der Veränderung, wo wir doch genau wissen, dass die Welt, in der wir leben, von anderen Faktoren bestimmt wird? Ist es eine Frage der Blindheit oder der Selbsttäuschung?
Eugenio Barba, Das Dritte Theater, in: ders. Jenseits der Schwimmenden Inseln, Reflexionen mit dem Odin-Theater, Theorie und Praxis des Freien Theaters, Reinbek: Rowohlt 1985, S. 215–217. Wir zitieren den Text mit freundlicher Genehmigung durch den Übersetzer Walter Ybema und durch den Autor.
Theaterlabor, MiM (Meister und Margerita), 1986
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Vielleicht ist das Theater für sie ein Mittel, eine eigene Form der Präsenz zu finden, was Kritiker „neue expressive Formen“ nennen würden – ein Versuch, menschlichere Beziehungen untereinander herzustellen, indem sie gesellschaftliche Zellen bilden, innerhalb derer Absichten, Hoffnungen und persönliche Bedürfnisse anfangen, in Handlungen umgewandelt zu werden.
Die abstrakten Unterscheidungen, die willkürlich gemacht und von oben aufgezwungen werden, sind hier nutzlos: Schulen, Stile, Tendenzen und andere Etikette, die dem etablierten Theater seine Ordnung geben. Hier zählen weder die Stile noch die Tendenzen der Expressivität. Was das Dritte Theater zu kennzeichnen scheint, was als ein gemeinsamer Nenner so verschiedener Gruppen und Erfahrungen erscheint, ist eine schwer zu bestimmende Spannung. Es ist, als ob die verschiedenen persönlichen Bedürfnisse – Ideale, Ängste, verschiedene Impulse, die andernfalls mehr oder weniger im Dunklen blieben – in Arbeit verwandelt werden wollten. Und das geschieht entsprechend einer Haltung, die von außen als ein ethischer Imperativ begründet wird, der nicht nur auf den Beruf beschränkt ist, sondern sich über das ganze tägliche Leben ausdehnt. Schließlich sind sie jedoch die Ersten, die den Preis für ihre Entscheidung bezahlen müssen. Man kann nicht nur von der Zukunft träumen und auf die totale Veränderung hoffen, die sich mit jedem Schritt, den wir machen, weiter zu entfernen scheint und trotzdem freie Bahn für alle Alibis, Kompromisse und die Impotenz des Wartens schafft. Man will, dass sofort eine neue Zelle gebildet wird, aber ohne sich in ihr zu isolieren.
Als Gruppe in eine Welt der Fiktion eintauchen und dabei den Mut finden, nicht zu heucheln … solcherart ist das Paradoxon des Dritten Theaters.
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Richard Gough, Centre for Performance Research: Back of Beyond Präambel Positionserklärung des Cardiff Laboratory Theatre / Centre for Performance Research (CPR), 2005, Richard Gough
Ich stelle dieses Mosaik aus kurzen Texten über das CPR in Wales, wenige Wochen vor dem 50. Jahrestag seiner Gründung zusammen. Im Oktober 1973 veröffentlichte Mike Pearson das Manifest Theatre Laboratory First Statement, in dem er die Gründung dessen ankündigte, was zunächst kühn Cardiff Laboratory for Theatrical Research genannt wurde. Der Name der Initiative war dem Einfluss Jerzy Grotowskis (und des polnischen Teatr Laboratorium) und Peter Brooks (und dem Internationalen Zentrum für Theaterforschung) geschuldet, auch wenn dies nur die Eingeweihten unter den in Wales ansässigen Theatermachern erkannt haben dürften. Als frühreifer 17-Jähriger, der sich bereits von allem inspirieren ließ, was ich über das anarchische Living Theatre (New York) gelesen hatte, der Grotowskis Text Towards a Poor Theatre in der Stadtbibliothek von Hereford ‚entdeckt‘ hatte und der dann Schulausflüge organisierte, um subversive Aufführungen von Moving Being und der Pip Simmons Theatre Group zu sehen, war ich von dieser Aussicht begeistert und von dem, was Mike skizzierte, gefesselt: Das Theatre Laboratory wird Anfang 1974 ins Leben gerufen. Es wird als „Stätte für intensive, langfristige Erforschung der Theatermethodik fungieren, wobei Aufführung und Dokumentation die Anwendung der neu geschaffenen Sprache sein werden, und im Wesentlichen auf dem Gebiet des körperlichen Ausdrucks arbeiten und einen Aufführungsstil entwickeln, der eine Vielzahl von Techniken zu einer Sprache der Bioenergetik zusammenfasst.“
Er (Mike Pearson) schlug vor, dass das Labor eine zweifache Funktion haben sollte. Erstens sollte es sich auf Forschung konzentrieren, „ohne die Einschränkungen von Aufführungsterminen und Probenplänen“. Eine ständige Performancegruppe sollte die Ergebnisse der Forschung in experimentellen Theaterproduktionen umsetzen. Deren Präsentationen würden
sich über mehrere Monate entwickeln und in der Entwicklung (als work in progress) zu sehen sein. Zweitens: „Unterricht wird eine wichtige Rolle spielen, um die abgeschlossenen Forschungsarbeiten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bei Bedarf werden Workshops veranstaltet, vorzugsweise an einem festen Standort ... Wochenend- und Wochenkurse werden in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen angeboten. Auf diese Weise wird die Forschung ihre praktische Anwendung im Dienste des leider vernachlässigten Bereichs des experimentellen Theaters haben. Die Dokumentation wird von größter Bedeutung sein, um eine ideologische (theoretische?) Grundlage für diese Art von Arbeit zu schaffen. Es wird eine vierteljährliche Publikation zu den Arbeiten innerhalb und außerhalb des Labors geben, in der Workshops, Seminare und Aufführungen aufgezeichnet und Artikel zur Methodik vorgestellt werden.“ (aus: Theatre Laboratory First Statement, 1973, Mike Pearson)
Mein Geist war entflammt, ich stellte mir das speziell gebautes Labor vor, das Proberäume, eine Bibliothek, ein multifunktionales Theater, Versammlungsräume, eine Druckerei (für die Herstellung von Büchern und Zeitschriften), einen Dokumentationsraum mit Besichtigungsmöglichkeiten, vielleicht sogar eine Küche und eine Kantine enthielte und, wie Mike abschließend bemerkte, „ein Ort der Begegnung und ein Forum für alle, die sich um die Zukunft des Theaters sorgen“ wäre. Ich wollte diesen Mann kennenlernen und mit ihm zusammenarbeiten, und innerhalb eines Jahres erreichte ich das – nur um festzustellen, dass es noch nichts von dem Laboratorium gab, sondern nur die Vision und den Traum davon in einer Ein-Zimmer-Wohnung in der Claude Road, Roath, Cardiff, mit Blick auf die Dächer der Reihenhäuser. Ich habe oft gescherzt (auf meine eigenen Kosten), dass meine Arbeit der letzten 49 Jahre darin bestanden hat, meine
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Vorstellung von diesem Laboratory for Theatrical Research zu verwirklichen. Es zieht sich aber ein Bogen durch die gesamten 50 Jahre, der alle drei Phasen und ihre verschiedenen internen Veränderungen und Permutationen prägt. In den ersten Jahren unseres Bestehens begegneten wir Eugenio Barba und dem Odin Teatret, zunächst durch die Einladung zur Teilnahme am Ersten Treffen des Dritten Theaters auf dem Internationalen Theaterfestival Belgrad (BITEF) 1976 im damaligen Jugoslawien, dann auf dem Zweiten Treffen des Dritten Theaters 1977 in Bergamo, Italien. Diese Treffen waren prägend, inspirierend und bestätigend. Wir erkannten, dass wir nicht allein waren, wir trafen andere gleichgesinnte Theatergruppen, die sich aus dem Lebenswunsch heraus zusammenfanden, allen Widrigkeiten zum Trotz eine eigene Theatergruppenkultur zu formen, mit wenig oder gar keiner formalen Theaterausbildung. Sie kreierten mit unorthodoxen Methoden und kreativen Strategien eine eigene Ästhetik und suchten gleichzeitig ein neues Publikum und unkonventionelle Kontexte. Diese Gruppen waren entschlossen, ihre Arbeit nur zu ihren eigenen Bedingungen zu machen, mit geringen Mitteln, engagiert und trotzig. Die Erkenntnis, dass unsere karge isolierte Existenz nicht einzigartig oder eigenartig war, sondern dass wir Teil einer größeren Gemeinschaft – des Dritten Theaters – waren, war motivierend und wahrscheinlich der bestärkende Faktor in unserer Jugend.
1977 machten wir unsere eigene Pilgerreise zum Odin Teatret (in Holstebro, Dänemark): eine lange Reise von Cardiff nach Harwich, eine Fähre nach Esbjerg und dann eine Fahrt durch Jütland. Was erfuhren wir? Die Freundschaft von Fremden, großzügige und kollektive Gastfreundschaft – im Theater und in vielen Häusern und Wohnungen der Mitglieder der Odin Company. Auch hier gab es ein Laboratorium – das Nordisk Teaterlaboratorium (die Dachorganisation des Odin Teatret) –, komplett mit Studios, Theatern, Probe- und Wohnräumen, Büros, Werkstätten, Küche, Speisesaal und Bibliothek. Wenn das Gefühl, Teil des Dritten Theaters zu sein, schon grundlegend war, dann war das Erleben der Realität eines Laboratorium-Theaters mit all seinen Einrichtungen inspirierend. Könnte ein solcher Ort jemals in Wales existieren?
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Voll absichtlich ungebildet – die erste Phase (1974–1986) „Wie wir uns definieren? Absichtlich ungebildet.“ (Bevorzugte Erwiderung, 1980) „Wie die Produktionen anderer Gruppen sind auch die des Cardiff Laboratory Theatre aus unseren individuellen und kollektiven Erfahrungen, Beobachtungen und Bestrebungen entstanden. Der Prozess, in dem sie geordnet werden und Ausdruck finden, bestimmt nicht nur die Stilistik, sondern auch die Art der Zusammenarbeit. Die Aufführungen sind eine Feier, ein Teilen unserer Gruppenkultur mit unserem Publikum.“ (Navigating Shadowlands, 1979, Richard Gough) Bei aller Unbeständigkeit der frühen Gruppe war sie von dem dringenden Wunsch jedes Einzelnen geprägt, ein wirklich alternatives und lebendiges Theater zu machen. Es war dieser Wunsch, der zumindest einige immer wieder zusammenführte, und es war dieser ‚Lebenswunsch‘, der Grundlage für die gesamte Arbeit des Lab blieb. Ende 1977 wurde das Cardiff Lab zu einem internationalen Treffen junger Theatergruppen in Bergamo eingeladen (dem Zweiten Treffen des Dritten Theaters), das von Eugenio Barba, dem Direktor des Odin Teatret, initiiert wurde.
„Für uns war das Treffen wirklich eine Begegnung, denn wir sahen, dass wir mit unserem Wunsch, eine andere Art von Theaterprozess und Gruppendynamik zu schaffen, nicht allein waren, sondern dass es ein gemeinsames Bedürfnis war, das auch andere Gruppen jeweils isoliert in ihren Ländern hatten. Nicht, dass es uns an Kontakt zu anderen Gruppen in Großbritannien gefehlt hätte oder an Inspiration durch sie – vor allem People Show, Welfare State, Pip Simmons –, aber diese Gruppen stammten aus einem anderen Jahrzehnt und einem anderen politischen Klima. Zu entdecken, dass wir Teil einer größeren ‚Familie‘ waren, machte uns entschlossen, Wurzeln zu schlagen, die uns ermöglichten, Bedingungen zu schaffen, unter denen kreative Arbeit und Forschung gedeihen konnten. Wir waren ermutigt durch das notwendige Gefühl der Kontinuität.“ (Navigating Shadowlands, 1979, Richard Gough)
Theaterlabor/Brith Gof, The Disasters of War – Hurra Hurra Germania, 1988
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Theaterlabor/Brith Gof, The Disasters of War – Hurra Hurra Germania, 1988
Von Anfang an war es uns neben der Produktion von Shows darum gegangen, zu forschen, zu lernen und Fähigkeiten zu entwickeln. Jetzt, nach dem Treffen in Bergamo, wurde uns klar, dass wir ein Zuhause brauchten. Wir brauchten einen Ort, an dem wir täglich arbeiten und trainieren konnten und an den wir andere einladen konnten. Nach langwierigen Verhandlungen konnten wir in die Räumlichkeiten des Chapter Arts Centre, einer alten edwardianischen Schule in Cardiff, in eine Turnhalle, die zu unserem ‚Stützpunkt‘ wurde; und so begann auch unsere Zusammenarbeit mit Chapter, dem alternativen Kulturzentrum der Stadt. Von da an änderte sich die Art des Arbeitsprozesses; es gab zwar immer noch keine feste Gruppe, vielmehr eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von ständigen und assoziierten Mitgliedern. Wir arbeiteten in unterschiedlichen Konstellationen an verschiedenen Projekten. Ausgangsmaterial war nicht mehr extern oder bereits vorhanden, sondern ausschließlich die eigenen Fantasien, Träume und Obsessionen jedes Einzelnen. Ein Koordinator führte die Stränge der einzelnen, persönlichen intellektuellen und physischen Forschung zusammen und (er-)fand einen Kontext, in den er sie einordnen konnte, eine Synthese der einzelnen Sammelalben. In der ersten Phase war es uns um den körperlichen Ausdruck von Emotionen und die Grundzüge der menschlichen Interaktion gegangen. Jetzt beschäftigten wir uns mehr mit den seltsamen Begebenheiten und Charakteren in unserer eigenen und in anderen Kulturen. Unsere erste Arbeit war spartanisch, und alle verwendeten Gegenstände hatten eine symbolische Bedeutung. Objekte wurden wegen ihrer Kuriosität einbezogen, und wir öffneten uns für Lieder, Körperlichkeit, Musik und Tanz anderer, nicht-westlicher Theaterformen.
Eine wichtige Entwicklung in den späten 1970er-Jahren war die Ausweitung der Arbeit durch Aufführungen, Workshops und Aufenthalte außerhalb von Cardiff, vor allem im übrigen Wales, aber auch im Ausland. Der Höhepunkt dieser Kooperationen war die einmonatige Residenz des Odin Teatret in Wales im August 1980, deren Organisation und Vorbereitung zwei Jahre gedauert hatte. Während dieses Monats stießen wir viele frühere Vorstellungen über die Funktion des Theaters in
Wales, seine Verbreitung und Präsentation um. Als Organisation lernten wir viel über unser eigenes Land. Das Projekt forderte uns und brachte uns mit vielen anderen Gruppen, Einzelpersonen, Strukturen und Haltungen in Kontakt. Aber das Projekt zeigte uns auch etwas: den Wert einer wirklich kontinuierlich festen Gruppe mit einer gemeinsamen Sprache und Produktionsmethode, mit gut etabliertem und einstudiertem Repertoire und mit Offenheit dafür, wie diese Stücke bei anderen Veranstaltungen, für Feiern oder Konfrontationen verwendet werden können.
Im Frühjahr 1981 wurde ein ständiges Ensemble mit der langfristigen Absicht gegründet, ein Repertoire für Aufführungen in Wales und im Ausland zu erarbeiten. Wir begannen mit einer dreimonatigen Auszeit ohne den Termindruck einer Produktion, um neue Fähigkeiten zu erlernen, Horizonte und Einstellungen zu erweitern und kreative Strategien und Methoden zu verfeinern. Auch sollte die Integration zwischen älteren und neueren Mitgliedern ermöglicht, eine gemeinsame Sprache entwickelt und ein gemeinsames Verständnis gefördert werden, die den geplanten Projekten zugrunde liegen sollten. Aus stilistischer Sicht blieb das Hauptanliegen die Verschmelzung von Musik mit visuellem und körperbasiertem Theater, doch wir spürten jetzt auch die Notwendigkeit, unsere stimmlichen Fähigkeiten zu erweitern und die Arbeit mit Text zu erforschen. Vielleicht war das eine natürliche Folge, weil wir uns mit sozialen und politischen Anliegen und Themen auseinandersetzen wollten. Wir begannen, Produktionen zu entwickeln, die das Patriarchat kritisierten, sich mit dem Feminismus auseinandersetzten und historische oder mythologische Themen untersuchten. Obwohl es zwischen 1974 und 1985 deutliche Veränderungen in der Arbeit des Labors gab, blieben drei Tätigkeitsbereiche konstant, die für Philosophie und Praxis des Labors grundlegend waren: Performanceprojekte, Gemeinschaftsprojekte und das Bildungsprojekt – es entstand das Ressourcenzentrum mit Bibliothek und Archiv, das dann als Centre for Performance Research bekannt wurde (und nach wenigen Jahren Hauptinstrument und Corporate Identity des Lab wurde).
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Die Performanceprojekte wurden unterschiedlich umgesetzt: Als formale, ‚geprobte‘ Stücke und strukturierte Freilichtaufführungen für die Aufführung an walisischen Veranstaltungsorten und im Ausland. Als informelle, unmittelbarere Stücke, besondere Events, als Feste, Feiern und ‚Ausflüge‘, mit Aufführungen in Großbritannien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Italien, Frankreich, Spanien, Österreich und Polen mit besonderen Kreationen an so unterschiedlichen Orten wie einem Schiefersteinbruch in Nordwales, einem Kristallpalast in Madrid, den Botanischen Gärten in Belfast und einem stillgelegten Stahlwerk in Kopenhagen, mit Indoor-Shows in Dorfsälen, Zirkuszelten, Kunstmuseen, Fischmärkten, Kinos und Schlössern – und sogar in Theatern.
Bei Kooperationsprojekten werden Besuche von Ensemblen oder einzelnen Spezialisten organisiert, um deren Arbeit dem walisischen Publikum zugänglich zu machen und den Mitgliedern des Labors die Möglichkeit zu geben, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Auch dieser Bereich war wieder sehr vielfältig und reichte von einem Workshop und einer Präsentation mit einem Stepptänzer bis zu einem zweiwöchigen praktischen Seminar über balinesischen und Kathakali-Tanz. Neben dem Odin Teatret beherbergte das Labor zahlreiche Ensembles des aufkeimenden Netzwerks des Dritten Theaters, darunter Grotowski und das Laboratorium, das Piccolo Teatro aus Pontedera, die Akademia Ruchu aus Warschau sowie viele einzelne Künstler und Lehrer.
Grundlage des Bildungsprojekts, des CPR-Ressourcen-Zentrums, war eine Sammlung von Büchern und Zeitschriften zu verschiedenen Aspekten von Performance (jedoch nicht von Theaterstücken), die in der Stadtbibliothek von Cardiff nicht zu finden waren, wobei der Schwerpunkt zunächst auf nichtwestlichen Traditionen des Tanztheaters und zeitgenössischen experimentellen Aufführungen lag. Die Vielfalt des Materials in der Sammlung beförderte den Austausch über verschiedene Aufführungspraktiken, über Kulturen hinweg und durch Jahrhunderte der Theatergeschichte. Im Laufe der nächsten 40 Jahre entwickelte sie sich zu einer multikulturellen Präsenzbibliothek und einem Archiv mit rund 400.000 Objekten, da-
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runter Bücher, Zeitschriften, Plakate, Videos, Schallplatten, Theaterephemera und Archivmaterial, das die physischen, visuellen und interaktiven Aspekte des Theaters aus aller Welt hervorhebt. Der Ursprung des Museums lag jedoch in bescheidenen Anfängen: „Während der Entwicklung eines Projekts haben wir uns oft gegenseitig grafische, textliche und mündliche Zeugnisse von unbekannten und von vertrauten Kulturen in ungewohntem Licht präsentiert. Das Material wählten wir aus unseren eigenen Bücher- und Schallplattensammlungen, Sammelalben oder Schuhkartons. Auf unorganisierte Weise wurde eine zunächst hingeworfene Sammlung so immer stärker physisch verkörpert. Wir erkannten, dass wir die Saat für die Zukunft legen konnten, wenn wir alles tatsächlich aufbewahren und weiter ergänzen würden. Die Dokumentation unserer früheren Projekte, die Theatertheorie, Trainingsmethodik, Szenario-Entwicklung, Überlegungen zur Aufführungsarbeit und die durch Begegnungen mit anderen Gruppen und dem Publikum gesammelten Informationen bildeten gewissermaßen das Gedächtnis unserer Gruppe. Wir dachten, dass die Synthese dieser beiden Sammlungen von dokumentarischem Material der Ausgangspunkt für eine Quelle sein konnte, die etwas von dem Schöpferischen bewahrt und reflektiert, ein Performanceprojekt über die bloße Aufführung hinaus. Daher ist das, was heute als Centre for Performance Research (CPR) etabliert ist, vor allem durch das aktive Performancemachen gekennzeichnet – es gibt erst den Anstoß für ein Projekt und antwortet dann, indem es weitere Informationen von vergleichbarem Interesse sammelt, und beherbergt schließlich die Dokumentation des Projekts.“ (Ressourcenzentrum, Erste Erklärung 1978, Richard Gough) Ungebildete Hochstapler – die mittlere Phase (1986–2015)
„Für die Neugierigen: Welten der Performance eröffnen.“ (Treffender Slogan, 1995)
Während dieser nachhaltigen Phase hatte das CPR in Wales eine katalytische Funktion: ein Kanal für Veränderung und Austausch, eine Antriebskraft für die Entwicklung der Kunstform und ihre breitere Wertschätzung und ihr Verständnis.
Durch seine Partizipations- und Präsentationsprogramme – die Disziplinen wie Tanz und Theater, Installation und Performance, Musik- und Multimediaprojekte, ortsspezifische und landschaftsbezogene Veranstaltungen umfassten – förderte das CPR aufstrebende Künstler und Ideen, untersuchte das Verhältnis von Innovation und Tradition und ging (manchmal gegen vorherrschende Trends und Moden) den zugrunde liegenden Fragen (sozialer, politischer und ästhetischer Art) in kontinuierlicher, langfristiger Forschung und Entwicklung nach. Jedem Projekt, jeder Aktivität des CPR lag der Wunsch zugrunde, Veränderung herbeizuführen, wobei die Hauptziele Erforschen, Entdecken und Austauschen waren. Diese Ziele sollten es dem walisischen Publikum und den Akteuren ermöglichen, sich mit Ideen, Methoden und Praktiken aus der ganzen Welt auseinanderzusetzen und durch diesen dynamischen Austausch einen lebendigen und unverwechselbaren Theater-Lebensraum in Wales zu fördern, der sich durch Vitalität, Kreativität, Vorstellungskraft, Vision, Offenheit, Begeisterung, Neugier und Leidenschaft auszeichnet. Sie sollten auch die Entwicklung der Kunst im Allgemeinen, ihrer Methoden und Techniken ermöglichen und die Grenzen der Disziplinen in neuen und sich ständig erweiternden Kommunikationsformen erweitern.
Diese Motivation entsprang und führte wieder hin zu einer breiten kulturellen, sozialen und politischen Agenda und der Stellung von Wales in Europa und der Welt. Das CPR vertrat die Ansicht, dass Theater und Performance kulturelle Werte nicht einfach nur festschreiben und mit Bestimmtheit verkünden sollen, sondern sie vielmehr infrage stellen und einen Raum oder Ort für ihre dynamische Aushandlung bieten müssen. Dies basierte auf der Überzeugung, dass die darstellenden Künste einen interkulturellen, generationenübergreifenden und sozialen Austausch ermöglichten, der zu mehr Verbindung und Verständnis zwischen Menschen und Nationen führt und offene Wechselwirkungen, generative und transformative Experimente und Reflexionen sowie die Erweiterung von Grenzen und Wahrnehmungen fördert. Das war Grundlage für alle internationalen Projekte im Rahmen des CPR und von zentraler Bedeutung für die Verwirklichung eines Netzwerks, eines Netzes
verschlungener Verbindungen, das bedeutende Kooperationen und Koproduktion hervorbringt und unterstützt. Diese Werte sind in dieser ‚Positionserklärung‘ aus dem Jahr 2005 festgehalten: „Das CPR möchte die Vitalität von Wales als ein ‚Projekt im Prozess‘ befördern, das ständig im Werden ist und seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer wieder neu definiert. Philosophisch und praktisch möchte das CPR daher die nationale Kultur nicht auf unrichtige Weise feiern, sondern eher nachdenklich stimmen und Neugierde wecken, Fragen stellen und herausfordern. Das CPR unterstützt Initiativen, die enge Verbindungen zu Ländern und Nationen mit einer ähnlichen Struktur wie Wales haben, ist aber auch der Ansicht, dass sich Menschen und Nationen entwickeln, indem sie sich mit Unterschieden auseinandersetzen, das Anderssein anerkennen und einzigartige Merkmale durch dynamische Interaktion kennenlernen.“
Die Position des CPR in Wales mag manchmal paradox erscheinen, aber die Arbeit mit dem Paradoxen und die paradoxe Positionierung innerhalb einer Kultur bedeutet, sich aktiv zu engagieren. Die Lage von Wales an der Peripherie Europas wird vom CPR zelebriert und kuratorisch in eine Vision umgewandelt, die einen umfassenden Blick auf zeitgenössische Theater- und Performancearbeiten wirft, die Folgendes umfassen:
Performances, die das Marginale in den Mittelpunkt rücken, die Vielfalt feiern und all das, was an der Peripherie, am Rande, an der Grenze zwischen verschiedenen Kunstformen und zwischen sozialem und ästhetischem Handeln existiert – das, was stört, erhellt, die Norm infrage stellt, eine paradoxe Position einnimmt, absichtlich aus dem Mittelpunkt gerückt ist, im Abseits steht. Arbeiten, die bisher als unberechtigt, marginal oder peripher angesehen wurden, nicht nur Werke, die auf internationalen Festivals gezeigt werden, sondern Werke, die unter besonderen und spezifischen Bedingungen entstanden sind.
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Arbeit, die sich durch das ihr eigene Gefühl des Abgedrängtund Weggeschobenseins auszeichnet, die wütend und leidenschaftlich, schamlos und parteiisch ist und direkt, visuell zu einem breiten Publikum spricht. (CPR-Positionserklärung, 2005, Richard Gough)
Während dieser Phase unserer Arbeit am Centre for Performance Research nahmen wir die Position von Wales an der Peripherie Europas als Ausgangspunkt und wandelten sie kuratorisch in eine Vision um, die einen breiten Blick auf die zeitgenössische Performancearbeit werfen sollte. Wir produzierten Arbeiten, die neue Entwicklungen in den Kunstformen und zwischen den Disziplinen vorschlugen und ein neues Publikum ansprachen: Tanz/Theater, Installation/Performance, Musik- und Multimediaprojekte, ortsspezifische und landschaftsbezogene Veranstaltungen, Arbeiten, die unterschiedliche Körperformen, Alter, Hautfarbe und ‚Fähigkeiten‘ in den Mittelpunkt stellten. Darbietungen, die das Randständige ins Zentrum rückten, die Vielfalt und all das feierten, was an der Peripherie, am Rande, an der Grenze zwischen verschiedenen Kunstformen und zwischen sozialem und ästhetischem Handeln existierte – das, was stört, beleuchtet, die Norm infrage stellt, eine paradoxe Position einnimmt, absichtlich ins Abseits gestellt wird. Werke, die früher vielleicht als entrechtet, marginal oder peripher galten; nicht nur Werke, die ‚Stoff‘ für internationale Festivals sind, sondern Werke, die unter besonderen und spezifischen Umständen entstanden sind. Werke, die sich durch das ihnen eigene Gefühl des Abgedrängtseins auszeichneten, die wütend und leidenschaftlich, schrill und parteiisch und sich direkt und visuell an ein breites Publikum wandten. Wir waren bestrebt, Verbindungen zwischen Innovation und Tradition zu suchen, und neugierig, von den großen Welttheatertraditionen (insbesondere denen Asiens) zu lernen und das Potenzial des offenen symbolischen Raumes der Bühne zu erforschen, in dem die Handlungen der Darsteller im Mittelpunkt stehen und der dramatische Text weniger wesentlich ist; ja, in dem die konventionelle dramatische Struktur verdrängt und die Betonung auf das, was im Wesentlichen theatralisch (im Gegensatz zu literarisch) ist, zurückgeführt und neu konstituiert wird.
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Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der HLW im Jahr 2005 habe ich in Towards Tomorrow 30 Objekte für einen Performancevortrag verwendet. Es war eine Erkundung von Erinnerungen, Bedeutungen, Identität und Verpflichtungen, transportiert durch die beständige Fähigkeit von Objekten, die vergängliche und flüchtige Natur von Performance und Geschichte zu verkörpern, zu beschwören und hervorzurufen. Objekt 22 war ein zerbrochener Globus: der viel gereiste Globus, hergestellt in den 1920er Jahren, dessen Weiten von imperialem Rosa in verblichenen, fleckigen Pointillismus übergingen, der schließlich in meinen Händen auseinanderfiel bei den Proben in Londrina, Brasilien, 20.23° südlich des Äquators, der Leim der hemisphärischen Naht, der schmolz, nachgab, aufbrach und an seinem Schwachpunkt zerbrach. Der zerbrochene Globus, zersplitterte Geografien, die Welt in Scherben, hemisphärische Scherben, die in der Kosmologie verstreut sind. Humpty Dumpty, der einen großen Sturz erlebte – einen Sturz in die Zeit und aus dem Raum –, und all die Pferde und Männer des Königs, die Humpty nicht wieder zusammensetzen konnten. Ungebildete Verleger – die ‚letzte‘ Phase (2015 bis heute)
„Performance erforschen, Tendenzen antizipieren, Praktiken kartieren, Prozesse dokumentieren, Untersuchungen anregen, Forschung betreiben.“ (Ehrgeiziger Slogan, 2016)
Anfang 2015 veranstaltete das CPR zwei große internationale Konferenzen/Festivals in Zusammenarbeit mit der AMATA (Academy of Music and Theatre Arts) an der Universität Falmouth, Falmouth Cornwal. Das CPR hatte nach der Trennung von der Universität Aberystwyth 2012 ein Joint Venture mit der Universität Falmouth gegründet. Great Reckonings in Little Rooms: 100 Years of Fortitude war die Abschlussveranstaltung einer dreijährigen, vom Leverhulme Trust finanzierten Forschungsarbeit: The Laboratory Theatre Traditions & Legacy. Die dreitägige Konferenz/Versammlung befasste sich mit der Geschichte und der Zukunft des Laboratory Theatre. Sie war spekulativ, provokativ, radikal, retrospektiv, nostalgisch, optimistisch, idealistisch, naiv, unverbesserlich, ikonoklastisch,
respektlos und experimentell. Siegmar Schröder und das Bielefelder Theaterlabor nahmen teil und präsentierten Aufführungen zusammen mit bedeutenden Theaterhistorikern, wissenschaftlern und -praktikern aus aller Welt. Eine noch größere Zahl von Künstlern nahm im April 2015 an Giving Voice 13, Listening Mind, Moving Voice teil, dem Projekt zum 25. Jubiläum dieser bahnbrechenden Festivalreihe, die Workshops, Meisterklassen, Konferenzen und Konzertprogramme miteinander verbindet. Es sollten die letzten beiden großen öffentlichen partizipativen Projekte sein, die das CPR durchführte.
Seit 2015, nachdem das CPR (nach 20 Jahren) wieder unabhängig geworden ist und ohne institutionelle Unterstützung oder Zugehörigkeit arbeitet, liegt sein Hauptaugenmerk auf dem Publizieren. Zunächst wurde die Zeitschrift Performance Research von einer vierteljährlichen Ausgabe auf eine zweimonatliche Ausgabe (sechs Themenhefte pro Jahr) und dann auf acht Hefte jährlich erweitert. Zweitens etablierten wir Performance Research Books als komplett unabhängiges und innovatives Imprint. – Die Zeitschrift Performance Research, die thematische und interdisziplinäre Möglichkeiten, unterschiedliches Material künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung im erweiterten Bereich der Performance zusammenzubringt;
– Performance Research Books, die der Linie der Zeitschrift folgen und sie erweitern, die offen für die Publikation von Monografien, Büchern und Arbeiten über besondere Praktiken sind. Performance Research Books veröffentlicht großzügig illustrierte und fein gestaltete Bücher, die die zeitgenössische Aufführungspraxis dokumentieren und analysieren – anhand der Arbeit einzelner Künstler, Kompanien und Ensembles. Jede Publikation kombiniert Texte, Sammlungen und kritische Überlegungen zu einem bestimmten Werk mit der wissenschaftlichen und theoretischen Analyse der Praxis, den Stimmen der Praktiker, der Sichtweise der Macher und Belegen der Arbeit.
Künstler oder auf die Auseinandersetzung der Wissenschaft mit einer bestimmten praktischen Arbeit. Jede Publikation kombiniert Texte, Partituren und kritische Reflexion mit wissenschaftlicher und theoretischer Analyse der Praxis, den Stimmen der Praktiker, den Ansichten der Macher und den Belegen der Arbeit.
Seit den Anfängen des Cardiff Laboratory Theatre ist „Denken durch Praxis“ und „Üben durch Denken“ ein Hauptanliegen und eine Motivation, die seit 50 Jahren anhalten. Das Konzept der Forschungsfelder und wissenschaftlichen Netzwerke (Wissenspraktiken und Forschungsteams) ist entscheidend zum Verstehen des CPR-Ansatzes, neues Wissen zu schaffen und Forschungsergebnisse zu verbreiten. Es geschieht in der Absicht, das Streben über das Individuum und über die Beschränkung eines einzelnen bewertbaren Gegenstands hinaus auszudehnen, ja sogar den gesamten Begriff des „Themas“ (item) zu überschreiten – scheinbar im Widerspruch zu akademischen Anforderungen und Erwartungen. Der größere Beitrag des CPR dazu war die Schaffung von Projekten, Forschungsgebieten und Wissensnetzwerken, die eher wie ein vielschichtiger Fächer funktionieren.
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Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Zimmermann
– Die Bücher der Reihe Inside Performance Practice konzentrieren sich auf bestimmte Performance-Companies oder
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Selbstermächtigung zur widerrechtlichen Ausübung der Schauspielkunst Siegmar Schröder: Die Gründung des Theaterlabors Ich kam kurz vor dem Jahresende 1982 aus Italien zurück und auf der ‚Pädagogentreppe‘ in der Uni saßen einige meiner alten Theatergruppe, die mich direkt fragten. „Gründen wir jetzt ein Theater?“ Ich stellte nur eine Bedingung: Wer fünf Mal in der Woche ein paar Stunden Zeit hätte, um ein Theatertraining aufzunehmen, konnte dabei sein. Nullo Facchini kam auf seinem Weg von Italien nach Dänemark bei uns vorbei und wir boten gemeinsam einen Theaterworkshop an. Ich bekam sofort einen neuen Lehrauftrag, sodass sich immer wieder neue Leute für die Arbeit interessierten und sich sogar eine zweite Gruppe mit denjenigen bildete, die nicht ganz so viel Zeit hatten. Ich leitete also zwei Gruppen. Die Gruppe 2 produzierte 1985 dann eine viel beachtete Aufführung Vivisektion (nach Die geteilte Frau von Simone de Beauvoir). Es wurde anfangs noch viel hin- und her gewechselt, da den wenigsten bewusst war, dass es mit der professionellen Gruppe darum ging, die Schauspielerei beruflich zu betreiben.
Noch viele Jahre später, als sich alle längst über die Theaterarbeit finanzierten, gab es noch kein Bewusstsein über die neu geschaffene Profession, die man sich ohne eine anerkannte Ausbildung angeeignet hatte. Ich selbst spielte zunächst bei einer Straßenparade als Schauspieler mit, habe das aber aufgegeben, da ich die Notwendigkeit eines Außenblicks für das gesamte Geschehen erkannte.
Unmittelbar nach der Gründung des Theaterlabors nahm ich weitere Kontakte auf, um die Ausbildung voranzubringen. Ich hatte den Eindruck, dass meine eigene Erfahrung nicht ausreichte, um das Niveau zu erreichen, das ich in Italien kennengelernt hatte. Ich hörte von Teresa Nawrot, einer ehemaligen Grotowski-Schauspielerin, die in Berlin lebte, und lud sie ein, eine Zeitlang mit uns zu arbeiten. Sie legte einen Schwerpunkt auf die plastischen Bewegungselemente und wir nahmen diese mit in unser tägliches Training auf. Walter Ybema, der zuvor als Dramaturg beim Odin Teatret gearbeitet hatte, wurde von uns eingeladen und arbeitete mit uns an Improvisationen mit Subtexten. Interessant war die Arbeit mit Tieren, die dann durch Reduktion immer menschlicher wurden und einen etwas merkwürdigen Charakter zeigten.
Wir haben das für unsere Arbeit an Der Meister und Margarita aufgenommen und Annette Hamann hatte in der Figur des Behemoth einen Geier als Subtext.
In der Zeit in Italien nahm ich auch Kontakt zum Teatro Tascabile di Bergamo auf und lud Ludovico Muratori nach Bielefeld ein, der mit uns indischen Tanz im Stile von Bharata Natyam einstudierte.
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Theaterlabor Programm, 1985
Siegmar Schröder: Paratheater im Wald von Brzezinka Kurz nach Gründung des Theaterlabors luden wir Teresa Nawrot zu uns ein. Sie stammte aus Warschau, hatte 14 Jahre bei Jerzy Grotowskis Theaterlaboratorium gespielt und war seine Assistentin. Inzwischen lebte sie in Westberlin. Es war mir klar, dass ich allein eine umfassende Ausbildung der Schauspieler*innen nicht würde leisten können, und Teresa war die erste Lehrerin von außen in einer Reihe von Weiterbildungen, die wir für uns organisierten. Ich wollte ein hohes Niveau erreichen, das uns auch auf internationale Festivals bringen sollte. Die Schauspieler*innen des Theaterlabors lernten, mit „plastic elements“ und anderen Trainingsmethoden zu arbeiten, die aus der Tradition Grotowskis kamen. Es ging vor allem darum, aus diesen plastischen Elementen szenische Handlungen entstehen zu lassen, die mit Subtexten oder mit Texten funktionierten. In der folgenden Zeit wurden derartige Inputs von außen ins Theatertraining einbezogen, wodurch alle Akteur*innen für sich ein individuelles und von persönlichen Vorlieben geprägtes Training entwickelten. Einige wählten in den ersten zwei Jahren als Schwerpunkt die Grundlagen der Weiterbildung von Teresa, andere die von Walter Ybema und wieder andere die Elemente des indischen Tanzes von Ludovico Muratori.
Von Teresa erfuhr ich dann, wo ich mich melden musste, um in Polen an einem Workshop zu jener Arbeit Grotowskis teilzunehmen, bei der es nicht mehr um Theater, sondern um „Paratheater“ ging. 1984 nahm ich an einem solchen Workshop in Brzezinka teil, in der Nähe von Wrocław (Breslau). Grotowski selbst hatte diese kulturell-spirituelle Arbeit außerhalb des Theaters begründet und etablierte gerade seinen neuen Hauptstandort in Pontedera (Italien). Es gab aber bereits einige Personen, die diese neue Arbeit in Workshops anboten, unter anderem auch im Wald von Brzezinka.
Meine persönliche Beeinflussung durch Grotowski gestaltete sich ein wenig kompliziert. Es gab ja kein Theater mehr, das ich hätte sehen können. Es gab nur die Relikte der Vergangen-
heit in Videos und die Erzählungen von älteren Kolleg*innen, die Grotowskis Theater wirklich noch live gesehen hatten. Ansonsten rankte sich ein Mythos um ihn. Das wurde durch die paratheatrale Arbeit noch weiter forciert, da sich Grotowski nun augenscheinlich auf einer Ebene bewegte, die nur großen Gurus, Yogis und anderen ‚Erleuchteten‘ vorbehalten war: der Ebene eines ‚elementaren Menschseins‘.
Bereits beim großen Workshop in Ferrara 1982 war ersichtlich, dass es verschiedene Strömungen unter seinen ehemaligen Schauspieler*innen gab. Wir trafen manchmal andere Teilnehmer*innen, die aus der Arbeit mit Ludwig Flaszen oder Rena Merecka kamen. Sie waren sichtlich verändert, hatten ein Strahlen in den Augen und sprachen nicht darüber. Parallel dazu entwickelte sich inflationär eine Szene von Workshopleiter*innen, die behaupteten, nach der Grotowski-Methode auszubilden, selbst jedoch nie mit Grotowski gearbeitet hatten. Grotowski war derweil in den Wäldern von Pontedera oder Brzezinka unterwegs und gar nicht mehr der, auf den man sich hätte methodisch beziehen können. Ich meldete mich also für einen fünftägigen Aufenthalt in den Wäldern von Brzezinka in der Nähe von Wrocław an, um das Mysterium der paratheatralen Arbeit zu erkunden. Das Programm wurde von Marek Musial geleitet. Wichtigstes Merkmal war, dass alle Teilnehmenden sich zu Beginn verpflichteten, fünf Tage lang zu schweigen. Elemente aus verschiedenen Traditionen von Meditation, klösterlichem Leben und Wahrnehmungsübungen verschmolzen zu einer besonderen Erfahrung: von Sonnenuntergang bis in die Dämmerung hinein mitten im Wald stehen, sich extrem langsam im Kreis drehen und dabei wahrnehmen, wie die Umgebung sich verändert. Die Stimmen der Vögel, die Lichtverhältnisse und das eigene Innere beobachten. Danach in einen Raum gehen, wo in dem großen offenen Kamin ein Feuer angezündet wurde. Dort war es die Aufgabe, mit den Flammen im Gleichklang körperlich zu agieren. Nach kurzer Zeit erreichte das Feuer des Holz-
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stapels seinen Höhepunkt und wir Teilnehmer*innen bewegten uns ekstatisch. Dann das allmähliche Schwächerwerden der Flammen mit körperlichen Aktionen nachvollziehen. Die Bewegungen wurden langsamer und über einen langen Zeitraum immer weiter reduziert, bis die Flammen erloschen und nur die Glut übrig blieb. So fühlte es sich auch im Körper an. Man war am Schluss bewegungslos, fühlte aber eine besondere Energie in sich.
In einem anderen Raum wurden über einen längeren Zeitraum Yoga-Gleichgewichtsübungen auf einem Bein abgehalten. Stundenlang gingen wir durch den Wald und nahmen wahr. Im großen Dormitorium weckte jede*r nach einer halben Stunde Meditation vor einer brennenden Kerze seine*ihre Bettnachbarn*in auf, sodass die ganze Nacht jemand da saß und meditierte und die Kerze nicht erlosch. Diese Praxis führte natürlich dazu, dass wir sehr wenig Schlaf bekamen. Gleichzeitig sehr früh aufzustehen und nur wenig zu essen schärfte die Wahrnehmung und das brachte eine ungewöhnliche Selbsterfahrung. Es hatte wirklich nichts mit Theater zu tun. Es war schön, ich genoss es. Ich fand diese Erfahrung sehr interessant, aber da ich nicht besonders spirituell veranlagt bin, konnte ich kaum eine Beeinflussung meiner weiteren Arbeit und meines weiteren Lebens bemerken. Die anderen Teilnehmer*innen, die keinen Theaterhintergrund hatten, kamen aus esoterischen, religiösen oder therapeutischen Kontexten zu dieser Form der Selbsterfahrung. Ich versuchte manchmal, Blickkontakt zu den anderen aufzunehmen und regelkonform mit den Augen und Mimik zu kommunizieren, was aber meist misslang, denn die anderen waren sehr auf sich bezogen.
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Gespräch mit Rolf Michenfelder, Theater neben dem Turm Siegmar Schröder _ Wir kennen uns schon sehr lange. Kannst du für das Interview erzählen, wo du herkommst, aus welchem Kontext?
Rolf Michenfelder _ Mit dem Theater habe ich tatsächlich hobbymäßig 1976/77 angefangen, aber nicht mit der Perspektive auf eine Beschäftigung, die mich mein Leben lang begleitet. Ein Freund fragte mich damals: „Ich fahre für drei Monate nach Nepal zum Wandern. Kommst du mit?“ Ich habe zu der Zeit in Marburg in einem linken Druckerkollektiv gearbeitet und gemerkt: Wenn ich mich da rausziehe für drei Monate oder vielleicht auch für immer, will ich dann ausgerechnet in Nepal wandern? Nee, ich habe jetzt schon hobbymäßig Theater gespielt, das würde mir viel mehr gefallen. Ich hatte eigentlich immer große Lust herumzufahren und Geld mit dem zu verdienen, was ich mache – aber nicht Kettchen basteln oder Energiebällchen rollen, was damals so ‚authentische‘ Beschäftigungen waren. Ich dachte, Theater, Straßentheater zu machen wäre eine Möglichkeit. So bin ich zum Lernen zum FTM (Freies Theater München) gefahren, damals die Straßentheater-Gurus mit Kurt Bildstein, George Froscher. Die habe ich angerufen. Dort habe ich Stelzenlaufen, Rhythmik gelernt und auch schon Prinzipien, wie man seinen Körper auf der Bühne wahrnehmen, bewegen kann. Nach ein paar Wochen haben sie gefragt, ob ich nicht bleiben will. Ich war allerdings in so einer Gründer-Lust und wollte jetzt nicht in München Straßentheater spielen, ich wollte rumfahren. Also bin ich nach Marburg zurück und habe Leute gesucht. Wir sind dann 1979 auf eine viermonatige Straßentheater-Tournee durch Frankreich, Italien, Österreich und die Schweiz gegangen – so fing es an. Unterwegs traf man Leute, die wiederum andere kannten, so dass sich schon bestimmte Namen im Kopf festsetzten, die ich, als wir wieder zurückkamen, gesucht habe. Und wenn es die Möglichkeit gab, die mal zu sehen, dann bin ich hingefahren. So habe ich das Teatro Potlach kennengelernt, die später unsere ersten Lehrer waren.
SSch _ Hast du sie hier in Deutschland gesehen?
RM _ Ja, in München, auf dem Theaterfestival, 1980 müsste das gewesen sein. Sie haben dieses Brecht-Stück Sogni di Marinai gespielt und eine Parade gemacht.
SSch _ Ich glaube, ich habe sie dort auch gesehen. Wir hätten uns treffen können!
RM _ Als es mit dem Straßentheater lief, haben wir hier dieses ehemalige Gaswerk, diese Ruine zur Verfügung gestellt bekommen und umgebaut. Wir hatten unser Straßentheater im Freien und in Schulturnhallen geprobt. Jetzt, als es das Haus gab, reifte der Gedanke: Könnte ich mir vorstellen, professionell Theater zu machen? Ich habe meine Straßentheatergruppe gefragt: Würdet ihr mitziehen? Vier von ihnen und drei aus dem Umfeld des Marburger Theaterrats – einem Zusammenschluss der Amateure und Semiprofessionellen in Marburg –, die mir am nächsten waren, machten mit. Wir haben überlegt, wie es losgehen kann, und dann drei Briefe geschrieben: an das Teatro Potlatch, an Hotel Pro Forma in Dänemark und an wen der dritte ging, weiß ich gar nicht mehr. SSch _ Und Teatro Potlach hat geantwortet?
RM _ Mit sehr viel Glück, sag ich mal. Auch weil sich auf irgendeinem Festival eine Frau, die hier in Deutschland über Theater geschrieben hat, in Pino di Buduo verliebt hatte. Sie war damals seine Partnerin, Pino zeigte ihr den Brief und sie sagte: „Oh, die kenne ich, die musst du einladen.“ Es war also ein glücklicher Zufall. So sind wir im Sommer 1983 zu einer Art Kennenlernworkshop gefahren. Wir haben auf dem Festival, das sie organisierten, ein Stück gespielt, das Claudia Weiss und ich erarbeitet hatten, ein Straßentheaterprojekt gezeigt und an einem zehntägigen, sehr guten Workshop teilgenommen. Es bestand ein gegenseitiges Interesse und der Wunsch, sich kennenzulernen. So fanden wir uns im Herbst 1983 in Italien wieder. Sie haben uns ein Haus und einen Proberaum zur Verfügung gestellt und
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morgens von sieben bis 13 Uhr Unterricht gegeben. Nachmittags durften wir im Proberaum, einer alten Kirche, in diesem kleinen Dorf Fara Sabina Der Untergang der Titanic von Enzensberger proben. SSch _ Wart ihr Mitglieder beim Teatro Potlach?
RM _ Nein, sie haben uns als lernbegierige junge Nachwuchsgruppe gesehen. Dabei waren sie auch kaum älter als wir; Pino schon ein bisschen, aber die Schauspieler eigentlich kaum. SSch _ Dann habt ihr eine Zeitlang dort parallel gearbeitet?
RM _ Wir liefen morgens schweigend durchs Dorf, denn ihre Regel war: Von sieben bis neun Uhr wird kein Ton gesagt. Wir konnten nicht gut Italienisch, und es war ein bisschen schwierig mit diesem speziellen Pino-Italienisch-Englisch. Sie waren seltsam strikt in ihrer Art. Ich denke immer, man kann Sachen ja auch lustvoll vermitteln. So haben wir mal gefragt: „Warum fangen wir nicht um acht Uhr an?“ Und sie begründeten, dass sie morgens so früh anfingen, damit, dass sie so ihre Motivation, Theater zu machen, unter Beweis stellen wollten.
SSch _ Aber war das nicht auch in der Szene verankert? Denn es war beim Teatro Nucleo ähnlich: um sieben Uhr anfangen, sehr diszipliniert und extrem ernsthaft, also noch weniger lachen als die Deutschen, auch über sich selbst und was sie da taten.
RM _ Ich muss aber sagen, dass ich von dem Training und den Prinzipien, die dahintersteckten, heute noch profitiere. Es gab Akrobatik, Kung-Fu, und es wurde ein Personaltraining erarbeitet. Wir haben es weiterentwickelt, als wir hier in Marburg waren. Mir fällt heute noch, wenn ich etwas erklären soll, Pinos „Questo per Questo“ ein, das habe ich in meinem Körper verinnerlicht.
SSch _ Wofür stand das?
RM _ Es bezog sich auf die chinesische Theatertradition, bei der man sich kurz in die eine Richtung wendet, um in die andere Richtung zu gehen, also abwärts, um sich aufwärts zu bewegen – die Gegenbewegung, wie beim Bogenschießen. SSch _ Das Konträre gleichzeitig in einer Bewegung.
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RM _ Dieses Prinzip „innen für außen“, „klein für groß“, „hinein für heraus“ steckte hinter ganz vielen Körperübungen, die wir machten. Das habe ich, auch wenn sich unser Training in den Jahren danach völlig verändert hat, als Grundprinzip beibehalten. Das hat mein Körper wirklich verinnerlicht, das ist einfach das Tolle daran. SSch _ Wir sind uns wahrscheinlich zum ersten Mal 1981 beim Workshop von Ingemar Lindh bei euch in Marburg begegnet. RM _ Ein unglücklicher Start unserer Bekanntschaft. SSch _ Erzähl mal, an was du dich erinnerst.
RM _ Wir hatten in Marburg im Theaterrat den Drang weiterzulernen. Wir hatten Ingemar entdeckt und wollten gerne mit ihm arbeiten. Das Problem war: Das wollten plötzlich alle, dieser ganze Theaterrat-Haufen. Wir waren ungefähr 30 Leute, und Ingemar wollte nur mit 15 arbeiten. Also haben wir ein Losverfahren gemacht. – Und dann kamst du noch dazu. SSch _ Obwohl mir vorher telefonisch schon gesagt worden war, es ginge auf keinen Fall.
RM _ Denn es war natürlich schwierig, den 15, die wir per Los rausgekickt hatten, zu erklären, dass da jemand auftauchte, der doch noch mitmachen konnte. Ich befand mich in einer völlig bescheuerten Zwickmühle, denn einer mehr wäre ‚scheißegal‘ gewesen, das hätte Ingemar wahrscheinlich auch verkraftet. Aber wegen der ausgeschlossenen anderen Theaterrat-Leute konntest du nur als Beobachter, Mitschreiber und Wahrnehmer teilnehmen. SSch _ Trotzdem war das eines meiner wichtigsten Erlebnisse, was Theater und Trainingstechniken anging. Ich empfand das als die beste Methode; auf sie bin ich später wieder bei Francis Pardeilhan (Odin Teatret) gestoßen. Letztlich wurde das die Basis für unser weiteres Training.
RM _ Für uns war es auch gut, weil es sich unterschied von dem, was wir beim Teatro Potlach gemacht hatten. Manche Dinge waren gleich oder man konnte auf ihnen aufbauen. Dass
man sich Abläufe wie Ketten zusammenstellt, mit denen man rhythmisch energetisch arbeiten kann – was ich immer noch super finde –, haben wir noch lange in die verschiedensten Richtungen weiterentwickelt. Das war tatsächlich unsere erste unglückliche Begegnung 1981. SSch _ Nach einem zweiten Aufenthalt beim Teatro Potlach habt ihr den Untergang der Titanic herausgebracht, das ihr auch bei uns gespielt habt. Wir standen also in Verbindung, ganz ohne Internet – ich weiß heute gar nicht, wie wir das gemacht haben.
RM _ Es gab einen Zusammenschluss: Ihr vom Theaterlabor, das damalige Ensemble des Theater im Pumpenhaus in Münster, La Otra Orilla aus Braunschweig und wir. Ich kann aber auch nicht sagen, wie wir uns gefunden haben. Wir haben uns gegenseitig besucht und Arbeitsdemonstrationen gezeigt, was ich heute durchaus vermisse, so ein Kennenlernen durch die Arbeit, nicht nach der Methode: „Die haben ein Stück, das laden wir ein!“ So sind spannende Dinge entstanden, die später in Stücken auftauchten. Einmal waren alle vier Gruppen gemeinsam in Münster und sagten: Wir setzen uns jetzt ein Thema und arbeiten zwei Stunden daran.
SSch _ Eine sensible Situation und ungeschützt. Etwas Ähnliches passierte uns im Pumpenhaus: Eine Schauspielerin wurde von den anderen richtig in die Mangel genommen und wusste gar nicht, wie ihr geschah. Es war sehr mutig und manchmal auch sehr schön, weil man sehen konnte, wie die anderen arbeiteten.
RM _ Uns hat es auch geholfen. Eine dänische Gruppe Den Blå Hest besuchte uns. Ich befand mich gerade mitten in den Proben zu meinem Solostück über Karl Valentin, weil ich als einziger Mann bei dem Frauenstück nicht mitmachen konnte, das von den anderen geprobt wurde. Ich lud die dänische Gruppe ein, ihnen zu zeigen, was ich schon erarbeitet hatte. Die waren erstaunt, aber als ich sie hinterher ausgefragt habe, hat mir das Gespräch total geholfen. Ich hatte gar nicht das Gefühl, dass ich da etwas Mutiges getan hatte, ich dachte eher, die Chance muss ich doch nutzen. Das war unser Kreis, diese vier Gruppen.
SSch _ Ja, wir haben uns gegenseitig eingeladen, auch Den Blå Hest war bei uns mal auf Gastspiel, so hat sich die Szene entwickelt. RM _ Ich kann nicht sagen, woher wir sie kannten. Vielleicht hat man sich auf irgendeinem Festival gesehen, fand sich interessant und hat miteinander geredet?
SSch _ Das persönliche Treffen hat damals eine viel größere Rolle gespielt und man fuhr auch weiter, um sich irgendwo zu treffen. Über Telefon war kein echter, also menschlicher Kontakt herzustellen. Habt ihr denn die internationalen Kontakte immer beibehalten, oder ließ das zwischendurch mal nach, weil ihr euch auf eure Stadt konzentriert habt?
RM _ Nein. Wir waren 1988 nach Peru eingeladen. La Otra Orilla war auch dort, deren Regisseur Carlos Cueva stammte aus Peru und wollte mal zu Hause arbeiten. Sie hatten in Lima ein Haus, und wir haben mit ihnen zusammengewohnt, als wir auf diesem Festival waren. Alle waren dort: Teatro Potlach, Odin Teatret … Wir hatten auf dem Festival viele Diskussionen, bei denen ich irgendwann Schimpfe gekriegt habe, weil ich die These aufstellte, dass das Freie Theater keine Krise der Schauspieler habe, sondern der Regisseure. Es nervte mich, dass diese ganzen südamerikanischen Ableger das Gleiche machten wie Odin oder Potlach. Ich dachte, das kann doch nicht sein, diese Nachahmerfurchtbarkeiten. Ich habe auch bei unserer Arbeit von Anfang an gesagt: „Leute, niemand will sehen, was wir draufhaben – was wir stimmlich drauf haben, was wir körperlich draufhaben.“ Das hatte speziell beim Teatro Potlach etwas Eitles, wenn man meinte: „Ich muss mit der Stimme ganz weit hoch und ganz tief kommen.“ Das kann mal eine künstlerische Methode für ein Stück sein, wenn man meint, da passt es hin. Wenn ich aber in jedem Stück dasselbe sehe, sie mir beweisen, wie ‚out of weight‘ sie sein können und was sie stimmlich alles können, und wenn im fünften Stück hintereinander so gesprochen wird (geht beim Sprechen mit der Stimme hoch und runter) ... Ich habe immer gesagt: „Leute, könnt ihr euch nicht mal mit der Hand in der Hosentasche an die Rampe stellen und einfach etwas
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sagen?“ Wir waren irgendwie wie Dissidenten, ohne dass wir mit unserer Meinung ernst genommen wurden.
SSch _ Wir waren ja auch Dissidenten. Das erste Mal, als wir tatsächlich im Odin Teatret gespielt haben und mit Tagvögel eine visuell-musikalische Produktion zeigten, ging Eugenio Barba an den Schauspielern vorbei zu den Musikern und lobte sie sehr. Und damit war klar, dass er alles andere schlecht fand. RM _ Ich habe viel vom Odin gesehen, aber das Einzige, was ich super fand, war Brechts Asche, bei dem sie einfach mal gesagt haben: Der Inhalt ist wichtig, die Figuren sind wichtig. Auch bei Potlach haben wir früh gemerkt, dass wir mit der künstlerischen Sprache nicht übereinkommen, auch weil sie uns immer noch als ihre Schüler ansahen.
Wir haben beim Invisible Cities-Festival, das vom Teatro Potlach organisiert wurde, mitgemacht – in Italien, Österreich und in Liverpool, wo wir das Pan Pan Theatre kennengelernt haben. Pino war so etwas wie ein Maestro. Es ging darum, sich ein Gelände vorzunehmen, es anzuschauen und das Unsichtbare dieses Geländes sichtbar zu machen. Ich habe mich öfters mit Pino gestritten, weil sie als Organisatoren keine Zeit zum Proben hatten und dann in Österreich das Gleiche machten wie in Italien. Ich habe gesagt: „Pino, das ist doch ein ganz anderes Gelände hier, du kannst jetzt nicht dasselbe machen, das ist gegen dein eigenes Konzept.“ Das hat er nicht verstanden.
SSch _ Es ist verständlich: Wenn man anfängt, eigene Ideen zu entwickeln, bricht man mit seinen Meistern. Ich hatte damals mit dem Teatro Nucleo auch ähnliche Situationen. Nach dem Jahr, in dem ich dabei war, habe ich gemerkt, dass ich bestimmte Umgangsweisen nicht in Ordnung fand und auch ästhetische oder künstlerische Herangehensweisen nicht mehr meine waren. Ich glaube, das ist ganz normal; man wächst und geht schließlich seinen eigenen Weg. Trotzdem bleibt interessant, ob man diesen eigenen Weg auch auf der Grundlage der Methodik entwickeln kann. Es besteht immer die Gefahr, dass man tatsächlich ästhetisch ähnliche Dinge produziert. Bei unserer ersten Aufführung war es bestimmt so, dass man das Training in der Aufführung sehen konnte.
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Sich davon zu lösen und etwas Eigenständiges zu machen war schwierig.
RM _ Insofern ist da beides in mir: Ich schätze die Zeit sehr, weil ohne die Einflüsse und Grundlagen bestimmte Sachen nicht funktioniert hätten. Wer weiß, wo wir gelandet wären! Und gleichzeitig habe ich in dieser Zeit schon gemerkt, wie sich bei mir Widerstand entwickelte. Ich war schließlich bereits etwas älter und blickte nicht sofort auf, wenn Pino irgendwas sagte. Trotzdem konnte ich mich total darauf einlassen. Es gab so eine Sequenz, bei der ich das Gefühl hatte: „Jetzt nimmt er mich mal ran, ganz persönlich, der Chef nimmt mich ran.“ Eine ca. zehn Meter Matte lag da, und ich weiß nicht, wie lange es dauerte, aber die anderen haben mir hinterher erzählt: „Du hast die ganze Zeit gestöhnt wie ein waidwundes Tier.“ Ich habe wahrscheinlich 5.000 Rollen vorwärts, Rollen rückwärts, Handstand machen müssen und alles im Fluss. Und Pino gab keine Ruhe. Es gab keine Pause, in der er etwas erklärte, nein, nur machen, machen, machen. Ich konnte mich am nächsten Tag keinen Meter vom Bett wegbewegen, doch ich habe auch gemerkt, mir gefällt so etwas trotzdem. Die anderen wussten nicht, ob sie eingreifen sollten oder mich retten. SSch _ Es war eine Art Trance.
RM _ Ich kann mich ganz schön fordern. Ich habe ja auch später die 14-Stunden-Zeitlupen-Performance gemacht und 26 Stunden in einem Schrotthaufen gespielt.
SSch _ Das heißt, das Training war schon Grundlage für solche extremen Performances.
RM _ Es hat mir gezeigt, dass ich eine Faszination für extreme Situationen habe. Ich habe sie dann zwar anders umgesetzt, doch ich wusste, wo ich das gelernt hatte. SSch _ Wir haben mit dem Handwerk auch eine bestimmte Herangehensweise gelernt, wie weit man geht, wie viel Risiko man eingeht.
RM _ Und ich sage heute noch, ich mache Theater nicht, um mich zu schonen. Das ist so, sowohl emotional als auch körperlich. Was für mich machbar ist, versuche ich auch auszureizen.
SSch _ Ihr habt schon sehr früh ein Haus bekommen und dennoch seid ihr immer noch finanziell nicht so aufgestellt, dass es sich um eine substanzielle institutionelle Förderung handelt. Das ist ein Trauerspiel, das man überall in der Freien Szene beobachtet. Ich kenne das und alle anderen auch. Ist es jetzt wirklich an der nächsten Generation? Wird, wenn sie übernehmen, dann wirklich so gedacht: Das sind ja Arbeitsstellen, die muss man richtig bezahlen? RM _ Wir sind im Moment, nach 40 Jahren, mit der Stadt in Verhandlungen – was aber nicht unbedingt an der Einsicht der Stadt liegt. Die hatten sie vielleicht auch schon vor fünf Jahren, aber sie haben immer gedacht, dass kein Geld vorhanden sei. Jetzt sind wir im Gespräch, weil Biontech in Marburg ein Werk betreibt und damit während der Coronapandemie die Gewerbesteuer explodiert ist. Deswegen entsteht nun eine ganz andere Offenheit vonseiten der Stadt, nicht nur uns gegenüber, aber speziell bei uns, weil wir die prekärsten Arbeitsplätze von allen Kulturinstitutionen der Stadt haben. Wir sind als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) organisiert mit allen Nachteilen und dem Vorteil, dass die Buchhaltung so am einfachsten ist und wir sie immer selbst machen konnten. Der Wunsch der Stadt war, unsere Arbeitsplätze nachhaltiger und sozialversicherungspflichtig zu machen. Wahrscheinlich haben sie nicht damit gerechnet, wie viel teurer es dann wird. Wir haben mit einer Bremer Agentur alle Modelle durchgespielt, und jetzt geht es darum, ob wir eine GmbH gründen, die uns anstellen kann. Wobei sich für mich die Frage stellt, weil ich ja Rentner bin, ob das einen Sinn ergibt oder ob ich einen anderen Status brauche. Jedenfalls ist geplant, uns vier und eine noch zu besetzende Geschäftsführung anzustellen. Die Stadt hatte die Zahlen vorher nicht durchgerechnet und wir sind jetzt tatsächlich mit ihr in Verhandlungen, ob man es wenigstens in einem Drei-Stufen-Modell einführen kann.
SSch _ Bei dir ist es speziell, denn du müsstest ja Honorare bekommen, weil deine Rente wie bei vielen anderen so nicht reicht. 8
RM _ 240 Euro.
SSch _ Darf ich das drucken?
RM _ Das darfst du, ja. Obwohl ich eingezahlt habe, seitdem es die KSK (Künstlersozialkasse) gibt, also seit 1983. SSch _ Verstehe. Also nicht viel, aber du hast eingezahlt.
RM _ Ja, ich habe die 35 Jahre eingezahlt, die man für die Grundrente braucht, doch ich bekomme keine Grundrente, weil ich unterhalb der 30 Prozent des bundesdeutschen Durchschnittseinkommens liege. So viel muss man wenigstens verdient haben, um Grundrente beantragen zu dürfen. Ich gehöre zu der Gruppe, bei der man sagt: Die sind bis jetzt nicht verhungert, die werden auch in Zukunft nicht verhungern. SSch _ Es gibt aber beide Aspekte: Du musst weiterarbeiten, möchtest aber auch gerne. Bis du tot umfällst? RM _ Ich sage immer, solange der Kopf in der Lage ist mitzuspielen. Körperlich kann man ja ganz viel anders machen. Kazuo Ono8 ist mit 90 auf dem Hintern eine Wiese heruntergerutscht.
SSch _ Ich habe ihn auch in einer seiner letzten Aufführungen in Münster gesehen und jetzt gerade Joshi Oida mit 89 Jahren in einer Aufführung, in der er auch eine sehr schöne Ausstrahlung hatte. Er hat die Möglichkeit, die Kraft anders umzusetzen.
RM _ Ja, aber hier (zeigt auf den Kopf) muss ich noch funktionieren.
SSch _ Wir sind so lange im Geschäft, haben so viele internationale Erfahrungen gemacht, dabei auch so viel Kulturprogramm für die jeweilige Stadt, Festivals und alles Mögliche organisiert. Es bleibt ein zäher Prozess in diesen bisschen provinzielleren Städten, bis man irgendwann mal ankommt in der Stadtgesellschaft, und verstanden wird, dass das auch Geld kostet.
RM _ Ja. Jetzt nach 40 Jahren sind wir im Veränderungsprozess, der das ganze Haus stabiler macht – auch wenn ich es
Japanischer Butoh-Meister (1906–2010).
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mal nicht mehr mache –, so dass man den Leuten, die jetzt kämen, auch eine Perspektive geben kann, wenn man über Generationswechsel spricht. Wenn ich heute sage: „Wir wissen es nicht genau, aber wir versuchen, uns 1.700 Euro auszuzahlen, aber ob das nächstes Jahr noch klappt, wissen wir nicht“, sagen die: „Nein, danke!“
SSch _ Unter den Bedingungen, die wir hatten, würden sie heute nicht arbeiten, das ist definitiv so. Sie möchten das Gehalt haben, das ihrer Ausbildung entsprechend normalerweise tariflich bezahlt würde. Das ist der Anspruch.
RM _ Wir haben jetzt eine irgendwie absurde Situation: Wir wollen ja fair sein und halten die Honoraruntergrenzen ein, wenn wir Leute hierherholen. Kristin Gerwien und ich machen gerade ein Projekt mit drei Leuten von außerhalb. Wir bekommen viel weniger, obwohl wir viel mehr Arbeit haben und nebenbei noch alles organisieren und das Haus am Laufen halten. Doch wir haben gesagt, dass es nicht anders geht, wenn wir die Honoraruntergrenzen einhalten wollen. Dann bleibt eben nichts für uns. Die Situation ist abstrus, dass die, die am meisten arbeiten, die das Ganze möglich machen, am wenigsten Geld dafür kriegen.
Weil wir vorhin Pan Pan erwähnt haben: Die internationalen Kontakte, die wir jetzt haben, die also auch auf unser Festival eingeladen wurden, sind erst später entstanden. Bei einer Bespielung vom Teatro Potlach in Österreich stand irgendwann ein Schauspieler im Imkerkostüm mitten im See. Das fand ich interessant, einfach als Bild. Gavin (Quinn) stand am Rand und ich habe ihn gefragt: „Wer ist denn das?“ So kamen wir zusammen und haben gemerkt, auch in Diskussionen, wir verstehen uns sehr gut. Wir haben mit Pan Pan verschiedene Sachen gemacht, Love Stories hier gemeinsam inszeniert und in verschiedenen Hotels aufgeführt und sie haben uns nach Dublin eingeladen und wollten ein Stück nur mit deutschen Schauspielern machen. Wir haben bis heute Kontakte gehalten. Forced Entertainment haben wir 1998 zu unserem Festival Exiting Neighbours eingeladen, als sie noch nicht berühmt waren. Ich hatte sie in Berlin gesehen und fand sie gut. Pleasure haben sie damals gespielt, und wir hatten die Idee, dass
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Veranstalter zum Beispiel vom Mousonturm kommen sollten und sich die Truppe ansehen. Das hat funktioniert. Als Anna Kraus und ich ein junges Ensemble gegründet haben, haben wir als Allererstes den Text That Night follows Day angefragt, den Tim Etchells mit Jugendlichen in Gent gemacht hatte: „Stellst du uns den zur Verfügung?“ Er sagte zu und so haben wir die deutsche Erstaufführung bekommen. Wir haben mit diesen Jugendlichen, die damals elf, zwölf Jahre alt waren, noch vier Jahre weiter zusammengearbeitet, weil sie unbedingt weitermachen wollten. Ich habe Tim gesagt, dass wir gerne Tomorrow’s Parties mit unseren acht Jugendlichen aufführen würden. Erst hat er überlegt, weil sie das Stück damals noch selbst spielten. Aber als ich ihm versicherte, dass wir es wirklich nicht heimlich mit Erwachsenen, sondern mit 14-Jährigen machen würden, war es okay. Anna ist dann für ein Jahr nach Sheffield gegangen und hat für Tim als Assistentin gearbeitet. Wenn ich sagen soll, was mich wirklich künstlerisch beeinflusst hat, dann würde ich sagen: Ganz früh war es Alexander Kluge. Ich bin ein totaler Alexander-Kluge-Fan, seine Montagetechnik, seine Filme haben mich mehr beeinflusst als alles, was ich damals im Theater gesehen habe. Und von Pina Bausch habe ich alle Stücke angeguckt. Aus diesen Sachen habe ich künstlerisch viel Inspiration gezogen. Irgendwann wurde auch Forced Entertainment eine meiner „Most Favorite Groups“, vom Humor, der Lässigkeit her; doch anfangs waren es tatsächlich Kluge und Bausch. SSch _ Und das andere war die Körperlichkeit?
RM _ Ja. Ich habe immer zu Pino gesagt: „Ich nehme das ernst, dass das präexpressiv9 ist. Wenn du ein Stück von mir anguckst, dann siehst du es nicht. Aber du nimmst es nicht ernst.“ SSch _ Also der Schritt, konsequent zu einer ganz eigenen Ästhetik zu gehen? RM _ Ja, genau.
SSch _ Du warst zusammen mit Claudia ein Dreamteam. Wie bist du durch die Krisenjahre gekommen, nachdem sie ins Koma gefallen war? Wie hast du im Theater weitergearbeitet?
RM _ Als Claudia krank wurde, arbeiteten wir schon 24 Jahre im Theater zusammen und waren auch ein Paar, obwohl wir die ersten 17 Jahre gar nicht zusammengewohnt hatten. Davon habe ich profitiert; ich konnte mich retten, dass wir diese Zeit gehabt hatten. Ich dachte, das nimmt mir keiner mehr weg. Das war sehr wertvoll. Manchmal musste ich alte Videos gucken, wo Claudia mitspielte, das konnte ich gut, da ging mir das Herz auf. Klar, Trauer war auch da, aber es hat mich nicht in die völlige Verzweiflung geführt.
Am Anfang war das Weiterarbeiten für mich schwer, denn ich habe sie letztlich jeden Tag besucht; das war total anstrengend. Als Claudia umfiel, von einer Sekunde auf die andere, standen wir drei Wochen vor einer Premiere, die wir erst mal absagten. Ich hatte eigentlich mit zweien der Schauspieler schon das nächste Stück geplant. Das habe ich für mich abgesagt und Dieter Krockauer von Otra Orilla angerufen und gefragt: „Kannst du dir vorstellen, das Projekt zu übernehmen?“ Er sagte: „Ich nicht, aber ich frage Graciela.“ Graciela González de la Fuente hatten wir in Peru kennengelernt, als sie noch bei einer mexikanischen Tanzgruppe war. Sie sagte zu und hat dann nach dem Film Die Selbstmord Schwestern mit drei Frauen gearbeitet. Sie hat vier oder fünf Stücke mit uns gemacht. Ich habe weiter versucht, zu helfen oder organisatorisch zu arbeiten, doch die anderen mussten eigentlich die Last tragen. Ein Jahr lang habe ich mich hauptsächlich um Claudia gekümmert. Alles musste schließlich organisiert werden: die Reha, ein Heim suchen und sich mit allen ärztlichen Sachen rumzuschlagen. Das hat die meiste Energie geschluckt.
Schließlich habe ich Steffi Tauber angerufen und gefragt: „Steffi, kannst du dir vorstellen, dass wir zu Claudias Ehren das Stück fertig machen, mit wem auch immer?“ Sie war von den Spielerinnen des Stücks, das damals kurz vor der Premiere stand, als Einzige übrig, die Zeit hatte, es jetzt fertig zu machen. Sie meinte: „Ich kenne da so einige Kolleginnen, mit denen ich schon immer mal spielen wollte.“ So waren wir wieder zu viert 9
und haben es tatsächlich fertig gemacht. Das war für mich auch gut: Texte, die Claudia vorher gesprochen hatte, jetzt aus einem anderen Mund zu hören, hat mich befreit, auch wenn es noch mal schmerzhaft war. SSch _ Warst du selber auf der Bühne?
RM _ Ich war auch auf der Bühne und habe Regie geführt, und es war gut so. Es war für viele Jahre sehr stressig, auch wenn ich Claudia irgendwann nur noch fünf Tage in der Woche besucht habe. Es war auch schwierig, da es ja ein recht einseitiger Kontakt war. Ich merkte zwar, dass Claudia bemerkte, dass da jemand ist. Aber ob sie mitbekommt, dass ich das bin, ob sie überhaupt eine Ahnung hat, wer ich bin oder irgendeine Form von Erinnerung an meine Stimme hatte – keine Ahnung. Man muss immer sagen, das ist so, sonst hältst du es nicht aus.
Irgendwann habe ich eine andere Frau kennengelernt; das war am Anfang schwer für mich, mich darauf einzulassen. Ich habe dann auch eine Therapie gemacht und die Therapeutin sagte irgendwann zu mir: „Hör doch mal auf, so einen Besuchsplan zu machen. Fahr doch hin, wenn du das Gefühl hast, das liegt heute an.“ Dank der Therapeutin konnte ich das tatsächlich umsetzen. Ich war auch mal eine Woche gar nicht da und dann konnte ich wieder mehr oder anders arbeiten. Letztlich lag ja Claudia 13 Jahre lang im Koma. Das ist eine wahnsinnig lange Zeit. Dass sie überhaupt so lang überlebt hat, hatte keiner geglaubt. SSch _ Gab es einen Punkt des Neubeginns für dich, als Claudia dann gestorben ist?
RM _ Nicht so sehr, weil ich das Gefühl hatte, dass ich mich eigentlich 13 Jahre lang von ihr verabschiedet hatte. Als Claudia dann gestorben ist, war das seltsam. Sie lag da tot und sah genauso aus wie vorher. Dann kam die Erkenntnis, dass sie nun echt tot war, und ich wusste gar nicht, ob ich aus Trauer oder Erleichterung weinte. Dieses Gefühl, nie mehr hin-
Präexpressive Körperspannung war ein Begriff, den Eugenio Barba geprägt hatte, bei dem es um unterschiedliche Methoden ging, die eine starke körperliche Bühnenpräsenz
hervorrufen, bevor eine inhaltliche Handlung oder ein Text in Erscheinung treten, wie zum Beispiel die Körperhaltung beim balinesischen Theater oder indischen Tanz.
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fahren zu müssen, war stark. Ich war bestimmt 1.000 Mal nach Wetzlar gefahren … SSch _ Hast du das künstlerisch verarbeitet?
RM _ Ja. Ich habe zwei Sachen gemacht, die indirekt davon beeinflusst waren. Das eine war Oooh I Need Your Love Babe. In dem Heim, in dem Claudia lag, gab es einen Mann, der wach war, auf eine gewisse Weise laufen konnte, aber überhaupt keine Erinnerung hatte. Jedes Mal, wenn ich da war, war seine Frau auch da und unternahm Versuche, ihm die Erinnerung wiederzubringen: „Ach Heinz, was hatten wir denn für Tiere?“ Er wusste, man will was von ihm, und sagte mit viel Fantasie: „Wir hatten ganz viele kleine Tiere.“ Von da aus habe ich eine Geschichte für mich gebaut: von einem Paar, das gerade miteinander geschlafen hat; der Mann geht ins Bad, will trinken, kommt zurück und die Frau röchelt nur noch. Denn das war auch das Letzte, was Claudia gemacht hat. Ihr letzter Satz war: „Der Kopf ist schwer“, als ich sie gehalten habe. Die Frau in der Geschichte wird aber wieder wach und der Mann fährt sie immer besuchen und spricht mit ihr: „Hey, da bin ich, weißt du noch, du hast mich geliebt?“ Und sie antwortet: „Ja, das hast du mir gesagt.“ „Wenn du mich einmal geliebt hast, kannst du mich wieder lieben.“ „So einfach ist das nicht.“ So habe ich es verarbeitet. Dann habe ich auch noch einen Audiowalk gemacht: Ich weiß etwas von dir, was du nicht mehr weißt, bei dem die Teilnehmer Kopfhörer aufsetzen. Dann erzählt eine Frau eine Geschichte – deine fiktive Geschichte, die sie zu kennen scheinst, die du aber vergessen hast –, die mit dem Weg verbunden ist, den du gehst: „Hier hast du mir dies erzählt und dann habt ihr das gemacht und dann nach Hause und was ist passiert?“ Es endete an einem Ort, an dem irgendetwas passiert sein musste. Aber du erinnerst dich nicht mehr an die Erzählerin, obwohl sie mal eine gute Bekannte war, der du alles erzählt hast, was du nicht mehr weißt. So habe ich das inszeniert. Das war für mich persönlich wichtig und künstlerisch toll.
SSch _ So wie ich mich auch in gewisser Weise ein bisschen damit therapiere, dass ich über meinen Sohn eine Performance mache und die extrem schwierigen Jahre so reflektiere. Ich
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habe das Gefühl, dass das vielen Leuten sehr wichtig ist, speziell anderen Eltern von autistischen Kindern – es ist wie eine Aufgabe, es auch für andere Eltern auszudrücken. Gab es das bei dir auch, dass du von betroffenen Leuten Reaktionen bekommen hast?
RM _ Mich haben danach einige angerufen, die die Geschichte vorher nicht kannten, und gesagt: „Meine Tochter liegt im Koma, kann ich mal mit dir reden?“ Sie hatten herausgefunden, wie wir auf das Thema gekommen waren, dass meine Partnerin in dieser Form erkrankt war. Doch das kam eher selten vor. Es gab viele sehr berührte Zuschauer, die sagten, dass es das traurigste Stück gewesen sei, das sie in ihrem Leben gesehen hätten. Es ging in dem Stück ja auch um eine ausweglose Situation. Die Frau wusste noch, wie man Fahrrad fährt, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist, nur ihre eigene Geschichte kannte sie nicht mehr. Ihr Mann hat ihr die Blumen mitgebracht, die früher ihre Lieblingsblumen waren, und sie sagte: „Ach, Gerbera.“ Und wenn er fragte: „Du erinnerst dich?“, meinte sie: „Wer sind Sie?“ Die Chance, über künstlerische Arbeit eine Distanz zu so etwas herzustellen, dass man auch mal zurücktritt und sich selbst in gewisser Weise aus der Ferne betrachtet, ist natürlich ein Riesenvorteil, den Kunst bietet.
SSch _ Bei den persönlichen Geschichten habe ich gemerkt, dass ich damit immer erst dann arbeiten konnte, wenn ich selber nicht mehr mittendrin steckte, also Distanz dazu hatte. Es braucht auch einen gewissen Humor, um das Publikum bei diesen schweren Themen nicht total zu verschrecken. RM _ Ich wurde zu den Inhalten dieser Theaterarbeiten in der Reha inspiriert, in der Claudia mit einer Frau in einem Zimmer lag, der es mindestens genauso schlecht ging. Und manchmal, wenn die beiden gewaschen wurden, mussten die beiden Männer raus. Da gab es auf dem Flur so einen Herrn Gast. Und da passierten immer solche Sachen: Herr Gast kam mit seinem Kulturbeutel aus dem Zimmer, ging drei Schritte und blieb stehen. Vergaß völlig, was er eigentlich vorhatte. Nach zehn Minuten, in denen er wie ein Denkmal dastand, kam eine
Pflegerin und fragte: „Herr Gast, was machen Sie denn hier?“ Da sagt er: „Man hat mich hier hingestellt.“ Er wurde irgendwann mal zur Therapie geholt und kam mit der Therapeutin zurück und die Therapeutin sagte ihm: „So, Herr Gast, hier gehen Sie mal in Ihr Zimmer.“ Und er sagt: „Hier wohne ich nicht.“ – „Doch, Herr Gast, hier wohnen Sie, hier steht sogar ein Namensschild.“ – „Nein, hier wohne ich nicht! Als wenn ich das nicht besser wüsste als Sie, junge Frau!“ Und da mussten wir oft an uns halten, um nicht laut zu lachen.
SSch _ Es ist im Leben wie im Theater. Du hast bei diesem Tragischen auch immer etwas Komisches mit drin, das bleibt nicht aus.
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RM _ Genau.
Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 13. September 2023 in Marburg.
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Abb. S. 22/23: xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Elisabeth Bohde, Theaterwerkstatt Pilkentafel: Europäisches Theater? Als wir 1996 mit unserer Produktion Waschtag auf US-amerikanischen und kanadischen Kindertheaterfestivals spielten, hörten wir immer wieder den Satz „Okay, so you are doing European theatre.“ Das hat uns irritiert, wir fühlten uns nicht als Repräsentant*innen eines europäischen Theaters, was war denn bitte europäisch daran? Die Kategorie „Deutsches Theater“ hätten wir genauso unpassend gefunden. Wir waren doch so besonders! Je länger wir da waren, desto besser verstanden wir, dass unsere Art, Theater zu machen, europäisch war, was uns mit anderen international tourenden europäischen Kindertheatern verband. In unserem Umgang mit außereuropäischen Kulturen ertappten wir uns dabei, dasselbe zu tun und von indischem Tanz und afrikanischer Musik zu sprechen.
Wenn ich an meine Anfänge zurückdenke, dann stimmt die Zuordnung europäisches Theater – mehr als deutsches Theater. Seit ich 15 war, nahm ich an internationalen Theaterwerkstätten auf dem Jugendhof Scheersberg teil, und die Unterrichtenden kamen aus Polen, England, Schweden, der Schweiz oder gar aus mehreren Ländern. Sie bezogen sich auf Grotowski oder Lecoq, und es war fast immer eine Praxis, die vom Körper und nicht vom Text ausging. Es fanden Werkstattaufführungen statt, die wir heute als Performance und nicht als Theater bezeichnen würden, und postdramatisch waren sie auch schon. Aber niemand redete über solche Einordnungen und Begriffe, es ging um die Erfahrungen, die wir und die Zuschauer*innen machten. Der Dramaturg Hannes Kühl, der auf dem Scheersberg unter anderem diese internationalen Theaterwerkstätten organisierte und kuratierte, bestand darauf, dass darüber gesprochen wurde, wir uns nicht nur auf die Intensitäten unserer Selbsterfahrung beschränkten, sondern uns dem Außenblick stellten. Damit machte er sich nicht bei allen beliebt – ich fand es richtig.
Danach studierte ich in Aix-en-Provence am Institut de Formation de Comédien-Animateur und war nun ganz in einem franTheaterlabor/Ruto Killakund, Wald, 1993
zösischen Bezugssystem, aber sehr fern vom großen französischen Deklamationstheater. Ein für mich prägender Teil war die anthropologische Reflexion über die Ursprünge des Theaters aus dem Ritual. Die Grundthese des Studiums war, dass es nicht um Theaterkunst geht, sondern um die spielerische Kommunikation einer sozialen Gruppe mit sich selbst, nicht um Professionalität, sondern um Nähe, und dass das Theater seine besten Zeiten immer vor der Professionalisierung hat, denn die schafft immer eine größere Distanz zwischen Akteur*innen und Publikum. Am sichtbarsten ist das an den getrennten Eingängen in die Theatergebäude für die Zuschauer*innen und die Akteur*innen. Das ist mir immer wichtig geblieben. Daneben lernte ich zeitgenössischen Tanz bei Odile Duboc, die erst viel später eine prägende Choreografin wurde, in der ihr eigenen wunderbar konzentrierten, reduzierten und bescheidenen Art zu tanzen. Ich nahm auch an Workshops von Carolyn Carlson und ihren Tänzer*innen teil, die damals einen großen Einfluss aus den USA in die französische Tanzszene brachten. Daneben lernte ich Improvisation bei Yves Quinio, einem Lecoq-Schüler, der viel lieber Zen-Meister gewesen wäre.
Als ich 1980 zurück nach Deutschland kam, war das mein Referenzsystem. Ich arbeitete als Theaterpädagogin und schnell wurde aus den verschiedenen Einflüssen meiner Lehrer*innen eine eigene Methode, und was mir vorher als gegensätzlich erschien, wuchs organisch zusammen. Ich hatte Peter Brook gesehen und das Théâtre du Soleil, viel internationalen Tanz, ich hatte über meine Faszination und Kritik an den Nachfahren von Grotowski nachgedacht. Der einzige deutsche Bezugspunkt in all dem war Pina Bausch und die Tradition des deutschen Ausdruckstanzes. Mit dem aufkommenden Regietheater der Zeit hatte ich keine Berührung, ging immer mal hin, aber eher wie ins Kino. Das war eine ganz andere Kunstform, mit der ich nicht viel gemein hatte. Die Arbeits- und Umgangsweisen schienen mir absurd. Das war das Fremde.
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Als ich mit meiner ersten Inszenierung Wir werden uns leidenschaftlich lieben 1984 überraschend für das Rahmenprogramm des Berliner Theatertreffens eingeladen wurde, stieß ich auf diese Welt und begriff, wie fremd ich in ihr und für sie war – auch, weil ich als junge Frau inszenierte und mich so gar nicht für die Zadeks und Peymanns interessierte. In der beginnenden feministischen Auseinandersetzung war für mich auch nicht von Bedeutung, wie viele Frauen Dramaturginnen wurden. Die Selbstbestimmung der Schauspielerinnen auf der Bühne, ihre Befreiung aus einem männlichen Blick war mir viel essenzieller. In Flensburg wurden wir langsam ein Ensemble, arbeiteten auf den Grundlagen, die ich mitgebracht hatte, weiter, formulierten unsere Methode, unser Handwerk. Wir besuchten weiter Workshops, Kurse in Eutonie nach Gerda Alexander, entdeckten unsere Stimmen mit Lehrer*innen vom Roy Hart Theatre und gingen gemeinsam weiter auf den Scheersberg. Wir professionalisierten uns, gingen in der ganzen BRD auf Tournee, wurden Teil der sich gründenden, sich findenden Freien Theaterszene. Auch wenn wir die ebenfalls internationalen Einflüsse bei den anderen erkannten, immer viel und kontrovers über Grotowski und das Odin Teatret diskutierten, war die Internationalität kein Thema, sondern eine Selbstverständlichkeit. Erst jetzt in der Rückschau und in der Spiegelung von Anne Schneider und Henning Fülle und im Gespräch mit Siegmar Schröder fällt mir das als Besonderheit auf. In Deutschland gab es diese Methoden nicht – und keiner von uns war auf eine staatliche Schauspielschule gegangen, hatte das nicht mal versucht, denn da wollten wir ja auch nicht hin. Trotzdem waren der Bezugsrahmen und das Publikum die bundesrepublikanische und dann gesamtdeutsche Wirklichkeit.
Die Neugier auf kulturelle Praxen außerhalb Europas blieb: Peter Brooks Theatersafari von John Heilpern und die Suche oder Sehnsucht nach einem quasi universellen Theater, das überall gelesen werden könnte, trieb mich als eine Frage weiter um. Gerade durch die Arbeit für kleine Kinder, die noch keine Theatersehgewohnheiten hatten, waren wir auf der Suche nach einer Art Ur-Theater, erforschten die einfachsten Vorgänge:
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Wie kommt jemand auf die Bühne? Was ist ein Auftritt? Ein Abtritt? Warum ist Scheitern lustig ... Als wir dann in den 1990ern mit dem Kinderstück Waschtag für Menschen ab drei Jahren so großen Erfolg hatten und gerade in den USA und Kanada auf Tour waren, erschien es plötzlich möglich, diese Suche zu verwirklichen. Wir nutzen die Begegnung mit der simbabwischen Gesangsgruppe Black Umfolosi eben gerade auf diesen amerikanischen Kindertheaterfestivals, um uns 1997 von ihnen einladen zu lassen. Wir organisierten die Reisekosten vom Goethe-Institut und ließen uns mit zwei kleinen Kindern auf das Abenteuer ein, in Simbabwe zu spielen und auszuprobieren, wie unsere Aufführungen in den Townships und auf den Dörfern gelesen wurden, an Orten, die sonst kaum Theater kannten. Da ging es nicht mehr darum, Methoden, Theaterformen und Techniken zu lernen, sich über Ästhetiken auszutauschen, sondern sich einem Leben auszusetzen, in dem alles anders funktionierte, als wir es kannten und für normal hielten. Wir verstanden nicht, welche Verabredungen galten und welche nicht, woher das Publikum kam und was es interessierte, wann die Aufführung anfing und worüber gelacht wurde und worüber auch gar nicht. Wir waren erstaunt, wie anders die simbabwischen Kinder spielten und wie merkwürdig unsere andauernd fragende vierjährige Tochter den Menschen dort erschien. Wir wussten erst recht nicht, wie wir oder ob wir uns überhaupt in Konflikten durchsetzen sollten bzw. wollten. Aber so viel wurde klar: Unsere Überzeugung, es sei am besten, Konflikte direkt auszusprechen, war bestenfalls europäisch, keinesfalls normal. Diese Irritationen waren gepaart mit der Erfahrung ganz großer Nähe, tief empfundener Freundschaft, bei gleichzeitigem Nichtverstehen; mit hoch sentimentalen Abschieden, weil man ja nie weiß, ob man sich wiedersieht und wer demnächst sterben könnte, zusammen mit der auf uns projizierten Hoffnung, wir könnten alle nach Europa einladen und reich machen. Das war eine krasse Lektion, mit der banalen Erkenntnis: Es gibt nicht EIN Normal, und wir sind es nicht, die es definieren. All das gehört zu den Erfahrungen, die ich wirklich nicht missen möchte. Wir wollten mehr von dieser Irritation, das waren interessantere Erfahrun-
gen als weitere Workshops, denn hier ging es immer auch um Funktion von Theater und Kunst im Leben.
Wir sind mit unseren Kinderstücken so vielen internationalen Einladungen nachgekommen, wie nur möglich war. Wir spielten in Mexiko, Argentinien, Russland, Sarajewo, Israel und Palästina, Indien und Korea …, aber sehr schnell merkten wir, dass nur ein kurzes Anreisen, kaum verstehen, wo man ist, aufführen, die Reaktionen nicht lesen können und wieder abreisen uns nicht befriedigte. Wir empfanden es als großes Privileg, diese Reisen machen zu dürfen; aber dass wir uns wichtig fühlten, weil wir so viel reisten, den Karrierekick der Internationalität, die Empfänge der Goethe-Institute, das machte keinen Sinn. Wir wollten ja nicht an möglichst vielen Flughäfen gewesen sein. Wir wollten länger bleiben, begreifen, uns ausliefern, in Kontakt treten, lernen und damit zurückkommen. Wir wollten dort nicht zeigen, wie europäisches Theater geht, sondern sehen, wie es an anderen Orten anders ist, wie Theater eine andere soziale Funktion haben kann. So wurden aus den Gastspielreisen für uns Forschungsreisen, und gerade aus Indien, Zimbabwe und Südafrika kehrten wir zurück und initiierten Projekte.
Diese Reisen veränderten uns und unsere Stücke. Am spannendsten waren die Reisen mit Ist ja nur Pappe, einem Stück, das eine komplette Improvisation war, und sich deshalb immer wieder änderte und anderes integrieren und darauf reagieren konnte. Der Musiker Matthias Kaul und der Schauspieler Torsten Schütte spielten mit, auf und in Pappe und Papier, die wir immer vor Ort suchten. Wir besuchten Papiermühlen und Altpapierlager, erkannten den Einfluss der verschiedenen Zusammensetzung und des Klimas auf den Klang von Pappe und erlebten, wie das Publikum das Stück veränderte. Die Aufführungen wurden immer mehr Instrument einer Sozial- und Rezeptionsforschung. Wir lernten, dass Empathie mit kleinsten Kartons oder Tüten nicht überall selbstverständlich ist, dass die Trauer über zerstörte, zerspielte Papierbahnen nicht immer ein Echo fand. Wir erlebten, dass sich ein afrikanisches Publikum gar nicht für Konflikte und Verzweiflungen eines einzelnen Menschen interessiert, aber sofort jede Wiederholung,
jede erkennbare rhythmische Struktur begeistert feierte, dass ein sich scheinbar selbstständig bewegender Karton zu Panik führte, dass ein weißer Mann, der einen Besen in der Hand hält, Begeisterungsstürme auslöste. Wir kamen mit veränderten Spielweisen zurück und verstanden: Ja, es gibt ein europäisches Theater! Und, ja wir sind Teil davon!
Zunehmend waren es Forschungsreisen für Stücke, die wir dann zu Hause zeigten. In Lucky hat gesagt – kein Stück über Afrika von 1998 verarbeiteten wir unsere ganze Irritation der Afrikareisen und versuchten, unseren eigenen Rassismen auf die Spur zu kommen – es war ein Stück über uns. Eine aufwühlende Reise nach Palästina war die Voraussetzung für das Werk Ihr liebt das Leben wir lieben den Tod, ein performativer Essay über Selbstmordattentäter. Wir fuhren auf die Virgin Islands (USA) in die Karibik, um die Kolonialgeschichte unserer Heimatstadt zu verstehen, und nach Westafrika, um die Sklavenburgen zu erleben. Alle diese Stücke hätten wir nie machen können, ohne vor Ort gewesen zu sein. Seit diesen Reisen war die Frage nach Postkolonialismus und globaler Gerechtigkeit für uns ein großes Thema. Auch wenn wir meinen, im Zeitalter des Internets könnten wir über alle Orte alles wissen, dann stimmt das nicht. Erst das Vor-Ort-Sein gibt die Intensität, macht berührbar; vor Ort sind wir nicht nur Zuschauende, sondern mittendrin. Wir müssen agieren, uns verhalten, uns gefährden und können/müssen Fehler machen. Ich bin froh, dass wir diese Reisen unternommen haben, als das Mobiltelefon und das Internet in diesen Weltgegenden noch nicht funktionierte, so dass wir ganz da sein mussten, ohne Rückzug. So waren wir in entlegenen Dörfern in Simbabwe, als die Nato Serbien bombardierte und die Leute vor Ort uns sagten, „Ihr könnt nicht zurück, es ist Krieg in Europa!“ Wir hatten keine Chance, diese Information zu überprüfen. Und es gab ästhetische, künstlerische Einflüsse. Nicht in dem Wunsch, andere Techniken zu lernen. Diese Art kultureller Aneignung erschien uns immer zweifelhaft. Als Selbsterfahrung, sich darin auszuprobieren, war es spannend, aber nicht, um es auf der Bühne zu tun. Der größte Einfluss war die Begegnung mit Boyzie Cekwana, dem großartigen südafrikanischen
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Choreografen, der, entwurzelt, nur in Europa eine professionelle Existenz finden konnte, die er hier aber gar nicht suchte. Wir waren tief bewegt, als wir seine Arbeit auf Kampnagel sahen, und trafen ihn danach in Johannesburg, um eine gemeinsame Arbeit auszuprobieren. Wir, das waren wieder Matthias Kaul, Torsten Schütte und ich. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir drei weit über 20 Jahre gemeinsamen Arbeitens hinter uns, und wir meinten, unsere gemeinsamen Möglichkeiten und Grenzen zu kennen. Unter den Anweisungen und dem Blick von Boyzie agierten wir völlig anders, gerade weil er nur Aufgaben stellte, Impulse gab, Einschränkungen vorgab, sich aber in unsere Improvisationen nie einmischte, sich nichts wünschte. Wir waren anders, jede*r für sich und wir miteinander. Es waren komplett magische Improvisationen, nicht wiederholbar, und die Frage unseres Weißseins in seinem Schwarzen Blick wurde greifbar. In seiner Arbeit waren Abstraktes und Politisches kein Gegensatz mehr, ob es Tanz, Musik oder Theater war, spielte gar keine Rolle, der Musiker Matthias war auf einmal Performer und wir waren Musiker*innen. Und dabei hatten wir jahrelang über die Grenzen zwischen Musik und Theater gestritten.
Wir haben ihn dann aus den Augen verloren und viel daran gesetzt, ihn wieder zu finden, um weiter mit ihm zu arbeiten. Als wir uns wieder trafen, erzählte er, dass er für zwei Jahre alle Fäden gekappt hatte, weil ihm seine Karriere in der westlichen Welt gar nicht gefallen hatte. Schließlich haben wir 2009/10 die Produktion sticky stuff in Durban und Flensburg erarbeitet. Keinem anderen Regisseur sind wir je so willig gefolgt, obwohl das gar nicht ging, weil er nicht führte, sondern guckte, nachdachte, auswählte, verwarf, zweifelte und schließlich entschied. Für keinen künstlerischen Gast haben wir je so viel bezahlt, und selten waren wir so erfolglos, Geld für ein Projekt einzuwerben. Aber wir wollten es eben machen. Doch das Flensburger Publikum war mit dem Ergebnis überfordert und wir waren in der Folge in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten,
obwohl Matthias gar keine Bezahlung für seine Beteiligung haben wollte. Trotzdem: Für uns war es notwendig, diesen Prozess einzugehen, und ich glaube noch heute, dass es ein ganz tolles Stück war. Und es ging gar nicht um Afrika oder Schwarz oder Weiß. Und doch blieb da immer die nicht teilbare Erfahrung des Rassismus, den Boyzie als Kind in Soweto erlebt hatte. Als er uns dann 2014 in seine Produktion Banana Republics für ein Festival im HAU (Hebbel am Ufer) einlud und es noch mal um Rassismus gehen sollte, wurde klar, dass wir bei aller persönlichen Nähe diese Kluft, diesen Riss nicht überwinden konnten. Wir scheiterten krachend an dieser Produktion. Das bleibt bis heute schmerzlich.
Ganz anders und indirekter war der bizarre Einfluss einer zweiten Indienreise zur Vorbereitung eines Projekts, das nie stattfinden sollte, weil es wieder kein Geld gab. Wir hatten mit indischen Tänzer*innen, Schauspieler*innen und Musiker*innen gearbeitet und uns mit klassischem indischen Tanz beschäftigt. Uns interessierte diese codierte Sprache des indischen Tanzes. Wir haben viel gesehen und viel darüber gelernt. Als wir danach das Kinderstück Mein kleiner Zeh war ein Wort, das Yoko Tawada für uns geschrieben hatte, inszenierten, erfanden wir stumme Bewegungsabläufe, die ebenfalls wirkten, als wären Gesten Wörter, als erzählten sie Geschichten. Erst im Nachhinein verstanden wir den Zusammenhang, den Nachklang dieser Reise, obwohl nichts an unseren Bewegungen „indisch“ war, nur die Haltung, mit Gesten zu sprechen und sie zu einem Tanz zu verbinden. Gerade (2023) findet bei uns eine flausen+-Residenz10 statt, in der sich Tänzer*innen aus Venezuela, Indien, Sibirien und Italien mit den Spuren ihrer folkloristischen Tänze in ihren Körpern beschäftigen und dadurch die Prozesse der Globalisierung in ihnen erkennen. In Gesprächen mit ihnen wird mir noch einmal klar, wie sehr alle Kulturen immer aus dem gegenseitigen Einfluss und der gegenseitigen Durchdringung entstanden sind. Sinnbild dafür ist vielleicht die Tatsache, dass das Hammerklavier,
10 flausen+ gGmbH, gegründet von Winfried Wrede, vergibt Forschungsstipendien, veranstaltet Kongresse und Festivals und hat ein Bündnis von 30 Theaterhäusern in Deutschland aufgebaut.
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dieser Inbegriff eines sesshaften, bürgerlichen Instruments, sich aus dem Cymbalon, einem Instrument der Sinti und Roma, entwickelt hat.
Doch künstlerischer Austausch findet nicht nur im Proberaum und im Theater statt bzw. diese Proberäume und Theater stehen immer an einem konkreten Platz und sind durch die jeweiligen Machtstrukturen und finanziellen Situationen bestimmt. Die Augenhöhe der künstlerischen Begegnung ist immer eine Behauptung, wenn nicht eine Lüge. Wir sprechen nicht nur von Augenhöhe, wenn ein Machtgefälle kaschiert werden soll. Denn alle diese Austauschprojekte werden mit deutschem oder europäischem Geld ermöglicht und so treffen sich die Akteur*innen stets in einem Abhängigkeitsverhältnis. Wir fahren aus Neugier dahin, während sich weder Menschen in Indien noch Afrika aussuchen können, ob sie etwas mit europäischer Kultur zu tun haben wollen. Unsere Kulturen kamen ungefragt und dominierten, ignorierten und beuteten aus, was sie vorfanden. Und noch heute besteht die einzige Chance für Künstler*innen im globalen Süden, von ihrer Kunst zu leben, in der Kooperation mit europäischen Strukturen. Und so breitet sich die westliche Kultur aus, gibt vor, zahlt, kauft ein, bewertet. Schon unsere Neugier auf fremde Kulturen ist ein Luxus, ein kolonialer Akt. Boyzie wollte nicht mehr nur zu Rassismus und Kolonialismus, sondern zu anderen Themen arbeiten, fühlte sich reduziert durch diese Zuweisung und litt darunter. Bei dem indischen Projekt entschieden wir, wie wir die anderen bezahlen, bestimmten wir die Regeln, hatten wir den Impuls gesetzt. Immer waren wir mit Künstler*innen konfrontiert, die viel ärmer waren als wir, und konnten nicht wissen, ob sie sich für unsere Arbeit interessierten oder für die Möglichkeiten, die wir ihnen eröffneten. Deshalb war es für uns konsequent, die Stücke zur Kolonialgeschichte Vom Reisen in ehemalige Kolonien und Von der Begierde Burgen zu bauen nicht als Austauschprojekte zu planen, sondern unsere Selbstbefragung in den Mittelpunkt zu stellen. Deshalb waren wir skeptisch, als das außereuropäische Austauschprojekt genauso Karrierebaustein wurde, wie Jahre vorher die internationale Festivaleinladung. Und so haben wir gerade aus dieser globalen Verant-
wortung heraus entschieden, regional zu arbeiten, unsere Beteiligung und Verstrickung bei uns zu Hause zu suchen, auch wenn uns das Fernweh immer wieder ergreift.
Beim Schreiben dieses Texts frage ich mich, was es heißt, hier über unsere Internationalität zu schreiben, denn genauso gut könnten wir uns über unsere starke regionale Verwurzelung definieren, die aber so schnell als Provinzialität gilt und wie ein Makel wirkt – dabei sind wir doch alle immer in der Provinz unserer Wirklichkeit, und unsere größte Wirkung ist lokal.
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Theaterlabor/Ruto Killakund, Wald, 1993
Henning Fülle: Das Theaterlabor als Selbstermächtigung Ich muss mit einem Geständnis, einer Beichte beginnen: Ich habe das Theaterlabor und die Protagonist*innen des Dritten Theaters, die in diesem Buch zu Wort kommen, selbst nur zu einem geringen Teil gesehen; und, wenn sie mir begegneten, sie als Kunst, künstlerische Entwicklungen meist nicht ernst genommen. Peter Brook, Robert Wilson, Yoshi Oida und – etwas später – Ariane Mnouchkine, die ich in der Tat gesehen habe, hatten zwar einen großen Einfluss auf das Dritte Theater, gehörten aber im engeren Sinne nicht dazu. Was zum einen daran lag, dass ich mich ausbildungs- und berufsmäßig zunächst ziemlich weit entfernt von Kunst und Theater bewegte: Abitur 1969 in der Schleswig-Holsteinischen Kleinstadt an der Westküste, Geschichts- und Politikstudium in Marburg, Staatsexamen für das Höhere Lehramt 1975. Und politisiert in der Nachfolge Rudi Dutschkes, im Sinne einer hoch theoretischen und reflexiven Konzeption, in Abgrenzung gegen die DKP, die in Marburg ihr intellektuelles Zentrum hatte.
Aber dies ist nur die eine Seite der Nicht-Wahrnehmung und des Nicht-Ernstnehmens der entstehenden Bewegung Freien Theaters. Die andere ist wiederum mit der westdeutschen Theaterentwicklung jener Jahre verbunden – oder besser: deren langjähriger Nicht-Entwicklung, die Anfang der 1970er Jahre mit Aplomb aufzubrechen begann. Für mich waren die Initiale für die bald leidenschaftliche Beschäftigung mit den darstellenden Künsten die Auf- und Ausbrüche in Film und Theater, die eher dem Feld der Hochkultur zuzurechnen und mit Namen wie Fassbinder, Schlöndorff, von Trotta, Herzog, Schaaf im Film und im Theater mit Stein, Neuenfels, Zadeck, Peymann verbunden waren, also Formen, die zwar neu und aufregend waren, jedoch die vorherrschenden Stadttheaterdispositive kaum hinter sich ließen.
Trotz allen politischen und kulturpolitischen Brimboriums drumherum war bei den oben genannten immer und sofort klar, dass es ihnen um ‚bessere Kunst‘ ging, die von den abgestandenen Formen des westdeutschen kulturgesellschaftli-
chen Mainstreams längst nicht mehr erreicht wurden; von kritischer Aktualität und Zeitgenossenschaft ganz zu schweigen – oder, wie Siegfried Melchinger Mitte der 1960er Jahre in Theater heute beklagte: Mittelmäßig und schmerzfrei sei das westdeutsche Nachkriegstheater geworden.
Die Akteur*innen der Westberliner Schaubühne am Halleschen Ufer waren die Held*innen der Initiation meiner Leidenschaft: Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz, Otto Sander und all die anderen Superschauspieler*innen; die von Peter Stein, KlausMichael Grüber, Dieter Sturm, Botho Strauß theoretisch-dramaturgisch ausgeklügelten Inszenierungskonzepte des Peer Gynt, der Iphigenie, der Wupper, des Homburg, des Empedokles, des Fatzer, in den Räumen von Karl-Ernst Herrmann oder Gilles Aillaud. Die wohl erste grundstürzende Erfahrung mit dem ‚anderen‘ Theater jenseits der traditionellen Dramaturgien und Dispositive verdanke ich Robert Wilson, dessen I was Sitting in my Patio, this Guy Appears and I thought I was Hallucinating von 1977, das in einem der folgenden Jahre bei den Berliner Festspielen, ich glaube, es war im Delphi-Filmpalast, zu sehen war. Ein hochabstraktes, bildstarkes Stück Choreografie, ohne Handlung und Spannungsbogen, das kommunikative Situationen evozierte, deren Inhalte sich zu erschließen dem Publikum aufgegeben blieb. Mir blieb damals – ich erinnere das genau – ‚die Spucke weg‘ und ich folgte dem Geschehen hoch konzentriert und mit leichter Unruhe: Was geht denn da vor?
Diese Elemente elaborierter Künstlichkeit, sowohl im traditionell dramatischen (oder epischen) Dispositiv bzw. in der intuitiven, assoziativen Abstraktion waren die Kunstformen des Theaters, die sich in den 1970ern zeigten und die Diskurse darüber bestimmten. So meint Barba wohl mit dem „zweiten“ Theater, neben dem ersten „institutionellen Theater“ der „hohen Kulturwerte“, dasjenige der „Avantgarde, der Experimente, des Suchens, schwierig oder bilderstürmerisch, ein Theater der Veränderung, der Suche nach immer neuer Originalität, das im
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Namen der notwendigen Überwindung der Tradition verteidigt wird und allem geöffnet ist, was in der Begegnung der Künste mit der Gesellschaft an Neuem entsteht“11. Dem standen die ebenfalls neuen Formen des Theaters im Handgemenge mit dem Publikum – das Theater der Freien Szene – gegenüber. Eingreifendes Theater, zu mehr oder weniger aktuellen politischen oder sozialen Interessenkonstellationen, Agit Prop, Zielgruppentheater speziell für Kinder und Jugendliche, Ausländer*innen, ältere Mitbürger*innen, Frauen etc.; oder auch noch aus der Phase der Politisierung der antiautoritären Bewegung: Theater für oder mit Lohnarbeitenden oder speziell auch Lehrlingen. Vor allem aber: Theater in der ersten Person, oder, wie Barba formuliert: „Es ist ein Theater, das von Menschen gemacht wird, die sich als Schauspieler, Regisseure, als Theaterleute verstehen, ohne den traditionellen Werdegang und Ausbildungsweg durchlaufen zu haben und die daher nicht einmal als Professionelle anerkannt werden. Aber sie sind keine Amateure. Der ganze Tag ist für sie von ihrer Theaterarbeit bestimmt: manchmal durch das, was sie Training nennen oder durch die Vorbereitung von Aufführungen, die sich ihr Publikum erst erkämpfen müssen.“
In Westdeutschland begann sich dieses Dritte Theater in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre als das Theater der und für die Alternativbewegung herauszubilden: Die drei Tornados zum Beispiel als eine der profiliertesten Gruppen, die Impulse des frühen Hoffmans Comic Teater aufnahmen, die sich zu Ton Steine Scherben gewandelt hatten. Truppen, die im Märkischen Viertel in Westberlin und später in Unna ‚Stadtspiele‘ inszenierten, partizipative Rollenspiele im öffentlichen Raum, die darauf abzielten, deprivilegierten Bevölkerungsgruppen ein Bewusstsein ihrer Problemlagen zu vermitteln und sie spielerisch zu interessengeleitetem Handeln zu motivieren. Zu Beginn der 1980er Jahre erfolgte dann der Boom der Gründungen, zu denen auch das Bielefelder Theaterlabor zählte, aber eben auch die „Weggefährt*innen“, die sich 2022 zu jenem Prozess 10 12
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zusammenfanden, in dem es um den Generationswechsel von den Gründer*innen zu der nachwachsenden Generation ging: Theaterwerkstatt Pilkentafel, Marburger Theaterwerkstatt (Theater neben dem Turm), Combinale (Lübeck), um nur die Hauptträger dieses Projekts zu nennen.12
Diese eingreifenden Theaterformen, die meist auf die Entwicklung von Bewusstsein und Partizipation abzielten, wurden freilich nicht vorrangig als Kunst wahrgenommen, sondern als sozial- oder bildungspolitische Aktionen, die insofern dem Theater nicht ebenbürtig waren. Sie wurden nicht nur kulturpolitisch anderswo – als Laienspiel, Freizeitbeschäftigung, wenn’s hoch kam, als erwünschte Bildungs- und Sozialpolitik – verortet, sondern auch von den Akteur*innen des Theaters selbst: Den Spiegel dieses Hochmuts bildete zum Beispiel die Hamburger Prinzipalin einer Freien Truppe, die es sich verbat, als Freies Theater bezeichnet zu werden, um sich diesem Ruch des Amateurhaften zu entziehen.
Die beiden Strömungen des anderen Theaters – seine hochkulturellen Formen, Tabori, Bausch, die Internationalen und die Alternativen an der Basis – kamen Ende der 1970er Jahre beim Münchner Theaterfestival zusammen; und zwar als prägnant geteilte Zwei-Klassen-Gesellschaft: die Freien Gruppen, die umsonst und draußen spielten, und die Abend- oder Hauptprogramme, was von den Protagonist*innen der Freien zunehmend verärgert registriert wurde. Dabei entstanden die Institutionen dieses Dritten Theaters in der Bundesrepublik nahezu vollständig aus dem Geist der Selbstermächtigung, der Autonomie und des Eigensinns ihrer Protagonist*innen. Wie Barba beschreibt und wie die in diesem Buch versammelten Akteur*innen erzählen, schaffen sie nahezu allein aus sich selbst sowohl die Entwicklung ihrer Qualifikationen, die laufende Produktion von Theater, die Organisation von Kommunikationsforen von Festivals und Workshops und schließlich auch die Gewinnung von kulturpolitischer Anerkennung, zögernd schließlich in Förderung von einzelnen Projek-
Eugenio Barba, Das Dritte Theater, in: ders.: Jenseits der schwimmenden Inseln, a. a. O., S. 215. https://www.pilkentafel.de/weggef%C3%A4hrten/
ten aus öffentlichen Mitteln umgemünzt. In den 1980er Jahren entsteht mit dem Herzblut ihrer Gründer*innen eine kommunizierende Bewegung, die sich im Laufe etwa eines Jahrzehnts zu einem nationalen und internationalen Netzwerk von Institutionen verdichtete. Das Bielefelder Theaterlabor ist dafür ein paradigmatisches Beispiel: Es organisierte seine künstlerische Profilierung und Qualifizierung durch Besuche von internationalen Festivals, die Veranstaltung von ebensolchen und eine unaufhörliche Reihe von Workshops und Weiterbildungen und immer neuen, projektweise organisierten Produktionen nach eigenem Gusto, die dann wieder eingeladen wurden und zu neuen Kontakten führten. Ein Netzwerk, dessen Qualität sich schließlich so weit entfaltete, dass der Kurator Michael Green das Labor zu einer Gastspielreise nach Kanada einlud, ohne auch nur eine der Produktionen, die dort gespielt werden sollten, gesehen zu haben … Aus einer Freizeitgruppe war schon bald ein kleines Theaterhaus entstanden, das nach ein paar weiteren Jahren tatsächlich mit Unterstützung der Stadt in ein größeres ehemaliges Industriegebäude umziehen konnte und deren Akteur*innen regelmäßig internationale Festivals veranstalteten. In dem Spektrum der Gesprächspartner*innen und Autor*innen dieses Buches ist die Reichweite und Qualität dieses Netzwerks abgebildet.
Und diese Bewegung der Freien Szene bildet sich in den 1990er Jahren zu jener Zweiten Säule der deutschen Theaterlandschaft aus, deren Bedeutung schließlich im Jahre 2008 auch auf höchster kulturpolitischer Ebene durch die Enquete Kommission Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestags bestätigt wurde.
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Abb. S. 114/115: Ismael Ivo, 360°-Festival, 2005
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Home and Away – die Entstehung des internationalen Festivalund Koproduktionsnetzwerks Gespräch mit Danièle Marty, Compagnie du Hasard
Siegmar Schröder _ Wir wurden bereits 1985 auf euer internationales Theaterfestival nach Blois eingeladen. Kannst du mir etwas über die Ursprünge eurer internationalen Erfahrungen erzählen? Danièle Marty _ Ich versuche, mich an unsere erste Tournee zu erinnern. Wir waren das erste Mal in Dänemark. Das war 1980. Freunde der Eltern von Nicolas Peskine arbeiteten bei der französischen Botschaft in Dänemark und sie verhalfen uns zu einer Einladung durch das Institut Français. Auf dem Reiseprogramm stand auch ein Besuch beim Odin Teatret in Holstebro. Dieses Treffen mit Eugenio Barba war der erste Akt unserer internationalen Aktivitäten.
SSch _ Unglaublich, so eine grandiose Gelegenheit!
DM _ Es kam durch die Eltern, die Familie von Nicolas, die immer eine Familie von Reisenden war, eine russische Familie, die zunächst in die Vereinigten Staaten auswanderte, um dann von dort nach Paris zu gehen. Sie waren durch den Krieg geprägt und haben immer schon viele Sprachen gesprochen. Sie kannten und liebten Afrika, eine Passion, die von seinem Vater auf Nicolas übertragen wurde. Sie waren neugierig, andere von Angesicht zu Angesicht zu treffen, andersartige und andere Kulturen. Nicolas hatte immer das Fernweh im Kopf
und die Neugierde, andere Kulturen kennenzulernen; und seine Freunde von der Botschaft halfen ihm dabei, seine Träume zu verwirklichen. Einer von ihnen war der Patenonkel von Nicolas, Monsieur Postel-Vinay, aus einer großen französischen Diplomatenfamilie.
Wir sind also dort hingefahren und hatten ein schlechtes Theaterstück dabei. Wir waren sehr jung und unsere Stücke waren wirklich noch nicht gut. Es war ein enormer Schock. Wir spielten im Institut Français ein Stück von Marivaux. Das ging gerade noch mal gut, weil Marivaux bekannt war. Es war nicht genial, doch wir waren jung und schön, also hat es funktioniert. Aber in Holstebro spielten wir etwas von Nicolas und das war sehr schlecht. SSch _ Wirklich schlecht?
DM _ Ja, ich erinnere mich noch. Ich spielte gerade seit zwei Jahren Theater und wir waren sehr schlecht. Das Stück war auch schlecht. Es ging um die Geschichte eines jungen Mannes, um eine politische Revolte und um eine Liebesgeschichte. Es hieß Jusqu’à la folie dans les sous-bois und es ging um die Unmöglichkeit, Jugendlichkeit auszuleben. Eugenio fand uns sympathisch, meinte aber, dass es notwendig wäre, an das Publikum zu denken und an die Geschichte. „Ihr könnt hier
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nicht einfach so mit einem unverständlichen französischen Text auftreten!“ Das war brutal und genial zugleich. Während unseres Aufenthalts konnten wir den Schauspielern des Odin Teatret bei der Arbeit zusehen und entdeckten das poetische Spiel (im Original: „l’acteur poète“). Wir verstanden, dass wir auf keinen Fall so weitermachen konnten, wenn wir jemals wieder auf Tournee gehen wollten. SSch _ Auf eurem Festival haben wir auch ein schlechtes Stück auf Deutsch gespielt.
DM _ Für uns war die Erfahrung in Holstebro ein Weckruf, wir kamen in der Wirklichkeit an. Wir hatten tatsächlich im Vorfeld nicht weiter nachgedacht. Wir waren so aufgeregt gewesen, dass wir auf Tournee gehen würden, dass wir vergessen hatten, dass es Sprachprobleme geben könnte, Probleme mit einem ganz anderen Publikum. Erst später wurde uns klar, dass wir noch zu jung und unerfahren waren. Das war wirklich hart und hat uns durchgerüttelt. Und dann entstand auch noch eine Liebesgeschichte zwischen einem Schauspieler des Odin und einer unserer Schauspielerinnen. Diese Romanze war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Ich weiß den Namen des Schauspielers gar nicht mehr, auch nicht, aus welchem Land er kam, aber er war ein Sunnyboy. Unsere Kollegin Marie war sofort verliebt, aber wir setzten unsere Tour in Schweden und Norwegen fort. Zu jeder Etappe kam er dann mit seinem kleinen Sportwagen und brachte Marie zu uns. Er schlief mit in unserem Hotel und nahm sie dann nach den Vorstellungen wieder mit. Es war total romantisch. Kurz darauf hat sie unser Ensemble verlassen und ist zu ihm gezogen. Für unsere Gruppe waren das viele Erschütterungen und wir sagten uns: „Wenn wir weiter im Ausland spielen wollen, müssen wir unser Modell überdenken.“ Das war im Jahr 1980 und ich war 21 Jahre alt. SSch _ Wie hast du denn als Schauspielerin angefangen?
DM _ Mit nichts. Ich war in Nicolas verliebt. Ich hatte vorher kein Theater gemacht und bin auch nie ins Theater gegangen.
SSch _ Hattest du irgendeine Ausbildung oder warst du an der Universität?
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DM _ Ich war sehr jung, als ich mit Nicolas zusammenkam, ich war 17 Jahre alt und hatte gerade mein Abitur gemacht. Ich war eine sehr gute Schülerin und sollte eigentlich Mathematik studieren. Aber es hat sich anders ergeben. Ich war sehr rebellisch und sagte meinen Eltern, dass ich nicht Mathe studieren wollte. Dann traf ich im Krankenhaus auf Nicolas, der dort mit einer sehr schweren Meningitis lag. Zuerst wollte niemand glauben, dass diese hartnäckige Krankheit Meningitis war, an der die meisten sterben. Er starb nicht, war aber länger in einer Art Paralyse – die Ärzte glaubten, dass er geheilt werden könnte. Ich traf ihn also im Krankenhaus und verliebte mich total in ihn, aber er war zu der Zeit noch mit Linda verheiratet. Hast du sie kennengelernt? SSch _ Ich glaube nicht.
DM _ Auf jeden Fall lebten die beiden nicht zusammen. Es war eine merkwürdige Ehe, nicht glücklich, ohne viel Liebe, auf jeden Fall kompliziert. Kurz: Für mich war der Platz frei. Zumindest ging ich davon aus, vielleicht fälschlicherweise.
Die Ärzte wussten nicht, wie sie ihn behandeln sollten, und es sah so aus, als ob der Rollstuhl bleiben würde. Während seiner Zeit im Krankenhaus haben seine Eltern ein Haus auf dem Lande umgebaut, so dass er dort mit Rollstuhl leben konnte. Kurze Zeit später baute sein Bruder, der Architekt war, ein neues Haus speziell für seine Bedürfnisse. Nicolas gab während dieser Zeit die ersten Theaterkurse. Eine Freundin riet mir, bei einem Kurs mitzumachen. Er inszenierte ein Stück et voilà: Ich war dabei – ohne jegliche Ausbildung. Wir waren also wirklich nicht gut. SSch _ Ihr habt später auch Treffen mit anderen Gruppen organisiert.
DM _ Auf der Reise nach Holstebro erlebten wir nicht nur diesen Schock durch das Gespräch mit Eugenio Barba, wir sahen auch andere Aufführungen und Arbeitsdemonstrationen. Ich erinnere mich noch, dass ich den Begriff des „acteur poète“, des „poetischen Schauspielers“ mehr und mehr begriff. Dass die Schauspielkunst nicht nur aus Text bestand, sondern dass
Bewegungen und Geschichten jenseits von Worten eine wichtige Rolle spielten, dass Schauspieler komplette Geschichten ‚verkörpern‘ können.
Die Schauspieler des Odin Teatret hatten in unterschiedlichen asiatischen Ländern Recherchen gemacht und sie in das Stück The Million (ein Stück über die Reisen Marco Polos nach dem Buch Il Millione) eingebracht. Alle diese Eindrücke warfen für Nicolas Fragen auf. Er kam ja aus der Tradition von Jean-Marie Serrault. Ich weiß nicht, ob du ihn kennst. Er hat zusammen mit Ariane Mnouchkine die Cartoucherie in Vincennes aufgebaut. Er ist ein französischer Regisseur, der mit unterschiedlichen frankophonen Autoren wie zum Beispiel mit dem Algerier Boudjema Bouhada oder dem Bretonen Paol Keineg arbeitete – Autoren also, die ganz andere Geschichten mitbrachten. Nicolas’ Beziehung zum Theater war das Schreiben. Er war sehr mit Roger Blin befreundet, der alle Beckett- und Genet-Texte inszenierte, ein bekannter französischer Regisseur, der auch vor allem textbasiert arbeitete. Nicolas war Autor, der immerzu schreiben wollte.
Auf einen Schlag war Nicolas mit dem Kontrast zwischen dem Theater des Schreibens und der Ideen und dem Theater des Körpers, der Träume, der Schönheit und der Reisen konfrontiert. Es war der Zeitpunkt gekommen, beide Seiten zusammenzubringen und etwas Neues zu erfinden. Wir kamen nach Hause und wollten neue Formen finden. Wir trafen Horacio Czertok; Eugenio hatte uns den Kontakt vermittelt. Und trotz allem war er von Nicolas beeindruckt, denke ich. Denn es war erstaunlich, dass und wie dieser junge Mann im Rollstuhl mit einer Art verrückter Entschlossenheit schrieb. Er meinte zu uns, dass wir zwar schlecht, aber nett seien und dass wir weitermachen und nachdenken sollten. Und er hat uns jede Menge Kontakte vermittelt. Das war sehr wichtig für uns. SSch _ Kannst du dieses Netz von Kontakten näher beschreiben?
DM _ Eugenio vermittelte uns den Kontakt zu Horacio und auch zu Alina Obidniak, der Leiterin des Festivals von Jelenia Góra in Polen. Wir nahmen zu beiden Kontakt auf. Alina sagte uns: „Wenn ihr ein Stück ohne Worte macht, nehme ich euch in mein Programm auf. Ich hatte bisher keine französischen
Gruppen bis auf das Théâtre de l’Unité.“ Also produzierten wir das Stück Sarabande mit drei Musikern, exzellenten Jazzmusikern, für die Straße. Es erzählte eine Geschichte über die Söhne Noahs aus dem Alten Testament. Das Stück lebte von vielen tollen Kostümen, viel Musik und vielen großen Bildern, und damit sind wir nach Jelenia Góra gefahren. Es war ein unglaubliches Festival, alles spielte sich nur auf der Straße ab. Wir sind noch viele Jahre dort hingefahren. Ein Festival, das zu der Zeit so in Frankreich nicht möglich gewesen wäre. Theater war dort sehr populär. In Frankreich gingen nur diejenigen ins Theater, die wohlhabend und gebildet waren, die anderen überhaupt nicht. SSch _ Aber Frankreich hat doch Avignon?
DM _ Aber Avignon war schon immer ein Festival der Lehrer. Das Publikum in Avignon besteht aus vielen Lehrern, die im Urlaub sind, die aus ganz Frankreich mit ihren Schülern und Familien kommen – also auch eine bestimmte soziale Klasse. Es hat sich mittlerweile etwas bewegt, ist aber kein Vergleich zu dem, was sich damals in Polen abgespielt hat. Alle Welt kam zu den Aufführungen. Sie brachten oft Blumen mit und sammelten hinterher Autogramme. Es war total verrückt. Ich erinnere mich, dass ich dachte: „Es ist also möglich. Was sehen sie nur in uns, was ist hier los? Warum ist das so? Was erzählen wir ihnen?“ Es war wirklich so, als hätten wir die Freiheit gebracht. Es war fantastisch. SSch _ Ich erinnere mich auch an Auftritte in Polen, bei denen Zuschauer hinterher zu uns kamen und uns fragten, nach welcher Methode wir arbeiten würden, wie wir trainierten. Solche Fragen kamen sonst nie aus dem Publikum. Es gab insgesamt ein sehr hohes Niveau bei den polnischen Theatern und beim polnischen Publikum.
DM _ Es war natürlich auch die Zeit von Grotowski. Das war schon eine Referenz. Wir trafen dann auf dem Festival andere europäische Gruppen, die dieselben Abenteuer erleben wollten wie wir, Osmego Dnia aus Polen und Licedei aus Russland. Das Festival war ein Treffpunkt und dort entstanden unsere Ideen zu dem Reisenden Europäischen Festival und zur Mir-
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Karawane. Das Festival war die Initialzündung unserer zukünftigen Abenteuer und veränderte unsere Aufführungen. SSch _ Welche Trainingsmethoden hattet ihr?
DM _ Wir hatten nie eine Trainingsmethode, weil Nicolas selber so etwas nicht machen konnte. Wir versuchten einfach zu spielen, aber Training war nun mal nicht unsere Sache. Wir hatten eine Schauspielerin in der Gruppe, die sehr gut singen konnte. Sie stellte die Verbindung zwischen der musikalischen und der schauspielerischen Dimension der Aufführungen her. So entstand auch das Projekt, Mozarts Le Nozze di Figaro in Afrika mit Instrumentalisten aus Burkina Faso zu adaptieren. Das ist eine Aufführung, die wir viel und überall gespielt haben. Und dann gab es noch das Abenteuer mit dem historischen mobilen Theaterbau, der dann auch zu euch nach Bielefeld kam. Es gibt viel zu erzählen. Du musst mir sagen, was dich am meisten interessiert. SSch _ Es ist sehr interessant, dass euer internationales Theaterleben so sehr mit der polnischen Szene verknüpft war. Wart ihr auch in Italien?
DM _ Ja, wir haben dort viel gespielt, aber die Kontakte entstanden in Polen. Dank Horacio konnten wir in Santarcangelo und in Lecce spielen. Horacio hat uns oft nach Ferrara eingeladen. Wir haben in den Städten rund um Ferrara gespielt. Wir hatten ein Stück, das von Nicolas geschrieben wurde, mit einer italienischen Figur – der Mutter meiner Figur –, die die ganze Zeit Italienisch sprach, so dass eine Verbindung bestand. Wir hatten auch viele Kontakte über Toni Cots. Er war einer der spanischen Odin-Schauspieler, der uns Kontakte nach Spanien verschafft hat.
SSch _ Wie hat sich der Kontakt nach Afrika ergeben?
DM _ Die Kontakte nach Afrika knüpften wir selbst. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Postel-Vinays, die Freunde der Eltern, da etwas getan haben oder ob es durch das Ministerium für die Überseegebiete entstand. Es bot eine Möglichkeit,
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Künstler zu engagieren und zu unterstützen. Und Frankreich unterhält in allen Ländern der Welt Kulturinstitute (Institut Français) – wie die Goethe-Institute –, um die französische Sprache und die französische Kultur zu verbreiten. Sie waren ein bisschen weniger idiotisch, als diese Institute oft sind. Sie unterstützen auch die Kultur vor Ort. Zumindest funktioniert das in Afrika so. Auch als ich in Seoul war, war das Institut Français superwichtig, in Shanghai ist es das ebenso und in Osteuropa auch. Es sind diese Institute, die das nötige Geld haben.
Ich kann mich jedoch nicht mehr daran erinnern, wie wir die Theatergruppe in Burkina Faso kennengelernt haben, die sich Atelier théâtre burkinabé nannte. Wir haben sie getroffen und Nicolas’ Traum war es, in Afrika ein Theaterstück aufzuführen, also haben wir die Finanzierung in Frankreich gesucht und gefunden. Vor Ort besorgte man die Mittel, um uns unterzubringen und zu verpflegen. So blieben wir anderthalb Monate in Burkina Faso und probten dort in einem kleinen Hotel mit vielen Zimmern: Es gab die Zimmer für die Schauspieler, aber auch für einen Schneider, der die Kostüme machte. Michel und ein anderer Typ bauten die Kulissen und alle Kinder aus dem Viertel konnten die Mozart-Arien auswendig. SSch _ Wirklich?
DM _ Es war unglaublich und so toll, all die Kinder die Arien aus Figaros Hochzeit singen zu hören, perfekt.
Das Einzige, was die Leute nicht verstanden, war die Figur des Cherubino, die immer von einem Mädchen gespielt wird, sowohl im Schauspiel als auch in der Oper. Wegen der Stimme wird er fast immer von Mädchen gespielt, doch es ist ein Junge – der in eine ältere weibliche Figur verliebt ist. Aber das afrikanische Publikum sah ein Mädchen, das in ein Mädchen verliebt war. Das war unmöglich, unverständlich und schuf eine echte Blockade. Das war lustig, weil wir das natürlich überhaupt nicht bedacht hatten. Unsere europäische Theater- und Opernkonvention ist so stark, dass wir es gar nicht hinterfragt haben, aber dort hat das überhaupt nicht funktioniert. Es war trotzdem gut.
SSch _ Habt ihr Teile des Stücks für die afrikanischen Aufführungen geändert?
DM _ Die Hälfte des Teams und alle Musiker waren aus Burkina. Das Mädchen, das Susanna spielte, war aus Burkina Faso. Ein anderer Schauspieler aus Burkina Faso spielte mehrere Rollen. Sie haben alle die Mir-Karawane-Tour mitgemacht 1989; wir haben uns viel ausgetauscht und viel gestritten. Es ist sehr schwer, in Afrika weiß zu sein – natürlich viel weniger schwer als in Frankreich Schwarz zu sein, aber trotzdem schwer. Es ist sehr gewalttätig. Die Probleme der Kolonialisierung, der Macht, all das ist überhaupt nicht gelöst und sobald es einen Konflikt gibt, geht es darum. Wir haben mehr Geld, wir beuten sie aus. Das ist faszinierend, denn es ist toll zu lernen, eine neue Art zu denken, zu arbeiten, eine ganze Kultur zu entdecken, die absolut genial ist, aber es ist nicht friedlich, es ist überhaupt nicht heiter. SSch _ Ich habe die Mir-Karawane in Blois und Berlin besucht und fand, dass es ein sehr wichtiges Projekt war – kulturell und politisch – so kurz vor der Wende.
DM _ So kurz vor dem Fall der Mauer, kurz vor der Öffnung Ungarns, kurz vor all dem, war es natürlich total verrückt. In Polen gab es Lech Walesa, der mit allen diskutierte, und in Prag konnten wir Vaclav Havel in einem Café in einem Keller treffen. Er war gerade vor ein paar Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden. Jedenfalls war es ein unglaublicher Moment. In Berlin konnten wir überhaupt nicht in den Osten, also blieben wir im Westen, aber wir standen vor der Mauer und alle hofften, dass sie explodieren würde.
Es war verdammt wichtig, dass die Afrikaner da waren, denn sie waren die einzigen Nicht-Europäer unter den 100 Leuten, die an der Karawane teilnahmen. Das führte dazu, dass es nicht nur um das Ost-West-Problem ging, sondern auch um das Süd-Nord-Problem, das kommen würde – das es natürlich schon gab, das aber erst ein paar Jahre später explodieren würde. Mit all den Visa- und Einwanderungsgeschichten, die zu dem Zeitpunkt noch nicht das Problem waren, aber bald zu einem solchen wurden.
Von 1985 bis 1989 hatten wir alle diese Truppen zu uns nach Blois eingeladen, zu den Europäischen Theaterfestivals, und das Ganze endete mit der Mir-Karawane, einer sechsmonatigen Tournee von Mai bis Oktober 1989 mit zehn Gruppen, fünf aus dem Osten und fünf aus dem Westen. Wir haben übrigens das Théâtre Mobile nach der Mir-Karawane gegründet, um endlich unter guten Bedingungen in einem Zelt mit einer Guckkastenbühne Theater spielen zu können. Während der Mir-Karawane haben wir nämlich in Zelten gespielt, die überhaupt nicht für Theater geeignet waren, und haben uns gesagt, dass wir unbedingt einen Ort schaffen müssen, der abbaubar ist, der aber die Magie des Theaters im Dunkeln ermöglicht, mit einer Bühne und mit einem Publikum, das sich wohlfühlt. Also begannen wir 1990 mit den Überlegungen und kamen 1992 mit dem Théâtre Mobile heraus, entworfen gemeinsam mit Nicolas’ Bruder, Alain Peskine, dem Architekten, zu einer Zeit, in der es Geld gab. Es war unglaublich: Wir haben eine Aufführung kreiert, die genau für das Théâtre Mobile konzipiert war. Das war sehr stark. Danach wurde das Théâtre Mobile für viele andere Aufführungen genutzt, aber es war verrückt, ein Theater zu entwerfen, das auf vier Sattelschleppern fuhr und 400 Plätze bot. Das war großartig. Es bot sehr gute Bedingungen, um Theater mit schönem Licht zu machen. Später haben wir es an Leute verkauft, die in Pariser Vororten Kabarett machten. Denn mit dem neuen Haus Théâtre du Grand Orme und den Bauarbeiten konnten wir nicht mehr alles bewältigen. Das Théâtre Mobile war die logische Fortsetzung der MirKarawane, weil wir dort einen Marivaux spielten – der einzige klassische Autor, den wir gespielt haben, ist Marivaux. Es gab viele Zaubereffekte darin, die Zaubereffekte waren allerdings nur möglich, wenn es dunkel war. Im Zirkuszelt war es nie richtig dunkel, also waren die Zaubereffekte nicht mehr magisch – es war furchtbar. SSch _ Und war Afrika mit dem Figaro beendet?
DM _ Nein, wir sind noch mal hingefahren. Unsere Region (Région Centre) hat 2007 eine Kooperation, eine Partnerschaft mit der Région Mopti in Mali unterzeichnet. Mopti ist eine
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wunderschöne Region. Sie liegt am Fluss Niger und hier leben viele verschiedene Ethnien. Es ist ein sehr reicher Ort für Mali, weil es Austausch gibt, weil es Fischfang gibt, weil die Menschen sich bewegen und Handel treiben. So konnten wir drei Jahre lang jeweils für einen Monat nach Mali reisen, um ein Kooperationsprojekt mit malischen Künstlern zu erarbeiten. Das war ein sehr, sehr schönes Abenteuer. Wir haben mit einem jungen Rapper, einer Tänzerin und Sängerin zusammengearbeitet und ein Stück namens I Ko Tjokodi geschaffen. In Mali bedeutet „I Ko Tjokodi?“ so viel wie: „Was willst du, was sagst du?“ Das Stück haben wir in Frankreich gespielt, in Mali, wirklich überall, und auch, als wir die Mir-Karawane 2010 wieder aufgenommen haben, in Belgien und Russland. Es ging um die Unmöglichkeit für einen jungen malischen Rapper zu reisen, die Unmöglichkeit, ein Visum zu bekommen. Als wir es in Russland aufführten, war es unglaublich: Jeder verstand die Situation mit dem Zoll, den Papieren, dieser Hölle, den Traum vom Reisen, diesen unmöglichen Traum vollkommen. Das war ein sehr starker Moment. Aber die gesamte Partnerschaft mit Mali endete mit Al-Qaida, mit dem Terrorismus. Mali schottete sich ab, obwohl es ein Land war, das gerade dabei war, sich dem Tourismus zu öffnen. Alles wurde geschlossen und kam innerhalb weniger Monate zum Stillstand. SSch _ Und nach all euren Erfahrungen in Afrika konnte ich nun eine Verbindung für euch herstellen, und wir werden im nächsten Frühling vielleicht gemeinsam dort sein.
DM _ Wenn das etwas wird, wäre das großartig. Jedes Mal, wenn wir dort waren, habe ich dicke ‚Ohrfeigen‘ bekommen. Ich bin eher nervös, sehr hektisch, immer am Arbeiten, unfähig, zur Ruhe zu kommen und mir Zeit zu nehmen. Und was jedes Mal passiert, wenn wir auf den afrikanischen Kontinent kommen: Wir müssen aufhören herumzurennen. Man sagt uns: „Ihr Weißen, ihr Westler, beruhigt euch. Dann reden wir und tauschen wir uns aus.“ Es ist unglaublich hilfreich. „Warum rennt ihr? Wozu ist das gut? Was macht ihr mit eurer Zeit? Warum wollt ihr sofort eine Antwort haben? Warum wollt ihr eine Sache sofort haben? Warum wollt ihr etwas sofort machen?“ Und wir haben keine Antwort darauf. Es stimmt, dass das völlig idiotisch ist.
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Wenn man auf einen Markt geht und etwas kaufen will, dann dauert es vielleicht zwei Stunden, für eine Kleinigkeit, aber das ist okay. Man kann tauschen, man kann diskutieren. Für jemanden mit meinem Temperament ist das sehr anstrengend, jedoch auch sehr nützlich. Ich denke, dass ich mich durch diese gewaltigen Erfahrungen etwas weniger unwissend fühle. Ich denke, dass es vor der Pensionierung sehr gut wäre, diesen Rhythmus wiederzufinden. Ich weiß nicht, wie es in Malawi läuft. Aber in jedem Land in Afrika, in dem ich war, gab es diesen Kontrast – zwischen den aufgeregten Weißen und den ruhigen Einheimischen, die stundenlang vor ihren Häusern sitzen und nichts tun oder jedenfalls nichts, was wir verstehen können. Sie diskutieren sehr ruhig und ausgiebig. Hast du Ähnliches in Malawi erlebt? SSch _ Ja, die Menschen waren wirklich sehr ruhig, vielleicht noch ruhiger als in anderen afrikanischen Ländern. Sehr freundlich und friedfertig. Es war sehr schnell klar, dass ich mich dieser Dynamik anpassen musste, dass ich mit meiner deutschen Arbeitsweise nicht weiterkomme.
DM _ Aber zum Beispiel funktioniert die Beziehung zur Familie, die Beziehung zu den Älteren ganz anders. Niemand wird einen alten Menschen in ein Altersheim stecken. Das gibt es nicht. Es stimmt, dass es eine Solidarität zwischen den Generationen gibt, mit den Kranken. Es gibt Horrorgeschichten und schreckliche Fälle von Menschen, die aufgrund von Traditionen oder was auch immer nicht akzeptiert werden, aber insgesamt gibt es tatsächlich eine viel bessere Integration und Akzeptanz von Unterschieden, die man in Europa nicht mehr erträgt.
SSch _ Ich bin wirklich sehr neugierig auf unsere gemeinsame Erfahrung im nächsten Frühjahr. Es sind dann fast 40 Jahre, dass wir uns kennen. DM _ Ja, wir können unser Jubiläum dort feiern.
SSch _ Und dann gehst du in Rente? Du hast gesagt, dass die Arbeit der Compagnie du Hasard 2025 eingestellt wird. Wie kann man ein Ende planen? DM _ Ich denke schon lange darüber nach. Ich habe mich ja nie dafür entschieden, eine Theatergruppe zu leiten. Meine
Wahl war es, Schauspielerin zu sein. Mit Nicolas war ich wirklich ein Team und hatte viel Anteil an den Dingen. Weil er im Rollstuhl saß und nicht alleine reisen konnte, war ich in die Vorbereitungen für vieles involviert, bei dem ich nicht hätte dabei sein müssen, wenn er selbstständig gewesen wäre. Ich war bei allen Vorbereitungen für die Mir-Karawane, das Théâtre Mobile und eine ganze Reihe von Projekten dabei. Natürlich ging es bei meiner Mitarbeit auch um finanzielle und künstlerische Fragen. Dadurch, dass ich an allen Treffen teilnahm, passierte das unbewusst, es war einfach so. Als Nicolas starb, dachte ich, wir würden die Tourneen, die wir gerade machten, zu Ende führen und dann aufhören. Aber es gab noch andere laufende Tourneen, also haben wir immer weitergemacht. Ich meine, es war keine Entscheidung. Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, Direktorin zu sein, ein Team zu leiten – auch wenn es nur ein kleines Team ist, das man leiten muss. Ich habe versucht, Regisseurin zu werden, doch das fand ich wirklich zu schmerzhaft, also habe ich gesagt: „Nein, das will ich nicht machen.“ Es ist zu schwer, mit den Schauspielern zu streiten, ihnen gegenüber Autorität zu haben, ich fand das wirklich sehr kompliziert.
Wir hatten Verträge, wir bekamen Unterstützung, also sagte ich mir, dass ich nicht aufhören kann, und habe immer so weitergemacht, als hätte ich keine Wahl. Wir sind aus Blois an diesen Ort gekommen. Ich glaube, das ist ein bisschen mein Charakter als sturer Revoluzzer: Ich will Erfolg haben, ich will, dass dieser Ort funktioniert, also ist es uns von Jahr zu Jahr tatsächlich gelungen, den Ort Le Grand Orme (Die Große Ulme) in ein sehr schönes Theater zu verwandeln, in das die Leute kommen, in dem wir proben und das sehr angenehm ist. Aber seit vier oder fünf Jahren denke ich, dass ich genug habe, dass mein Leben als Schauspielerin beendet ist. Ich möchte, dass jemand anderes die Fackel übernimmt, wie man auf Französisch sagt. Schließlich habe ich mich nach COVID-19 mit Emmanuel Faventines zusammengetan, der Autor und Regisseur ist, weil ich dachte, er könnte es machen. Und er hat sich als sehr guter Autor und Regisseur erwiesen. Wir machen die Projekte oft zu zweit, und es funktioniert sehr gut. Aber er mag es nicht, Leute zu führen und Geld aufzutreiben. Das ist
ein Problem, was soll ich tun? Ich selbst bin müde, ich habe wirklich viel gearbeitet. Ich hatte auch gesundheitliche Probleme, die sich jetzt etwas gelegt haben, doch drei oder vier Jahre lang konnte ich mich nicht bewegen und hatte Entzündungen an allen Ecken und Enden. Damals dachte ich, ich müsste aufhören. Schließlich ging es mir besser, aber es waren immer noch sechs, sieben Jahre bis zur Rente, die ich mit dem Theater vor mir hatte.
Dann habe ich beschlossen, dass wir aufhören, weil wir keine Verwaltungsleitung finden konnten. Seit zwei Jahren, seit COVID-19, haben wir wechselnde Leute, die nicht fähig waren oder uns sogar an den Rand des Ruins brachten. Und so haben wir beschlossen, keinen Verwalter mehr einzustellen, weil es noch mehr Arbeit macht, einen zu haben, als keinen zu haben. Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern ist, aber ich bin nach dem französischen System in Rente. Und als pensionierte Direktorin um Zuschüsse zu bitten, das finde ich nicht gut. SSch _ Ist das ein Problem?
DM _ Ich finde, es ist ein Problem. Im Moment wissen die Institutionen nichts davon, sie stellen die Frage nicht, aber es gibt so viele Ensembles, dass ich das nicht richtig finde. Es entstehen in Frankreich viele neue Gruppen, weil es viele Theaterschulen gibt. Und es gibt nie genug Geld für alle. Ich finde es seltsam, dass ich als Direktorin, die in Rente ist, um öffentliche Gelder bitte – auch wenn bei mir viele Leute arbeiten, die nicht in Rente sind. Das alles zusammen hat mich dazu gebracht, dass ich Mittel und Wege finden muss – auch weil ich eine zu kleine Rente habe –, dass das Theater, der Ort, den ich geschaffen habe und der mir gehört, weiter existiert. Ich versuche, Leute zu finden, die es mieten. Ich selbst werde weiterhin in meinem Haus wohnen, aber die Compagnie hört auf, alle anderen sind auch damit einverstanden. Es kam hinzu, dass Leute aus dem festen Team weggehen wollten, um andere Dinge zu machen, weil sie schon so lange dabei waren. Michel, unser langjähriger technischer Leiter, hat letztes Jahr seine Frau verloren und wollte sich um seine Familie kümmern und sich ausruhen. Manu hat entdeckt, dass er schreiben kann, und hat Lust zu schreiben.
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Es gab also viele Umstände, warum es ein guter Zeitpunkt zum Aufhören ist. Ich habe Leute gefunden, die das Theater übernehmen wollen, die verlässlich sind. Sie werden vom Departement unterstützt und lieben den Ort. Sie werden die Theaterschule, die wir gegründet haben, mit ihren 70 Schülern übernehmen. Wenn das alles klappt, finde ich, ist es gut gelöst, oder? Und mich wird es nicht davon abhalten weiterzumachen, wenn ich Lust habe, ein Solo zu machen oder mit jemandem zusammenzuarbeiten, was auch immer. Also: Das war’s. Ende einer Geschichte. SSch _ Ich finde es wirklich beeindruckend, wie du darüber denkst: wie man es beenden kann und dass es besser ist, es zu beenden, als es fortzusetzen.
DM _ Ich will nicht, dass es kaputt geht. Für mich bedeutet der Name Compagnie du Hasard Nicolas, die Compagnie du Hasard ist Nicolas. Es hat keinen Sinn ohne ihn, es konnte nur existieren, weil ich die Frau von Nicolas war und ich das Geld von Nicolas geerbt habe. Ich hatte mir gesagt, dieses Geld könnte ich für mich alleine behalten, aber es hat mich nicht interessiert. Es war nicht viel Geld, doch es war genug, um diesen Ort zu kaufen, der ein Theater werden konnte. Und wenn ich schließlich aufhöre, finde ich es gut, dass das Theater ein Theater bleibt. Aber ich möchte nicht, dass der Name Compagnie du Hasard eventuell leidet, weil es plötzlich schlecht verwaltet wird oder es Aufführungen gibt, die mir nicht gefallen. So bin ich letztlich beruhigt für die Zukunft. Ich muss mich nicht einmischen. In zwei Jahren werden wir sehen, ob ich immer noch so gelassen bin.
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SSch _ Wir bleiben in Verbindung und ich frage dich dann noch einmal.
Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 8. August 2023 in Feings, Frankreich. Übersetzung aus dem Französischen: Siegmar Schröder
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Festival-Programmheft, 1986
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Theaterlabor/Brith Gof, The Disasters of War – Hurra Hurra Germania, 1988
Siegmar Schröder: Koproduktion mit Brith Gof Im Jahre 1985 trafen wir auf dem Festival in Blois die walisische Gruppe Brith Gof. Wir sahen ihre Aufführung Emigrants und waren total begeistert. Die Zuschauer*innen saßen an allen vier Seiten der Szenenfläche, sehr dicht am Geschehen. Für die Schauspieler*innen gab es kein Off, alle Handlungen waren offen einsehbar. Auf diese Weise entstand eine hohe Intensität und Intimität des Spiels; auch der Gesang war sehr beeindruckend. Die Gruppe gab dann noch einen Workshop, in dem sie praktisch vorführte, wie sie szenische Arrangements improvisierend erarbeitet. Als Grundlage für die Improvisationen wurden zum Beispiel authentische Familienfotografien benutzt. Der Leiter, Mike Pearson, erklärte, wie auch Gemälde und Zeichnungen von Künstler*innen als Vorlage für körperliche Positionen und Charaktere genutzt werden können, was wir mit einigen Bildern von Goya ausprobierten.
Brith Gof plante die Erarbeitung eines Theaterzyklus The Disasters of War mit verschiedenen internationalen Theatergruppen, inspiriert von Goyas Bildern – und wir verabredeten für 1988 eine Koproduktion bei uns in Bielefeld. Uns wurde dazu die Aufgabe gestellt, bereits im Vorfeld Material zu erarbeiten, das in Bielefeld mit Elementen von Brith Gof zu einer gemeinsamen Aufführung verwoben werden sollte. Wir wollten uns mit der Geschichte des Nationalgefühls in Deutschland und der Dynamik beschäftigen, die immer wieder zu neuen Kriegen geführt hat. Mike Pearson schlug uns als Gegenstand unserer Recherchen das Werk Anselm Kiefers vor. Wir haben uns daraufhin, von Kiefers Bildern inspiriert, mit Materialien wie Schlamm, Felsbrocken, Herbstlaub, Ästen und einem großen Baumstamm (unter dem letztlich alle Schauspieler*innen begraben werden sollten) beschäftigt und dabei Texte von Friedrich Hölderlin bis Paul Celan gelesen und rezitiert. Unsere Arbeit entwickelte eine hohe Intensität und trug uns bis zur Entwicklung eines kompletten Theaterstücks, als die Waliser*innen eintrafen. Sie waren erstaunt und zögerten, ein zusammenhängendes Stück wieder auseinanderzureißen;
nach einigen Diskussionen und Gedankenspielen entstand die Idee einer Kommentierung der von uns erarbeiteten Szenen: Auf einem Podium über unserer Spielfläche installierten sie mit Mikrofonen und Abspielgeräten eine Art Tribunalsituation: Das Ringen der ‚Germanen‘ mit ihrer nationalen Identität wurde so von einer ‚Untersuchungskommission‘ beobachtet und kommentiert. Dabei konterkarierte eine verstörende Soundkulisse die aufkeimenden romantischen und nationalen Gefühle der Bielefelder Akteur*innen. In einer letzten von Mike Pearson gestalteten Szene stellten beide Gruppen gemeinsam Bildmotive von Francisco de Goya nach, während die Soundkulisse weiter nachhallte. Der große Wermutstropfen bei dieser (und anderen Koproduktionen) war allerdings, dass nur drei Aufführungen an einem Wochenende finanzierbar waren.
Wir haben später aus dem Material eine eigenständige Aufführung mit dem Titel Vaterland montiert und dabei den Anteil von Brith Gof durch eine eigene Soundcollage ersetzt. Für diese Arbeit wurden wir zunächst – ähnlich wie auch Anselm Kiefer – für die scheinbare Propagierung von romantischem deutschen Nationalgefühl kritisiert; doch die deutsche Wiedervereinigung ließ unser Stück in einem anderen Licht erscheinen: Jetzt waren wir plötzlich zu kritisch im Umgang mit nationalen Gefühlen. Wir sahen das anders, denn unsere historischen Recherchen hatten die desaströsen Potenziale übersteigerter deutscher Nationalgefühle aufgezeigt. Und wir deuteten es als Bestätigung, als wir nachts in einem Hotel in der Stadt Brandenburg, wo wir Vaterland aufführten, eine Gruppe von Menschen das Horst-Wessel-Lied grölen hörten. Es zeigte sich dann, dass die reale Zeitenwende zu stark war und unsere Inszenierung ihr nicht standhalten konnte, auch nachdem wir noch eine letzte Szene zur Wiedervereinigung eingebaut hatten. So haben wir das Stück aus dem Repertoire genommen. Insgesamt aber wurden Koproduktionen extrem wichtig für unsere eigene Entwicklung. Im Vordergrund stand dabei immer, ein tiefergehendes Verständnis der Arbeitsweise des koprodu-
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zierenden Theaters zu erlangen. Einige ihrer Methoden haben wir fest ins Arbeitsrepertoire des Theaterabors aufgenommen. Die Adaption der Werke von bildenden Künstler*innen als Grundlage für Theaterstücke hatten wir von Brith Gof gelernt. In Tagvögel haben wir das 1991 mit Werken des surrealistischen Künstlers Max Ernst fortgesetzt. Auch später gab es immer wieder ähnliche Ansätze: Tanz an der Mauer (2001) über Felix Nussbaum und Body Fragments (2005), inspiriert von Francis Bacon, sind Beispiele für Produktionen, mit denen wir Lebenswerk und Person von Künstlern als Theaterarbeit für die Bühne umsetzten. Für andere Aufführungen verwendeten wir Werke der bildenden Kunst als Vorlagen für die Erarbeitung von szenischen Situationen und Charakteren. So haben wir zum Beispiel in einer unserer letzten Koproduktionen Die letzten Tage der Menschheit (nach Karl Kraus) neben Bildern von Otto Dix Skulpturen von Käthe Kollwitz als Inspirationen benutzt.
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Programmheft, 1988
Mike Pearson, Brith Gof: The Disasters of War – Arminius
(Erstveröffentlichung in Abseits vom Zeitgeist, Theaterlabor Eigenverlag 2008) Mitte der Achtzigerjahre schuf die walisische Theatergruppe Brith Gof, bei der ich als Regisseur arbeitete, eine Reihe von Performances nach Francisco de Goyas großartigen und furchtbaren Bildern Die Schrecken des Krieges. Diese Bilder vermögen noch immer zu schockieren. Sie zeigen Not und Leid nicht nur der Soldaten, sondern auch der Zivilbevölkerung während und nach dem Spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon: Menschen ballen sich zusammen in Angst, Hunger, Protest und Trotz ...
Felsblöcke herum. Die Lederschürzen, die sie dabei trugen, dienten sowohl dem eigenen Schutz als auch als Referenz an die Kleidung jener Epoche, und die Akteure stießen, zogen, schleppten, hoben. Rätselhaft und vieldeutig weckte das Ganze Assoziationen an Barrikaden, Heiligenschreine und ein alltägliches Waldleben, wobei in der ständigen Bewegung des Materials verblüffende Bilder erschienen und sich wieder auflösten. Es gab Rückenzerrungen und gebrochene Finger. Es war erschöpfend. Und ganz und gar aufregend.
Das Theaterlabor kannten wir seit einigen Jahren als Kollegen aus der Szene des sogenannten Dritten Theaters. Aber nichts in unserer bisherigen Bekanntschaft hatte uns auf das vorbereitet, was wir nun vorfanden. Als wir ankamen, hatten die Leute vom Theaterlabor bereits den Grundriss einer Performance entworfen. Es ging um den sagenhaften Helden Arminius und seinen Sieg über die Legionen des Varus im Teutoburger Wald (also mit lokalem Bezug) im Jahre 9 nach Christus. Doch anstatt uns nun die darstellerische Umsetzung einer dramatischen Erzählung vorzuführen, schleppten die Theaterlaboranten vor unseren Augen gewaltige Baumstämme, große Steine und
Betrachten wir die Inszenierung oder die Umgebung des Darstellers als dessen Arbeitsraum. Unabhängig vom Wahrscheinlichkeitsgrad von Bühnenbild und Ausstattung gibt dieser Raum materielle Bedingungen vor, unter denen sich der Darsteller an die Arbeit macht. Die Natur der Verhältnisse hier – des Körpers zur Kulisse, zum Objekt, zum Körper des Anderen – und die physischen und emotionalen Erfahrungen, die daraus hervorgehen, sind andere als im alltäglichen Leben. Jenseits von Fragen der Repräsentation muss die Beziehung des Darstellers zur Inszenierung darum in erster Linie ergonomisch und phänomenologisch betrachtet werden. Und es mag tatsächlich so sein, dass jeder für einen performativen Vorgang konstruierte Raum eigene Aktivität entfaltet und die Umweltbedingungen, die Ökologie dieser eigenen Welt – Materialien, Boden, Klima, Beleuchtung, Temperatur – viel besser oder auch viel schlechter sein können als im Alltagsleben, während sie sich alle Augenblicke verändern und jeweils eigene Funktionen und Arbeitsstrukturen fu ̈r die Bühnenillusion und die theatralische Geste erfordern.
Auf die Darstellungsformen von Brith Gof hatten diese Radierungen schon seit Längerem Einfluss gehabt. Sie boten uns als Gruppe eine konkrete Basis bei der Entwicklung unserer Bildsprache, indem wir die abgebildeten Haltungen und Positionen und das Zusammenspiel von Fanatismus und Widerstand nachahmten. Zugleich entdeckten wir ihren Wert für die Zusammenarbeit mit anderen: Sie stellten einen klaren Ausgangspunkt und Fokus zur Verfügung für die Arbeit mit Kollegen unterschiedlicher Nationalität und Sprache, mit verschiedenen stilistischen Prioritäten und Anliegen. Wir arbeiteten mit Studenten in Argentinien und Venezuela; wir machten Produktionen mit dem Grenland Friteater – über Okkupation und Verrat – und mit Dance Wales – über Vertreibung. Und wir kamen nach Bielefeld ...
Am Ende steuerten wir von Brith Gof etwas musikalische und textliche Begleitung bei – von „weit oben“, wie die zeitgenössischen Gottheiten. Das war genug. In der Arbeit des Theaterlabors geschah etwas Tiefgehendes und Tiefgründiges. Das Publikum sah echte Anstrengung – „theatre labour“.
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Die Ergonomik befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen Individuen und ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie mit der Anwendung von Erkenntnissen über die menschliche Physis und der Verhaltensforschung auf Probleme der Formgebung. Die gestaltete oder gebaute Umwelt eines performativen Vorgangs wird ergonomische Probleme in hohem Maß verstärken oder vermindern, wobei deren Ausmaß sich von Moment zu Moment ändern und zwischen akzeptabel, inakzeptabel und optimal oszillieren kann.
Wir können nun annehmen, das Theater strebe nach einer Perfektionierung dieser Bedingungen, um maximale Effizienz zu erreichen. So ermöglicht der polierte Hinoki-Holzboden der japanischen No ̂-Bühne die ätherischen, gleitenden Bewegungen der Darsteller – obgleich schwer zu sagen ist, was zuerst da war, der Boden oder die Bewegung.
Es kann aber auch ganz anders sein. Die materiellen Bedingungen der Inszenierung erweitern, begrenzen, beschränken oder beeinträchtigen die vier Wirkungsträger des Körpereinsatzes: den Spielraum – der Kopfraum und der Fußraum der Körperellipse; die Reichweite – das Volumen des Arbeitsraums; die Haltung – die Art und Anzahl der Verbindungen zwischen Körper und Arbeitsraum; und die Kraft – der maximal mögliche Kraftaufwand in Produktivität und Ausdauer. Die Umweltbedingungen können das Raumverhalten und die kinesischen und haptischen Fähigkeiten, Kapazitäten und Möglichkeiten des Darstellers beschneiden: durch Risiken, durch körperliche Beanspruchung, durch Anforderungen an den Energieaufwand und durch Überlastung (Erschöpfung). Dies geschieht mittels Verschließen oder Einschränken von Wahrnehmungskanälen – etwa durch eine Augenbinde; durch das Eindringen in jenen persönlichen Raum, der einer mehr oder weniger exklusiven Nutzung vorbehalten ist; oder durch das Arrangieren von Hindernissen wie Bauten oder Möbeln. Über die Umweltbedingungen kann Druck ausgeübt werden durch In-die-LängeZiehen eines Vorgangs und Limitierung der Anpassungsmöglichkeiten von Haltung und Reichweite. Zu diesen Umweltfaktoren können gehören: Lärm, der das Denken und die Kommunikation stört; Beleuchtung mit wechselnder Helligkeit, Refle-
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xionen und Schatten; klimatische Veränderungen, etwa der Temperatur von Luft und Oberflächen, der Luftzirkulation und -feuchtigkeit, deren Auswirkungen durch die Kleidung vermittelt oder eben nicht vermittelt werden; Erschütterungen des ganzen Körpers oder der Hand und des Arms aufgrund von Schocks und Stößen; und die Giftigkeit von Flüssigkeiten, Gasen, Dünsten, Staub und festen Stoffen. Die Aufführung wird so zu einer schwierigen oder sogar gefährlichen Arbeit. In der Tat besteht das Wesen des performativen Vorgangs in nicht mehr und nicht weniger als dem Umgang der Akteure mit den ergonomischen Problemen des Arbeitsraums. Wir beobachten die Methode und die Organisation ihrer Anstrengungen, manche geplant, andere improvisiert und wieder andere bestimmt durch vorangegangene Erfahrungen, die Flexibilität ihrer Reaktionen in der Improvisation und ihren überlegten oder spontanen Gebrauch von Werkzeugen. Wir beobachten die Symptome ihrer Beschäftigung mit den Elementen des Arbeitsraums: Körper und Kontext sind eng miteinander verknüpft. Wir bewundern ihre Ausdauer, ihre unerschütterliche Hingabe an die Arbeit. Und wir sind uns vor allem über eines im Klaren: dass wir hier reale Reaktionen auf eine reale Situation sehen. Wir sehen die Darsteller bei der Arbeit.
Beim Projekt The Disasters of War/Hurra! Hurra! Germania! war all das vollkommen neu und überaus aufschlussreich – für uns alle, glaube ich: spontane Herausforderungen anstelle einer Choreografie, aktive, dynamische Hingabe anstelle von bloß beschreibender Darstellung. Das Theaterlabor entwickelte das Projekt weiter. Einen Monat nach dem Besuch in Bielefeld begann Brith Gof mit der Arbeit an Gododdin, einem breit angelegten ortsbezogenen Projekt, das anschließend in Wales, Italien, Deutschland, Friesland und Schottland aufgeführt werden sollte. Das Bühnenbild bestand aus Hunderten Tonnen Sand, Tausenden Litern Wasser, Dutzenden Bäumen, Schrottautos und Ölfässern ... darin eine Gruppe von Darstellern, die mit diesen zunehmend schwierigen Umweltbedingungen zurechtkommen mussten, wobei die Symptome ihrer ergonomischen Kämpfe – und ihrer Niederlagen – stets sichtbar waren.
Solche Begegnung mit dem Material wurde zum Kennzeichen der Arbeit von Brith Gof. Und das verdanken wir dem Theaterlabor und der mutigen Entscheidung, in einem gewissen Moment die Regeln zu brechen – und ein paar Finger!
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Theaterlabor/Brith Gof, The Disasters of War – Hurra Hurra Germania, Mike Pearson, 1988
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Theaterlabor Website, 2000
Siegmar Schröder: Die ISTA und Tor 6 Die Räumlichkeiten in der Lerchenstraße waren für die Periode von 1985 bis 2000 sicherlich sehr gut für unsere Entwicklung. Wir verfügten nur über einen Saal, der als ehemaliger Ballsaal zwar eine sehr schöne Atmosphäre hatte, mit einem PitchpineHolzfußboden und einer kleinen erhöhten Guckkastenbühne, wir hatten allerdings enorme Platzprobleme. Es gab nur zwei kleine Räume für Büros, eine kleine Küche und ein kleines Badezimmer, keinerlei Lager oder Platz für eine Werkstatt. Gerade bei Straßentheaterproduktionen gab es Probleme mit der Lagerung von Requisiten und Objekten.
Auch das gleichzeitige Proben und Durchführen von Abendvorstellungen war mit viel Aufwand verbunden. So erklärt sich auch, dass wir nach 1992 lange Zeit kein weiteres Festival organisierten. Die EXPO 2000 in Hannover brachte es mit sich, dass in der Nachbarregion Ostwestfalen-Lippe Hannover viele zusätzliche kulturelle Projekte und Baumaßnahmen gefördert werden konnten. Wir haben in ca. zweijähriger Zusammenarbeit mit der Landesentwicklungsgesellschaft in der ehemaligen Ausstellungshalle der Firma Dürkopp eine schöne Spielstätte schaffen können. Gleichzeitig haben wir die Mittel für die Eröffnungsprojekte im Jahr 2000 aufgetrieben und damit die Internationale Schule für Theateranthropologie (ISTA) und eine Neuauflage des Festivals 360° durchgeführt. Die ISTA hatte ich vorher bereits zweimal als Teilnehmer kennengelernt. Vom Odin Teatret konzipiert wurden in Zusammenarbeit mit einer örtlichen Organisation Theater, Lehrer*innen und Teilnehmer*innen aus aller Welt eingeladen, um Methoden, Techniken, Wirkungsweisen von orientalischen und abendländischen Theatertraditionen kennenzulernen und zu analysieren. Ich war 1996 auf einer ISTA-Session in Kopenhagen, bei der ich unter anderem Dario Fo traf, und 1998 in Montemor-o-Novo in Portugal. Ich bewarb mich beim Odin Teatret für die Durchführung einer ISTA in Bielefeld und wir bekamen für das Jahr 2000 den Zuschlag. Der organisatorische Aufwand ging als Rekord in die Geschichte des Theaterlabors ein. Theater und
Lehrer*innen aus Bali, Japan, Brasilien, Indien, USA, Italien und Dänemark nach Bielefeld zu bekommen, Visaprobleme mit zahlreichen Anrufen bei deutschen Botschaften zu klären, Transporte von Bühnenbildern, Objekten und Requisiten zu begleiten und dann noch die individuellen Probleme der Teilnehmer*innen aus 40 verschiedenen Ländern lösen helfen – das war schon enorm. Wir hatten ein großes Bildungszentrum angemietet. Dort gab es genug Arbeitsräume und Schlafmöglichkeiten, um die ISTA gut unterzubringen. Die internen Arbeitssessionen waren für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Es gab aber Aufführungen und Arbeitsdemonstrationen der angereisten Theater, die öffentlich waren und Bestandteil des großen internationalen Theaterfestivals 360° waren. Wir hatten unser altes Theater noch als Festivalspielort behalten und haben dort unsere Aufführung Odyssee gespielt. Es war uns trotz des enormen Organisationsaufwands sehr wichtig, den Festivalgästen auch eine unserer Aufführungen zu zeigen. Und ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass diese Aufführung mit vier rollenden Zuschauertribünen bei den Gästen der ISTA sehr gut ankam. Die Farbe auf dem Holzfußboden war noch nicht trocken, aber die Einweihung des großen Saales im Theaterhaus Tor 6 fand mit Granhoj Dans aus Dänemark statt. Wir hatten einen zweiten kleineren Theatersaal für Performances und Arbeitsdemonstrationen für 100 Zuschauer*innen eingerichtet. Im nahegelegenen Park hatte die Compagnie du Hasard ein historisches mobiles Theater aufgebaut, das zu einer weiteren Spielstätte des Festivals, nicht nur für die Stücke der französischen Gruppe, wurde. Wir bespielten weiterhin eine Kirche, in der die polnische Gruppe Gardzienice ihr Theater einrichtete, und wir hatten für die große gemeinschaftliche Abschlussinszenierung der ISTA die Stadthalle angemietet. Das Festival und die neue Spielstätte waren in der Stadtgesellschaft angekommen und das war eine gute Grundlage für die folgenden 360°-Festivals 2003, 2005 und 2007. Die Festivals waren der
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Motor für die lokale Publikumsentwicklung und Ausgangspunkt für zahlreiche Einladungen an uns, gemeinsame internationale Projekte und Koproduktionen. Unser Theaterhaus und das Festival 360° wurden eine feste Größe in der internationalen Theaterszene und wir hatten die perfekte Infrastruktur für alle Aspekte unseres Theaterbetriebs.
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Theaterlabor Tagvögel, 1990
Siegmar Schröder: Die große Zäsur und die Prager Connection In meinem persönlichen Leben und damit verbunden auch in der künstlerischen Arbeit gab es im Oktober 2003 eine große Zäsur. Meine Frau und Mitgründerin des Theaterlabors Angelika (Göken-Schröder) verlor nach neun Jahren Leben mit einer Krebserkrankung den Kampf dagegen. Wir hatten in dieser Zeit weiterhin unzählige Projekte durchgeführt und ihr dabei das Arbeiten in ihrem Rhythmus ermöglicht. Während ihrer Erkrankung hatte sie sich mit ihrem starken Bezug zu Literatur und Poesie immer mehr auf Dramaturgie konzentriert und brachte noch kurz vor ihrem Tod ein eigenes Stück mit der Gruppe 2 auf Grundlage von Gedichten Rolf Dieter Brinkmanns13 heraus: Reisen in nördliche Gärten. Gleichzeitig hatte sie sehr viel Freude an ihrer letzten dramaturgischen Begleitung einer Auftragsarbeit für Jan Hoet14 im Museum Marta in Herford, anlässlich einer Ausstellung zum Thema Plastik als Material und Werkstoff, die wir „site-specific“ in den vorläufigen Ausstellungsräumen umsetzten.
Nach ihrem Tod nahm ich das Material, das wir dort erarbeitet hatten, zum Ausgangspunkt für das Bühnenstück Plastik Play Plus, das eine gewisse spielerische Leichtigkeit hatte und so die ideale Basis für mich war, in meiner Trauer künstlerisch weiterzuarbeiten. Gleichzeitig war es Angelikas dramaturgisches Erbe. Dennoch belasteten der Verlust und die neue Situation mich so sehr, dass ich nach fast einem Jahr meiner Gruppe den Entschluss mitteilte, aus Bielefeld wegzugehen. Ich hatte mir tatsächlich bereits eine Wohnung in Berlin organisiert und wollte mich den Blicken der Öffentlichkeit entziehen und in der Anonymität neu anfangen. Nachdem ich meiner Gruppe den Entschluss in einer tränenreichen Sitzung mitgeteilt hatte, ging ich in unser Stammcafé und traf dort eine Frau, die meinen Entschluss ins Wanken brachte. Und so blieb ich 13 14 15
doch in Bielefeld mit einer neuen Lebensgefährtin, die später meine zweite Frau wurde.
Im Frühjahr 2004 gab es ein sehr wichtiges Ereignis, das für einen großen Teil der weiteren internationalen Projekte essenziell war. Das Tschechische Theaterinstitut hatte Festivalleiter*innen aus verschiedenen Ländern zum Austausch nach Prag eingeladen. Ich sah darin eine große Chance, Leute kennenzulernen, die unvoreingenommen mit mir kommunizieren und mich nicht in erster Linie als Witwer sehen würden, der seine wichtigste Mitarbeiterin verloren hatte. Und so kam es auch. Bis auf einen befreundeten Künstler aus NRW, Rolf Dennemann15, waren mir alle anderen unbekannt. Mit drei Begegnungen in Prag entstand aber die Grundlage für eine weitere langjährige Zusammenarbeit. Ralph Würfel kam als Vertreter des Potsdamer Unidram-Festivals nach Prag. Wir bemerkten sofort viele Gemeinsamkeiten und so entwickelte sich aus dieser Begegnung eine 20-jährige Zusammenarbeit. Zunächst organisierte er für uns internationale Festivals und auch das erste flausen+-Festival, das er dann später als Leiter übernahm. Viele internationale Projekte und andere Produktionen begleitete er entweder als Mitglied des Theaterlabors oder als eigenständiges Kulturbüro.
Außerdem traf ich dort Michael Green, den ich sofort in mein Herz schloss. Es war wie das Wiederfinden eines verlorenen Bruders. Wir sahen uns gemeinsam Vorstellungen an oder beteiligten uns an Diskussionen, und es war klar, dass wir vom gleichen Schlag waren. Er war eigentlich Schauspieler und hatte das Festival High Performance Rodeo in Calgary, Kanada, zu einem Markenzeichen entwickelt. Es gab zu der Zeit kaum subventioniertes Freies Theater in Kanada, und die Einnahmen des Festivals unterstützten die Produktionen der Gruppe One
Rolf-Dieter Brinkmann (1940–1975) war ein deutscher Dichter, Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer. Jan Hoet (1936–2014) war Kurator der documenta IX (1992) und leitete das MARTa in Herford von 2003 bis 2008. Rolf Dennemann (1952–2024) war Regisseur und Begründer des Labels artscenico in Dortmund, spielte als Schauspieler in zahlreichen Filmen mit und setzte sich kulturpolitisch für die Freie Szene ein.
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Yellow Rabbit. Er verfügte über ein großes Organisationstalent, verzichtete aber nicht auf seine Bühnenauftritte. Ich fühlte mich in einer ähnlichen Rolle: Einerseits war ich der gut organisierte Geschäftsmann, der die ökonomischen Ideen entwickelte und umsetzte, und gleichzeitig wollte ich in der Kunst meine verrückten Ideen ausleben. Michael Green sah meine Präsentation von verschiedenen Stücken aus 20 Jahren Theaterlabor und sprach sofort eine Einladung nach Calgary aus. Daraus entwickelten sich zwei Tourneen durch Kanada, Gastspiele von One Yellow Rabbit in Bielefeld sowie zwei Koproduktionen und eine unvollendete Arbeit mit der Blackfoot Nation.
Die dritte Begegnung war die mit der Organisatorin des Forums in Prag selbst: Sodja Lodker. Sie hatte das lockere Format organisiert und in der Programmgestaltung viel Platz gelassen, so dass sich die Festivalleiter*innen gut untereinander kennenlernen konnten. Es war offensichtlich, dass sie die Prager Szene in Kontakt mit anderen Festivals und Theatergruppen bringen wollte. Sie half den tschechischen Theatern dabei, ins Ausland zu reisen, und organisierte Treffen wie dieses in Prag. Auch die Mala Inventura (Kleine Inventur), zu der ich später immer wieder eingeladen wurde, spielte in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Man bekam in wenigen Tagen einen guten Überblick über die Entwicklungen in der Prager Szene. Sodja Lodker hatte auch ein Talent darin, zu erkennen, wer mit wem zusammenpassen könnte. Nach meiner Präsentation riet sie mir, die Arbeiten von Krepsko und Petr Nikl anzusehen, und erzählte, dass nun auch in Prag eine Theatergruppe in der Tradition von Grotowski bzw. Gardzienice angesiedelt sei: Farma v Jeskyni. Mit all diesen Künstler*innen hat sich in den Folgejahren tatsächlich mit gegenseitigen Einladungen und Koproduktionen eine Zusammenarbeit entwickelt. Auch die Koproduktion The Last Hours in Prag hat Sodja Lodker schließlich organisatorisch begleitet.
Anfang der 2000er Jahre hatte die Prager Theaterszene eine starke Ausstrahlungskraft. Es herrschte immer noch Aufbruchstimmung und es fanden sich viele neue Spielorte. Darüber
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hinaus gab es die gewachsenen Strukturen, die sich bereits in der Zeit des Sozialismus gebildet hatten. Die Freie Szene agierte mit einfacher technischer Ausstattung und war sehr flexibel. Auffallend war die ausgefeilte schauspielerische Technik, über die die meisten Gruppen verfügten. Der enorme bildliche Ideenreichtum wurde sehr akribisch mit großer Liebe zum Detail umgesetzt. Die einzelnen Produktionen waren aber zumeist recht kurz. So wurden an vielen Abenden mehrere Theaterstücke hintereinander gezeigt. Mir schien das konsequent. Man hatte nie das Gefühl, dass in den Stücken etwas überflüssig war, und es kam keine Langeweile auf. Ich selbst habe auch öfters in eigenen Produktionen gespürt, dass die Idee des Stücks nach 40 Minuten umgesetzt war, ich mich aber irgendwie gezwungen fühlte, ein mindestens einstündiges Stück zu entwickeln. Die Prager Theater sprachen es aber auch als Problem an, dass es für sie schwer war, ihre nicht abendfüllenden Produktionen im Ausland zu verkaufen.
Wir luden auf unseren folgenden Festivals mehrere Gruppen aus Prag ein und planten für das 360°-Festival 2007 eine lange Prager Nacht. Auf fünf verschiedenen Bühnen wurden nacheinander die Kurzstücke in unseren Räumlichkeiten aufgeführt. Eine besondere Beziehung entwickelten wir zu der Gruppe Krepsko. Nach der Empfehlung von Sodja Lodker hatte ich in Prag eine Produktion gesehen und sie zu unserem Festival eingeladen. Krepsko zeichnete sich besonders durch ihren Ideenreichtum in der Umsetzung von Projektionen und Lichteffekten mit einfachsten Mitteln aus; es kam mir wie eine gelungene Weiterentwicklung der Tradition des „Schwarzen Theaters“ vor. Schauspielerisch wurde mit großer Präzision gearbeitet und es gab immer eine Prise dieses speziellen tschechischen Humors, wie man ihn auch aus vielen tschechischen Filmen kennt.
Die Ideen für das Lichtdesign und die bühnenbildnerischen Projektionen gingen vor allem von Petr Lorenz aus, mit dem ich mich gerne stärker ausgetauscht hätte – aber nach der Aufführung in Bielefeld sahen wir ihn mit Krepsko nur noch einmal bei einem Straßentheaterfestival in Warschau, zu dem
wir auch eingeladen waren, und saßen nach unseren Aufführungen im Festivalcafé zusammen. Am nächsten Morgen fuhr Krepsko nach Tschechien zurück und hatte auf der Fahrt einen Frontalzusammenstoß, bei dem Petr Lorenc ums Leben kam. Wir blieben mit Linnea Happonen in engem Kontakt und entwickelten in der Folgezeit mehrere Koproduktionen. So erarbeiteten wir mit Krepsko unter anderem für das Weserrenaissance-Museum Schloss Brake eine Inszenierung über den Maler Hans Rottenhammer. Die Ausstellung mit seinen Bildern hatten wir bereits vorher dramaturgisch und gestalterisch begleitet.
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Theaterlabor/Teatr Zar/Farma v jeskyni, The Last Hours, Prag, 2006
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Theaterlabor/Teatr Zar/Farma v jeskyni, The Last Hours, Prag, 2006
Gespräch mit Linnea Happonen, Krepsko Siegmar Schröder _ Weißt du noch, wann wir uns das erste Mal getroffen haben?
Linnea Happonen _ Ich glaube, das allererste Mal war in einem Café bei La Fabrika. Mit Petr Nikl und Petr Lorenc. Vielleicht hatten wir uns auch schon früher mal getroffen, aber da haben wir zu viert Kaffee getrunken und gesprochen. Es war vor eurer Vorstellung in Prag, die wir dann gesehen haben, mit Farma v Jeskyni und dem Zar Teatr. Das war in Holešovice (Stadtteil von Prag). Ich weiß aber nicht mehr, wie es zu unserer gemeinsamen Arbeit gekommen ist.
SSch _ Ich glaube, es war durch die Verbindung zu Sodja Lodker vom Tschechischen Theaterinstitut. Sie hatte für uns Kontakte zu verschiedenen Gruppen geknüpft und mir erzählt, dass Krepsko eine der interessantesten Gruppen in Prag sei. LH _ Ich weiß noch, dass wir Fragile und Schunt im Theaterlabor aufgeführt haben.
SSch _ Aber zuerst haben wir uns in Prag getroffen, und ich habe auch etwas von euch in der Malá Inventura gesehen. Unsere Geschichte hatte keinen klaren Ausgangspunkt, aber auf jeden Fall fand ich Prag damals sehr interessant. Du kommst ursprünglich auch nicht aus Prag, richtig? Wie bist du zu dieser neuen bewegten Szene dazugekommen?
LH _ Wir müssen uns 2004 oder 2005 getroffen haben. Ich war damals schon eine Weile in Prag, seit 1997. 2001 haben wir Krepsko gegründet, aus dem einfachen Grund, weil wir nirgends das Theater sehen konnten, das wir sehen wollten. So kam es, dass Petr (Lorenc) und ich uns sagten: „Was können wir also tun? Nun gut, lass uns selber Theater machen, wie wir es gerne sehen würden.“ In der Annahme, dass das auch von anderen gewünscht würde. Das war immer unser Leitgedanke: Theater machen, wie wir es als Publikum gerne sehen würden. Es geht nicht darum, etwas ausdrücken oder zeigen zu wollen, sondern darum, was ich selbst sehen möchte.
SSch _ Und wie war die Situation in Prag zu dieser Zeit? Was war dein Gefühl?
LH _ Es war wirklich ein toller Sommer, um die Jahrtausendwende, alles schien dort möglich. Wir traten in einem Zoo auf, wir traten auf Friedhöfen auf, wir traten überall auf. Wenn wir irgendwo fragten: „Können wir hier eine Aufführung machen?“, lautete die Antwort: „Okay“! Das hätte auch anders laufen können, mit bürokratischen Komplikationen. Die kamen dann später, doch selbst dann waren trotz der Bürokratie in Prag solche Aufführungen an ungewöhnlichen Orten möglich. Ich glaube, dass das damals in Finnland nicht so möglich war. Es war wie bei Shakespeare: „Die ganze Welt ist eine Bühne.“ Wir konnten überall auftreten und mussten uns nicht an ein Theater oder ein Theatergebäude binden. Sehr schnell lernten wir, zwischen Bäumen, in Gärten und im Bus zu performen – zum Beispiel in diesen Oberleitungsbussen. Die gibt es zwar nicht in Prag, aber in Pardubice. Und so spielten wir dort, wir waren den ganzen Tag mit dem Bus unterwegs und haben gespielt. Das passiert normalerweise anderswo nicht, nicht in dem Tempo und nicht von langer Hand geplant: „Hey, könnt ihr kommen und eine Show machen?“ – „Okay, wir kommen!“ Das war großartig; ich habe das Gefühl, dass es das so nicht mehr gibt. Ich lebe ja schon lange nicht mehr in Prag, doch jedes Mal, wenn wir in Prag auftreten, meint jemand: „Oh, ich vermisse es so sehr. Warum gibt es das nicht mehr in Prag?“ SSch _ Ich erinnere mich an Sodja. Sie war beim Tschechischen Theaterinstitut und organisierte Treffen mit Festivalleitern – auch als ich das erste Mal nach Prag kam, war sie es, die die Verbindungen hergestellt hatte. Sie war es, die versuchte, die Prager Szene mit anderen Teilen Europas zu verbinden. Für mich war es sehr hilfreich, eine so aktive Ansprechpartnerin in Prag zu haben. LH _ Sie war toll, ja, definitiv. Mit ihrer Empfehlung gingen wir nach Chile und Pakistan. Sie hat uns die Türen geöffnet. Auch für die Verbindung nach Kanada mit dem Leaky Heaven Circus
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war sie mitverantwortlich. Alles Mögliche passierte. 2003 bei der Quadriennale16, als ich mit Akhe (Performancegruppe aus Russland) arbeitete, war es auch Sodja, die die Gruppe dorthin gebracht hat. Sie war sehr wichtig. SSch _ Daher hast du die Verbindung zu Akhe.
LH _ Ja, ich machte mit ihnen Aufführungen, und auch jetzt gibt es einige Kooperationen. SSch _ Also war Prag für dich auch ein Ausgangspunkt, um von dort aus irgendwo anders hin in die Welt zu gehen?
LH _ Ja, sehr bald, nachdem wir Krepsko gegründet hatten, sind wir in 30 Ländern aufgetreten. Dabei haben wir unsere Stücke nie angeboten. Wir wurden eingeladen, zum Beispiel nach Israel, Island, nach ganz Europa, Chile, Weißrussland, Russland, nach Moskau. Wir sind vom Bolschoi eingeladen worden; dort sind wir aufgetreten. Ja, das war Prag. Von Finnland aus bewegt sich nichts, dort steckt man fest. Prag war ein Sprungbrett, wie ein Trampolin. Es war die Zeit, bevor es DVDs gab. Ich glaube auch, unsere Shows hätten sich über Aufnahmen nicht gut verkauft. Man musste sie sehen, die Atmosphäre mögen und es jemandem weitererzählen. Ich glaube nicht, dass wir jemals etwas erreicht hätten, wenn man uns nicht gesehen hätte. Oft wurden wir durch die Buschtrommeln, durch Mundpropaganda eingeladen. Wenn man einen Trailer verschickt, sollte der die besten Teile zeigen. Aber die besten Teile sollen doch die Überraschung in der Aufführung sein, die darf man nicht spoilern, das ist unmöglich. Und es geht um die Atmosphäre, darum, einen Raum zu betreten – wie kann man das mit einem Video transportieren? Ich liebe Filme, sie sind etwas Tolles. Aber das hier ist eine ganz andere Sache.
SSch _ Hat sich Prag heute verändert?
LH _ Ich kenne mich da nicht mehr so aus und traue mich nicht, das zu sagen. Ich war im Sommer dort und habe einer
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anderen Gruppe geholfen. Wir sind schon eine Weile nicht mehr in Prag aufgetreten – das letzte Mal war noch vor COVID. SSch _ Hat COVID viel für euch verändert?
LH _ Sicherlich. Es machte alles sehr kompliziert, denn wenn etwas in einem Land okay war, war es in einem anderen Land nicht okay. Und wir waren schon immer sehr international. Es blieb uns also nichts weiter übrig, als das durchzustehen. Wir taten in der ganzen COVID-Zeit nichts. Vielleicht war es auch die richtige Zeit, um nichts zu tun. 2019 hatten wir gerade eine Premiere gehabt, dann kam COVID und wir fragten uns: „Und jetzt?“ Wir hatten keine Probleme wegen Absagen. Es gab nur immer wieder Verschiebungen: „Jetzt?“ – „Noch nicht.“ – „Jetzt?“ – „Noch nicht.“ SSch _ Ich erinnere mich: Wir waren zusammen in Warschau auf einem Festival: das Theaterlabor und Krepsko. Dann machtet ihr euch auf den Weg zurück nach Hause. Und es passierte eine große Katastrophe.
LH _ Lublin, es war Lublin. Wir waren auch in Warschau, aber wir kamen aus Lublin an dem Tag, als der Autounfall passierte, bei dem Petr Lorenc ums Leben kam.
SSch _ Das brachte eine große Veränderung.
LH _ Ja, aber nicht das Ende der Gruppe. Inzwischen ist es leicht zurückzuschauen, doch es war natürlich eine ganz schreckliche Zeit. Vor dem Unfall hatte ich Probleme mit der Arbeitsmoral anderer Gruppenmitglieder gehabt und zu Petr gesagt: „Das brauche ich nicht, ich will das nicht. Vielleicht gehe ich zurück nach Finnland.“ Und Petr meinte dann: „Nein, nein, du kannst nicht weggehen. Diese Produktionen sind unsere Kinder. Du weißt ganz genau, dass sie ohne mich existieren können, aber nicht ohne dich.“ Das sagte Petr zu mir, einen Monat vor dem Unfall. Das war wirklich seltsam. SSch _ Ich erinnere mich, als ihr zum ersten Mal in Bielefeld wart, um bei uns aufzutreten, dass ihr, Petr und du, sehr übel
Prag Quadriennale ist ein Festival für Bühnenbildner*innen und Szenograf*innen, das alle vier Jahre in Prag stattfindet. Sodja Lodker war über viele Jahre künstlerische Leiterin.
gestritten habt. Ich kann kein Tschechisch und wusste also nicht, um was es ging. Aber es schien wahnsinnig schwierig. Weißt du noch, worum es ging? LH _ Nein, das passierte die ganze Zeit und immer wegen Nichtigkeiten.
SSch _ In der Art: Der Vorhang muss zehn Zentimeter mehr nach links oder so?
LH _ Genau. Ich glaube, das hat etwas mit den Sternen zu tun. Wir wurden im Abstand von 24 Stunden geboren; sein Geburtstag war einen Tag nach meinem. SSch _ Wie Zwillinge.
LH _ Ich weiß, dass es Leute gibt, die an einem Tag gegen etwas kämpfen, aber am nächsten Tag sagen: „Das ist eigentlich eine gute Idee.“ Dass sie an diesem Tag nicht damit umgehen können, aber es am nächsten Tag mögen. Es war also nie so, dass er sagte: „Ich will es nicht machen.“ Sondern er meinte: „Okay, gestern haben wir darüber gestritten, aber heute – lass es uns tun.“ So war es oft mit Petr. Manchmal mag ich diesen kreativen Kampf, er ist gut, weil dann eine dritte Sache dabei herauskommt.
Ich war ganz schockiert, dass wir uns bei Krepsko nach Petrs Tod nicht mehr streiten mussten. Wir haben einfach etwas gemacht und wenn es nicht geklappt hat, haben wir es anders gemacht, aber wir mussten nicht darüber reden. Das war für mich sehr befreiend. Ich glaube, Petr und ich hatten eine ganz besondere Beziehung. Auf jeden Fall hat er mir recht kurz vor dem Unfall gesagt, dass es mehr Theater geben müsste wie Krepsko.
Dann war ich im Krankenhaus in Polen und in Finnland, und ich wusste nicht, was ich wollte. Ich wollte nicht weiterleben. Ich war sehr wütend, dass es so gelaufen war. Aber ich wusste auch: Peter wollte, dass Krepsko besteht, also machte ich weiter mit dem Projekt. Das war mein einziges Leuchtfeuer, das ich ansteuerte: die Vorstellungen weiterzuspielen, wie zum Beispiel Fragile. Wir haben nie daran etwas verändert, seit Petr …
SSch _ Und ihr führt es auch jetzt noch auf?
LH _ Wir führen es immer noch auf, ja, und es hat immer noch exakt die Petr-Form. Einige Dinge verändern sich natürlich. Wenn ein neuer Schauspieler dazustößt, wird etwas neu erfunden und ist dann eine neue Kreation. Es ist das gleiche und es ist anders. Ich denke, eine Produktion muss in Bewegung sein. Mit Fragile war es einfach weiterzuspielen.
Nach dem Unfall war es wichtig, sehr schnell weiterzumachen, auch wenn ich eigentlich noch nicht wieder gesund war. Wir überarbeiteten einige Produktionen, so dass sie besser wurden als vorher. Es gab also Veränderungen, doch andererseits haben wir die gleichen Produktionen gespielt, es gab keinen großen Bruch. Ich wollte Petrs Produktionen und Ideen weiter auf der Bühne haben. Es war also ein schnelles Umbesetzen nötig, um das Material nicht zu verlieren.
SSch _ Und dann hast du mit dem Theaterlabor ein paar Kooperationen gemacht. Hast du auch mit anderen Gruppen kooperiert? LH _ Ja, sehr oft.
SSch _ Das ist also etwas, das für dich bei der Entwicklung deines Theaters wichtig ist?
LH _ Ja, auf jeden Fall. Aber wir haben nie danach gesucht, es ist immer passiert, und wir haben zugesagt: „Ja, das ist toll, lasst uns das machen, let’s do it.“ So war es auch mit Leaky Heaven Circus (Kanada), mit dem wir einmal etwas gemacht haben, als Petr noch lebte. Sie kamen nach Prag, und wir wollten etwas in Kooperation mit ihnen machen, aber ich habe das Gefühl, dass sie eher wie eine Touristengruppe waren. Wir hatten nicht so viel Probezeit. Wichtig war zum Beispiel die Zusammenarbeit mit der Akademie der darstellenden Künste (Damu). Ein Bühnenbildner, der uns kannte, hat immer irgendwelche Menschen geschickt, die verrückte Ideen hatten. Er sagte zu ihnen: „Geht zu Krepsko.“ So etwas hat uns große Energie gegeben, etwas ganz anders zu machen. Und es war natürlich wunderbar, dass wir mit euch
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gearbeitet haben. Oft haben Leute gefragt, ob wir etwas machen können, ob wir kommen können – oft ist es ein Workshop gewesen – „Können wir zu eurem Krepsko-Workshop kommen?“ Und bald darauf meinten sie: „Könnten wir das fortsetzen, könnten wir eine Aufführung daraus machen? Wollt ihr im nächsten Jahr wiederkommen und vielleicht etwas weiterentwickeln?“ Das war wunderbar. SSch _ Es war auch bei uns so, dass wir uns mit diesen Gruppen getroffen haben, die so aufgeschlossen waren und etwas Überraschendes, Unbekanntes auszuprobieren wollten.
LH _ Für mich ist das wichtig beim Theatermachen. Das war wirklich eine verrückte Kombination mit dir und dem Theaterlabor. Ich denke oft, was wäre passiert, wenn es zwischen uns nicht funktioniert hätte. Aber ich folge immer dem Instinkt, meine Antennen führen in irgendeine Richtung, und die Dinge beginnen zu laufen. Es ist schwer zu analysieren, was da vor sich geht. Ich erinnere mich, dass Rottenhammer17 sehr stark war. SSch _ Ja, das war eine sehr spezielle Kooperation.
LH _ Die Frau von Michael (Grunert) hat etwas erzählt, ihre Worte über die Aufführung haben mich zum Weinen gebracht: dass sie ihn noch nie so auf der Bühne gesehen hatte, dass irgendetwas sie berührt habe, dass da etwas ganz Neues passiert wäre. Ja, das ist es, was ich oft denke: Jemand lebt jahrzehntelang mit jemandem, und dann passiert etwas Besonderes. Das hat mich berührt.
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Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 6. Juni 2023 in Paris. Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Zimmermann
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Inszenierung von Krepsko und Theaterlabor im Weserrenaissance-Museum Schloss Brake zu einer Ausstellung von Werken Hans Rottenhammers.
Krepsko, 360°-Festival, 2005
Siegmar Schröder: The Last Hours Ein besonders gelungenes Beispiel einer internationalen Koproduktion haben wir im März 2006 in der Fabrika in Prag umgesetzt. Wir hatten europäische Gelder organisiert und konnten für das Theaterprojekt Farma v Jeskyni aus Prag und das Zar Teatr aus Wrocław (Polen) gewinnen.
Die Idee war, mit schon vorhandenem künstlerischen Material gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. Als gemeinsame Probenzeit hatten wir nur eine Woche, also musste das Ganze vorher bereits gut überlegt sein. Wir wählten als Thema die Geschichte der mutigen tschechischen Widerstandskämpfer*innen, die den Anschlag auf den deutschen „Reichsprotektor“ Reinhard Heydrich verübten.
Wenn man die Schauspieler*innen des Theaterlabors fragen würde, dann würden sie sicher The Last Hours als eine ihrer schlimmsten Erfahrungen bezeichnen. Wir probten und spielten im Frühling in der leer stehenden unbeheizten Fabrikhalle. Es gab nur eine Zeltheizung, die aber gleichzeitig mit der warmen Luft auch die Verbrennungsgase mit in den Raum leitete. Die Halle gehörte zu einer ehemaligen Aluminiumfabrik, und es lag überall feiner Metallstaub gemischt mit Ölrückständen und anderem Schmutz. In diesen Räumlichkeiten künstlerisch zu arbeiten, war eigentlich unmöglich. Der Raum bot allerdings auch einige Überraschungen, zum Beispiel einen großen Sandhaufen, und wir hatten die Idee, Michael Grunert als Heydrich darin zu vergraben. Unsere Schauspieler*innen hatten gerade zuvor mit Robert Jakobsson und dem Teater Albatross gearbeitet, bei dem die Technik des Verschwindens im Sand eine zentrale Rolle gespielt hatte. Heydrich lag also im Sandhaufen, so dass nur die Nasenöffnung herausschaute. Die Zuschauer*innen gingen auf dem Weg zu ihren Plätzen direkt an ihm vorbei. Allein die erste Szene, in der Heydrich sich langsam aus diesem Sandhaufen schälte und der Sand langsam von seinen Gliedmaßen und vom Gesicht rieselte, war schon eine künstlerische Offenbarung. Begleitet von einer live gespielten, eigens dafür entwickelten Theatermusik von Karl Godejohann setzte
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sich die Zeitreise fort. Das zweite tolle, in der Fabrika vorgefundene Objekt war eine funktionierende Laufkatze; sie wurde Ausgangspunkt für eine weitere szenische Idee. Michael hatte in der Performance Body Fragments eine Szene an Bungie-Gummibändern von der Decke hängend, auf- und abspringend mit wilden Bewegungen in der Luft. Wir hängten ihn als Heydrich mit seinem langen Ledermantel an die Laufkatze, die sich zunächst im hinteren Teil des (Bühnen-)Raumes befand. Zunächst wippte er nur ein wenig auf der Stelle und wurde dann in Richtung der Zuschauer*innen bewegt, während seine Bewegungen immer größer und bizarrer wurden. Schließlich hing er dicht vor dem Publikum und sprang bis zu zwei Meter hoch, um dann über die erste Reihe des Publikums hinweg zu springen und mittendrin zu landen. Damit hatten wir ein Bild für die Vorgeschichte des Münchner Abkommens, mit dem Hitler 1938 den Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich erzwang. Wir fanden auch ein schönes Bild für die Gewohnheit Heydrichs, mit seinem offenen Cabrio zu fahren. Auf einem Rollbrett, das von Indira Heidemann als Chauffeur Heydrichs an einer Leine gezogen wurde, musste Michael sehr vorsichtig balancieren, nicht zuletzt, weil der Untergrund der Fabrikhalle sehr uneben war; damit stellten wir die Gefährlichkeit dar, ohne Begleitschutz mit einem offenen Wagen durch ein besetztes Land zu fahren.
Im Hintergrund der Spielfläche schwebten zwei Spielzeugfallschirme von der Decke, die die beiden Widerstandskämpfer symbolisierten, die im Auftrag der tschechischen Exilregierung in London und von britischen Soldaten ausgebildet von einem Bomber in der Nähe von Pilsen abgesetzt wurden und die das Attentat auf Heydrich koordinieren sollten.
Die sehr spezielle Bewegungsdynamik der Gruppe Farma v Jeskyni, die für ihre Arbeit später auch einen Preis in Edinburgh erhielt, eignete sich sehr gut zur Darstellung der Dramatik der Situation der Widerstandskämpfer*innen. Sie zeigten in den Szenen, die sie vorbereitet hatten, die Schwierigkeiten und
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menschlichen Konflikte, die die Vorbereitungen für ein solches Attentat mit sich brachten. Auch die Zustände nach dem Attentat, das trotz der Ladehemmung eines Gewehrs und einer nicht gut gezielten Handgranate gelang, wurden so eindrucksvoll gezeigt. Ich habe damals festgestellt, dass schauspielerisches Material, das über einen gewissen Grad an Abstraktion verfügt, auch einer anderen Geschichte zugeordnet werden kann. Deswegen war es eine gute Wahl, einen inhaltlichen Zusammenhang für diese Koproduktion zu nehmen, der allgemein bekannt war. Um diese Geschichte als Ausgangspunkt für die Zuschauer*innen zu nehmen, haben wir Programmzettel auf Tschechisch und Englisch gedruckt, auf denen die Vorbereitung und Durchführung des Attentats, die Racheakte der Nazis und schließlich der Selbstmord der vier in einer Krypta versteckten Widerstandskämpfer beschrieben wurden. Wir benutzten einen abgeschnittenen Kopf, der noch aus der Produktion MiM (inspiriert durch den Roman Der Meister und Margerita) aus dem Jahre 1986 stammte, und präsentierten ihn auf einer Sensenspitze. Wir erzählten damit die Geschichte des Partisanen, dem von der Gestapo der abgeschnittene Kopf seiner Mutter präsentiert wurde, mit der Drohung, dass sein Vater auch so enden würde, wenn er das Versteck der Attentäter nicht preisgäbe.
Wir stellten den letzten, mehrere Stunden dauernden Kampf der Attentäter dar, indem wir die Schlussszene aus Bodyfragments mit wilden Aktionen der Schauspieler*innen vom Farma v Jeskyni kombinierten. Die Nazis versuchten alles Mögliche, um die Partisanen in der Krypta zu bekämpfen. Sie versuchten, sie auszuräuchern, und die tschechische Feuerwehr musste Wasser einleiten. Wir hatten in einem Bodenloch Wasser eingelassen und Karin tauchte ihre langen Haare hinein, um sie dann einem anderen Schauspieler gegen den Oberkörper zu peitschen – eine Aktion aus Bodyfragments. Nach dem Suizid der Attentäter sangen die Schauspieler*innen vom Zar-Teatr ein vielstimmiges georgisches Lied, und ich bat sie, das unter den Totenmasken zu machen, die wir von unserer Produktion
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Tanz an der Mauer (inspiriert vom Leben und Werk des jüdischen Malers Felix Nussbaum) aus unserem Fundus mitgebracht hatten. Trotz einiger Widerstände der polnischen Schauspieler*innen und Bedenken, weil eine ‚Theaterregel‘ besagt, dass man unter einer Vollmaske stumm bleiben müsse, wurde diese Schlussszene zu einer der stärksten. Die Schauspieler*innen standen sehr ruhig vor dem Publikum und der Gesang schien irgendwo aus der Tiefe einer Krypta zu kommen. Man konnte innere Bilder über die vielen Menschen entwickeln, die bei Racheakten der Nazis nach dem Attentat ihr Leben verloren – zum Beispiel mit der Ermordung der Männer des Dorfes Lidice. Die Fabrika in dem Rohzustand mit ihrer sehr ungemütlichen Atmosphäre war der ideale Aufführungsort. Die eigentliche Probenarbeit bestand darin, die schon vorhandenen Fragmente in einer Collage zu einem Stück zusammenzufügen. Die beiden Theatergruppen arbeiteten gut mit uns zusammen und das Resultat war für mich überwältigend. Daher nimmt diese Koproduktion für mich in der Werkgeschichte des Theaterlabors einen besonderen Platz ein.
Einige Jahre später sah ich die Fabrika in einem renovierten Zustand. Sie war nun ein sehr schicker Veranstaltungsort geworden, hatte für mich aber ihre Ausstrahlungskraft verloren. Überhaupt war der Charme der Prager Theaterszene von ihren provisorischen Aufführungsorten geprägt. Bei einem Stück, das ich dort sah, tropfte die ganze Aufführung über Wasser durch das undichte Dach. Das schuf eine besondere Atmosphäre, die möglicherweise heute nicht mehr so zu finden ist. Für eine Wiederaufnahme der Produktion The Last Hours würde sich heutzutage keine leer stehende Fabrik mehr finden, Schauspieler*innen, die unter solchen extremen Bedingungen arbeiten würden, sind heute auch rar, finanzierbar wäre ein solches Projekt nur mit erheblichen Mitteln und einem großen organisatorischen Überbau. Solche Projekte können nur in der emotionalen Erinnerung existieren. Sie sind für unbeteiligte Dritte fast nicht zu beschreiben, da auch der jeweilige künstlerische Prozess oft intuitiv und mit viel Impro-
visationen gestaltet wurde. Diese Art, Theater zu produzieren, ist nur schwer für die Nachwelt verständlich zu machen, da es nur wenige schriftliche Unterlagen und Konzepte der Projekte gibt. Die gesamte Arbeitsdynamik ist heute schwer verständlich: Wir kamen zwei Tage vorher mit einem großen Lkw aus Bielefeld an und bauten erst einmal Zuschauertribünen, Traversen für die Lichtanlage und die Technik in die leere Fabrikhalle ein. Das wurde vom ganzen Team gemacht – für viele junge Darsteller*innen heute unvorstellbar. Die Wirkung des Ganzen hatte also mit all diesen speziellen Energien zu tun. Dass sich die Performer*innen nicht zu schade waren, sich an den staubigen Wänden zu reiben und auf dem dreckigen Boden zu wälzen, ihre weichen Körper mit dem harten Stein zu konfrontieren, machte die Atmosphäre aus, die es eben nur live während der Performance an dem speziellen Ort mit den besonderen Akteur*innen und in dem historischen Kontext geben konnte.
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Henning Fülle: Verdichtung von der Bewegung zur Institution In den 1970er Jahren, noch stark unter dem Einfluss der politischen Herkunft der Freien Gruppen in der Bundesrepublik, war das Seminar die zentrale Veranstaltungsform der selbstorganisierten Qualifizierung der Theaterleute: zur Kompensation der Mängel und Versäumnisse der herkömmlichen Institutionen der Bildung und Ausbildung (also Schule und Universität) und zur Fundierung der Aussagen und der organisatorischen und inhaltlichen Einbettung der Theaterarbeit in eine übergeordnete politische Strategie. Dabei war Theorie – das heißt Gesellschafts- und politische Analysen und Strategien der Überwindung der kapitalistischen, entfremdeten Gewaltund Ausbeutungsverhältnisse – und vorzugsweise marxistische, sozialistisch-kommunistische Lehre der Hauptinhalt. Wenn das Theater seine ‚Rolle im Klassenkampf‘ angemessen spielen sollte, musste es darum gehen, die „Verhältnisse auf ihren Begriff“ zu bringen. Das Marx’sche Diktum, man müsse den „versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen, um sie zum Tanzen zu zwingen“,18 war zumal unter Theaterleuten ein sehr beliebtes Bonmot zur Bestimmung der Bedeutung ihrer Bemühungen um korrekte Theorie.
Neben der theoretischen Fundierung waren hierarchiefreie Selbstorganisation (auch der Schulung) und der Streit um die ‚richtige‘ Lehre wesentliche Anforderungen an diese Prozesse der Selbstschulung. Das ging so weit, dass die Rote Rübe in München sich selbst auferlegte, nach dem nicht zuletzt durch einen Workshop bei La MaMa in München veranlassten Ausstieg aus der Schauspielausbildung der Falkenberg-Schule sich gründlich für ein Jahr dieser Arbeit zu widmen, bevor sie daran denken könnten, sich wieder dem Prozess der Gestaltung von Bühnenkunst zuzuwenden. Und in den Berichten in der Roten Kultur Korrespondenz, einem Zirkular, das Anfang der 1970er Jahre durch ein Büro der Freien Gruppen in Frankfurt herausgegeben wurde, wird öfters beklagt, dass man in den 18
Seminaren vor lauter Schulung und Streit gar nicht zur Erörterung und Weiterentwicklung der ästhetischen Fragen käme. Dass diese vortheatralen, vorkünstlerischen Bemühungen keineswegs für so absurd gehalten wurden, wie sie heute klingen mögen, wird dadurch bekräftigt, dass auch die Truppe um Peter Stein, Botho Strauß und Dieter Sturm, als sie in Westberlin die Kreuzberger Schaubühne am Halleschen Ufer übernahmen, ebenfalls die politische – vor allem Kapital – Schulung der gesamten Truppe für notwendig hielt. Von solchem politischen Selbstverständnis ist in den Berichten von Siegmar Schröder vom Ende der 1970er Jahre schon keine Rede mehr. Stattdessen ging es inzwischen vielmehr um die Verbindung von gemeinsamem Leben und Arbeiten als politisch-utopischem Lebensentwurf, wie Rolf Michenfelder vom Marburger TNT aus seiner Biografie berichtet. Er beschreibt den Übergang von der politische Berufspraxis als linker Drucker in das Feld der künstlerischen Theaterarbeit als Ausdruck eines emanzipativen, durchaus politisch gemeinten Hedonismus, wie er als eine zentrale Parole des „Tunix-Kongresses“ im Februar 1978 in Westberlin seinen Ausdruck fand: Mehrere Tausend Akteur*innen der Alternativbewegung waren dort zusammengekommen, um über den Stand und die Zukunft des Aufbaus einer anderen Gesellschaft hier und jetzt zu debattieren. Für diese zweite Generation der Freien Szene – nach der eher politischen Phase der Freien Gruppen bis Mitte der 1970er Jahre – trat damit der Workshop als zentrales Moment der aneignenden Qualifizierung für die Theaterarbeit an die Stelle des Seminars. Damit wird auch die Hypostase der Ansprüche auf das „Selbermachen“ relativiert und Meister, Lehrer, Vorbilder, die das realisieren, was man selbst gern werden würde, dienen der Orientierung: Grotowski, Brook, Kantor, Stanislawski (Strasberg), Barba sind solche Meister, die für originäre
Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx/Engels Werke, Bd. 1, S. 381.
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gesamt-künstlerische Arbeit – jenseits der Reproduktion, der Nachbildung, der Interpretation von Text und Gedanken – stehen. Und da die Meister selbst nur schwer zu gewinnen sind, und schon gar nicht zu den ökonomischen und infrastrukturellen Bedingungen, unter denen die Freie Szene in den 1980er Jahren arbeitete, nimmt man mit deren Epigonen, ehemaligen Mitwirkenden und Mitarbeiter*innen – wie zum Beispiel Teresa Nawrot, die noch in Grotowskis Teatr Laboratorium in Wrocław gearbeitet hatte – vorlieb, sofern man nicht, wie Schröder, über hartnäckige und ernsthafte Kommunikation tatsächlich Barba, Oida oder auch Ismael Ivo selbst zur Arbeit in Bielefeld bewegen konnte.
Diese selbstorganisierten Formen der Weitergabe von künstlerischem Wissen und Können schossen in den 1980er Jahren wie Pilze aus dem Boden. Die entsprechenden Informationen verbreiteten sich in Windeseile, per Mundpropaganda und vielleicht noch über das Telefon, und wurden für nicht wenige der Protagonist*innen sogar zum ‚Geschäftsmodell‘ einer alternativen Berufspraxis: Denn es gab schließlich für das Freie Theater noch so gut wie keine öffentliche Förderung und die parallele Verausgabung für die künstlerische Praxis und eine querfinanzierende entfremdete Lohnarbeit – als Taxifahrer*in, Postbot*in, Reinigungskraft oder Nachhilfelehrer*in – war auf die Dauer doch sehr anstrengend und überfordernd. Ansonsten mussten die Gruppen von ihren Einspielergebnissen leben, die in aller Regel nach dem Schlüssel 70:30 zwischen dem Veranstalter und den Gruppen aufgeteilt wurden. Und da es nur wenige Gruppen gab, die so viel spielen konnten, dass die eingenommenen Honorare nicht nur für die Finanzierung der Lebenshaltung ausreichten, sondern auch noch für Investitionen und für Proben- und Entwicklungszeiten, wurde die Veranstaltung von Workshops für interessierte Nacheiferer*innen zu einer Finanzierungsquelle. Beim Festival Theater der Nationen 1979 in Hamburg und auf dem Münchner Theaterfestival sowie auf dem Jugendhof Scheersberg, bei Flensburg in SchleswigHolstein fand diese Workshopkultur ihre zentralen Ereignisse, zu denen Akteur*innen des anderen Theaters als Referent*innen eingeladen waren und als Multiplikator*innen wirkten.
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So entstand in und mit der Freien Szene ein Feld für alternative Lebensentwürfe, jenseits der traditionellen Berufswege und auch jenseits der traditionellen Wege des Erlernens künstlerischer Theaterberufe, ein Netzwerk, in dem neben der künstlerischen Praxis selbst alle Funktionen von der Qualifizierung über das Management, das Marketing, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Tourneen selbst organisiert und auch finanziert wurden. Dieses Netzwerk umfasste Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik ungefähr 900 Gruppen – jedenfalls wird das von einer Kartei berichtet, die die damalige Dramaturgin Claudia Roth geführt haben soll. Diese Verschränkung von Selbstausbildung und künstlerischer Praxis, die Siegmar Schröder für das Theaterlabor beschreibt, war in der Freien Szene in den 1980er Jahren weitverbreitet. Dabei trieben die Motive der Exploration, der (Selbst-)Erforschung oftmals beide Dimensionen: die Ausbildung und die künstlerische Praxis, was ja auch in den Namen der Projekte zum Ausdruck kommt – Theaterlabor oder -werkstatt oder auch die Kultur-Fabrik Kampnagel in Hamburg, eines der frühen Projekte, das zur Entwicklung des Prinzips Produktionshaus beitragen wird.
Mit dem Beginn und der Verbreitung der Förderung dieser Freien Szene aus öffentlichen Mitteln – beginnend etwa 1979 in Westberlin – nahm der Prozess ihrer arbeitsteiligen Professionalisierung seinen Lauf, der in den 1990er Jahren die Verschränkung von künstlerischer Praxis und (Selbst-)Qualifizierung und auch das republikweite Netzwerk autonomer Selbstorganisation der Freien Szene aufzulösen beginnt. Mit der öffentlichen Förderung, der professionell-akademischen künstlerischen Ausbildung in Gießen, Hildesheim und Hamburg, der Entstehung von Produktionshäusern und deren Netzwerken differenzierte sich die Freie Szene in Gruppen und Einzelkünstler*innen, denen es gelang, Fördersysteme anzuzapfen und auf Gastspiele und Festivals eingeladen zu werden, und solche, denen es gelang, sich regional und/oder lokal zu etablieren, indem sie die Unterstützung lokaler und regionaler Kulturpolitik gewonnen haben. Diesen Weg geht das Theaterlabor, wie der Beitrag von Hans-Joachim Wagner zeigt, ebenso wie
dessen „Weggefährt*innen“, die damit vor allem zu Produktionsagenturen oder -häusern werden. Das Beispiel Theater am Pumpenhaus in Münster, das Ende der 1990er Jahre von einem Verein in eine GmbH mit der Stadt als Gesellschafterin umgewandelt und nicht länger vom Verein der dort arbeitenden Künstler*innen betrieben wurde, ist dafür ein besonders einschlägiges Beispiel. Die Ausbildung des künstlerischen Nachwuchses wie auch die Weiterbildung der Protagonist*innen geht mit dieser Entwicklung in professionalisierte Spezialagenturen über, herausragend das Institut für angewandte Theaterwissenschaften an der Gießener und der Fachbereich für Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation der Hildesheimer Universität; sowie die Theater-Akademien, die in den 1990er und 2000er Jahren nach dem Vorbild des Regie-Studiengangs an der Hamburger Universität gegründet wurden.
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Weiterbildung und Pädagogik Gespräch mit Teresa Nawrot, Reduta Berlin Siegmar Schröder _ Du warst 1983 erst kurz in Berlin und bist dann zu uns nach Bielefeld gekommen, um ein paar Wochen mit uns zu arbeiten.
Teresa Nawrot _ Ja, ich war zu der Zeit noch nicht entschieden, wo ich hingehen sollte. Ich hatte Einladungen nach Westdeutschland, Tübingen, Köln und Bielefeld und ich hatte mein Zuhause zu der Zeit eigentlich in Frankreich. Ich hatte dort bereits eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, weil ich mit Romy Schneider befreundet war und sie mir geholfen hat. Aber sie ist 1982 gestorben und ich bin allein dort geblieben und habe mich nicht so wohlgefühlt. Die Franzosen sind viel nationalistischer als die Deutschen. Solange ich die Freundin von Romy war, war alles ausgezeichnet. Aber als ich dann nur noch Ausländerin war, waren sie nicht mehr so nett zu mir. In Berlin hatten Leute zu mir gesagt, dass sie eine Theatergruppe aufbauen möchten, und ich habe meine Koffer gepackt und bin von Paris nach Berlin gegangen. Niemand hat mir geglaubt, dass ich Paris für Berlin verlassen würde, denn das war noch das Berlin mit Mauer, also etwas ganz anderes als Paris.
Ich habe dann hier erst mal ein Off-Theater gegründet mit einem angeschlossenen Studio (Studio Nawrot). Ich habe Leute unterrichtet und nach einem Jahr machten sie eine Aufführung. Die erste Vorstellung war über Dostojewski und ich bekam vom Kultursenat, ohne dass ich einen Antrag gestellt hätte, eine Summe von 40.000 DM und habe damit dann das Theater am Ufer gegründet. Ich habe es ein Jahr betrieben und Missing People – Die Macht der Erinnerung, 2014
festgestellt, dass ich es ohne regelmäßige Zuschüsse nicht halten konnte. SSch _ Du hast das gegründet?
TN _ Einer aus unserer Gruppe hatte sehr viel Geld und konnte das Theater noch einige Zeit weiter betreiben. Nun ist es das HAU3. Ich frage mich, wie ich es anstellen kann, dass dort irgendwann einmal ein kleines Schild darauf hinweist, dass ich diese Spielstätte geschaffen habe. SSch _ Manchmal wäre eine kleine Geste ausreichend …
TN _ Anfangs waren die Räumlichkeiten sehr dreckig. Dort war vorher eine Fabrik für Berufsbekleidung. Alles war sehr schmutzig und wir haben eine Mauer und ein Foyer gebaut, neuen Fußboden gelegt und mussten den Kitt aus den alten Fenstern entfernen. Dabei sind mir meine Fingernägel eingerissen. Es war eine ‚tierische‘ Arbeit. Und jetzt gehört es der Stadt und ich habe nichts davon, das geht nicht. SSch _ Ich will noch mal zurückgehen. Nach dieser Zeit mit dem Theater am Ufer hast du dich nur noch auf die Schule konzentriert?
TN _ Ja. Ich habe den Namen geändert und in der Obentrautstraße hieß sie dann Reduta Berlin Schauspielschule für Theater und Film. Henning Fülle _ Vielleicht fangen wir mal ganz vorne an. Wie sind Sie in Polen zum Theater gekommen?
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TN _ Ich habe ganz früh angefangen, schon im Kindergarten. HF _ Kam das von der Familie?
TN _ Nein, meine Mutter war Ärztin, mein Vater Bankangestellter, niemand hatte einen Bezug zum Theater. Aber ich habe es schon als Kind gespürt, dass ich Schauspielerin werden wollte. Ich habe im Kindergarten, in der Grundschule und auf dem Gymnasium gespielt. Ganz klar war es kurz vor dem Abitur, da machte ich eine Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule in Warschau und war danach mein ganzes Leben Schauspielerin. Ich war praktisch seit 1973 nicht mehr in Polen. Wir waren ständig auf großen Tourneen im Ausland und kamen nur in den Pausen nach Breslau. Oder wir haben dort gearbeitet. Ich habe die Stadt gar nicht kennengelernt. Ich fühlte mich immer als Warschauerin oder nun als Berlinerin. Ich war eigentlich nur bis zum Studium in Polen beheimatet. SSch _ Bist du nach dem Studium sofort zu Grotowski gegangen?
TN _ Ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, zu ihm zu gehen, weil er in Polen gar nicht berühmt war. Ich glaube, er hatte 1969 in Amerika großen Erfolg mit dem Standhaften Prinzen, aber in Polen war er unbekannt.
Ich war im dritten Studienjahr und unser Rektor hatte Grotowski eingeladen, einen Workshop zu geben. Czíeslak hat ihn geleitet und Grotowski hat wie immer nur dagesessen und zugesehen. Grotowski hat selber nie Bewegungen gemacht. Grotowski hat nur gedacht, gesessen, geguckt, eine Zigarette nach der anderen geraucht. Ich weiß nicht, wie er die Schauspielschule in Krakau bestehen konnte. Er hat falsch gesprochen, mit einer zu hohen Stimme, er hatte keine Körperkoordination, er konnte nicht tanzen, er hatte kein musikalisches Gehör. Es war ein Phänomen, weil er alles, was er in seinem Kopf hatte, mit uns ausprobieren konnte. Wir waren die Versuchskaninchen. Damals war er noch dick, trug kurze Haare, weißes Hemd, Krawatte, Anzug und sein treues Täschchen. Er wirkte so unsympathisch und hat mir überhaupt nicht gefallen. Ich hatte bis dahin nichts von ihm gehört. Unser Rektor, Jan Kreszmar,
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hatte eine Aufführung von Apocalypsis cum Figuris gesehen und ihn dann eingeladen, drei Wochen mit uns Studierenden zu arbeiten. Ich habe es gemacht, weil ich neugierig war und ich alles mitnehmen wollte, was es im Theater zu lernen gab. Grotowski sagte, dass die Arbeit im Workshop jeder machen könne. Es könnten die Putzfrauen mitmachen, die Lehrenden und natürlich die Schauspielschüler. Es ist dann keine Putzfrau gekommen, doch die Regeln waren sehr streng. Grotowski sagte, wenn jemand zu einer Arbeitseinheit nicht erscheinen würde, dann wäre er nicht mehr dabei. Ich mache das in der Schule bis heute genauso, weil es so wichtig ist, den gesamten innerlichen Prozess zu durchlaufen. Jetzt mache ich über drei Monate Grotowski-Technik und dann gilt die Regel: Einmal nicht kommen, und du bist raus. Dann kann man es im nächsten Semester wieder versuchen, aber man muss es schaffen, um einen Reduta-Abschluss zu bekommen. Es kann schließlich nicht sein, dass jemand die einzige Schauspielschule, die Grotowski-Technik aus erster Hand anbietet, abschließt, ohne diese Einheit bestanden zu haben. HF _ Haben Sie an der Schauspielschule nach Stanislawski gearbeitet?
TN _ Ja, das war ganz traditionell so. Damals haben wir nur neben einem Klavier gestanden und ein wenig la la la gesungen. Wir machten Ballett, Gesellschaftstanz, Fechten, Akrobatik und Judo. Und das, was Grotowski herausgefunden hatte, war eine Revolution in der ganzen Theaterwelt. Die Leute hatten bis dahin nur nach Stanislawski gearbeitet und ich kann euch sagen, dass die unterschiedlichen Schauspielschulen in der gesamten westlichen Welt, die ich besucht habe, der Stanislawski-Technik treu geblieben sind. Auch die GrotowskiTechnik geht nicht ohne diese Grundlage. Alle Schauspieler bei Grotowski waren vorher auf Schauspielschulen und wurden nach Stanislawski ausgebildet. Dieses Prinzip befolge ich auch an unserer Schule. Die Stimmausbildung nach Grotowski beginnt bereits früher, aber eine Rolle entwickeln nach Grotowski geht erst ab dem fünften Semester, nachdem sie bereits Rollen nach der Stanislawski-Technik gespielt haben. Grotowski sagte oft zu uns, dass Stanislawski immer auf der
Suche nach einer „schöpferischen Bewegungsform“ nur für Schauspieler war. Und er sagte: „Schade, dass wir uns nicht treffen konnten, denn ich habe das gefunden, was er gesucht hat.“ Später ist Grotowski weitergegangen und hat kein Interesse mehr am Theater gehabt, aber ich bin wieder zurückgegangen und habe mich weiter mit seiner Schauspieltechnik beschäftigt. Die anderen Sachen haben mich nicht so interessiert. Die Technik habe ich beibehalten und unterrichte sie bis heute. Der Prozess läuft so: Ein Gedanke provoziert Gefühle, die Gefühle provozieren die Körpersprache und Mimik, und wenn man eine Rolle spielt, dann kann man keine Sekunde als Privatperson denken, sondern nur so, wie die Figur denkt. Man muss die ganze Umgebung der Person begreifen, den geschichtlichen Kontext usw., um dann die Gedanken der Figur zu denken, die als Subtext sichtbar werden. Das ging so weit, dass die Schauspieler nur auf einem Stuhl sitzen durften, um sich nicht von den inneren Gedanken abzulenken. Damals war das Kino noch mehr von psychologischen Handlungen bestimmt und es gab viele Nahaufnahmen, bei denen die innere Arbeit sehr wichtig war. Grotowski hat erwartet, dass die Schauspieler das konnten, doch er hat uns dann alles weggenommen, was im klassischen Theater wichtig war, er nannte es eine Prothese und meinte damit: Musik, Kostüme, Licht und Bühnenbild und wir haben zwischen den Zuschauern gespielt. Er hat uns gesagt, dass wir eine andere Technik finden müssen, dass unsere Körper und unser Inneres noch reicher sein müssen als im traditionellen Theater, weil wir nichts als uns selbst haben. Nur den „leeren Raum“, wie Peter Brook so schön geschrieben hat. Der war übrigens ebenfalls in Breslau und hat Workshops gegeben. Ich habe auch mit ihm gearbeitet. Ich habe überhaupt viele berühmte Leute kennengelernt während dieser Zeit.
Grotowski hatte ein Körperalphabet entdeckt, Bewegungen, die die Schauspieler gelernt haben, die aber in der Aufführung nicht gezeigt wurden. Wir benutzten diese Bewegungen in den Proben und wenn sie nach bestimmten Regeln praktiziert wurden, provozierten sie psychische Zustände und psychisch motivierte Handlungen. Und wenn wir dann in der Gruppe damit
improvisiert haben, wurden diese Emotionen mit einem Partner ausgetauscht, was dann wieder neue Emotionen hervorrief. Das benutzten wir in der Vorbereitung auf die Rolle, genauso wie bestimmte Atemtechniken und Stimmarbeit, die auch mit Bewegungen und Assoziationen verbunden wurden, so dass die Stimme von der Decke hängend oder in irgendwelchen akrobatischen Positionen auch ganz klar war – von ganz hoch bis ganz tief, die ganze Skala.
SSch _ Du machst Werbung damit, dass du nach Grotowski arbeitest. Kommen deshalb heutzutage noch junge Leute zu dir?
TN _ Ich glaube, die Leute kommen, weil die Schule einen guten Ruf hat. Ich beziehe mich mit dem Namen Reduta auf das erste polnische Theaterlaboratorium Reduta von Juliusz Osterwa, der parallel zu Stanislawski in Polen eine wichtige Rolle gespielt hat und auch genauso wie Stanislawski und Grotowski die Gemeinschaft im Ensemble sehr wichtig genommen hat. So ist es auch bei uns im Theater: Wir fahren zusammen in andere Länder, sehen uns Kinofilme gemeinsam an, fahren auf Theaterfestivals. Wir machen eine Woche lang „Open Stage“, in der das ganze Theater nur den Schülern gehört, die dann etwas zusammen machen. Sie lernen auf diese Weise Ensemblearbeit. Das ist eine Tradition von Grotowski, die ich übernommen habe. Wir haben unsere Räume über drei Etagen und alle Schüler haben Schlüssel für alle Räumlichkeiten. Sie fühlen sich wie Mitglieder der Reduta-Familie. Das zieht die Leute an, aber sie lieben auch die Grotowski-Technik. Doch bei Aufnahmeprüfungen wird deutlich, dass die jungen Menschen die Namen Grotowski, Stanislawski, Strasberg, Batson usw. nicht kennen. Sie kommen also nicht wegen der Namen, sondern wegen unserer Inhalte. HF _ Ich würde gerne noch mal einen Schritt zurück in die Geschichte gehen. Da ist eine junge Frau in einer Schauspielschule und die möchte gerne große Rollen wie Lady Macbeth oder Gretchen spielen – die großen Rollen auf einer großen Bühne – und die kommt dann in ein Theater, das so gar nicht dazu passt?
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TN _ Ja, ich habe die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt, weil ich mich natürlich aktuell für meine Schule mehr interessiere als für die alten Geschichten, die ich schon so oft erzählt habe. Am Ende dieses Workshops waren noch sechs Leute von 36 übrig geblieben. Es war eine so schwierige Arbeit, so schwierige Übungen, dass nur wenige durchgehalten hatten. HF _ Hat er selber die Übungen gemacht?
TN _ Nein, nie hat er sich von seinem Stuhl wegbewegt, nur einmal, während einer Probe, als meine langen offenen Haare in einer Kerze Feuer gefangen hatten, kam er von hinten und warf eine Decke über mich. Eine von den sechs Leuten war ich. Ich war aber nicht geblieben, weil ich es gut fand, sondern eher, weil ich von ihm genervt war. Dieser dicke Typ sitzt da nur herum und lässt Richard Czieslak und einen Assistenten aus Dänemark für sich arbeiten, die uns die ganze Zeit „gefoltert“ haben. Das hatte ja nichts mit der Arbeit zu tun, die normalerweise an einer Schauspielschule gemacht wurde. Das hat mich so genervt, dass ich es aus Trotz weitergemacht habe. Ich habe ihm beweisen wollen, dass ich das schaffe und nicht aufgebe.
Ich war im dritten Jahrgang und wir machten die theoretischen Prüfungen in Theatertheorie, Film- und Kunsttheorie, sozialistischer Geschichte (sagt sie mit gedämpfter Stimme). Und wir mussten auch noch eine Magisterarbeit abgeben. Das war später lustig mit meinem Magistertitel, als ich zum ersten Mal von der Universität von North Carolina eingeladen wurde, an der ich auch später meine Professur bekam. Die Sekretärin füllte einen Fragebogen aus und fragte mich, was ich denn von Beruf sei. Ich antwortete: „Schauspielerin.“ Da sagte sie: „Ja, ja, das wissen wir, dass Sie Schauspielerin sind, aber welchen Beruf haben Sie?“ Sie dachte, dass ich als Magister einen anderen Beruf haben müsse, da es im Westen, im Kapitalismus keine Schauspieler mit akademischem Grad gab. In der Zwischenzeit hatte ich Grotowski fast vergessen.
Bei meinem Diplom im vierten Jahr spielte ich gleich zwei Hauptrollen und das wollte ich eigentlich auch weiterhin machen – die großen Rollen spielen. Ich bekam auch Angebote,
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zum Beispiel einen Film über Lenin mit der Rolle seiner Frau, Nadezda Krupskaja. Ein Mitschüler hatte aber Kontakt zu Grotowski gehalten und sich seine Stücke angesehen und lud ihn ein, die Diplomvorstellungen zu besuchen. Ich war nach der Aufführung gerade auf dem Weg zu der Filmregisseurin, die mich verpflichten wollte, da stand so ein komischer Typ mit einer kleinen Nickelbrille, langen Haaren, Bart, Jeansjacke und kam zu mir, gratulierte mir und sagte, dass er gerne mit mir sprechen möchte. Ich fragte mich, wer das sei. Damals war das so, dass die unbedeutenden Assistenten von Kameraleuten in die Schauspielschulen gingen, um die Mädchen anzusprechen: „Ich arbeite beim Film. Ich kann dir helfen.“ Ich dachte, das müsste ein solcher Typ sein. Und ich sagte zu ihm, dass ich noch beschäftigt sei und er auf mich warten müsse. Mein Mitschüler kam kurze Zeit später aufgeregt zu mir und fragte mich: „Was hat er gesagt?“ Ich wusste gar nicht, wen er meinte, und er sagte: „Grotowski!“ Ich hatte ihn nicht erkannt, weil er zwischenzeitlich in Indien gewesen war und 40 Kilo abgenommen und sein Äußeres total verändert hatte. Er wusste natürlich, dass ich ihn nicht erkannte, das passierte ihm bei vielen und er hatte eine große Freude daran. Er war überhaupt nicht beleidigt, hat sich hingesetzt, auf mich gewartet und dann haben wir über meine Pläne gesprochen und er ist wieder gegangen.
Ich wollte damals eigentlich in Warschau bleiben, da zu der Zeit gutes Theater nur in Warschau gemacht wurde, und nicht in die Provinz gehen. Doch es stellte sich heraus, dass ich in der sozialistischen Zeit nur geringe Chancen hatte, dort zu arbeiten. Schon in der Schauspielschule gab es eigentlich nur zwei Gruppen, die eine Chance hatten: die Kinder aus Schauspielerfamilien und die Kinder von Eltern, die in der Partei waren. Meine Eltern waren es nicht und ich auch nicht. Sie waren gegen den Sozialismus. Aber jeder Rektor hatte drei Plätze, die er selber vergeben konnte, und so konnte ich überhaupt mein Diplom machen, da ich einen dieser Plätze bekommen hatte. Und eine Anstellung im Theater zu bekommen war genauso schwierig. Meine Mutter arbeitete als Ärztin beim Fernsehen und versuchte, über Beziehungen etwas für mich zu
tun, aber sie hätte sehr viel Geld zahlen müssen, um mich dort unterzubringen, und das war für uns nicht akzeptabel.
Ich hatte dann ein Angebot aus Lublin bei einem guten Theater bekommen, das war auch nicht zu weit weg von Warschau und ich habe dort einen Vertrag unterschrieben. Dann erfuhr ich, dass Grotowski angerufen hatte und ich noch mal mit ihm sprechen sollte. Ich bin nach Breslau gefahren und habe mit ihm gesprochen und er fragte mich, ob ich in seinem Teatr Laboratorium mitarbeiten möchte. Ich sagte, dass das nicht möglich sei, da ich schon einen anderen Vertrag unterschrieben hätte. Und er sagte: „Sehen Sie sich doch erst mal eine Vorstellung an. Kommen Sie heute Abend ins Theater.“ Ich sah dann Apokalypsis cum Figuris und war total begeistert. Nur ein leerer Raum und der totale Akt. Hier wollte ich bleiben. Ich sprach dann nach der Aufführung noch mal mit ihm und wies noch mal auf das Problem mit dem unterschriebenen Vertrag hin und er sagte, er würde mit dem Direktor sprechen, er würde ihn kennen. Und so kam es, dass der Direktor in Lublin tatsächlich meinen Vertrag zerriss mit den Worten: „Egal, zu welchem Theater Sie hätten gehen wollen, ich hätte Sie nicht gehen lassen, aber zu Grotowski ...“
Also habe ich einen Vertrag mit Grotowski gemacht, der mir dabei schon eröffnete, dass er diese Art von Theater nicht weiterbetreiben würde. Ich habe das damals nicht geglaubt, dass jemand, der etwas so erfolgreich macht, das aufgeben könnte. Außerdem wollte ich genau so eine Art von Theater machen und solche Rollen spielen. Doch leider war er tatsächlich konsequent und hat nur noch einmal gegen Ende 1981 ein Stück gemacht: Tanatos Polski. Da habe ich zum ersten Mal nach Grotowski-Technik gespielt, kein Paratheater, sondern eine richtige Theatervorstellung. Ansonsten habe ich in der ganzen Zeit an vielen Paratheateraktionen teilgenommen.
SSch _ Gibt es von Tanatos Polski noch Videoaufnahmen?
TN _ Nein, das war mein großes Unglück. Grotowski ließ nur unter höchsten Ansprüchen Filmaufnahmen von Aufführungen zu, niemals bei Proben. Er wollte sowieso nicht, dass jemand etwas über die Probenarbeit erfuhr. Er war so ängstlich,
dass jemand seine Geheimnisse verraten würde, und so waren nur die Schauspieler und er im Raum, nicht einmal Ludwig Flaszen durfte als Dramaturg bei den Proben zusehen. Deshalb bin ich als Überlebende die Einzige, die weiß, was da gemacht wurde, wie wir die Technik angewandt haben.
Grotowski war immer eifersüchtig und ein solcher Narzisst. In der Öffentlichkeit waren immer nur er und Czielak, weil er diesen Preis bekommen hatte. Der Rest war nur ein anonymes Ensemble. Ich war in dieser ganzen Zeit nur Ensemblemitglied von Grotowski. Aus diesem Grund hieß mein erstes Studio auch Studio Nawrot. Ich wollte endlich als Teresa Nawrot in Erscheinung treten und nicht als Schauspielerin von Grotowski. Es ging immer nur alles um ihn, ich hatte die Nase manchmal voll davon. Ich war 14 Jahre seine Assistentin und habe oft mit ihm in einer Wohnung gewohnt. Die ganze Gruppe lebte so eng zusammen, dass es keine Geheimnisse gab. Grotowski war immer von Männern angetan. In allen Aufführungen spielten Männer die Hauptrollen und in der Gruppe waren wir nur drei Frauen. Frauen sah er mehr als Dienstleisterinnen. Vor mir hatte er auch nie eine Frau als Assistentin. Ich konnte gut organisieren und war sehr hübsch. Das war für ihn in irgendwelchen Verhandlungen von Vorteil. Er hat mich benutzt und mir nur als seiner Assistentin eine große Rolle gegeben, aber nicht im Theater. Bei dem letzten Stück jedoch, das nur auf Improvisationen beruhte, habe ich mir selber eine Hauptrolle gebaut. Vorher waren es immer Männer: Constant Prince – Czieslak, Akropolis – Molik, Dr. Faustus – Cynkutis – lauter junge hübsche Männer. Ich denke, er war homosexuell oder impotent. Er hat ja auch total ungesund gelebt. Er hat immer Tabletten zum Schlafen und Tabletten zum Wachbleiben genommen, er trank normal Alkohol, aber er hat unglaublich viel geraucht und Kaffee getrunken und sich selber kaputt gemacht. Immer wenn ich ein Interview gebe, dann mache ich deutlich, wie schwierig das Leben als Frau im Theaterbereich ist. Ich habe zwar inzwischen eine internationale Reputation, ich stehe mittlerweile auch in der Enzyklopädie der berühmten Künstler aus Film und Theater in Amerika in der letzten Ausgabe. Als Frau eine internationale Karriere zu machen, aus dem tiefsten
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Sozialismus heraus, das bedeutet, große Opfer zu bringen. Ich habe keine Familie, keine Kinder ... SSch _ Gab es eine Krise bei den Schauspielern von Grotowski, als er dann ganz mit dem Ensemble aufhörte? Wie war das für dich?
TN _ Grotowski hatte uns nur in den ersten Jahren bei der Entwicklung des Paratheaters verboten, in anderen Theatern zu spielen, aber nach ein paar Jahren war das möglich und ich habe viele Gastrollen außerhalb des Laboratoriums gehabt. Nicht nur in Polen, ich habe auch in Italien und Amerika gespielt, auch in Filmen. Bei Grotowski habe ich nur eine Hauptrolle gespielt und bei allen Paratheatertreffen teilgenommen, bei denen allerdings keine Zuschauer dabei waren. Hast du jemals an so etwas teilgenommen? SSch _ Ja, einmal in Brzezinka.
TN _ Ja, dann weißt du ja, wovon ich spreche. Für eine Frau war es jedenfalls sehr schwer, eine internationale Karriere zu machen. Ich habe es so ähnlich wie Grotowski gemacht: Wie ein Maulwurf. Leute aus dem Theaterumfeld kennen mich, doch Leute auf der Straße sicher nicht. Ich war nie so berühmt, auch wegen Grotowski. Ich sage den jungen Frauen immer, dass sie sich überlegen müssen, ob sie eine große Karriere machen oder Familie und Kinder haben wollen. Frauen müssen immer mehr Opfer bringen als Männer. Ich schreibe gerade ein Buch mit einer polnischen Schriftstellerin und darin werden wir dieses Thema vertiefen.
HF _ Wie ist denn eigentlich aus der Schauspielerin mit einer internationalen Karriere die Lehrerin, die Schulleiterin geworden?
TN _ Ich hatte von Anfang an eine pädagogische Gabe. Ich sollte schon in der Schule, als ich die sechste oder siebte Klasse besuchte, eine kranke Lehrerin vertreten und ich machte das ganz gut. Die Klasse war ruhig und folgte meinem Unterricht. Ich habe auch während der Zeit, als wir mit Grotowski das Paratheater entwickelten, an anderen Orten GrotowskiTechnik unterrichtet – an Schauspielschulen, mit Gruppen wie
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dem Theaterlabor und vielen mehr. Ich hatte das also schon lange praktiziert und es hat mir sehr gefallen. Nach der Solidarność-Bewegung verhängte Jaruselski 1981 das Kriegsrecht in Polen und ich fragte mich, wie es weitergehen sollte. Grotowski hatte sich in den USA politisches Asyl geben lassen.
An Weihnachten hatten wir immer spielfrei und Grotowski wusste, dass es für uns aus diesem katholischen Land wichtig war, unsere Familien zu besuchen. Ich bin dann also Anfang Dezember nach Hause zu meinem damaligen Verlobten gefahren und ein paar Tage später haben sie meinen Reisepass eingezogen. Ich war völlig verzweifelt, sodass ich richtig körperlich krank wurde. Ich musste mich dauernd übergeben, ich konnte nichts essen und dachte, ich müsste nun für immer in diesem sozialistischen Land leben. Grotowski sagte immer, dass ein Theater wie seines nur existieren könne, wenn man Milliardär sei oder wenn man im Sozialismus lebe. Die sozialistischen Staaten waren sehr darauf aus, in den Bereichen Kultur und Sport ein gutes Bild abzugeben. Die Künstler haben immer viel Geld bekommen und ein solches Theater wie das von Grotowski war extrem defizitär, weil er höchstens 100 Zuschauer in die Vorstellungen hineinließ. Grotowski hatte das Theater in Breslau und dann noch fünf Hektar in Brzezinka. Das zahlte alles die Regierung. Welche kapitalistische Regierung würde so etwas finanzieren? Das gab es nur im Sozialismus. Sie haben uns im Systemwettstreit benutzt: „Seht her, hier bei uns gibt es kein Bordell, aber jedes Theater sieht aus wie ein Schloss.“ Meine erste Reise nach ‚draußen‘ ging nach New York und ich dachte, die Häuser würden aussehen wie unsere Theater, aber es waren irgendwelche Buden und Baracken und ich fragte mich: „Ist das der Broadway?“ Solche reichen Theater, wie ich sie gewohnt war, konnten nur in Polen existieren, denn sie passten in die sozialistische Propaganda und die guten Sachen wurden entsprechend geschützt. Und Grotowski war sehr intelligent. Ich sage immer, er war der intelligenteste Mensch, den ich je kennengelernt habe, und dass es ein Glück war, 14 Jahre an seiner Seite zu arbeiten als Assistentin. Das war so etwas wie ein zweites Studium. Mit ihm zu sprechen und Meinungen auszutauschen war wie studieren.
Theaterlabor/Teatr Zar/Farma v jeskyni, The Last Hours, Prag 2006
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Abb. S. 22/23: xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
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Er wickelte die Regierung so um die Finger, dass wir in der Zeit des Kriegsrechts, wo die Panzer auf der Straße waren und wir nicht wussten, was da passiert, wieder Pässe bekommen haben und auf große Tournee gingen. Grotowski ist direkt nach Amerika geflogen und hat dort politisches Asyl beantragt und wir haben eine Tournee durch Italien, Wales und Frankreich durchgeführt. Die letzte Aufführung war in Pont-à-Mousson. Da erhielten wir über Ardré Gregory, einen amerikanischen Regisseur und Freund von Grotowski, die Nachricht, dass Grotowski nicht möchte, dass das Theaterlaboratorium weiter existiert; und dass er die Nachricht jetzt übermitteln ließe, da sich alle in Westeuropa befänden und die Entscheidung treffen könnten, ob sie dort bleiben oder nach Polen zurückkehren wollten. Aber er wolle nicht, dass jemand von der Gruppe das Theater weiter betriebe. Leider hat Zbigniew Cynkutis das dann in Polen doch gemacht, aber das ist seine Sache und das war gegen Grotowskis Entscheidung. Bei uns war es sowieso immer verboten, über das zu sprechen, was sich in der Gruppe abspielte – weder über Privates noch über das Theater. Alle hielten sich daran, nur Cynkutis und ich nicht. Ich war die Einzige, die manchmal mit Grotowski gestritten hat, und ich habe ihm gesagt, dass ich vieles nicht akzeptieren könne. Warum soll ich nicht über 14 Jahre meines Lebens sprechen dürfen? Das war die beste Zeit in meinem Leben. Es war von 22 bis 36, die beste Zeit im Leben einer Frau, nicht nur einer Schauspielerin, und ich darf nicht darüber sprechen, was ich in der Zeit gemacht habe, welche Opfer ich gebracht habe, dass Grotowski so berühmt wurde? Er hat uns schließlich gebraucht, um seine Technik zu entwickeln und Karriere zu machen, warum sollte ich also schweigen?
Deswegen bin ich so unpopulär in dem Grotowski-Center in Breslau. Sie tun seit 40 Jahren so, als ob ich nicht existieren würde. Wir haben keinen Kontakt, weil ich das schwarze Schaf bin. In Polen haben sie ein ‚Denkmal‘ für Grotowski gebaut und knien davor, aber er war auch nur ein normaler Mensch, er hat auch Schwächen gehabt, es war die Hölle manchmal. Stellt euch vor. Wir waren neun Leute am Ende, drei Frauen und sechs Männer. Wir waren weit weg von unseren Familien.
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Ein halbes Jahr in Australien, ein paar Monate in den USA, lange in Italien. Wir kannten die Kollegen viel besser als die eigenen Partner. Ich war immer loyal. Ich habe nie verraten, was sie auf Tournee so getrieben haben, was die anderen gemacht haben, darüber werde ich nicht sprechen, aber ich möchte darüber sprechen können, was ich gemacht habe, was ich erlebt habe. Grotowski war wirklich ein Phänomen, das die ganze Welt brauchte. Doch nun bin ich die Einzige, die sagen kann, welche Opfer wir dafür bringen mussten, weil die anderen mittlerweile alle schon gestorben sind und nie darüber geredet haben. SSch _ Meinst du denn, dass jetzt das Grotowski-Center sein Andenken falsch interpretiert und ihn auf einen hohen Sockel stellt?
TN _ Vielleicht war ein Grund dafür, dass ich die Einzige war, die im Westen geblieben ist und dort etwas aufgebaut hat. Meine Kollegen haben nicht mehr gespielt und nichts Eigenes gemacht. Einmal hat Cieslak eine Rolle bei Peter Brook in Mahabharata gespielt – ohne Erfolg. Diese Rolle hatte ihm Grotowski organisiert, weil er zu der Zeit so viel getrunken hatte. Er war befreundet mit Staszek, der Selbstmord begangen hatte, und Cieslak litt sehr darunter. Er arbeitete zu der Zeit in Spanien und trank so viel, dass er Verträge nicht einhalten konnte. Auch die anderen konnten sich nichts Neues aufbauen, sondern nur über ihre Vergangenheit Arbeit finden und Workshops geben. Letztes Jahr ist Rena Mirecka gestorben und ich bin auf das Begräbnis nach Breslau gefahren und war schockiert, wie wenig Menschen dort waren. Keine Presse, kein Fernsehen, obwohl sie doch so eine bedeutende Schauspielerin war. Auch das Grotowski-Center sah sehr traurig aus und der Direktor hatte eine kaputte Rose in der Hand. Mit der Beerdigung habe ich das Kapitel endgültig abgeschlossen. Das GrotowskiCenter hätte dafür sorgen müssen, der Beerdigung eine größere Bedeutung zu verleihen.
HF _ Darf ich noch eine Frage zur Vergangenheit stellen? Wie kamen Sie nach Bielefeld? Weil Bielefeld ist ja so etwas wie allertiefste deutsche Provinz.
TN _ Bielefeld ist langweilig. Hat sich da etwas geändert? Ich erinnere mich nicht genau. Meistens waren das Kettenreaktionen. Ich habe in Köln gearbeitet und da war jemand aus Tübingen und hat mich dorthin eingeladen. SSch _ Ich hatte damals recherchiert, wer aus Grotowskis Umfeld verfügbar wäre, und hatte deine Telefonnummer bekommen. TN _ Vieles lief über Mundpropaganda.
SSch _ Und es war der direkte Kontakt, über den etwas vermittelt wurde. HF _ Wie war Ihre Erfahrung in Bielefeld?
TN _ Es war schön. Ich hatte damals noch nicht genau herausgefunden, was ich als Grotowski-Technik unterrichten würde. Ich oszillierte noch mit Elementen aus dem Paratheater. Aber ich hatte auch schon das Körperalphabet und die plastischen Elemente im Programm. Es war eine schwierige Zeit, weil ich noch nicht wusste, wo ich bleiben würde. Ich war weit weg von meiner Familie und konnte nicht nach Polen zurück, weil ich dort als Flüchtige galt. Ich wollte erst eine internationale Gruppe in Paris aufbauen und hatte schon Geld dafür organisiert. Ich war jung und unsicher. Doch in Bielefeld war ich glücklich. Es waren sehr sympathische Leute hier und ich glaube, ich habe sogar zwei Workshops gemacht.
Wichtigste für mich. Ich hätte nach Warschau ans Theater gehen können, aber ich konnte das nicht. Als André Gregory zu uns kam und sagte, dass die Gruppe nun am Ende sei, war ich ehrlicherweise glücklich. Ich musste diese Entscheidung nicht selbst treffen. Grotowski hatte mir das abgenommen. Ich habe auf einer Brücke in Pont-à-Mousson gestanden und sah auf die Mosel hinunter und dachte: „Danke, dass ich nicht entscheiden muss.“ Die anderen waren alle verzweifelt, aber ich war befreit. Ich fühlte mich befreit von diesem Theater, das eigentlich am Ende war. Grotowski war schon alt und die anderen waren auch in die Jahre gekommen. Das Theater war nicht mehr schöpferisch und die Beziehung zwischen uns als Menschen war sehr schlecht. Ich war lange bereits unglücklich, doch ich hätte nicht selber die Entscheidung treffen können, Grotowski zu verlassen. So half mir das Schicksal, meinen eigenen Weg zu finden.
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Das Gespräch führten Siegmar Schröder und Henning Fülle am 21. Januar 2024 in Berlin.
SSch _ Du hast bei uns in der Wohngemeinschaft gewohnt.
TN _ Ja.
SSch _ Und du hast uns gezeigt, wie man polnischen Frischkäse zubereitet, und Piroggen gekocht.
TN _ Dann erinnerst du dich besser als ich. Das war auf jeden Fall eine schöne Zeit für mich. In den letzten Jahren blieb ich vor allem bei Grotowski, weil ich so in den Westen fahren konnte. Irgendwann hatte Grotowski dann angefangen, mit Amateuren zu arbeiten. Er brauchte für seine Experimente keine Schauspieler mehr. Das hat zu großen Anspannungen in unserer Gruppe geführt. Ich wollte nicht mehr nach Polen, denn ich hatte die Freiheit kennengelernt und das war das
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BodyVoice Workshop mit Ismael Ivo, 2006
Theaterlabor, Kamikaze, Probe, 2002
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Gespräch mit Margaret Pikes, Roy Hart Theatre (Im Hintergrund hört man die Stimmarbeit eines Workshopteilnehmers.)
Siegmar Schröder _ Wir beide haben zurzeit Baustellen an unseren Häusern hier in Südfrankreich und wohnen nur 30 Minuten voneinander entfernt. Gestern war eine Betonmischmaschine in meinem Haus in Betrieb und beide Helfer (die auch Musiker sind) fingen an, zum Grundton der Maschine mit Gesang und Trommeln zu improvisieren.
Margaret Pikes _ Ja, es gab auch mal einen Song dazu: Cementmixer von Slim Gaillard (singt): „Cementmixer, cementmixer la la la.“ Gaillard war ein großer, schlaksiger Schwarzer Mann, und es geht nur um einen Betonmischer. SSch _ Ich hatte gestern auch das Gefühl, dass man dazu Obertöne machen kann. Manchmal habe ich mit Obertönen beim Rasieren mit einem Elektrorasierer experimentiert.
MP _ Es geht auch mit einem Staubsauger. Letztens war ich auf einem Bruce-Springsteen-Konzert in Düsseldorf und es war fantastisch. Stimme, Körper und Seele und 42.000 Leute wirklich dabei. Es war phänomenal! SSch _ Ja, einige dieser Leute haben vermutlich ihren „Spirit“ gefunden.
MP _ Es war fast schamanisch. Springsteen ist 73, seine Songs handeln von Dunkelheit und er trifft die Menschen damit. Er hatte nichts mit Drogen zu tun, aber seine Lieder sind dunkel. Kein „Ich liebe dich“ und „Wie schön die Welt ist und alle lächeln“. Es geht um Mörder und Dunkelheit. In der englischsprachigen Welt sind viele Bücher über ihn geschrieben worden, über intellektuelle Popmusik, ich war wirklich überwältigt.
SSch _ Magst du unterschiedliche Sängertypen?
MP _ Am meisten Bruce Springsteen, nicht viele andere. Bob Dylans Poesie war eine Zeitlang sehr wichtig für mich, doch nicht er als Person. Die Leute sagen, er könne nicht singen;
als er jung war, hatte er eine große Variationsbreite. Er hatte eine schräge Stimme, aber er konnte singen. Nur war er dann sehr mit Drogen beschäftigt.
SSch _ Ich war vor einigen Jahren auf einem Konzert in Bielefeld, aber die Akustik war nicht gut.
MP _ Er versteckt sich mit seiner kleinen Figur … Ich mag auch Tina Turner, die uns leider schon verlassen hat. Bei Popsongs mag ich die Texte und vor allem dann, wenn die Sänger und Sängerinnen sehr stark darin aufgehen. Man kann das hören. Tina Turner war so. Ich bin nicht auf dem neuesten Stand, aber die von der Musikindustrie geförderten Stimmen berühren mich nicht. SSch _ Ist es heutzutage so, dass die Stimmen viel stärker durch die Technik geprägt werden?
MP _ Das ist wahr. Du weißt heute nicht, ob du eine echte Person hörst. Sogar bei Springsteen: Ich weiß nicht, wie sehr er „getuned“ war, weil sie es eben können. Aber die Band war gut, auch der Drummer mit 73 Jahren war voll dabei. Über drei Stunden und das zweimal pro Woche über Monate auf einer Tournee! Es muss ja auch moderne Sänger geben, doch ich kümmere mich nicht darum, sondern gehe in ein Konzert mit unvergessenen Stimmen, wenn ich etwas gute Energie brauche. SSch _ Wenn du selber deine Stimme in Aufführungen benutzt hast, hast du da auch Popsongs genommen?
MP _ Als ich sehr jung war, war ich Folksängerin, bevor ich zum Roy Hart Theatre kam. Dorthin kam ich, weil mir klar war, dass ich an meiner Stimme arbeiten wollte. Ich war auf der Suche nach einer tieferen Stimme. Ich hatte damals eine hohe Singstimme wie Joan Baez und ich hasste das. Mit 15, 16 Jahren fühlte ich bereits, dass diese Stimme nicht das ausdrücken konnte, was in mir vorging. Ich sang, seit ich klein war, aber als ich zum Roy Hart Theatre stieß, konnte ich meine Stimme
Theaterlabor/Teatr Zar/Farma v jeskyni, The Last Hours, Prag, 2006
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viel stärker mit meinem Körper verbinden. Die Aufführungen waren sehr experimentell, viel Text und Theater mit etwas Gesang, doch der Fokus lag nicht auf dem Singen, eher auf der Arbeit mit verschiedenen Sounds, um Bewegungen und Charaktere zum Leben zu erwecken, wie zum Beispiel aus dem Sturm von Shakespeare.
Dann bekam ich eine Chance als Solistin in dem großen Stück Canto General nach Pablo Neruda umgeben von Chören. Und so begann ich mit Liedern. Ich war damals ein bisschen verloren und kam zu der Gruppe, die ein wenig wie eine Sekte war. Die Disziplin war sehr streng, und es gab so etwas wie philosophische Ziele. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, war ich wie einer Gehirnwäsche unterzogen, auch wenn das jetzt negativ klingt. Ich ging sehr in der Dynamik der Gruppe auf und tat alles, was nötig war. Ich machte also in einer Aufführung Sounds, sprach Text und bewegte mich – ich kann jetzt gar nicht mehr sagen, was ich genau gemacht habe. Ich erinnere mich an Roy19 mit seinem Klavier auf Rädern auf der Bühne, das wie eine Schubkarre aussah, wie er uns damit verfolgte und mit Einzelnen arbeitete. Ich war sehr verloren und ahnungslos. Es war mir etwas peinlich, weil andere Leute viel erfahrener im Schauspielen waren. Ich hatte nur meine Gesangserfahrung: zusammen mit drei Jungs auf eine kleine Bühne gehen und singen. Ich hatte keine Ahnung von Theater. SSch _ Aber dann hast du schnell auch unterrichtet.
MP _ Ja, Roy drängte mich sehr bald dazu, als Stimmlehrerin zu arbeiten. Eigentlich gab es ja nur diese Menschen und deren Stimmarbeit, doch Roy nutzte die Gruppe dazu, experimentelle Theaterproduktionen zu entwickeln. Wenn ich also einer Einzelperson Stimmunterricht gab, war zunächst kein Theaterbezug sichtbar. Aber Charaktere konnten sich entwickeln, Raum wurde eingenommen und so zeigten sich quasi Grundelemente des Schauspiels. Die Idee war, zurück zu authentischen Wurzeln des Theaters zu gehen. 19 20 21
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SSch _ War Roy Hart auch von Antonin Artaud beeinflusst?
MP _ Ich glaube schon, auch Alfred Wolfsohn20 war von ihm beeindruckt. Die ganze Idee, sich durch Stimmarbeit eine andere Bewusstseinsebene zu schaffen, war nicht so sehr auf Artaud bezogen, sondern mehr auf die Kunst als solche. Er war nicht auf der Suche nach Bewusstheit, sondern wollte sich im Gegenteil vom Unbewussten verschlingen lassen.
SSch _ In unserem Vorgespräch hast du vom weiblichen Einfluss in dieser sehr männlich dominierten Arbeit gesprochen. Ist das ein wichtiger Aspekt für dich? MP _ Ja, ist es. Es gibt immer noch einen Strang im Roy Hart Theatre, der für diese männliche ‚Attitüde‘ steht, dass etwas nur gut ist, wenn es sehr stark im Ausdruck ist.
SSch _ Du hast mir erzählt, dass die Frauen das Theater übernommen haben und sich die Energie veränderte.
MP _ Sie veränderte sich definitiv. Zunächst war es uns verboten, Kinder zu bekommen. Das hat sich geändert. Ich habe meines zwar verloren, ich hatte eine Fehlgeburt, aber andere Kinder wurden geboren und sind nun erwachsen. Aber es geht tiefer als die Frage, ob man Kinder haben darf. Es geht um Macht. Es geht darum, was wir suchen und wie wir es suchen. Welche Gefühle wollen wir durch die Stimmarbeit ausdrücken und wie können wir sie hören? Eine lange Zeit war ich an Tönen interessiert, die nach dem Ärger kamen, also nicht die Aggressionen mit ihrer ganzen Power, sondern die Tränen dahinter. Trauer, Klage – eine existenzielle Kohärenz. Es ist wie ein Baby, das schreit. Kristin Linklater21 schreibt darüber, es handele sich um Nach-Essen-Rufen, aber das glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass es ein existenzielles „Hier bin ich!“ ist. „Ich bin angekommen.“ Was auch immer das Karma des Neugeborenen mitbringt, das Feuer des Lebens. Aber die Traurigkeit … Die Menschheit kämpft seit jeher mit der Frage: Wofür sind wir hier? Das bleibt die große unbeantwortete Frage, mit der die
Roy Hart (1926–1975), in Südafrika geboren, studierte bei Alfred Wolfsohn, gründete das Roy Hart Theatre in London 1962 und zog 1974 mit seiner Gruppe nach Südfrankreich. Alfred Wolfsohn (1896–1962) deutscher Gesangslehrer, der durch seine persönlichen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg eine völlig neue Methode für die Stimmarbeit entwickelte. Kristin Linklater (1936–2020) war eine schottische Stimmbildnerin, Regisseurin und Schauspielerin.
Stimmarbeit für mich beginnt. Wolfsohn begann seine Arbeit, als er aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs kam und sich schuldig fühlte, dass er noch lebte. Das interessiert mich an der Stimmarbeit: dass die Menschen mit ihr in untergründige Schichten vordringen.
SSch _ Das Schreien angesichts des Todes ist ähnlich wie das Babyschreien, existenziell. MP _ Ja. Und es kann einen Klang geben, in dem du Trauer erkennen kannst und Zartheit. Immer wenn Menschen die eigenen Wurzeln in sich finden, ist das sehr stark.
SSch _ Als ihr 1974 von London nach Frankreich kamt, welche Verbindungen hattet ihr auf dem Kontinent?
MP _ Roy hatte Verbindungen zu zeitgenössischen Komponisten wie zum Beispiel Stockhausen. Er machte von Hans Werner Henze Versuch über Schweine. Richard Armstrong, der nach dem Tod von Roy einer der Leiter war, baute weitere Kontakte auf, unter anderem zum Odin Teatret und zu Cuatrotablas aus Peru. Das waren unsere Kontakte. Ansonsten waren wir nach dem Tod von Roy sehr für uns, ein wenig abgeschlossen. Einmal kam eine Tänzerin von Pina Bausch zu uns und gab einen Workshop, eine wunderbare Frau, ich habe den Kontakt gehalten. SSch _ Also ist euer großer Einfluss auf die europäische freie Theaterszene auf eure Kontakte zum Odin Teatret und Cuatrotablas gegründet. Es war eine sehr verbreitete Auffassung, dass man unbedingt die Stimmarbeit des Roy Hart Theatre kennenlernen müsse.
MP _ Ein Schauspieler von Cuatrotablas kam vor sechs Monaten hier vorbei, gab einen Workshop und machte eine wunderbare Aufführung.
SSch _ Vor vielen Jahren war ihr Leiter Mario Delgado bei uns in Bielefeld und führte Regie bei King Lear. MP _ Auf Deutsch?
SSch _ Ja, auf Deutsch. Es war sehr schön, ihn bei uns zu haben. Wir haben eine Menge solcher Projekte gemacht, Koproduktionen, Co-Regie usw.
MP _ Wir hatten in den Achtzigern auch über viele Jahre eine Kooperation mit zwei Künstler*innen, Yves Marc und Claire Heggen vom Théâtre du Movement. Sie gaben auch viele Workshops. SSch _ War es ein Austausch mit gegenseitigen Workshops?
MP _ Nach dem Tod von Roy waren wir erst ziemlich verschlossen, wir mussten erst mal unsere finanzielle Situation in den Griff bekommen, und das Sektenartige setzte sich zunächst auch fort. Das war gut und schlecht zugleich. Es ermöglichte uns weiterzumachen. Es blieben für ungefähr zwölf Jahre mehr oder weniger dieselben Leute unter sehr schwierigen Bedingungen zusammen. Es war ein sehr männliches Element, das uns zusammenhielt, das aber auch zerstörerische Seiten hatte. Es ist ja oft so, dass es nicht nur Schwarz oder Weiß gibt. Doch es sind uns dadurch auch viele Dinge verloren gegangen. SSch _ Es gab viele Gruppen mit solch einer männlichen Gruppendynamik. Man sah das auch bei Grotowski, als er mit seinem Theater aufhörte und die Schauspieler sehr verloren wirkten. Oder bei der Arbeit von Gardzienice, die auch sehr männlich dominiert ist und fast sektenartig wirkt.
MP _ Es hielt uns jedoch zusammen und wir lernten eine Menge. Wir lernten, wie viel wir opfern mussten, um das Theater am Leben zu erhalten. Als ich dann die Solorolle in Canto General bekam, verstand ich, dass alle experimentellen Aufführungen, die ich gemacht hatte und an denen man ein Jahr lang arbeitete, um sie dann mehr oder weniger erfolgreich vor Publikum zu spielen, mich dazu gebracht hatten: Du kannst Menschen mit deiner Stimme berühren. Du musst nicht so oder so sein, es ist etwas Zerebrales. Das Singen von politischen spanischen Liedern mit dem großen Chor und Orchester war sehr befriedigend. Das Publikum war berührt und kam hinterher zu mir und sprach darüber. Sie liebten die Stimme, die Musik und die wundervollen Texte von Pablo Neruda. Die Musik war nicht zu atonal. Ich mochte Theodorakis, der die Musik komponiert hatte, sehr und liebte es, Lieder ohne eine überdehnte Stimme zu singen. Die experimentelle Stimmerweiterung war Grund-
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lage dafür, Lieder auf eine besondere Weise zu singen. Ich schlug jetzt einen eigenen Weg ein und gab die experimentellen Sounds auf. Ich mache das aber immer noch in meinen Workshops, weil die Teilnehmer viel dadurch entdecken, und ich ermutige sie, das in einem Lied oder Text zu benutzen. SSch _ Du warst also in der Lage, eigene Soloperformances zu entwickeln. War das bei allen Mitgliedern so?
MP _ Nein, nicht bei vielen anderen. Es ist schwierig, Musiker zu finden, die mit einem arbeiten. SSch _ Wer hat dann die Regie übernommen?
MP _ Robert Harvey, eines der älteren Mitglieder, half mir sehr. Er lehrte mich sehr viel. SSch _ Er hat auch bei uns in Bielefeld mit unserer Gruppe gearbeitet und einen Workshop gegeben. MP _ Er war ein sehr guter Lehrer. Ich vermisse ihn sehr. Er war vor allem im theatralen Bereich sehr gut und interessiert daran, Regie zu führen. Er lehrte, wie man einen Raum physisch mit einer körperlichen Präsenz ausfüllt. Er war ein Künstler und machte mehrere gute Produktionen. Er hat ein paar Mal für mich Regie geführt. Danach habe ich mit einem Mann aus Montpellier gearbeitet, der Musik für mich geschrieben hat. Da hatte ich bereits ein viel größeres Verständnis dafür, was ich auf der Bühne machen konnte. SSch _ Trittst du noch auf?
MP _ In den letzten Jahren nicht mehr, weil ich sehr damit beschäftigt war, mich um meinen Mann zu kümmern, der an Alzheimer erkrankt war. Das war ein Fulltimejob. Ich hatte mich damit abgefunden, aber jetzt plane ich etwas Neues. Ich habe einige Lieder auf Französisch, weil ich auch hier in Frankreich auftreten will, und Gedichte von Henri Michaux, der sehr schräge Texte macht. Ich würde gerne etwas Lustiges machen, das zugleich berührend ist. Ich plane das für nächsten Sommer für unser 50-jähriges Jubiläum. Wir kamen 1974 nach Frankreich. Ich hoffe also, dass ich im nächsten Sommer ein Stück habe. Es geht mir darum, Momente, wie sie sich so oft in mei-
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nem reichen Theaterleben ergeben haben, wahrzunehmen und zu sehen, was daraus wird.
Um noch einmal auf deine Frage zurückzukommen, wie unsere Stimmarbeit das moderne Theater beeinflusst hat: Ich glaube, dass sich seit den frühen Siebzigerjahren die Stimmen im französischen Theater sehr verändert haben. Das war eine ganze Bewegung, nicht nur Roy Hart, eine Bewegung, mehr Verbindung zum Körper zu haben. Das französische Theater ist zwar immer noch sehr literarisch, doch der vokale Ausdruck hat sich verändert. SSch _ Wir trafen sehr oft Gruppen, die von euch inspiriert waren. Gibt es eigentlich auch Schauspielausbildungen, die sich auf Roy Hart beziehen?
MP _ Ja, überall in England gibt es Lehrer, die von sich sagen, dass sie ein Roy-Hart-Training hatten. Ich finde es ein wenig traurig, dass wir uns kein Copyright auf unsere Methode gesichert haben. So können Leute nun sagen, dass sie nach Roy Hart arbeiten, ohne dass es überprüfbar wäre.
SSch _ Aber du sagst doch auch, dass es ein sehr persönlicher Ansatz ist. Wenn du unterrichtest, ist es keine allgemeine RoyHart-Methode, sondern deine persönliche. MP _ Ja, aber wenn ich Rückmeldungen von Leuten bekommen habe, die mit Lehrern von uns gearbeitet hatten, wurde immer gesagt, dass der rote Faden bei allen gleich war: das Hören. Ich fand das sehr interessant und glaube, dass das wahr ist. Es ist keine Methode, aber Hinhören, Hinsehen und mit der jeweiligen Person arbeiten und auf etwas Fantasievolles und Körperliches zielen. SSch _ Die Leute hätten gerne einfache Methoden, die sie an den Schulen unterrichten können. Doch die Methoden sind immer von der Persönlichkeit und der Qualität der Lehrenden abhängig.
MP _ Ich gehe zwar mehr in die Richtung Singen, bin aber immer auch interessiert an der existenziellen Stimmarbeit, die mehr wie Psychotherapie wirkt. Ich bemerke das und gehe damit um – nicht zu weit, aber so, dass die Stimme durch das Unter-
bewusstsein eine Farbe bekommt. Es wird dann auch darüber gesprochen, ob es ein Traum war oder eine Stimme, bei der du dich wohlgefühlt hast, oder ob du traurig oder ärgerlich warst und bewusst in diese Stimmung gehen konntest. Diese Verbindung zwischen Stimme und Unterbewusstem, zwischen Stimme und Selbst – viele arbeiten so, aber es wird nicht viel darüber geredet. SSch _ Ich glaube, dass Musik einen enormen Einfluss hat. Wenn ich selber singe, können dadurch Gefühle entstehen.
MP _ Das ist großartig. Ich habe gelesen, dass C. G. Jung keine Musik mochte, ja sie geradezu hasste. Darüber habe ich oft nachgedacht. Ob er meinte, dass sie zu überwältigend ist? Jung war wichtig im Background von Roy Hart. Wolfsohn wollte ihn treffen, es klappte jedoch nie. (Im Hintergrund macht ein Mann Stimmübungen und versucht verzweifelt, seine höchsten Töne zu erreichen.) SSch _ Gleich hat er es geschafft. MP _ Nein, tu das nicht. Nicht so!
SSch _ Du kannst nicht nur einfach zuhören, nicht wahr?
MP _ Nein, ich werde gleich in den Raum stürmen und ihn stoppen. So wie Roy Hart, als wir alle das Living Theatre im Roundhouse sehen wollten. Roy saß im Publikum und sie kamen alle nackt auf die Bühne. Und Roy rief von seinem Stuhl aus: „Gefährlicher Unsinn.“ Das ist nun ein geflügeltes Wort, wir zitieren ihn manchmal.
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Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 14. Juli 2023 in Malérargues, Frankreich. Übersetzung aus dem Englischen: Siegmar Schröder
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360° Festivalprogramm, 2008
Gespräch mit Walter Ybema, Theaterassoziation Frankfurt Walter Ybema _ Vor 23 Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen. Das war in Bielefeld bei der ISTA. Die habe ich kurz besucht und du hattest sie großartigerweise organisiert.
Siegmar Schröder _ Ja, das war eine unserer größten Herausforderungen, das zu organisieren. WY _ Das glaube ich dir. (Lacht dabei.) Ich habe ja so einige mitgemacht.
SSch _ Und da komme ich schon zu deinen Anfängen. Du warst auch schon bei der ersten ISTA 1980 in Bonn dabei. War das auch der Anfang deiner Theaterarbeit?
WY _ Ich hatte vorher zweimal in meinem Leben entschieden, nie mehr Theater zu machen, einmal als Vierjähriger, der von Zirkus spielenden Kindern mit einer Strumpfmaske dermaßen erschreckt wurde, dass er mit dem Fahrrad über die Straße floh und dort von einem Auto erfasst wurde; und dann später noch einmal, als ich als Statist in Frankfurt im Theater am Turm (TaT) unter Rainer Werner Fassbinder arbeitete. Da waren gute Leute wie Irm Hermann und Heide Simon, aber nach zwei Jahren hatte ich keine Lust mehr auf diesen ‚Verein‘. Der Umgang miteinander war sehr schlecht, was nicht an den beiden genannten Schauspielerinnen lag. Es wurden verschiedene Freunde von Fassbinder angestellt, die sich dort ‚austobten‘ und ich ging weg und wollte nie wieder Theater machen. Das hat sich dann im Laufe der Siebzigerjahre wieder geändert und 1975 haben wir das Sogenannte Linksradikale Blasorchester gegründet und in der Zeit viel Theater gespielt. Da haben wir auch eine andere Form des Theatermachens kennengelernt. Irgendwann bekam ich eine Einladung zum Festival Theater der Nationen nach Hamburg, 1979 war das.
Henning Fülle _ Ivan Nagel hat das veranstaltet und es wurde später als Theater der Welt institutionalisiert.
WY _ Ja richtig. Und dort wurden wir dann zu einem dänischen Theater eingeladen, das hieß Odin Teatret. Ich hatte die Vorstellung, dass dänisches Theater sicherlich nichts Großes sein
könne, so wie das Thèâtre du Soleil, das ich zu der Zeit bewunderte. Aber ein paar Übernachtungen in Hamburg umsonst, das war schon interessant, und so habe ich dann zum ersten Mal das Odin Teatret und Eugenio Barba getroffen. Ich hatte in Frankfurt mit einer schwedischen Truppe namens Jordcirkus zusammengearbeitet, die dann nach Holstebro weiterfuhren. Sie haben meine Adresse weitergegeben, wie ich später erfuhr. SSch _ Warst du dort unter deinem Namen eingeladen oder mit dem Linksradikalen Blasorchester? WY _ Nein, ich war mit einer Gruppe eingeladen, mit der wir damals Straßen- und Kindertheater machten.
HF _ Hat Heiner Goebbels auch in dieser Gruppe mitgespielt?
WY _ Nur im Linksradikalen Blasorchester, nicht in dieser Theatergruppe. Heiner Goebbels traf ich mal per Zufall bei uns im Viertel und er zeigte mir, wie ich mithilfe der Oktavklappe leichter die hohen Töne auf der Klarinette spielen konnte, und lud mich bei der Gelegenheit zum Gründungstreffen des Blasorchesters ein. Dabei war ich ein totaler Anfänger.
SSch _ Wie verlief die erste Begegnung mit dem Odin Teatret?
WY _ Es gab in Hamburg einen Workshop und Aufführungen und es hat mich schon sehr beeindruckt – obwohl Eugenio Barba mich und ein paar andere zunächst mal total zur Schnecke machte, weil wir eine Viertelstunde zu spät gekommen waren. HF _ Aber wie ist es denn zu dieser Situation in Hamburg gekommen, nachdem du das zweite Mal das Theater aufgegeben hattest?
WY _ Weil ich in der Zwischenzeit eine ganz andere Form von Theater kennengelernt hatte. Wir sind mal nach Paris gefahren und haben das Thèâtre du Soleil dort gesehen. Wir haben einen Film von Ariane Mnouchkine in Frankfurt gezeigt. Es
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gab ja auch Theaterfestivals in der Zeit, wo solche Dinge zu sehen waren, zum Beispiel in München. Wir hatten in Frankfurt auch ein gutes Umfeld mit dem Blasorchester, dem Karl Napp Chaos Theater mit Mathias Beltz und anderen. In diesem Umfeld haben wir dann versucht, ein anderes, freies Theater zu machen, zu experimentieren und andere Formen zu suchen, als ein fertiges Stück auf die Bühne zu bringen. So hatte ich also wieder einen Bezug zum Theater gefunden und sah dann beim Treffen mit dem Odin, dass sie auch eine ganz andere Art von Theater machten als deutsches Stadttheater. Von da an war ich sehr interessiert und sah eine andere Möglichkeit von Theater, eine andere Möglichkeit, mit Menschen zusammenzuarbeiten, eine andere Ästhetik und auch eine andere Beziehung zur Gesellschaft, zum Publikum und eine andere Form der Finanzierung – das gehörte auch dazu. SSch _ Bist du denn zum Odin gegangen und wurdest auch bezahlt?
WY _ Das hat noch ein bisschen gedauert. 1980 wurden einige Leute aus Deutschland nach Holstebro eingeladen und wir haben wieder einen Workshop gemacht. Dann traf ich sie wieder auf dem Theaterfestival in München und lud zwei Schauspieler von ihnen nach Frankfurt ein, um dort einen Workshop zu geben, und dann wurde ich vom Odin nach Wales eingeladen. Es gab dort Aufführungen in Cardiff und wir reisten im Anschluss in kleinen Ensembles, die jeweils aus unterschiedlichen Theatergruppen zusammengestellt waren, drei Wochen lang durchs Land, um in den Gegenden Theater auszuprobieren, wo es keine Theater gab. Da habe ich auch Mike Pearson (Brith Gof) kennengelernt. Ich war in einer Gruppe mit ihm, Iben Nagel-Rasmussen (Odin Teatret) und Ingemar Lindh aus Schweden, der war sehr wichtig – das war ein verrückter Haufen. Wir haben drei Wochen ungewöhnliche Aktionen gemacht, zum Beispiel bei Pferdeauktionen und ähnlichen Gelegenheiten im ländlichen Raum. Dort wurde ich von Eugenio gefragt, ob ich nicht bei den Vorbereitungen der ISTA in Bonn helfen könne, zum Beispiel Geld vom japanischen Kulturinstitut in Köln zu besorgen.
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Am Ende der ISTA war ich sehr nervös und unsicher, ob ich Eugenio danach fragen könnte, beim Odin Teatret zu arbeiten. Ich fasste erst am letzten Tag den Mut und traf ihn an, als er gerade im Stehen eingeschlafen war. (Wir fingen immer morgens um fünf Uhr an und arbeiteten bis abends spät.) Ich sagte: „Eugenio, ich möchte mit euch arbeiten!“ Er wachte auf und fragte mich: „Als Schauspieler oder als Regieassistent?“ Ich tendierte zur Regieassistenz. Dann sagte er: „Überleg es dir gut, Walter. Als Schauspieler wirst du bei uns bezahlt, als Regieassistent nicht.“ Ich blieb bei der Assistenz. Eugenio überlegte nur noch kurz und wies einen Schauspieler seiner Truppe an, bei seiner Rückfahrt aus Italien in Frankfurt Halt zu machen und mich nach Dänemark mitzunehmen. Am 6. Januar 1981 fing ich dann in Holstebro an. Als „nordisches Theaterlabor für Schauspielkunst“ hatte das Odin Teatret übrigens in Skandinavien Universitätsstatus. Mit einer erfolgreichen Lehrzeit, deren Dauer aber nie benannt wurde, hatte ich Anspruch auf ein Diplom.
HF _ Ich möchte noch einmal eine Frage zum Rahmen stellen. Zunächst fällt mir auf, dass dein Interesse am Theater durch verschiedene einschneidende Ereignisse nicht totzukriegen war – weder durch den Autounfall noch durch Rainer Werner Fassbinder und seine Gang. Vor welchem beruflichen und sozioökonomischen Hintergrund hat sich das alles abgespielt? Warst du Student, warst du Postbote? WY _ Als Postbote habe ich nie gearbeitet, aber als Fensterputzer, ich habe in der Bibliothek gearbeitet und in der Fabrik. Ich bekam kein Bafög, weil ich einen niederländischen Pass hatte.
HF _ Du warst also Student?
WY _ Ja, ich war es aber irgendwann einmal leid, in Frankfurt die Revolution zu studieren. Es reichte nicht, nur die Frankfurter Schule kennenzulernen, ich brauchte auch etwas, womit ich dann mal meinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Ich schrieb mich also für die letzten Semester in Physik und Deutsch auf Lehramt ein und machte mein erstes Staatsexamen.
1977 legte ich das Zweite Staatsexamen ab und war nur ein halbes Jahr im Schuldienst – bis ich wieder das Weite gesucht habe. Das war also der Hintergrund. Ende der Siebzigerjahre lief für mich die Zeit sehr ‚gedrängt‘ ab. Nach einem bestimmten Ereignis in der Schule habe ich dort aufgehört und mich für das unsichere Leben entschieden. Ich eröffnete mit Freunden eine Weinstube und arbeitete dort eine Zeitlang. Als ich mich beim Odin Teatret meldete, war ich gerade in Frankfurt arbeitslos gemeldet. HF _ Das war damals recht lukrativ, oder?
WY _ Ja, es war einfach und recht locker. Irgendwann riefen mich meine Eltern in Dänemark an, dass da eine Vorladung vom Arbeitsamt gekommen sei, und ich rief dann dort an, um zu sagen, dass es gerade sehr ungünstig sei. Die Sachbearbeiterin teilte mir mit, dass sich der Termin durch den Anruf eigentlich schon erledigt hätte, und fragte, wie denn das Wetter in Dänemark sei. SSch _ Das heißt, sie wusste, dass du in Dänemark in Sachen Theater unterwegs warst?
WY _ Nein, das durfte sie eigentlich nicht wissen. Weil ich ja nicht außerhalb von Deutschland tätig sein durfte. Aber in einem psychologischen Gutachten des Arbeitsamts stand drin, dass ich suchend in Richtung Theater sei. Und ich hatte schon vorher erzählt, dass ich da ein interessantes Theater in Dänemark gefunden hätte.
SSch _ Ich habe dich ja dann trotzdem als Lehrer erlebt, obwohl du den Beruf nicht weiter ausgeübt hast. Als du zu uns ins Theaterlabor kamst, hast du pädagogisch gearbeitet.
WY _ Ja, ich habe dann auch später ab 2002 im Bildungsbereich gearbeitet und ab 2013 sogar wieder in Schulen, war aber nie Lehrer. Der Erfolg in der Schule kam deshalb zustande, weil ich nie versucht habe, Schüler zu belehren. Ich glaube, sie haben sehr viel gelernt, doch ich habe sie nie belehrt.
SSch _ Das ist natürlich auch eine Frage der Definition des Begriffs Lehrer.
WY _ Genau. Lehrer werden ja dazu ausgebildet, Prozesse zu steuern. Angesichts eines chaotischen Systems wie einer Schulklasse ein schwieriges Unterfangen. Ich habe die Schüler immer als gleichwertig gesehen, auch wenn sie mich oft furchtbar genervt haben.
SSch _ 1983 brachtest du diese Erfahrungen vom Odin Teatret mit nach Bielefeld und hast mit uns an Subtexten gearbeitet.
WY _ Ja, es ging mir vor allem immer darum, Text gut auf der Bühne zu sprechen. Es gab das ‚Bühnendeutsch‘, das fand ich nur selten gut. Es ging mir mehr darum, Text aus der Sprache einer Handlung zu entwickeln. Was sagst du? Nicht die Worte, sondern, was tust du, wenn du etwas sagst. Wenn die Maria Callas Piangi (aus La Traviata) singt, dann illustriert sie das Weinen nicht, sondern verbindet Handlung, Musik mit Sprache. Gute Schauspieler tun das so oder so. SSch _ Du bist ja auch irgendwann vom Odin weggegangen. Warum?
WY _ Ich bin eigentlich nicht weggegangen und habe noch lange Zeit mein Zimmer dort gehabt. Aber während längerer Tourneen des Odin habe ich in Frankfurt immer wieder eigene Theaterarbeiten gemacht, habe Workshops gegeben und an der Uni Bremen als Dozent gearbeitet. Es hat sich so ergeben, dass meine eigenen Tätigkeiten für mich wichtiger wurden. Wir haben uns zwar immer wieder gesehen und ich habe mit meiner Frankfurter Truppe auch mal eine Zeitlang in Holstebro geprobt. Eine sehr schöne Arbeit dort war jene mit Jean Claude Tiga, einem Voodoo-Priester, der gerne mit Europäern arbeiten wollte, weil er sich auf eine Zusammenkunft mit Grotowski vorbereitete. Er wollte mich als einen „Ghede“ einweihen – einen Totengott, wie man ihn kennt, mit Zylinder und Fischkrawatte. Ich sollte nach Haiti kommen, doch das kam dann nicht mehr zustande. Die Trennung ging sehr langsam vor sich. SSch _ Du hattest auch noch Bücher für das Odin Teatret herausgegeben.
WY _ Ich hatte eine Reihe von Aufsätzen im Rowohlt Verlag herausgegeben und ein Buch in Bremen veröffentlicht. Es hieß
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Tragt Masken, schont euer eigenes Gesicht und ich habe das Barba-Buch Jenseits der schwimmenden Inseln und auch jenes von Richard Schechner Theater und Anthropologie herausgegeben. Als Herausgeber stand dort zwar immer Robert König, doch ich habe zusammen mit Schechner die Texte herausgesucht und gekürzt. SSch _ Dann hast du in Frankfurt mit deiner Gruppe, der Theater-Assoziation, gearbeitet, aber du hast auch in Italien eine Sommerschule durchgeführt.
WY _ Ich habe in Frankfurt immer nach einem nicht dramatischen Theater gesucht und wir haben ziemlich chaotische Produktionen gemacht. Das konnte es aber auch nicht sein. Also nahmen wir uns wieder ein Stück oder eine Erzählung vor. Wir schwankten immer zwischen Produktionen, die gut ankamen und auch in der Presse hoch gelobt wurden, und Stücken, die auf Unverständnis stießen.
Wir spielten dann von Heiner Müller Verkommenes Ufer Medeamaterial (mit seiner Erlaubnis) und nach einem Eklat in der Gruppe stiegen alle Frauen aus der Produktion aus. Wir waren mit der Produktion in Marburg und konnten nicht spielen, da wir nur noch drei Männer waren. Das Stück war aber zwei Mal ausverkauft. Wir haben also doch gespielt und die ganze Vorstellung improvisiert. Wir fanden das Resultat so gut, dass wir es als Grundlage für eine Neuinszenierung genommen haben, die auch auf ein Festival nach Freiburg eingeladen wurde und sich gut verkauft hat. Und da hatten wir auch den Dreh raus und wussten, wie wir unsere Art von Theater mittels Montage produzieren konnten. Da wir über keine fortlaufende Finanzierung verfügten, haben wir 1989/90 zusammen mit anderen das Fördermodell Freies Theater in Frankfurt durchgesetzt. Das war eine politische Meisterleistung und wir konnten danach auch von der Förderung profitieren und hatten ein paar gute Jahre.
SSch _ Das hat dann aber nicht dazu geführt, dass ihr euch dort so etabliert habt, dass ihr als Theater ein feste Größe wurdet. Was passierte dann?
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WY _ Förderung ist ja einerseits wünschenswert, aber andererseits weckte sie auch Begehrlichkeiten. Es entstand mehr und mehr ein Haifischbecken und wir hatten das Gefühl, dass wir alle Kraft darauf verwenden mussten, unsere Förderung zu verteidigen. In dieser Situation (1994/95) hatten wir in Italien in der Nähe von Carrara unsere Europäische Theaterschule mit Lehrenden aus Frankreich, Russland und anderen Ländern und Schülern, die zum größten Teil aus Holland und Deutschland kamen. Nach drei Monaten in Italien kamen wir nach Frankfurt zurück und unsere Förderung war weg. Ich hätte sie vielleicht zurückerhalten können, doch der Aufwand war mir zu groß. Ich wollte lieber eine Form der Arbeit finden, bei der ich von Subventionen unabhängig war. Nach einem Jahr Pause bekamen wir über die Wirtschaftsförderung Frankfurt als „kleiner mittelständischer Betrieb in der Kommunikationsbranche“ in einem Gebäude eines Medienunternehmens Hallen und ein Büro kostenlos zur Verfügung gestellt. Dort haben wir gearbeitet und manchmal etwas Geld mit PR-Jobs verdient.
HF _ Wie war denn die Situation Ende der Achtziger-/Anfang der Neunzigerjahre? Es gab ja schon den Mousonturm als Spielstätte für Freies Theater und 1985 wurde mit Tom Stromberg das Neue TAT aufgebaut, also zwei Hochburgen für freie Theaterformen. Habt ihr dazu kein Verhältnis gesucht oder gefunden? WY _ Mit Dieter Buroch haben wir zusammengearbeitet. Er hatte unter anderem unsere allererste Produktion in seinem Summertime-Programm gezeigt. Damals war er noch im Kulturamt tätig. Als Leiter des Mousonturms wollte er sich dann lieber mit internationalen Produktionen profilieren. Das TAT in dieser Form als Spielstätte gab es schon länger. Dem Ensemble wurde Anfang der Achtziger gekündigt und davon hat sich dann ein Teil als freie Gruppe gegründet. HF _ Schlicksupp Theatertrupp?
WY _ Ja, genau. In den Folgejahren sollten dort Frankfurter Produktionen, Eigenproduktionen und Gastspiele stattfinden. Das hat aber wegen unzureichender Produktionsbedingungen nicht funktioniert. Als Tom Stromberg kam, gab es in Frank-
furt Geld im Überfluss. Defizite in Millionenhöhe wurden ohne Weiteres von der Stadt getragen. Er hatte auch einen Hang zu den großen Gastspielen und großen Eigenproduktionen, die zulasten des Ensembles gingen. Manchmal fühlten sich die Schauspieler ‚arbeitslos‘ und kamen dann zu uns, um mit uns ein Theatertraining zu machen. SSch _ Wann kam das Ende der Gruppe, der Theater-Assoziation. Wie kam das?
WY _ Um die Jahrtausendwende. Erst hatten wir die Subventionsproblematik, dann hatten wir die großen Hallen zu bespielen. Einige bekamen Jobangebote und gingen weg und ich bekam ein interessantes Angebot aus Bremen über Jörg Holkenbrink, der dort das Theater der Versammlung und an der Uni das Zentrum für Performance Studies leitete. Da ging es darum, Theatermittel innerhalb des Wissenschaftsbetriebs einzusetzen. Einerseits bei der internen Kommunikation zwischen den Fachbereichen und andererseits auch im Lehrbetrieb. Das war eine in Deutschland einmalige Sache.
Vor diesem Hintergrund setzte ich mich in Frankfurt mit Joachim Reiz, dem Leiter des Schultheaterstudios, in Verbindung und habe seit 2002 viele Workshops in Schulen und in der Lehrerfortbildung durchgeführt. Gleichzeitig leitete ich eine Gruppe von jungen Leuten, mit denen ich eine Schauspielausbildung durchführte, in der ich meine ganzen Erfahrungen systematisch umsetzen konnte. Wir hatten ja viele persönliche Kontakte gehabt, sei es Kontaktimprovisationen mit Steve Baxten, Jerzy Grotowski, Dario Fo und Odin Teatret natürlich. Wir wussten immer, woher was kommt. Wir sahen zum Beispiel beim Schultheater, dass mit einem „Freeze“ gearbeitet wurde. Das hatte das Living Theatre entwickelt und kam dann über persönliche Kontakte zum schwedischen Jord Cirkus nach Europa. Dieses „Freeze“ ließ sich sogar noch weiter bis zu Meyerhold zurückverfolgen. Der Jord Cirkus führte 1980 einen Workshop für Theaterlehrer in Hamburg durch und sorgte für große Begeisterung in der Szene der Theaterlehrer und auch der Frankfurter Theaterpädagogen. So hatte also vieles in der Schultheaterarbeit seine Ursprünge in der
Freien Szene. Ich habe mich dann auch immer mehr auf den Bereich Schule fokussiert. In den letzten Jahren habe ich mich an Projekten beteiligt, bei denen bildende Kunst, Theater und Musik mehr und mehr den Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens darstellten. Mathematik oder Naturwissenschaften mit Theater zu vermitteln, wurde dort meist in interdisziplinären Projekten ausprobiert. Wir wurden zunächst 2011/12 noch belächelt, aber als später die Schüler einer Integrativen Gesamtschule aus dem Frankfurter Westen Theaterpreise bekamen und sich gleichzeitig auch die Schulnoten verbesserten – das war eigentlich nicht unser Ziel –, bekam das Kultusministerium das auch mit und arbeitete mit uns daran, wie man so etwas auf andere Schulen übertragen könnte. Es gibt nun die Überlegung, ‚Profilschulen‘ zu entwickeln, und ich hoffe, daran mitwirken zu können. 2019 stellten wir unsere Arbeit auf einem kleinen Symposium für Theater- und Musiklehrer vor. Nach uns sprach der Referent für kulturelle Bildung im Hessischen Ministerium, der unsere Arbeit in den vorangegangenen Jahren verfolgt hatte. Er dankte für unseren Beitrag und sagte, man müsse die Arbeit wirklich gesehen haben, um sie zu verstehen. Zu sehen ist allerdings derzeit nicht viel, doch wir arbeiten an einer Möglichkeit, unsere Erfahrungen für andere Schulen fruchtbar zu machen.
HF _ Ich sehe den großen Bogen, den du da beschreibst, vom Freien Theater aus den Siebzigerjahren bis zu einer kultur- und bildungspolitischen Übernahme von Verantwortung, wo sich das Erfahrungswissen und dessen Reflexion in gesellschaftlich relevante Praxis mit nachwachsenden Generationen umsetzt.
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WY _ Obwohl es ja immer das Gleiche bleibt. Es geht doch immer um die Wirkung von Theater auf die Menschen.
Das Gespräch führten Siegmar Schröder und Henning Fülle am 23. Januar 2024 per Videocall.
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Siegmar Schröder: Das Theaterlabor und die Pädagogik Wir haben uns im Theaterlabor durch all die Aus- und Weiterbildungen einen großen Schatz an Techniken, Methoden und Prinzipien aufgebaut. Wir waren dabei nie auf den einen eigenen Stil fixiert, sondern haben aus diesem Fundus für jede neue Produktion die passenden Bausteine genommen, um dann eine dem Thema angemessene Form und Ästhetik zu entwickeln. Ich war kein Spezialist irgendeiner Technik und hatte auch kein Sendungsbewusstsein zu deren Vermittlung.
Wir haben im Theaterlabor keine systematischen Ausbildungsgänge entwickelt und wurden deshalb nie zu einer Anlaufstelle der internationalen Workshopszene. Mich interessierte mehr die szenische Arbeit und ich benutzte pädagogische Mittel eigentlich nur, um diese voranzutreiben. Gleichzeitig bewunderte ich die Künstler*innen, die eine extreme Perfektionierung ihrer Technik betrieben. Neben inspirierenden Künstlern von hoher methodischer Qualität wie Ismael Ivo oder Yoshi Oida möchte ich mit Fatima Miranda eine weitere Künstlerin herausstellen: 2007 sahen wir eine Performance von ihr auf der Biennale in Venedig. Wir sollten dort unsere Arbeitsprobe Body Fragments zeigen und warteten auf die Umbaupause. Da entführte sie uns mit ihrer Stimme tatsächlich für eine Zeitlang in eine andere Welt. Sie arbeitete mit Tönen, die ich so vorher noch nie gehört hatte. Wir luden sie in der Folge einige Male nach Bielefeld ein, um ihre Stimmkunst unserem Publikum zu präsentieren. Ich fragte sie damals sofort, ob sie auch Workshops geben oder mit unseren Schauspieler*innen arbeiten würde. Sie verneinte und sagte, dass sie selbst immer noch eine Lernende sei und nicht wisse, wie sie diese Techniken vermitteln könne. Sie hatte sich im Laufe ihres Lebens mongolische und indische Stimmtechniken sowie verschiedene Methoden des Obertonsingens angeeignet. Als ich im Herbst 2023 das Interview mit Leo Bassi in Madrid führte, habe ich sie nach über zehn Jahren wieder getroffen. Sie beschäftigte sich gerade mit einer spezifischen persischen Stimmtechnik und erzählte, welche Disziplin dieses Training erforderte. Mitt-
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lerweile hatte sie begonnen, Workshops und Seminare zu geben. Ich habe in meinem ganzen Leben versucht, den großen Künstler*innen ihre Geheimnisse zu entlocken, um dadurch meinen szenischen Baukasten zu vergrößern, und würde gerne auch einen ihrer Workshops besuchen. Sie ist eine große Künstlerin, obwohl sie zu den eher Unbekannten gehört. Ihr Stil ist nicht Mainstream, aber die Rezeption ihrer Arbeit führt in die Kontemplation.
Ich selbst war zwar an der pädagogischen Arbeit mit Anfänger*innen und Schüler*innen nicht sehr interessiert – sah sie eher als notwendiges Vehikel, um in Workshops und bei Kooperationen szenisches Material zu erarbeiten und Gruppenprozesse zu steuern –, doch immer dann, wenn es darum ging, außergewöhnliche Begegnungen künstlerisch zu gestalten, war ich motiviert. Deshalb erwähne ich ein Projekt, das zwar außerhalb der professionellen internationalen Theaterzusammenhänge angesiedelt war, jedoch in besonderem Maße zeigt, wie wir uns mit unserer Erfahrung in ein Schulprojekt einbringen konnten. Zunächst hatten Lehrende des Oberstufenkollegs die Idee, dass über ein gemeinsames Europa nicht nur geredet werden sollte, sondern man eine reale Austauschsituation mit anderen Schulen aus Europa herstellen müsse. Diese sollte durch ein gemeinsames Theaterstück gestaltet werden und wir wurden gefragt, ob wir das gemeinsam mit allen Schüler*innen entwickeln könnten. Aus diesem Kontext entstand beim Theaterlabor ein Zweig der kulturellen Bildung, der heute noch besteht.
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Theaterlabor/Teater Albatross, Die Auferstehung, 2002
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Theaterlabor und lokale Beteiligte, Textil – ein geschichtsträchtiger Stoff, Plakat, 2006
Tilman Rhode-Jüchtern: Europa wird gemacht – ein Bottom-up-Projekt Sie wollten nicht mehr weg von Bielefeld – 140 Schüler*innen aus Lettland, Estland, Litauen und aus Berlin, Jena und Bielefeld waren nach vier Trainingstagen glücklich über die Kulturcollage Meeting Points und mit ihnen über 300 Zuschauer*innen, die jetzt beim festlichen Abschluss der internationalen Kulturtage zu Gast waren.
Europa – Heimat und Fremde (20. bis 24. September 2006) war das Projekt am Oberstufenkolleg an der Universität Bielefeld überschrieben; an diesem Kolleg lernen Schüler*innen aus 37 Nationen. Jede Schule hatte ein Produkt vorbereitet, das in einer theatralischen Collage mit den anderen verbunden werden sollte. Tanz, Sketche, Politik und Musik auf sechs Bühnen wurden vom Theaterlabor Bielefeld unter der Leitung von Siegmar Schröder arrangiert. Das Theaterlabor verfügt über große Erfahrungen in den Bereichen internationale Kooperation und Inszenierung; damit ergab sich die vielversprechende Möglichkeit, Schüler*innen mithilfe professioneller Theatermethoden eine ungewohnte ästhetische und politische Erfahrung zu vermitteln. Das Bühnenbild, zugleich das Leitmotiv, zeigte vor den Umrissen Europas mit einer Menge von meterhohen fragilen Leitern aus Papier die Baustellen, an denen gegenwärtig ‚Europa von unten‘ gemacht und ständig verändert wird.
Alle, die dabei waren, nehmen die Erinnerung mit in ihr Leben; auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit sind Gefühle nicht zu konservieren, trotz DVD-Dokumentation. Obwohl wir das im Folgeprojekt in Jena wohl versucht haben, nach der berauschenden Erfahrung in Bielefeld. Dort hatten sich viele unserer ausländischen Gäste mit Tränen in den Augen verabschiedet, ihre Kommentare reichten von: „Das war das Schönste, was ich je erlebt habe“ bis hin zu: „Europa ist cool“. Das Projekt war so überzeugend geraten, dass der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft im Rahmen seines Akti22
onsprogramms PUSH (Public Understanding of Science and Humanities) die zweite Runde des Europa-Projekts Europa wird gemacht – Variationen einer Bottom-up-Konstruktion in Jena finanzierte. Damit konnten im Folgejahr wiederum 120 Schüler*innen aus acht Schulen aus sechs Ländern mit sehr unterschiedlichen Profilierungen nach Jena eingeladen und das Theaterlabor Bielefeld finanziert werden. So war es einerseits ein Glücksgefühl, den Rumän*innen zuzusehen und zu hören, wie sie perfekt spielten, sangen und Solo tanzten. Sie spielten Geige wie Samt und Seide und legten einen zum Weinen schönen Libertango von Piazzolla aufs Parkett, aber sie kamen eben auch vom National College of Arts. Dagegen konnten die anderen von der Regelschule nur mit persönlichem Charme und Witz überzeugen. Also lautete die Devise: „Jeder gibt an seinem Platz sein Bestes.“ Eine Besonderheit des Projekts war wiederum, aus mitgebrachten fertigen Bausteinen auf (teilweise) hohem Niveau etwas Gemeinsames zu komponieren, ohne das Niveau zu „harmonisieren“. Es sollte vielmehr höher entwickelt werden. So etwas kann das Theaterlabor Bielefeld, es hat 25 Jahre Erfahrung als Off-Theater und bezieht seine Maßstäbe auch aus internationalen Festivals rund um den Globus. Das Team betrachtete die einzelnen Präsentationen, machte dabei Notizen. Nach drei halben Tagen, als die acht Gruppen durch waren, setzten sich die fünf Theatermacher*innen in eine Ecke und komponierten ein Programm von 100 Minuten aus einem Materialvorrat von 170 Minuten. Es gab zwei Workshops mit einem Training für Massenszenen, es gab zwei Bühnen mit einem großen Gang dazwischen sowie eine dritte Bühne für die Musik, es gab klare Ansagen für Kürzungen bei allen und für die Verflechtung der einzelnen Teile zu einer großen Collage. Die Verwandlung der leeren Industriehalle in ein Theater auf dem Gelände der Imaginata22 war erstaunlich.
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Die Imaginata ist ein 1995 gegründetes deutsches Science Center in Jena. Das Experimentarium für die Sinne gehört mit seinem Stationenpark zu einem der ersten derartigen Zentren in Deutschland.
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Susanne Linke, 360°-Festival, 2003
Theaterlabor, Kamikaze, 2002
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182 Farma v jeskyni, 360°-Festival, 2005 xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Ismael Ivo, Koffi Kôkô, 360°-Festival, 2003
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Granhoj Dans, 360°-Festival, 2003
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Internationales Erfahrungsfeld Siegmar Schröder: Die Zeit der Festivals Spätestens nach unserem Umzug in das große Theaterhaus und mit der Durchführung der ISTA und des Festivals 360° im Jahr 2000 war Bielefeld ein Begriff in der internationalen Szene geworden und es begann die Zeit der Festivals. Wir konnten dadurch viele Künstler*innen einladen, die wir gut fanden oder die wir kennenlernen wollten, darunter auch viele Produktionen aus dem Tanzbereich. Zu Susanne Linke, Ismael Ivo, Palle Granhoj, Pal Frenak und anderen konnten wir persönlichen Kontakt knüpfen und sie waren gut für unser Publikum, da es in Bielefeld eine Entwicklung in diese Richtung gab. (Das Stadttheater stärkte seine Sparte Tanztheater und das Kulturamt veranstaltete jährlich ein Tanzfestival.)
Da wir in unserer eigenen Ästhetik oft dem nahe waren, was im Tanztheater gemacht wurde, wollten wir auch selbst Austauschprojekte in diesem Bereich initiieren. Als Organisator*innen waren wir immer sehr nah an den eingeladenen Künstler*innen und eine*r unserer Schauspieler*innen war jeweils für die persönliche Betreuung zuständig.
Die ersten Ausflüge in andere Länder brachten uns viele Erkenntnisse darüber, wie ein Theaterstück bei einem anderen Publikum funktioniert. Während wir 1984 in Trevignano, Italien, auf dem ersten Festival, auf das wir eingeladen wurden, mit einer offenen Probe aus Fragmenten von Improvisationen schon ganz gut ankamen, da dort die Texte eine untergeordnete 23
Rolle spielten, funktionierte unsere erste Version der Dramatisierung von Meister und Margarita 1985 in Blois, Frankreich, überhaupt nicht. Dort stand eine Textfassung auf Deutsch im Vordergrund und das Stück wurde nicht in erster Linie durch körperliche Handlungen getragen. Die zweite Version dieses Stückes, MiM, die radikal anders war und international verständlich sein sollte, brachte uns sehr gute Kritiken auf dem Waves-Festival 1987 in Kopenhagen ein. Gleichzeitig kamen unsere Straßentheateraufführungen mit unserer Parade, in der wir die klassischen Elemente wie Stelzen, Feuer und Akrobatik benutzten, sowohl in Italien als auch in Frankreich sehr gut an. ‚Straßentheater International‘ war für uns eine Linie, die wir bis 2019 mit der Teilnahme an dem Europäischen Austauschprojekt Mauerspringer (vom italienischen Teatro Due Mondi 23 organisiert) und unseren Aufführungen von Moving On in Bilbao und Faenza fortgesetzt haben. Als wir mit Tagvögel – oder die widerrechtliche Ausübung der Schauspielerei (inspiriert von Werk und Leben Max Ernsts) in den Jahren 1991 und 1992 auf Tourneen durch Europa gingen, hatten wir zwar eine Produktion, die visuell und musikalisch angelegt war, aber dennoch sehr unterschiedliche Reaktionen beim Publikum auslöste. Das ungarische Publikum war sehr zurückhaltend, fast ernster als das deutsche, das dänische und estnische höflich freundlich und das polnische Publikum reagierte stärker, ging mehr mit. Wenn die Aufführungssituation von den Veranstaltern nicht
Eine ausführliche Dokumentation zu diesem Projekt ist unter dem Titel Mauerspringer im Verlag Titvillus auf Italienisch/Englisch herausgegeben worden und auszugsweise auf www.theaterlabor.institute veröffentlicht.
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gut ausgewählt war, wie zum Beispiel in Bratislava, als wir in dem riesigen Saal eines Kulturhauses einer Vorstadt vor 20 Leuten spielten, die zum größten Teil aus Theaterkritiker*innen und Organisator*innen bestanden, wollte keine rechte Atmosphäre aufkommen. Wir haben danach keine weiteren Auftritte in der Slowakei bekommen. Neben dem polnischen Publikum, das wir im Laufe der Jahre mit fast allen unseren Produktionen – sowohl Straßentheater als auch indoor – besuchten und das für uns der Maßstab für die Qualität unserer Arbeit wurde, war für uns das kanadische Publikum unglaublich wohltuend. Vor allem im Westen gab es auf jedes Detail der Aufführung hörbare Reaktionen. Ich sah plötzlich meine Regiearbeit auf ganz neue Weise. Ich bekam die Effekte, das Spiel mit Bedeutungen, die Überraschungen, das Spiel mit dem Publikum ganz direkt reflektiert. In Deutschland musste man in langen, zähen Publikumsgesprächen aufdecken, was die Zuschauer*innen gesehen und gefühlt hatten, doch in Kanada lag alles bereits während der Aufführung offen zutage. Ich lernte durch diese extremen Reaktionen sehr viel darüber, wie meine eigenen Inszenierungen aufgebaut waren.
Unser Theater entwickelte sich zu einem Ort, der in einer internationalen Szene bekannt war. Oft kamen Theater zu uns, weil sie auf dem Weg waren und in Bielefeld einen Stopp einlegten, oder sie hatten eine Einladung aus Übersee nach Europa und schlossen einen Aufenthalt bei uns an. So spielten auch Theater wie Teatro Action (Argentinien) und Yuyachkani (Peru) bei uns. Anfangs hatten wir noch keinen finanziellen Background und nur durch unsere Festivals 1986 und 1992 konnten wir anderen Theatern Gage zahlen. Für den Aufbau internationaler Beziehungen war es wichtig, Gruppen zu treffen, die auf Basis von Eintrittseinnahmen und Gastfreundschaft zu uns kommen konnten. Wir unternahmen auch eigene Ausflüge, die nicht gut finanziert waren. Vor allem die Reisen in den ehemaligen Ostblock (Polen, Slowakei, Ungarn, Estland, Serbien) finanzierten wir vor und kurz nach der Wende selbst. Wir konnten jedoch auf diese Weise unsere Erfahrungen mit anderem Publikum vertiefen und der Name der Stadt Bielefeld wurde immer bekannter.
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Mit der neuen Infrastruktur im Tor 6 brach die Zeit der großen Festivals an. Von 2000 bis 2008 organisierten wir fünf internationale Festivals unter dem Titel 360°. Dadurch konnten wir neue Kontakte knüpfen, Koproduktionen und Austauschprojekte anschieben und zu einem festen Bestandteil einer internationalen Szene werden.
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Siegmar Schröder: Banff und Sundance Ich bin hier in einem Zentrum, das die allerbesten Arbeitsbedingungen für Kulturschaffende bietet. Das Banff Centre24 liegt wunderschön mitten in einem Nationalpark in den Rocky Mountains. Man hat schon beim Frühstück den Blick auf ein unglaubliches Panorama. Auf dem Weg zu den Arbeitsräumen trifft man manchmal ein Reh, das gemütlich die Blumenbeete abknabbert. Große Studios mit Tanzboden laden zum Arbeiten ein oder man geht in einen der Sitzungsräume und hat dieses Bild einer typischen kanadischen Arbeitssituation vor Augen. Jede*r sitzt vor seinem/ihrem Laptop und schreibt oder sucht irgendetwas, während sich alle gleichzeitig unterhalten. Ich bin hier in einer ‚Blauhelmmission‘, wie mein schottischer Kollege John Paul bemerkt. Wir sind die europäischen Beobachter einer sehr besonderen Schöpfung: der künstlerischen Auseinandersetzung mit „Treaty Seven“25, dem siebten und letzten Abkommen, welches die Briten mit den indigenen Stämmen im südlichen Alberta im Jahre 1877 getroffen hatten. In einer Gruppe von ca. 25 Personen sind mehrheitlich First Nations vertreten. Es sind Künstler*innen, eine Historikerin, Lehrer*innen und zwei der Ältesten dabei.
Das historische Material ist zweigeteilt: Es gibt die schriftliche Fassung des Abkommens, dessen Text nicht einmal ein englischer Muttersprachler versteht, es gibt einige Briefe und Dokumente und dann gibt es die mündlichen Überlieferungen, die zum Teil über viele Generationen noch jetzt von den Ältesten und deren potenziellen Nachfolger*innen erzählt werden. Überhaupt ist das für mich die große Entdeckung: Die Ältesten haben einen unglaublich großen Schatz an Geschichten, die sie bei jeder passenden Gelegenheit zitieren können. Dazu kommt ein großartiger Humor, so dass jede schreckliche Geschichte am Schluss leichter verdaut werden kann. Und es gibt viele solcher Geschichten, über die Pockenepidemien, die 24 25
den größten Teil der indigenen Bevölkerung dahinrafften, über die Whiskeyverkäufer, die sehr viele in die Alkoholabhängigkeit brachten, über das Abschlachten der riesigen Büffelherden und über die Residential Schools, in die die Kinder aus ihren Familien gerissen und zwangseingewiesen wurden, in denen sie ihre Sprache nicht mehr sprechen und ihre Traditionen (Tänze, Rituale, Musik, Religion) nicht mehr leben durften. Es sind Geschichten, die sehr betroffen machen. Wir sind hier in Banff zu dem Projekt Making Treaty Seven zusammengekommen, um erste theatralische Ansätze herauszuarbeiten, die dann in einer Präsentation auf einem Symposium in Calgary gezeigt werden. Dort werden auch wieder viele der Ältesten anwesend sein und es bedarf ihrer Zustimmung, dass dieses gemeinsame Projekt überhaupt durchgeführt werden kann. Das gilt zumindest für diejenigen indigenen Künstler*innen, die sich an die traditionellen Stammesstrukturen halten. Im Sommer 2012 flog ich wieder nach Calgary, um an einem Sundance der Blackfoot-Nation teilzunehmen. Ich hatte meinen Sohn Paul mitgenommen und die kanadischen Kolleg*innen um Michael Green hatten ein gebrauchtes Wohnmobil für uns gekauft. Es war nicht möglich, mit meinem autistischen Sohn in einem Tipi mit zehn anderen Personen zu übernachten. Auch wegen vieler Unverträglichkeiten meines Sohnes war es gut, eine eigene Kochgelegenheit zu haben. Wir fuhren nach Fort McLeod, das ungefähr 180 km südlich von Calgary liegt. Ungefähr 20 km weiter war dann das Camp, das sich als viel größer entpuppte, als ich es mir vorgestellt hatte: ein riesiger Kreis aus Tipis, flankiert von einigen Wohnmobilen. In der Mitte ein sehr großes Zelt, das der Frauengesellschaft vorbehalten war. Von dort aus nahmen viele Zeremonien und Rituale ihren Anfang. Auf der anderen Seite des Kreises erwarteten uns die Tipistangen von dem Tipi, das uns von
Das Banff Centre for Arts and Creativity wurde 1933 als Bildungseinrichtung gegründet. Anfangs als Ort eines Theaterkurses ist es nun ein globales Zentrum für Austausch und Weiterbildung in Dutzenden Disziplinen. „Treaty Seven“ wurde 1877 zwischen der britischen Krone und den Stämmen des südlichen Alberta, mehrheitlich Blackfoot Nation, unterzeichnet.
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Beverly Hungry Wulf zur Verfügung gestellt worden war. Leider mussten wir beim ersten Aufbau die Grundstruktur der Stangen wieder abbrechen und neu aufbauen. Wir konnten dann später einer anderen Gruppe beim Aufbau helfen und fingen schon an zu fachsimpeln. Ansonsten lernten wir von Anfang an einen anderen Umgang mit Zeit. Das fing bereits mit der Planung an. Man sagt, dass bis zum Sundance vom ersten Donner des Jahres eine bestimmte Anzahl von Tagen vergehen müsse. Ich hatte aber auch eine Version gehört, dass vom Aufwachen der Bären aus ihrem Winterschlaf gezählt wird. Grundsätzlich hat das nur zur Folge, dass man, aus Übersee kommend, nicht so einfach seinen Trip planen kann, da erst wenige Wochen vor Beginn der Termin feststeht.
Auch das Programm der Rituale ist nur ungefähr bekannt. Eine Zeremonie verschiebt sich manchmal um einen Tag, ohne dass uns jemand der uns beherbergenden First Nations sagen könnte, warum. Alles ist sehr geheimnisvoll und man lernt, zu warten. Uns wird zum Beispiel gesagt, dass an einem Tag gegen Mittag eine Zeremonie zu erwarten ist. Es ging darum, dass die Frauengesellschaft zum ersten Mal aus ihrem Zelt kommen würde. Und richtig, am frühen Nachmittag stellen die ersten ihre mitgebrachten Campingstühle in einen Kreis um das Frauenzelt. Eine Stunde später passiert noch nichts. Uns wird klar, dass wir auch noch mal weggehen können, etwas essen und dann wiederkommen. Nach zwei Stunden immer noch nichts. Die Blackfoot nutzen die Zeit, indem sie mit ihren Clans quatschen. Nur wir Weißen sind ein wenig ratlos, weil wir etwas erwarten. Nach weiteren zwei Stunden war es dann so weit. Die Frauen kamen heraus, gingen ein wenig herum, spielten kurz auf ihren Flöten und gingen wieder hinein. Vorhang zu, das war’s. Für uns als Theaterleute eine harte Übung. Eine neue Wahrnehmung von Zeit und eine innere Auseinandersetzung mit Erwartungen. Wir mussten auch endlich den Gedanken loslassen, hier etwas Spektakuläreres geboten zu bekommen. Hier wurde nichts geboten, hier wurde etwas gelebt. Etwas, das sehr alt ist. Wir fragten die Ältesten, zum Beispiel Narcisse, welche Bedeutung das eine oder andere Ritual haben würde, und
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die Antworten gingen in die Richtung, dass noch einmal beschrieben wurde, was wir vorher bereits gesehen hatten. Es gab keine Gründe. Es waren jahrtausendealte Zeremonien, die dadurch weiterleben, dass es wieder viele First Nations gibt, die das wollen. In den 1960er Jahren standen nur noch ganz wenige Tipis beim Sundance und es wurde diesem rituellen Treffen schon sein Ende vorhergesagt. Aber dann gab es eine Renaissance und heutzutage sind ungefähr 2.000 Menschen dabei. Wir sind ungefähr zehn Newcomers, eine davon ist eine Anthropologin aus Dänemark, die anderen sind aus unserer Künstler*innentruppe. Normalerweise ist die Teilnahme am Sundance für Weiße nicht erlaubt. Wir werden immer misstrauisch beäugt, ob wir auch alles richtig machen. Einmal gehe ich mit Paul, der in der Einöde der Prärie endlich mal ein paar Hölzer zum Draufsteigen gefunden hat, zum Wohnmobil zurück und wir werden sofort angesprochen, dass das Betreten und Überqueren der Hölzer, aus denen Tipis gebaut werden, nicht erlaubt ist. Genauso wenig das Fotografieren und Filmen. Die Leute mit den Smartphones mussten sich erst mal darauf einstellen.
Als dann der Regen kam, kam auch der Schlamm. Wir hatten Probleme herauszufahren, um in Fort Mcleod eine Dusche in der öffentlichen Badeanstalt zu nehmen. Man fragt sich, wo aus der trockenen Prärie der ganze Schlamm herkommt. Alle Sachen waren dreckig und es gelang mir nicht, das Innere des Campers halbwegs sauber zu halten. Und Paul war in der Beziehung sowieso eine Herausforderung, denn er liebte die Haptik von Cremes und Ölen. Ein Höhepunkt dieser Liebe war es, dass er fünf Liter Motoröl im Camper verteilte. Da kam dann abends Rayment (oder war es sein Zwillingsbruder?) mit zwei frischen Decken und Laken und fragte in der typisch trockenen Art der First Nations: „Wo ist denn der Deutsche mit dem Motoröl?“ Ohne dass wir einen größeren Plan erkennen konnten, ergab es sich immer wieder, dass einer der Ältesten oder der Chiefs ganz ‚zufällig‘ bei uns vorbeischaute und auf einen Kaffee
oder zum Essen eingeladen wurde und eine lange Erzählung, ein politischer Vortrag oder eine Belehrung folgte. Es gab so schöne Zeremonien wie jene, bei der alle Anwesenden mit ganz vielen Lebensmitteln beschenkt wurden. Es war vielleicht eine Variation des Potlatch, der bei indigenen Stämmen ganz in der Nähe praktiziert wurde. Man fühlt sich ganz seltsam, so beschenkt zu werden und nichts als Gegenleistung erbringen zu können. Bei einem anderen uralten Ritual, zu dem die Frauengesellschaft aus ihrem Zelt herauskam, fand ich es beeindruckend, wie sehr es mit der Moderne verknüpft war. Ein junger Mann ‚fegte‘ mit einem Reisigbesen sehr ernsthaft den Weg, den die Frauen nehmen würden, und ging vor der Prozession her. Es durfte niemand den Weg kreuzen, auch die Kinder nicht, die teilweise von den Erwachsenen festgehalten wurden. Als die Frauen dann an einem Ort außerhalb des großen Tipikreises angekommen waren und dort ein Ritual praktizierten – das man leider nicht sehen konnte, da sie es mit dem Rücken zu den Zuschauenden vollzogen –, war der junge Mann mit dem Besen nicht Teil des Rituals. Er stand neben den Frauen und sah auf sein Handy und tippte ein paar Nachrichten. Als die Frauen wieder aufbrachen, steckte er sein Telefon ein und vollzog mit derselben Ernsthaftigkeit die rituellen Bewegungen mit dem Besen.
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Gespräch mit Michel Jaquelin, Association Arsène Siegmar Schröder _ Wenn ich mich richtig erinnere, trafen wir uns 2012 zum ersten Mal in Alberta, Kanada, beim Sundance.
Michel Jaquelin _ Ja, wir kamen wegen des Projekts von Michael Green, das er auf einem IETM-Meeting präsentiert hatte. Es handelte sich um den „Treaty Seven“, einen noch gültigen Friedensvertrag zwischen der Britischen Krone und den First Nations. Und ich sagte so im Spaß: „Ich würde mich freuen, an dem Projekt mitzuarbeiten, aber nur unter der Bedingung, einen Sundance mitzuerleben.“ SSch _ Also hast du Michael Green dort getroffen?
MJ _ Ich war nicht persönlich da, aber eine Freundin fuhr auch im eigenen Interesse dorthin und stellte den Kontakt her, weil wir uns sehr für dieses Projekt mit den First Nations interessierten. SSch _ Und Michael Green lud euch ein.
MJ _ Ja. Und dann trafen wir dich auf den großen Büffelfeldern mit dem Camper und Paul. Es war sehr interessant: Die ganze Art und Weise, wie die Blackfoot den Sundance durchführten, war für uns total mysteriös. Sie sagten: „Ihr dürft keine Fotos machen und ihr dürft keine Notizen schreiben. Ihr sollt lediglich beobachten und eure eigenen Erfahrungen machen bei dem, was ihr sehen werdet.“ Das war für mich schwierig. Ich bin Fotograf, ich zeichne viel und schreibe gerne.
Am ersten Tag entfernte ich mich etwa 100 bis 200 Meter vom Camp und begann, mit meiner Kamera Bilder zu machen – keine Fotos vom Camp, weil das absolut verboten war. Michael kam gerannt und sagte, dass ich damit aufhören solle, weil die ganze Landschaft und selbst der Himmel darüber heilig seien. Die Blackfoot würden in der Beziehung wirklich keinen Spaß verstehen. So machte ich nicht einmal viele Fotos im Tipi. (Obwohl es dort erlaubt war.)
Ich fand es tatsächlich sehr interessant, nur ein Beobachter zu sein, sich an Dinge zu erinnern und sie nicht zu dokumen-
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tieren – einfach nur da zu sein. Auf diese Weise delegiert man seine Erinnerung eben nicht an ein Foto oder eine Aufzeichnung. Es gibt nur die Augen und Ohren und dein Gehirn, mit dem du arbeiten musst. Wir hatten keinen Rahmen für das tiefere Verständnis dessen, was wir sahen. Ich erinnere mich auch an den Humor der Blackfoot. Einer sah aus wie eine typische indigene Person aus einem Buch oder Film, mit dunkler Hautfarbe, schwarzer Lederkleidung und einem Hut. Ich war von diesem Mann sehr beeindruckt. Als wir uns die Hände gaben, sagte er zu mir: „Keine Angst, ich werde dich nicht skalpieren.“
Die Zeremonien fanden nicht immer am selben Platz statt, aber die Leute schienen zu wissen, was als Nächstes kommen würde, und sie stellten ihre Campingstühle in der Mitte des riesigen Tipikreises an einer bestimmten Stelle auf. Es war immer richtig, wie das Publikum die Szene anordnete. Abends wurde die Beleuchtung durch dafür positionierte Pkw bewerkstelligt, da es im Camp keinen Strom gab. Die Szenerie wurde durch Autoscheinwerfer und Blitze über den Rocky Mountains beleuchtet. Es gab keinerlei Text bei den Zeremonien und es war total unvorhersehbar, was passieren würde. Es war faszinierend.
Einmal erwarteten wir gar nichts, doch es ergab sich ein spontanes Beschenkungsritual, bei dem auf großen Tüchern Banknoten, Gewehre und Ponys ausgestellt wurden. Ich verstand, dass jeder etwas Wertvolles geben musste, um seinen Medizinbeutel („Bundle“) zu bekommen. Es war der Tag der Übergabe der „Bundles“ von einer Familie zur nächsten. Immer wenn wir Erklärungen für Dinge wollten, wurde uns gesagt: „Sieh nur hin!“ und als ich meinte, eine Auseinandersetzung zwischen zwei Blackfoot über den richtigen Aufbau eines Tipis zu beobachten, sagte Narcisse Blood: „Du siehst, was du siehst, und du hörst, was du hörst.“ Das war nicht gegen mich, sondern brachte mich darauf, keine simple Wahrheit zu su-
chen, keine einfache Interpretation für die Dinge des Lebens.
SSch _ Ja, jedes Mal, wenn einer von den Theaterleuten nach Bedeutungen fragte, kam die Antwort: „Wissen wir auch nicht. Sieh einfach nur hin.“ MJ _ Und wir haben nun nach zehn Jahren immer noch eine genaue Erinnerung an diese Dinge, weil es keine einfachen Antworten gab. SSch _ War das bei dir auch so wie bei mir, dass sich nach dieser Erfahrung deine Einstellung in deiner Arbeit mit dem Publikum und seinen (von uns unterstellten) Erwartungshaltungen geändert hat?
MJ _ Ja und nein. Es erschien mir so natürlich. Es war so ein einfacher Weg, einen Teil der Crowd als Publikum und einen Teil als Aufführende aufzuteilen. Ich habe es immer in meinem Kopf, aber man kann es nicht nachmachen – es war kein Theater. SSch _ Ich habe mir auch oft darüber Gedanken gemacht. Es gab Zuschauer, aber kein Theater. Man war einfach nur zusammen. Was denkst du darüber?
MJ _ Diese Zeremonien unter freiem Himmel dauerten sehr lang, manchmal von fünf Uhr nachmittags bis Mitternacht. Und es war kalt, manchmal regnete und stürmte es, aber es machte nichts aus. Wie kann ich ein solches Gefühl in unseren Theatern erzeugen – das Gefühl, einen ‚Erfahrungspfad‘ mitten durch die Natur zu gehen? Ich nahm den Moment als eine persönliche Erfahrung mit Menschen. Das ist fast eine Definition für Theater.
SSch _ Zusammenkommen und jemand macht etwas und jemand anderes sieht zu, was auch immer es ist.
MJ _ Es gab auch Beteiligungen. Eines Nachts holten die „Brave Dogs“ (die Gesellschaft der jungen Männer) sehr laute Rasseln heraus und gaben auch mir eine: Ich sollte mitmachen. Ich war sehr überrascht, dass ich einbezogen wurde. Mitmachen bei etwas, dessen Sinn ich nicht verstand. Einer der Söhne von 26
Ein indigener Stamm in Patagonien.
Narcisse war dabei, der hatte eine besondere Beziehung zu mir, weil ich eine große Kamera hatte und er aufpasste, dass ich sie nicht benutzte. Er hatte immer ein Auge auf mich und sah auf meine Tasche, doch es war nur meine Regenjacke darin.
SSch _ Nach dieser gemeinsamen Sundance-Erfahrung verfehlten wir bei unserem EU-Antrag dessen Bewilligung um drei Bewertungspunkte und haben daher nie das Projekt Making Treaty Seven mit kanadischer, französischer, schottischer und deutscher Beteiligung gemacht – sechs Wochen Arbeit umsonst. Das war eines der wenigen Projekte, die nicht realisiert werden konnten. MJ _ Für uns war das gut, dass es nicht klappte, weil wir viel zu viel Geld als Eigenanteil eingeplant hatten.
SSch _ Das war der Nachteil bei so großen Antragsprojekten: Dass sie von den Beteiligten einen viel zu großen Eigenanteil verlangten, und gerade die kleinen Gruppen konnten das oft nicht leisten. MJ _ Also war es für uns keine so schlechte Nachricht.
SSch _ Aber wir haben ein paar kleinere Projekte gemeinsam gemacht. Was war das für eine Erfahrung? An was erinnerst du dich?
MJ _ Wir arbeiteten zusammen an dem Thema Camouflage (Tarnung) und kamen 2018 nach Bielefeld, was nicht so aufregend war wie die Reise zu den First Nations, und sahen uns Arbeiten von euch an.
Ich hatte damals gerade damit angefangen, den Briefverkehr zwischen meiner Großmutter und meinem Großvater im Ersten Weltkrieg als Recherchematerial zu sichten. Ihr habt uns gefragt, ob wir etwas im Elsass machen könnten, und dann kam die Idee, Camouflage als Grundlage zu nehmen, da sie im Elsass erfunden wurde. Ich hatte darüber ein Buch mit Abbildungen gefunden. Wir orientierten uns zunächst an den Kriegsbemalungen der Alakaluf-Eingeborenen26 und dann an den
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weiter verfeinerten Techniken aus dem Ersten Weltkrieg. Wir gingen in die Natur damit, ohne irgendetwas Theatralisches zu produzieren. Einmal fragte ein Nachbar: „Diese riesigen Felsbrocken, die sich plötzlich vorwärtsbewegten – das wart ihr, oder?“ Ich sagte: „Ja.“ Er war ein Freund und erwartete nichts, während er mit seinem Traktor über das Feld fuhr. Er wurde zu unserem einzigen Zuschauer, ohne es zu wissen. Die Arbeit mit der Camouflage war nicht spektakulär und nur mit wenigen zufälligen Zuschauern, aber wir machten es sehr seriös und mit viel Humor. Wir veränderten die Umgebung immer nur sehr wenig, sodass es ein Spiel mit der Wahrnehmung war. SSch _ Wir haben tatsächlich die Idee der ‚rolling stones‘ übernommen und Objekte für eine Open-Air-Performance gebaut, die von innen bewegt wurden und sich scheinbar selbstständig ihren Weg bahnten. Wir haben diese neuen Objekte in Wolxheim und Straßburg ausprobiert.
MJ _ Ja, da war es sehr kalt und wir spielten vor dem Museum für moderne Kunst, aber die Leute gingen vorbei. Es ist sehr schwierig, in der Novemberkälte Zuschauer zu gewinnen. Wir hatten auch den geschichtlichen Zusammenhang im Kopf. Es war der 100. Jahrestag der sozialistischen Revolution, des zehntägigen Machtvakuums im Elsass, zwischen dem Waffenstillstand und dem Einmarsch der französischen Armee. Niemand anderes machte etwas dazu. SSch _ Wir mochten sie sehr gerne, die Geschichte der zehn Tage ohne Armee, des Machtvakuums.
MJ _ Es waren sogar weniger als zehn Tage, aber die rote Fahne wurde tatsächlich auf dem Straßburger Münster gehisst. Es war eine gute Geschichte. Dann haben wir noch das Projekt Die letzten Tage der Menschheit und Café Europa zusammen gemacht. SSch _ Ja, Café Europa war der Name des Gesamtprojekts.
MJ _ Ich fand es sehr gut, eine Aufführung mit Gruppen sehr unterschiedlicher Stilrichtungen zusammenzufügen. Ich glaube, dass wir uns in der Art zu spielen sehr von den anderen unterschieden, und ich liebte den Kontrast.
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SSch _ Bei euch war es offensichtlich, dass ihr nicht vom Körpertheater kamt.
MJ _ Ja, ich arbeite nicht sehr körperlich, doch ich fand die ganze Entwicklung der Zusammenarbeit gut. Wir konnten das Zerhacken der Kartoffeln (in Nahaufnahme auf Leinwand) einbringen und konnten bei euch auch unfertiges Material sehen. In Frankreich wäre das nicht möglich: Anderen Theatern oder selbst Freunden einen solchen Einblick zu gewähren. Man ist dort mehr … SSch _ Geschützt?
MJ _ Ja, und man hat ständig Angst, dass jemand es nicht gut findet, wenn man etwas Unfertiges zeigt. Und so kam es, dass ich selber sehr angstfrei die Unterhosenperformance im Rahmen von Café Europa in Edinburgh gespielt habe. Normalerweise lese ich nur die Texte, aber diesmal habe ich zusammen mit dem schottischen Schauspieler Martin die Modenschau gemacht. Das war möglich, weil in dem internationalen Ensemble eine tolle Atmosphäre herrschte und ich wenige Monate zuvor in Bielefeld eure Arbeit ungeschützt gesehen habe. SSch _ Wir hatten damals auch Angst, dass ihr das Material nicht gut finden könntet. Wir kannten ja euren Geschmack und eure Ansprüche nicht.
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MJ _ Ihr habt die Angst jedoch nicht gezeigt.
Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 23. Mai 2023 in Deaux, Frankreich. Übersetzung aus dem Englischen: Siegmar Schröder
Theaterlabor/Association Arsène, Camouflage, Wolxheim, Frankreich, 2016
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Making Treaty Seven, Workshop in Banff, Kanada, 2012
Gespräch mit Michelle Thrush, Making Treaty Seven Siegmar Schröder _ Für das Theaterlabor und mich war die Arbeit in Kanada sehr wichtig, vor allem die Arbeit mit den First Nations. Viele ungewohnte Eindrücke haben mich dazu gebracht, meine eigene Wahrnehmung in Bezug auf zeitliche Abläufe und Bedeutungen zu reflektieren. Wie kamst du zu dem Projekt Making Treaty Seven?
Michelle Thrush _ Der Beginn lag im Jahr 2011, als Michael Green, mit dem ich gut befreundet war, auf mich zukam und ein Projekt besprechen wollte. Kanadische First Nations und weiße Kanadier (Settler/Newcomer) sollten künstlerisch zusammenarbeiten und eine gemeinsame Produktion über ein Thema, das beide Seiten betraf, herausbringen. Er war damals als Kurator der kanadischen Kulturhauptstadt Calgary 2012 in der Lage, so etwas zu finanzieren, und wollte mit diesem zentralen Kulturprojekt bei dem Festival die Sichtweise der Ureinwohner repräsentiert sehen. Wir stellten ein Komitee zusammen, in dem zunächst noch keine Künstler waren, und trafen uns über acht Monate lang und diskutierten darüber, was wir in einem solchen Projekt machen könnten, das über 2012 hinaus eine nachhaltige Zusammenarbeit ermöglichen sollte. Michael war von einem Theatertreffen in Neuseeland inspiriert und brachte die Idee mit, den noch gültigen Vertrag zwischen der britischen Regierung und der Blackfoot Nation (das Gebiet von Calgary war Blackfoot-Land) mit dem Namen „Treaty Seven“ zum Thema zu machen.26 Alle anwesenden First Nations waren davon angetan, da es dazu noch keine Diskussionen oder künstlerische Arbeiten gab. Die Ältesten wurden zum ersten Mal nach der Bedeutung der Verträge mit den Briten befragt und erzählten die mündlich überlieferten Geschichten.27 Wir nahmen während der Entwicklung weitere Personen wie Troy Emery Twigg oder Narcisse Blood in das Komitee auf und hatten viele Treffen, bei denen wir den Vertrag diskutierten. 27
Daraufhin kam das Treffen in Banff zustande, bei dem du auch dabei warst.
SSch _ Ich erinnere mich noch daran, dass wir dort einige Szenen zusammengestellt haben, die dann später den Ältesten vorgestellt wurden.
MT _ Ja, Blake Brooker (One Yellow Rabbit) und ich waren die künstlerischen Leiter und Michael war der Produzent. Wir kamen jeden Tag in einem kleinen Raum zusammen mit Beverly Hungry Wolf und Reg Crow Show, der auch eine Zeremonie über den Namen Making Treaty Seven abhielt. Die anderen eingeladenen Künstler nahmen die von den Ältesten eingebrachten Themen mit in kleine Gruppen und entwickelten dazu Szenen. Blake und ich sahen uns diese an und bauten daraus die erste Struktur einer Performance, die dann den Ältesten gezeigt wurde. SSch _ Dieser Prozess war sehr besonders und es war sehr schön, dass ich ein Teil davon sein durfte. Für mich endete der Kontakt zu dem Projekt und zu der kanadischen Szene mit dem Autounfall, bei dem Michael und Narcisse starben. Wie ging es für dich weiter?
MT _ Als das passierte, war ich auch im Vorstand. Es war eine schlimme Situation und wir wussten erst nicht, ob wir weitermachen sollten, haben uns aber nach einigen Vorstandssitzungen dafür entschieden, weiterzumachen und nach vorne zu blicken. Im nächsten Jahr stellten Blake und ich noch eine große Produktion für die Bella Concert Hall in Calgary auf die Beine und die 800 Sitzplätze waren bei allen Aufführungen ausverkauft. Im dritten Jahr wurde Troy Emery Twigg der künstlerische Leiter und brachte mich dazu, gemeinsam mit Floyd Favel, der aus Saskatchewan kam – er war Cree –, 509 und Old Man: The Napi Project in der Art der Trickster-Show28 im
Die Blackfoot hatten als Nomaden keine Schriftsprache entwickelt, also wurde die Vergangenheit durch die Weitergabe einzelner Geschichten zur jeweils nächsten Generation gewährleistet. Alle Stammesmitglieder tragen eine Geschichte, die sie bewahren müssen. Deshalb gibt es viele Geschichten aus der Zeit der Treaties des 19. Jahrhunderts, die viele Jahre schlummerten, aber nun wieder erzählt werden, weil Interesse daran besteht.
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Gray Eagle Event Center zu produzieren. Dort waren die 900 Plätze auch komplett ausverkauft und wir gingen mit der Produktion auf Tour, die Michael Green schon vor seinem Tod geplant hatte, und spielten in Winnipeg und Ottawa. Das war 2017 und danach bin ich ausgestiegen, weil es zu der Zeit viele interne Kämpfe in der Company gab. Es war eine schwierige Zeit. SSch _ Wie wart ihr organisiert, in einem Verein?
MT _ Ja, wir wurden eine gemeinnützige Organisation und auch gefördert.
SSch _ Konntet ihr über die Jahre ein Gleichgewicht zwischen den First Nations und den Weißen bewahren? MT _ Als dann Justin Tex Many Fingers der künstlerische Leiter wurde, nahm es eine andere Richtung. Er war sehr an den Blackfoot-Geschichten und am LGBTQ-Thema interessiert. Er verließ uns 2019 und ich kam 2020 wieder zurück, aber wir mussten wegen Covid umstellen und boten nun eine Menge Online-Kurse an. Ich animierte alle Mitglieder, online zu unterrichten.
Wir begannen in der Zeit auch eine zweiwöchige Residenz mit jungen Künstlern namens Istotsi, was aus Blackfoot übersetzt bedeutet: Entwickele dich. Hier waren fünf First Nations und drei Newcomers eingebunden und einige der Ältesten begleiteten die Residenz. Covid beendete unsere weitere Perspektive und wir entschieden uns, einen Film zu machen – ein toller Film, in dem acht kleine Performances gezeigt werden, die aus diesem Prozess entstanden.
Danach kam die erste Produktion unter meiner Leitung unter dem Namen Time Stands Still heraus. Wir hatten uns von den großen Events verabschiedet und machten nun kleinere Formate. Dieses Stück handelte von zwei Blackfoot-Männern im Gefängnis. Es war von einem Blackfoot- Autor geschrieben worden und die Musik kam von Corb Lund, einem weißen Countrysänger, der in Alberta sehr bekannt war. Das war 28
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mein Weg, die beiden Kulturen zusammenzubringen. Wir hatten die Musik live auf der Bühne zusammen mit den zwei Blackfoot-Schauspielern.
Dann brachten wir noch das Stück Okosi (Herbst) mit einer weißen Power-Band sowie einer Powwow-Gruppe heraus und knüpften wieder an die Tradition der großen Spektakel an. Die erste Aufführung fand 2022 im Pumphouse Theatre statt. Wir wollten uns noch mehr als professionelle Theatergruppe aufstellen, doch letzten Monat verließ ich das Projekt erneut. Es ging wieder nur um Politik und interne Machtkämpfe und das konnte ich nicht mit der kreativen Arbeit zusammenbringen. Im Vorstand waren einige Blackfoot und sie wollten das ganze Projekt übernehmen. SSch _ Ich glaubte von Anfang an, dass die größte Herausforderung dieses Projekts die Wahrung des Gleichgewichts zwischen First Nations und Weißen sowie der Stämme untereinander sein würde. Es war ein sehr sensibles und fragiles Unterfangen mit der Schwierigkeit, sich nur künstlerisch mit der Vergangenheit und der Gegenwart der unterschiedlichen Kulturen zu befassen und damit nicht in erster Linie Politik zu betreiben.
MT _ Ja, das war es immer. Ich habe in den letzten zehn Jahren so viele Auseinandersetzungen mit dem Vorstand gehabt. Es war eine große Sache, doch am Ende zu zermürbend. Mit mir zusammen hat auch Neil Fleming, ein großartiger weißer Theatermacher, das Projekt verlassen und ich kann nicht sagen, wie es weitergeht. Neil kam als Filmemacher 2017 zu dem Projekt, um es zu dokumentieren. Dann war er für dreieinhalb Jahre der Geschäftsführer und ich hatte die künstlerische Leitung und wir konnten eine Balance zwischen den Kulturen herstellen. Er unterstützte die First-Nation-Künstler und das war auch ein Hauptanliegen von Making Treaty Seven: Kreationen der First Nations durch die Unterstützung der Weißen zu ermöglichen und zu verbreiten. Er hatte sich am Schluss auch mit dem Vorstand zerstritten und ist nun raus.
Die Trickster-Show war ein übernatürliches Thriller-Fernsehdrama über das Erwachsenwerden. Die Serie kam 2020 in Kanada heraus.
SSch _ Es macht mich ein wenig traurig, wenn du erzählst, dass es so nicht funktioniert hat. Es geht doch immer wieder um Macht und nicht um die gemeinsame künstlerische Arbeit. MT _ Das war stets unser Ziel: einen sicheren Ort für die Künstler zu schaffen, sodass sie in der Lage waren, ihre Ideen und Geschichten umzusetzen. Es gab eigentlich nicht die erwarteten Konflikte zwischen First Nations und den Weißen, sondern es ging eher um Machtbestrebungen unter den First Nations. Bereits in den ersten Jahren des Prozesses rief Michael alle Beteiligten zusammen und fragte: „Wollt ihr, dass dieses tolle Projekt durch die Blackfoot selbst zerstört wird?“ Es gab über die Jahre immer wieder Probleme mit exzessivem Alkoholgenuss und ich hatte während meiner Zeit ein absolutes Alkoholverbot während der Proben ausgesprochen, um einen sicheren Ort zu schaffen, was der Arbeit sehr gutgetan hat.
Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 17. März 2024 per Videocall. Übersetzung aus dem Englischen: Siegmar Schröder
SSch _ Gibt es eine kontinuierliche Förderung für das Projekt? MT _ Ja, von Alberta bekamen wir im letzten Jahr ungefähr 980.000 kanadische Dollar, also wirklich einen großen Betrag.
SSch _ Viel Geld kann auch eine Ursache für Machtkämpfe sein. MT _ So ist es.
SSch _ Was wirst du nun machen?
MT _ Ich bin wieder eine unabhängige Künstlerin und habe gerade den Lieutenant Governor Award, eine Auszeichnung für besondere Führungspersönlichkeiten in Ontario, verliehen bekommen, der mit verschiedenen Arbeitsmöglichkeiten verbunden ist. Ich werde First Nations im Storytelling unterrichten, mit meiner Soloshow Inner Elder auf Tour gehen und eine ganze Menge unabhängige Arbeiten, auch im Filmbereich, entwickeln. Durch den Preis bekomme ich auch wieder eine Residenz in Banff und kann dort arbeiten, woran ich will.
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SSch _ Womit wir wieder da landen, wo alles begann.
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Abb. S. 22/23: xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Gespräch mit Leo Bassi Leo Bassi _ Für unser Gespräch bin ich letzte Nacht alles noch einmal durchgegangen: Was wir in Bielefeld gemacht haben und vorher, als wir uns beim Santarcangelo-Festival getroffen haben. Und ich habe gemerkt, dass ich einiges vergessen hatte: dieses unglaubliche Abenteuer – das ist vielleicht der beste Ausdruck dafür –, dieses theatrale Abenteuer, fernab von Bühnen zu versuchen, den Kontakt zu wirklichen Menschen herzustellen, zu jungen Menschen, zu Leuten auf der Straße und auf Plätzen, den bourgeoisen Aspekt des Theaters zu brechen. Das war ein unglaubliches Abenteuer. Es war auch ein politisches Abenteuer. All das wäre auch heutzutage wichtig, aber es scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Was ja auch ganz natürlich ist, weil es gegen die politischen Strukturen ging. Wir waren außerhalb der politischen Strukturen, Außenseiter, wir wollten mit ihnen brechen. Ich wollte Theater-Zirkus – nicht eine bourgeoise, akademische, eine geschützte akademische bürgerliche Welt. Ich wollte den Menschen auf der Straße in ihrem Leben gegenübertreten, dort wo sie lebten, wo sie waren. Und das ist politisch. Ich wollte nicht durch das große K („Kultur“ – wir sind Kulturleute) protegiert werden. Ich wollte ungeschützt sein und für das geliebt werden, was ich machte. Nicht für eine Mission, die von einer Regierung ausgegangen wäre. In all diesen Jahren habe ich mit einer Anzahl von Leuten wie dir, Siegmar, dieselben Ideale geteilt, und es ist überraschend, dass all diese unglaubliche Arbeit, die so philosophisch und intellektuell war, so schnell vergessen worden ist. Ich habe den Eindruck, dass wir in den letzten Jahren unseres Lebens die Aufgabe haben, all dies aufzuschreiben, zu dokumentieren. Also: Danke, dass du genau zu diesem Zweck hergekommen bist.
Siegmar Schröder _ Das war eine gute Einleitung. Ja, wir müssen diese Geschichte(n) aufschreiben, weil es wirklich schon lange her ist und die Menschen es vergessen. Du hast 29
mir gerade von Jango Edwards29 erzählt, der kürzlich gestorben ist. Er war sehr berühmt, in den letzten Jahren seines Lebens jedoch ziemlich unten.
LB _ Ja, er lebte in einem kleinen Apartment in Barcelona und hatte sehr schwierige letzte Jahre, auch gesundheitlich und finanziell. Noch einige Jahre zuvor hatte er eine gewisse Bedeutung in Barcelona, weil er dort ein Clown-Institut betrieb und Clown-Unterricht gab. Aber angesichts dessen, was er in seinem Leben geschaffen hat, und des Vergnügens, das er Millionen von Menschen mit seinen Shows und seinen Avantgardeperformances bereitet hat, wurde ihm nicht der Respekt zuteil, den er in seinen letzten Jahren gebraucht hätte. Eine merkwürdige Sache ist passiert: Er starb, glaube ich, am 5. August, und in der New York Times stand er auf der Liste der berühmten verstorbenen Persönlichkeiten. Dabei hatte man sich dort nie für ihn interessiert, und er hat so gut wie nie in den Vereinigten Staaten gearbeitet. In den Staaten wurde er gehasst, er war zwar Amerikaner, aber ist dort fast nie aufgetreten. Das Merkwürdige war, dass nun in einer der führenden Zeitungen in den USA ein Artikel über ihn erschien. Warum hatten sie sich nicht für ihn interessiert, als er noch lebte? Sie hätten ihm das Gefühl geben können, dass er eine Bedeutung hatte. Geschichte ist schon merkwürdig. Es kann also sein, dass Leute wie du, ich und Jango jetzt nicht besonders gewürdigt werden, aber in 40, 50 Jahren entdecken Intellektuelle die Geschichte neu und fragen sich, wie konnten sie nur so ignoriert werden. Es war doch so wichtig, was diese Leute in Bezug auf menschliche Beziehungen getan haben. In diesem Zusammenhang kommt mir immer wieder das Bild von Van Gogh in den Sinn – ich glaube, es ist die Sternennacht –, das von einem Restaurant nicht für den Gegenwert eines Tellers Bohnen angenommen wurde. Ich glaube, es wurde nun für 200 Millionen Dollar verkauft.
Jango Edwards (gebürtig Stanley Ted Edwards, 1950 in Detroit, Michigan, bis 2023 in Barcelona, Spanien) war ein US-amerikanischer Clown und Mitbegründer der Nouveau-Clown-Bewegung sowie Comedian.
Leo Bassi, 1986
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Was mich angeht, so bin ich glücklich. Ich konnte in meinem Leben alle Entwicklungen durchmachen, die ich wollte. Ich ging weg vom klassischen Zirkus meiner Eltern – fünf Generationen von Bassi, seit 1840 Jongleure und Komödianten. Ich sah damals den Zirkus sterben. Ich erinnere mich: Ich war 14 oder 15 Jahre alt. Mein Vater spähte von hinten durch den Vorhang und zählte die Zuschauer, um abzuschätzen, wie viel sie eingenommen hatten, weil sie Geld für Diesel und die Fahrzeuge brauchten. Er zählte eins, zwei, drei, vier … – es waren zu wenig. Es würde nichts dabei herauskommen. Trotzdem sagte mein Vater: „Du musst Jongleur werden, du musst Clown werden, weil das unsere Tradition ist.“ Und ich sagte als 15-Jähriger: „Warte mal, was ist mit dir? Du zählst jeden Abend die Zuschauer und wir verdienen nicht genug Geld. Das ist kein Geschäft mehr, das ist tot. Ich soll eine Tradition fortsetzen, aber diese Tradition ist tot.“ „Halt den Mund, manchmal geht das Geschäft schlechter und dann kommen auch wieder bessere Zeiten, du musst weitermachen.“
Das war einer der Gründe, warum ich auf die Straße ging und Situationen provozierte. Ich wollte nicht sterben wie der restliche Zirkus. Ich wollte überleben. Ich fühlte, dass wir näher an das Publikum ranmussten. Ich erinnere mich auch, dass im Zirkus im Publikum nur Eltern mit Kindern saßen, keine Teenager, keine 20-Jährigen, doch ich war ein Teenager. Ich sagte zu meinem Vater, dass da keiner in meinem Alter sitzt, wenn ich meine Aufführungen mache, aber er sagte: „Wir schauen nicht auf das Alter der Zuschauer, solange sie zahlen.“ „Aber es ist nur Nostalgie! Diese Familien bringen ihre Kinder nur in den Zirkus, weil sie ihn liebten, als sie jung waren.“ Ich sagte ihm, dass seine Show tot sei, dass er schon gestorben sei – ich war ein Teenager und wir hatten schlimme Auseinandersetzungen.
Als ich dann 21 Jahre alt war, verabschiedete ich mich tatsächlich von all dem und ging auf die Straße. Alle Zirkusleute kamen, um mich zu sehen. Sie waren sehr traurig und sagten: „Er war so ein guter Jongleur, so ein guter Clown, und nun bettelt er auf der Straße.“ Am Schluss meiner Aufführungen ließ ich einen Hut herumgehen. „Was haben wir nur falsch gemacht?
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Du stehst in einer so großen Tradition, du bist doch kein Bettler.“ Und ich erwiderte: „Vater, sieh dir das Publikum an. Sie sind alle in meinem Alter und sie sind sehr zufrieden. Sie reden nach der Aufführung mit mir, auch die Mädchen!“ Es war sehr modern, in den Jahren 1975/76 auf die Straße zu gehen, und es herrschte dort so viel Energie. Dann nach zwei, drei Jahren dachte ich, dass Zirkusshows mit Jonglage nicht genug wären. Es braucht einen Bären – und ich musste selbst eine Attraktion wie ein Bär sein. Ich suchte nach Texten, nach neuen komischen Elementen, wollte verrückte Dinge mit dem Publikum machen, mit ‚Fakes‘ experimentieren: Freunde von mir mischten sich unter das Publikum und fingen an, mich anzubeten: „Du bist unser Gott.“ Ich brach immer mehr mit der alten Idee des Zirkus. Irgendwann kam dann mal ein Zuschauer auf mich zu und sagte, dass er von einem Avantgarde-Theaterfestival käme und dass ihm gefallen würde, was ich mache. Ich war zu der Zeit noch nie auf einem Festival gewesen und ich fragte ihn, wie viel Geld ich denn bekommen würde. So begann die Zeit mit den Festivals wie Santarcangelo. Und so haben wir uns getroffen. SSch _ Du hattest also erst kurz vorher mit der ‚Verführung des Publikums‘ begonnen?
LB _ Ja, nach zwei, drei Jahren auf der Straße. Nur zu jonglieren begann mich zu langweilen. Ich hätte zwar gut davon leben können, bekam immer viel Geld nach jeder Aufführung und verdiente mehr als beim normalen Zirkus. Aber am wichtigsten war mir, dass ich Leute in meinem Alter als Publikum erreichen konnte. Das war keine Nostalgie, ich hatte auch jede Menge Ärger mit der Polizei. Zu der Zeit waren Aufführungen auf der Straße in Paris verboten. Zehn, elf Mal wurde ich von der Polizei zum Aufhören gezwungen. Sie verhafteten mich und nahmen mich mit auf das Revier. Das passierte oft. Immer saß ich allein dort und sie sagten: „Sie schon wieder.“ Und dann sagte der Polizeichef: „Ich habe Ihre Show gesehen. Sie sind wirklich gut, so gut, dass Sie in einem Zirkus spielen könnten.“ Ich sagte zu ihm: „Ich will nicht im Zirkus spielen, sondern auf der Straße.“ Ich hatte eine tiefe inhaltliche Aus-
sprache mit dem Polizeichef über das Theater: Er erklärte mir, dass er mich festnehmen müsse, da das Gesetz nun mal so sei. Es sei nicht erlaubt, aber er finde es sehr gut, was ich mache. Dann meinte er: „Ich habe eine Idee: Wir könnten Sie hier in Paris spielen lassen, aber Sie müssen unser Informant sein. Sie arbeiten für uns. Sie kennen die Leute, Sie wissen, wer kriminell ist, wer ein Dieb oder ein Dealer ist. Wenn Sie etwas sehen, dann sagen Sie es uns. So brechen wir nicht das Gesetz. Sie sind sozusagen ein Undercover-Polizist. So können Sie jonglieren und den Clown machen – undercover und legal. Und Sie werden nicht mehr verhaftet.“ Ich dachte natürlich, dass ich nicht für die Polizei arbeiten wollte, aber auch: „Sei kein Idiot, sag ja!“ Ich sagte also zu. Natürlich habe ich der Polizei keinerlei Hinweise gegeben, auch wenn um die Ecke immer jemand stand, der Drogen verkaufte. Ich sagte immer, alles fein, keine Vorkommnisse, aber ich war Informant und niemand rührte mich mehr an. SSch _ Und dann änderten sie das Gesetz?
LB _ Dann durfte man Aufführungen machen, zunächst nur in Beaubourg – nicht an anderen Orten, nur in Beaubourg. Ich konnte aber auch an anderen Plätzen weitermachen, da ich diese spezielle Polizeierlaubnis hatte. Dann lernte ich diese Leute aus Italien kennen und spielte auf vielen italienischen Festivals. Es machte mir sehr viel Spaß, neue Dinge für die Festivals zu kreieren, die du ja auch kennst.
SSch _ Die Situation in Italien war sehr speziell. Ich hatte immer das Gefühl, dass Italien zu der Zeit eine Art Kulturparadies war. In Paris war es noch verboten, auf der Straße zu spielen, aber in Italien spielte sich das ganze kulturelle Leben auf der Straße ab.
LB _ Ja, und dafür gab es Gründe. In Italien war die kommunistische Partei sehr stark. Sie lag immer nur ein paar Prozentpunkte hinter der Democrazia Cristiana (DC), so dass bei jeder Wahl unklar war, ob die Christdemokraten mit dem Vatikan hinter sich gewinnen würden oder der Chef der KPI Berlinguer mit den Linken. Es waren keine ‚bösen‘ Kommunisten in Italien, sondern Eurokommunisten. Und dort, wo sie regional oder lokal
an der Macht waren, gab es diese ganzen Festivals. Es gab also auch eine politische Motivation für all das. Es war ein fantastischer kultureller Moment, auch ein fantastischer politischer Moment. Und die Amerikaner ließen die Italiener gewähren, weil sie annahmen, dass sie mit dem Straßentheater nicht hinterher zum Stalinismus überlaufen würden. Sie führten zwar immer wieder Militärmanöver durch, aber sie griffen nicht ein, da die Kommunisten immer ein paar Prozentpunkte zu wenig für eine Regierungsübernahme hatten. Es war eine außergewöhnliche Situation; auch Eugenio Barba und andere kamen aus diesem Umfeld und gingen dann weiter nach Europa und in die Welt. Der andere Teil passierte in Amsterdam mit dem Festival of Fools. Es gab also diese zwei Seiten und mittendrin Deutschland, wo ein wenig von der einen und ein wenig von der anderen Seite übernommen wurde, aber nicht zu viel. SSch _ Immer ernst genug bleiben!
LB _ Ja, alles sehr ernsthaft betreiben. Und (West-)Berlin war damals noch sehr speziell. Ich habe viel im Tempodrom und auf den Straßen gespielt. Das war vor der Wende sehr frei. Jetzt ist es sehr viel weniger lebendig. Es passieren zwar dort immer noch Dinge, die aber nicht mehr so interessant sind.
SSch _ Wir haben in Italien, in Polen, in Westberlin und in Prag eine Zeitlang eine sehr lebendige Kulturszene erlebt.
LB _ Auch deswegen finde ich unser Gespräch interessant. Es trifft eine meiner großen Fragen: Wie war es möglich, dass dieses ganze Experimentieren – nicht nur im Theater, auch politisch, gesellschaftlich, dass man Dinge zusammen macht, Bewohner miteinbezieht, große Spektakel veranstaltet etc. – nun plötzlich vorbei ist, dass es zu Ende ist, manchmal auch langsam ausgelaufen ist, begleitet von einem Neokonservatismus seit Thatcher und Reagan und von der Liberalisierung der Märkte und dem großen Geschäftemachen? Ein wirklich großes politisches Event habe ich zuletzt vor zehn Jahren hier in Spanien durchgeführt. Dazu muss man wissen, dass ich bereits vor 20 Jahren eine Menge sehr provokativer
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Aufführungen in Spanien hatte. Eines Tages legte jemand eine Bombe in meinem Theater ab – Leute aus der rechten Szene wollten mich töten. Und ich richtete diese kleine Kapelle ein, die den Plastikenten gewidmet ist. Das ist in einem katholischen Land wie Spanien eine ungeheure Provokation. Vor fünf Jahren warf jemand einen Molotowcocktail und sie brannte ab. Und meine letzte Aktion war der Bassi-Bus. Dazu wurde ich von den Touristenbussen inspiriert, die überall durch Spanien fahren. Das ganze Land ist voll von Touristen. Meine Idee war, den Touristen die Dinge zu zeigen, die die Regierung nicht zeigen wollte: korrupte Politiker, Gebäude ohne Baugenehmigung oder einsturzgefährdete Neubauten, also die schlimmen Dinge zu besichtigen wie ein Restaurant, das 80 Euro für schlechtes Essen nimmt. Das war ein großer Erfolg. Ich hatte sechs Busse voll von Touristen – darunter natürlich Theaterleute und interessierte Zuschauer –, die samstags und sonntags die schlimmsten Plätze von Madrid ansahen. Und dann gab es dieses riesige Einkaufszentrum außerhalb von Madrid – nicht weit von meinem Haus entfernt. Es gab mehrere Gründe, dort etwas zu machen: Ich wollte auch etwas in meiner Umgebung machen, und ein Grund war, dass das Zentrum einem sehr reichen Iraker gehörte. Es war gerade im Irak-Krieg 2008 oder 2009, und einer der Politiker, die von den Amerikanern im Irak nach Saddam Hussein eingesetzt wurden, war Mitbesitzer dieses Einkaufszentrums. Ich ging also mit derselben Logik heran, dass ich da spielen wollte, wo die Leute sind. Und das Shoppingcenter war samstags voll. Ich ging also hin und spielte, ohne nach einer Erlaubnis zu fragen, so wie früher, als das Theaterspielen auf der Straße noch verboten war. Es waren Familien mit Kindern dort, und ich spielte zwei Minuten. Dann kamen private Sicherheitsleute, hielten mich fest und sagten mir, dass ich auf dem Privatgelände nichts ungefragt machen dürfe. Ich sagte, dass sich die Familien und die Kinder freuen würden, wenn ich hier auftrete. Aber sie antworteten, dass es ein Privatgrundstück sei. Ich sagte: „Das ist doch ein öffentlicher Ort mit verschiedenen Geschäften drumherum.“ Auch dieser Bereich sei Privateigentum, wurde ich belehrt. „Aber es hat den Menschen doch gefallen“, sagte ich, aber sie fühlten
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sich nur provoziert. Es war reinster Kapitalismus, mit eigener Polizei, die im Übrigen viel brutaler war als die Pariser Polizei. Sie wollten mich schlagen, und das, obwohl ich zu der Zeit in Spanien ziemlich bekannt war.
SSch _ Ja, sie bauen diese Zentren, weil sie die absolute Kontrolle wollen, keine Bettler, keine Störungen ... LB _ Ja, und Kameras überall, Gesichtserkennung. Ich bin sicher, dass sie all diese Informationen ihren Kunden zur Verfügung stellen. SSch _ Aber es war dir schon vorher klar, dass das passieren würde?
LB _ Ja, aber ich wollte sehen, wie der Kapitalismus funktioniert. Da hatte ich eine Idee: Dieser Ort heißt Xanadú. Und ich dachte an diesen Song von Olivia Newton-John. Ich brachte 30 Leute zusammen und studierte ein komisches Musical auf der Grundlage dieses Songs ein. Ich fuhr alle Mitspieler in einem Bus hin, und wir tanzten und sangen ohne Genehmigung dieses Lied. Das ganze Shoppingcenter kam. Die Leute saßen wie in einem großen Theater, ca. 1.000 Zuschauer waren dort und niemand kaufte mehr ein. Wir sangen schön laut Xanadú, und die Privatpolizei intervenierte nicht, weil sie davon ausgingen, dass es vom Shoppingcenter Xanadú veranstaltet wurde. Die Sicherheitsleute sangen mit wie auch ein großer Teil des Publikums. Nach einer halben Stunde gab es einen Riesenapplaus. Alle waren an diesem Gemeinschaftsort zusammengekommen und niemand kaufte mehr ein. Und Samstagnachmittag ist die Zeit, wo sie normalerweise ihr Geld verdienen.
Danach kamen dann mehrere Businesstypen mit Schlips und Anzug flankiert von der Privatpolizei auf mich zu. Sie sagten: „Sie haben das hier organisiert? Was zur Hölle machen Sie hier?“ „Ich mache hier eine Show und die Leute lieben es.“ „Aber Sie hätten uns fragen können.“ „Warum sollte ich jemanden fragen? Das ist doch Kunst. Theater. Fragen Sie mal das Publikum. Sie sind alle glücklich. Wollen Sie nicht Menschen glücklich machen?“ Eine solche Frage hatten sie noch nie gestellt bekommen. „Aber dies hier ist ein Privatgrundstück!“ „Die Geschäfte
sind privat, der Platz zwischen den Geschäften ist doch öffentlich.“ „Nein, er ist auch Privateigentum.“ „Aber die Menschen denken, dass er öffentlich ist. Und sie mögen die Show. Was haben wir falsch gemacht?“ Sie konnten nicht sagen, dass wir die Leute davon abgehalten haben, Geld auszugeben. Das war nämlich das, was in ihren Augen falsch lief. Die Leute hatten eine gute Zeit und fühlten sich frei. SSch _ Ihr habt ihnen die Zeit gestohlen.
LB _ Ja, das haben wir und mit guten Gründen. Ich glaube, das ist das Wichtige: einen tieferen Sinn zu transportieren. Ich sehe heute so viele Shows auf der Straße ohne jeglichen Sinn. Man nimmt irgendwelche Zirkuselemente ohne rechte Energie, man akzeptiert die Regeln der Mächtigen. Man tritt nur im Shoppingcenter auf, um als Mickey Maus verkleidet Werbung für ein Geschäft zu machen. Man macht nichts mehr aus eigenem Antrieb, ist nicht frei und kämpft nicht für die Kunst. Es fehlt die Energie. Möglicherweise ist das richtige Wort für dieses Phänomen: Dekadenz. Ja, vielleicht leben wir in einer dekadenten Periode. Sieh dir nur mal die ganzen Politiker an, zum Beispiel in Deutschland und Frankreich und was in der Ukraine passiert. Ich war 2017 dort. SSch _ Wir hatten auch eine Einladung nach Dnepropetrowsk. LB _ Wann war das?
SSch _ Ich glaube 2015.
LB _ Ich war in Odessa im April 2017 bei einem Fools Festival. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, als europäischer Minister durch die Stadt zu laufen. Die städtischen Autoritäten wussten nichts davon, und so gab es überall Shakehands, und ich wurde mit dem Auto herumgefahren, weil ich ein gutes Outfit hatte. Am letzten Tag sollte ich auf dem Puschkin Prospekt eine Straßenshow machen, die ganz groß angekündigt wurde. 5.000 Leute warteten auf den großen internationalen Künstler Leo Bassi. Ich hatte noch 15 Minuten bis zum Auftritt und dachte, ich muss all diese Leute nun für eine Stunde unterhalten, da kam eine Frau zu mir, die mich fragte, in welcher Sprache ich denn die Show machen würde. Ich meinte, dass das
eine gute Frage sei. Ich könnte die Show auf Italienisch machen. Sie fragte mich, ob ich sie nicht auf Englisch spielen könnte, das sei moderner. Sie sei im Übrigen meine Übersetzerin. In welche Sprache ich denn das Englische übersetzt haben möchte. Ich sagte ihr, dass sie das bestimmt besser wüsste als ich, ich wäre das erste Mal in der Ukraine und hätte keine Ahnung. Sie meinte, dass das nicht einfach sei. „60 bis 65 Prozent dieser Menschen sprechen Russisch, 25 bis 30 Prozent Ukrainisch und acht Prozent Polnisch, weil wir früher mal polnisch waren. Einige sprechen Jiddisch, die sind aber größtenteils nach Israel gegangen, vorher waren es ca. 20 Prozent. Ich kann in all diese Sprachen übersetzen. Welche möchten Sie?“ Ich sagte, ich sei Demokrat und würde gerne der Mehrheit folgen. Wenn also die große Mehrheit Russisch spricht, dann sollte sie auf Russisch übersetzen. Sie meinte, sie könne das machen, aber es wäre dann meine Entscheidung. SSch _ Eine politische Entscheidung.
LB _ Du musst wissen, dass man in der Ukraine zwei Jahre vorher mit dem Druck der Amerikaner ein Gesetz verabschiedet hatte, das die russische Sprache in der Öffentlichkeit verbot. Sie durfte nicht in Zeitungen, im Fernsehen etc. benutzt werden. Wenn es die Entscheidung der Übersetzerin gewesen wäre, das Stück auf Russisch zu übersetzen, hätte sie Probleme bekommen können, aber wenn der Künstler sie darum bat, war es für sie folgenlos. Ich hatte in dem Moment keine Ahnung davon.
SSch _ Ja, manchmal kommst du in ein Land und verstehst die ganzen Auseinandersetzungen zwischen den Leuten nicht. LB _ Wir stehen nun vor einem Abgrund. Schau in die Schweiz: Sie sprechen Deutsch, Italienisch, Französisch und alles steht nebeneinander und alle sind Schweizer. Die Ukraine ist ganz ähnlich, doch in einer ausweglosen Situation. Es ist meine Erfahrung auf der Straße, die mich Situationen anders einschätzen lässt.
SSch _ Du sprichst mit den Leuten, du verstehst die Probleme der Leute, du verstehst die politischen Probleme, die mit den
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persönlichen Problemen verknüpft sind. Du reflektierst die Situation durch das Zusammentreffen mit den wirklichen Menschen.
LB _ Ja, mit wirklichen Menschen, nicht mit Geschäftsleuten, sondern mit einfachen Leuten, die der Grund dafür waren, dass ich den Zirkus verließ. Ich wollte mit wirklichen Menschen zusammentreffen, wirkliche Kunst produzieren und wirkliche Politik machen. Wenn ich selbst etwas erlebt habe, ist es glaubwürdiger. SSch _ Du bist dein ganzes Leben sehr politisch gewesen, auch mit Ansichten, die nicht immer einen großen Konsens fanden. Du bist ein Außenseiter.
LB _ Ja, ich akzeptiere das. Ich habe auch Erfahrungen gemacht, die nur sehr wenige gemacht haben. Ich machte auf dem Markt in Karachi in Pakistan Straßentheater. Ich war dort der einzige weiße Mann und präsentierte Clowning und Jonglieren und ging dann mit dem Hut herum und bat um Geld. Für die Pakistani war das sehr merkwürdig. Sie hatten noch nie einem weißen Mann Geld gegeben. Sie hatten nie einen weißen Mann gesehen, der Geld nötig hatte. Einer sagte zu mir: „Wie gut, dass du das machst. Ich gebe dir Geld.“ Normalerweise waren die weißen Männer Militärs, Politiker oder Banker, also Mitglieder einer hohen Klasse – mächtige Männer. „Wenn ich dir Geld gebe, dann bin ich mächtiger als du, und das gibt mir ein gutes Gefühl.“ Sie waren so gut aufgelegt, dass sie mich auf ihren Schultern zum größten Komiker der Stadt trugen. Der saß auf einem hohen Berg von Kleidern mitten auf dem großen Marktplatz und hatte Angestellte, die gebrauchte Kleider, möglicherweise vom Roten Halbmond, an die Kundschaft verkauften. Er saß oben, vielleicht zehn Meter hoch, wie ein König und bot die Kleidung so an, dass es wie eine Show war, die den ganzen Tag ging, und er schien sehr witzig zu sein. Diejenigen, die mich auf Schultern hingetragen hatten, sagten etwas zu ihm und warfen mich zu seinen Füßen. Ich kletterte wie eine Katze zu ihm hoch, und er sagte auf Englisch zu mir: „Du bist ein Clown. Sie sagen, dass du gut bist. Dein Name ist Leo Bassi.“ Und dann
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sagte er meinen Namen laut zu den Umstehenden und vermischte ihn mit etwas Pakistanischem und die Leute lachten. Ich wusste nicht, was er gesagt hatte, und kam mir wie ein Idiot vor. So nahm ich mir also ein paar Hosen und wickelte mir daraus einen Turban um den Kopf, der ähnlich wie seiner war, nur größer und dann sagte ich etwas pakistanisch Anmutendes zu ihm und die Leute lachten über mich. Unsere Augen trafen sich und es war klar: Er wusste, dass ich wusste, wie man Leute zum Lachen bringen kann. Wir waren auf demselben Level und es wurde zu einer gemeinsamen Improvisation. Ich sagte dann irgendwann zu ihm. „Du hast wirklich guten Erfolg, aber ich kann größeren Erfolg als du haben.“ „Wie denn das?“ Da rief ich den Leuten zu: „Es ist alles umsonst. Ihr könnt alles mitnehmen, alles gratis für eine Stunde.“ Da stoppte er mich. Ja, das sind Erfahrungen, die man nur auf der Straße machen kann.
Um auf das Bielefelder Theaterlabor zurückzukommen: Ich war für einige Tage bei euch, und wir machten diese Aktion mit den Hells Angels – ich finde leider die Fotos im Moment nicht. Wenn ich heute die Nachrichten höre über rechtsradikale, von der Polizei verbotene Gruppen … Vor 30 Jahren waren diese Gruppen noch nicht so ausgegrenzt. Ich wollte die Rocker mit einbeziehen und sie so zu ‚Kultur‘ werden lassen. Nach Bielefeld habe ich das auch in anderen Städten gemacht; ich machte Shows mit den Hells Angels. Sie waren glücklich, dass jemand vom Theater kam und sie dabeihaben wollte. Sie hatten Spaß daran, Choreografien zu fahren und an den richtigen Stellen ihre Motoren aufheulen zu lassen. Sie waren wie Kinder. Vielleicht war das der Fehler, dass kein Politiker jemals mit diesen Menschen gesprochen hat, so dass sie sich immer mehr radikalisiert haben, weil sie immer mehr ausgegrenzt wurden. Wir haben versucht, über die Gräben hinweg Leute zu erreichen, aus dem intellektuellen Ghetto auszubrechen und zu den wirklichen Menschen zu gehen. Ich weiß nicht mehr genau, was wir in Bielefeld gemacht haben … SSch _ Wir hatten die Oper als Grundlage. LB _ Carmen!
SSch _ Und außer den Motorradfahrern gab es eine VespaFahrerin.
LB _ Ja, die junge Carmen auf der Vespa, das war fantastisch (singt ein paar Töne aus der Oper). Und dann die Motorräder „Wrumm, wrumm“, das war echter Crossover, das war wirklich wichtig. Danach hörte das alles auf. Wir versuchten weiterzumachen, aber das Theater ist wieder in die Institutionen gegangen, ist wieder oberschichtgemäß und bürgerlich. SSch _ Auch die erste gemeinsame Erfahrung, die wir in Santarcangelo gemacht haben, war für mich sehr bedeutend. Ich verstand, dass alles Theater sein konnte, und in der Folge habe ich mit allen möglichen Gruppen zusammengearbeitet, die keine Theaterleute waren. Eine Reihe von großen Spektakeln mit Karatekämpfern, Kletterern und vielen anderen. Wir konnten sie gut für theatrale Effekte einsetzen, und sie waren froh, in einem neuen Zusammenhang mitwirken zu können. LB _ Es ist langweilig, nur Karatesequenzen zu machen, doch im neuen Kontext mit Theaterleuten Teil von etwas Großem zu sein, das war wichtig. Sie waren wichtig. SSch _ Sie wurden zu einem Teil der Kultur. Motorradfahren war plötzlich ein kulturelles Ereignis.
LB _ Darum sprechen wir jetzt darüber, damit das nicht verloren geht.
Wenn du noch Zeit hast, zeige ich dir mein neuestes Projekt, gerade zwei Kilometer von hier. Das haben bisher nur wenige gesehen, es ist noch geheim. Und ich betreibe immer noch die Kirche mit den Plastikenten als ein fortlaufendes Projekt.
SSch _ Die abgebrannt war?
LB _ Ja, das war 2016. Es wurde ein Molotow-Cocktail hineingeworfen und die Kapelle brannte aus. Aber wir haben sie wieder aufgebaut.
SSch _ Dann hattest du wirklich Feinde auf der katholischen Seite.
LB _ Ja, hab ich immer noch. Spanien ist immer noch Franco, und es gibt viele aggressive Leute. Du musst dir vorstellen, dass
Franco mit Hitler und Mussolini verbunden war, und nach dem Krieg unterstützten ihn die Alliierten genauso wie die katholische Kirche. Franco hat mehr Menschen getötet als Mussolini. Nach dem Krieg hat Franco 300.000 bis 400.000 Menschen umgebracht: Kommunisten, Gewerkschafter, Linke und Lehrer, gebildete Leute. Und die katholische Kirche hat nichts dagegen unternommen, sie war zufrieden. Und diese Leute gibt es noch. Es gab keine Probleme, keine Prozesse.
SSch _ Der spanische Faschismus liegt nicht so weit zurück wie der deutsche. In Deutschland ist nun wirklich eine neue Generation in Justiz und Verwaltung, während in Spanien immer noch viele aus der Franco-Zeit aktiv Posten bekleiden.
LB _ Ja, es ist noch so wie vorher. Und die Söhne und Töchter und Enkel haben auch ein starkes Interesse daran, dass das so bleibt. Als Franco an die Macht kam, wurden einige Leute sehr reich. Sie nahmen sich die Häuser und andere Besitztümer wie zum Beispiel Kunstwerke von Kommunisten und anderen Ermordeten, so wie es in Deutschland mit den Juden passierte. Aber hier in Spanien gab es nie irgendwelche Gerichtsverfahren dazu. Da sitzen also noch sehr viele Familien auf illegalem Vermögen und tun alles, um es zu behalten.
Ich hatte bisher keine Angst. Meine Lust zu spielen und zu provozieren ist größer als meine Angst vorm Sterben. Sie haben hier im Theater wirklich eine Bombe vor meine Garderobe gelegt, die ein Techniker in letzter Sekunde entschärfen konnte. Das war 2006. Eine Bombe mit einer Lunte, mit Sprengstoff und einem Brandbeschleuniger. Sie hätte mich und einige andere getötet. Die Polizei hat nie einen Verantwortlichen finden können. Ich bin über Monate noch zur Polizei gegangen, aber sie konnten nichts dazu rausfinden. Auch bei dem Brand der Kapelle kam das Ermittlungsverfahren nicht weiter. Die Aufzeichnungen der öffentlichen Kameras hätten nur mit einem richterlichen Beschluss eingesehen werden können, der laut Polizei nicht zu bekommen war, weil der Fall zu unbedeutend sei. Also gehe ich davon aus, dass Franco in dem Apparat weiterlebt. Die Kapelle befindet sich in einem historischen Gebäude mit hohen Räumen und das hätte
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komplett abbrennen können. Nun haben wir schwere Eisentüren davor gebaut. Alles, nur um ein paar Plastikenten zu schützen, das ist ein bisschen albern. Wir zelebrieren jeden Sonntag eine Messe, haben aber nur 32 Sitzplätze. SSch _ Es soll ein Buch über dich geben. Wer schreibt es?
LB _ Ich selber bin dabei. Ich habe viele Videoaufnahmen gemacht, auf denen ich meine Geschichten erzähle. Ein Freund von mir filmt, so sammeln wir viele, viele Geschichten. Das Material kann als Video genutzt werden oder es kann ein Buch daraus entstehen. SSch _ Ich habe auch angefangen zu schreiben, aber festgestellt, dass ich das nicht so gut kann. Ich habe deshalb erst mal meine Geschichten erzählt, weil mir das besser liegt.
LB _ Ich bin auch nicht gut im Schreiben, habe nicht die Geduld dazu, doch ich bin gut im Sprechen. Ich liebe es zu reden. Ich könnte jetzt 24 Stunden erzählen und würde nicht aufhören: Ich habe Geschichten und Geschichten und Geschichten. SSch _ Ich erinnere mich, dass du mir schon früher viele Geschichten erzählt hast, wie zum Beispiel von den Leuten, die in einer Brauerei vermeintlich Bier stahlen, oder von der Zusammenarbeit mit einer Militärbasis bei einer Show in Italien. LB _ Ja, in Verona.
SSch _ Du hast oft andere unerwartete und unwissende Mitwirkende einbezogen, wie das Militär.
LB _ Ja, das ist die Idee, die vom Zirkus kommt. Alles kommt irgendwie daher. Alles kann Show sein. Wenn ein Bär Teil einer Vorstellung ist, wirkt er nicht intellektuell mit, sondern weil jeder Angst vor einem Bären hat und er sehr groß und stark ist. Oder beim Trapez: Auch das ist nicht intellektuell, aber die Trapezkünstler konfrontieren sich mit dem Tod. Du fühlst das Risiko, dass sie sterben könnten. So habe ich mit dem Real-LiveCircus begonnen. Das ganze Leben ist Zirkus.
Die Aktion mit den Düsenjägern in der kleinen Stadt Nogara in der Nähe von Verona! Es ist schön, dass du mich daran erinnerst. Ich habe schon so viele Dinge vergessen. Ich war dort eingeladen, über 14 Tage große Events zu kreieren. Die Stadt
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bezahlte mich, und ich durfte machen, was ich wollte. Ich war also zwei, drei Tage dort und machte mir ein Bild von der Stadt. Was machten die Leute dort, was beeindruckt mich am meisten, was macht die Stadt aus? Es war offensichtlich, dass die schreckliche Tatsache, dass die Stadt direkt in der Einflugschneise eines acht Kilometer entfernten amerikanischen Militärflughafens lag, das war, was sie prägte. Jederzeit stoppten die Gespräche in den Bars, weil wieder so ein lauter Düsenjet die Stadt überflog. Wir reden hier nicht über kommerzielle Flieger, nein, sondern über F16-Kampfjets, die einen Höllenlärm machen. Ich sprach mit den Leuten, die sich natürlich auch über den Lärm beschwerten. Die Immobilienpreise waren im Keller, viele Menschen wollten weggehen. Ich sprach mit dem Bürgermeister, der schon oft erfolglos auf der Militärbasis vorgesprochen hatte, um andere Flugrouten zu verhandeln. Am folgenden Tag rief ich bei der Militärbasis an und sagte, dass ich von der Stadt Novara sei. Jemand sagte dann zu mir: „Aber wir haben doch schon darüber gesprochen, dass wir die Flugrouten nicht ändern können.“ Und ich antwortete: „Darum geht es diesmal nicht. Es gibt hier eine Gruppe von Leuten, die Ihre Flugzeuge lieben. Und wir lieben die Amerikaner und sind sehr froh, dass Sie uns beschützen.“ Er war sehr aufgeschlossen, und ich bekam sofort einen Termin beim Commander. Dort ging ich dann, mit einem offiziellen Papier der Stadt ausgestattet, hin und erzählte, dass ich in New York geboren bin und deshalb eine besondere Beziehung zu den USA habe. Der Commander fragte, was das denn für eine Gruppe von Leuten sei, die sich sogar noch mehr Flugzeuge wünschen. Er hätte bisher nur Beschwerden über den Lärm bekommen. Ich erzählte ihm, es gebe einmal jährlich ein großes Event mit Musik und Feuerwerk, und es wäre toll, wenn die Jets in einem Moment sehr tief über den Platz fliegen könnten. Er meinte, dass sie Militär seien und keine Shows machen würden. Als ich dann aber sagte, dass es bei dem gestörten Verhältnis zu den Einwohnern von Novara eine gute Geste wäre, dabei mitzumachen, willigte er schließlich ein.
An dem Abend hatte ich eine Band von kubanischen Musikern auf der Bühne. Die Stadt war kommunistisch regiert, so wurde die Gruppe eingeladen. Am Ende des Konzerts kamen tatsäch-
lich die amerikanischen F16 mit einem Höllenlärm. Ich hatte Feuerwerkskörper in Attrappen von Artilleriewaffen präpariert. (Ich hatte den Amerikanern erzählt, dass wir ein Feuerwerk zu ihren Ehren abbrennen würden.) Ich setzte mir also einen Helm auf und sagte, dass die Amerikaner uns angreifen. Die kubanischen Musiker gerieten in Panik, als ich zusammen mit ein paar anderen mit den Artillerieattrappen auf die heranfliegende Luftwaffe schoss, die natürlich auf die Sekunde pünktlich zur verabredeten Zeit kam. Die Band spielte die Nationalhymne von Kuba (singt ein paar Takte). Ich musste dann die Musiker beruhigen und erklären, dass es kein wirklicher Angriff war.
Am nächsten Tag hatte ich ein wenig Angst vor der Reaktion der Amerikaner, mir wurde gesagt, dass das Headquarter angerufen hätte und mit mir sprechen möchte. Sie sagten dann zu mir, dass es für sie toll gewesen war, das Feuerwerk zu sehen und so viele Zuschauer auf dem Platz und die Band, ob es denn auch für uns gut gelaufen wäre. Ich sagte: „Ja, sehr gut. Die Leute haben es geliebt.“ Und der Commander meinte: „Wenn Sie nächstes Jahr wieder so etwas machen, dann sind wir wieder dabei. Die Nato steht an Ihrer Seite.“ Ich hatte natürlich immer die Befürchtung, dass ihnen jemand aus der Stadt den Inhalt der Inszenierung erzählen würde. SSch _ Es ging also nicht nur darum, verschiedenste Leute mit einzubinden, sondern auch darum, die Bedeutung von Dingen zu verändern.
LB _ Es war „joking with reality“, ein Spielen mit der Realität: Leute auszutricksen, sie auf den Arm zu nehmen, das, was eben ein Clown macht. Es war clownesk. Ein Clown lässt bedeutende Leute dumm aussehen. Und es war auch kostspielig für die Amerikaner: all das Flugbenzin, das benötigt wurde, um die F16-Kampfjets fliegen zu lassen. Ich glaube nicht, dass jemand anderes so etwas gemacht hat.
Ähnlich war es bei der Brauerei: Mit den Leuten der Brauerei hatte ich besprochen, dass wir drinnen aus hygienischen Gründen keine Theateraktion machen, aber ein leer stehendes Lager hinter der Brauerei benutzen konnten. Ich kaufte viele Kästen Bier von der Brauerei, deponierte es in diesem Lager
und sagte den Zuschauern, dass ich wüsste, wie man in das Lager hinter der Brauerei kommt, und dass wir dort Bier stehlen könnten. Niemand sagte nein. Als es dunkel war, schlichen wir heimlich an einigen Sicherheitsleuten vorbei, die Schauspieler von mir waren und die Vorbeischleichenden nicht bemerkten, und ‚brachen ein‘. Ich meinte zu den Leuten, dass wir das Bier nicht mitnehmen könnten und es an Ort und Stelle trinken müssten, und die Freude über das Freibier war riesengroß. Sie hatten ein echtes Abenteuer erlebt und dachten, dass sie etwas Illegales getan hätten. SSch _ Du verführst also Menschen dazu, Grenzen zu überschreiten, etwas ‚jenseits der Legalität‘ zu machen.
LB _ Ja, sie machten etwas Illegales, aber sie hätten sich auf mich als Autorität berufen können. Sie hätten sagen können, dass sie das eigentlich nicht gewollt hätten, aber Herr Bassi habe sie dort hingebracht und sei verantwortlich. SSch _ Es war also dieselbe Dynamik, wie sie auch in Diktaturen angewandt wird.
LB _ Ja natürlich, man konnte sich hinter jemandem verstecken. Das gab es vorher noch nicht, ich habe so etwas vorher noch nicht gesehen. Ich habe diese Dinge erfunden, weil ich dem Publikum echte Gefühle geben wollte, die weitergehen als Theater, das kann. Und die Leute erzählen mir manchmal noch Jahre danach: „Ich war damals mit dabei in der Brauerei.“ Man kann also Menschen mit Kunst berühren, wenn man aus den Konventionen ausbricht. Wenn die Zuschauer sich vorbereiten können, auf das, was kommt, dann ist das nichts. Man muss die Erwartungshaltung brechen.
Ich habe hier ein Foto von meinem Großvater, das mich sehr inspiriert hat. Auf dem Foto sieht man ihn irgendwo in Frankreich auf einem sechs Stockwerke hohen Gebäude einen Handstand auf dem Dachfirst machen. Ich war 16 oder 17 Jahre alt, als ich das Foto sah, und meine Großmutter erzählte die Geschichte dazu: Das Foto war von einem Marktplatz aufgenommen worden, der voller Menschen war. Sie sagte: „Er machte diesen Handstand, weil wir damals große Probleme hatten, Zuschauer in den Zirkus zu bekommen. Er war leer. Die Leute waren draußen auf dem Marktplatz, aber niemand
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kam zu uns, um die Shows zu sehen. Wir brauchten Publicity.“ Mein Großvater meinte, dass sie dorthin gehen müssen, wo sich die Leute aufhalten. Sie meinte, dass sie ja Werbeblätter verteilen könnten. Er sagte, dass sie das schon so oft gemacht hätten, es aber nichts gebracht habe. „Wir müssen etwas Stärkeres machen.“ Seine Idee war, dass er oben auf dem Gebäude einen Handstand machen würde, und sie von unten laut zu rufen beginnen würde: „Bitte tu das nicht! Der Zirkus ist leer und unsere Kinder haben nichts zu essen, aber bitte tu es nicht! Natürlich hast du recht: Unsere Aufführung ist fantastisch, und die Leute sind zu blöd, doch bring dich nicht um!“ Als sie das tat, schlossen sich die Herumstehenden ihr an und riefen hinauf, dass er es nicht tun solle. Dass sie zur nächsten Aufführung kommen würden. Und meine Großmutter sagte ihnen, dass es wirklich eine großartige Aufführung sei, dass die Leute nur nicht wüssten, dass der Zirkus da sei, und dass der Großvater ein wirklich guter Clown sei, aber nun wolle er sterben. „Nein, tu das nicht! Du sollst nicht sterben!“, riefen die Leute auf dem Platz. Und die nächsten Vorstellungen waren so voll, dass die Leute Schlange standen. Das war mein Großvater. SSch _ Also hat er das erfunden.
LB _ Ja, aus der Notwendigkeit zu überleben. Wer waren denn die Zirkusleute? Sie waren Unterklasse. Aber Leute, die nicht in Fabriken oder in den Straßen arbeiten wollten, die frei sein wollten. Mein Großvater sagte immer: „Ich will morgens meinen eigenen Stundenplan aufstellen und nicht zehn Stunden lang Anweisungen befolgen. Ich möchte gerne arbeiten, aber für mich, nicht für jemand anderen.“ Es war für ihn wichtiger, frei zu sein, als Geld zu haben. Die Freiheit, von einer Stadt zur nächsten zu ziehen, dorthin, wohin er wollte. Er konnte nach Paris oder Mailand gehen, der Zirkus war das Ticket zur Freiheit. Der Zirkus funktionierte so: Du musstest nur Dinge machen, die die Leute sehen wollten und wofür sie bereit waren, Geld auszugeben. Es konnte etwas sehr Lustiges sein, was die Leute mochten. Oder es konnte ein Bär sein, weil die Leute noch nie einen Bären hautnah gesehen hatten. Man musste Dinge machen, für die normale Menschen (nicht die Intellektuellen) bereit waren, Geld auszugeben. Es war nicht wichtig, ob
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man Jongleur oder Trapezkünstler war, das Wichtige war die Freiheit, genau das zu machen, was sie ermöglichte.
Mein Name ist Bassi, das ist der Plural von „basso“ (niedrig). Die Bassi waren also die Niedrigen, die untere soziale Klasse. Im Mittelalter entstanden viele Namen durch die Herkunft. Mein Großvater sagte immer: „Du musst stolz darauf sein, dass du ‚niedrig‘ genannt wirst, denn die einzige Richtung, die du im Leben gehen kannst, ist aufwärts. Wenn du niedrig geboren bist und unten bleibst, ist das nicht so schlimm, aber du hast die Chance hochzukommen. Als kleines Kind dachte ich immer, dass die reichen Kinder sehr viel zu verlieren hätten. Ich hatte nichts zu verlieren und war deshalb glücklich. Daher kommt die Idee, etwas zu machen, das normale Menschen beeindruckt, was sie aufregt, sie lachen und weinen lässt, Emotionen fühlen lässt und für das die Leute bezahlen. In gewisser Weise habe ich die ganze Welt in einen Zirkus verwandelt: Es ist einfach wunderschön, den Sound von 50 HarleyDavidsons mit klassischer Musik zu vermischen. Einige werden für den Rest ihres Lebens nicht vergessen, dass sie in eine Brauerei eingebrochen sind und dort das Bier getrunken haben. Das hinterlässt einen stärkeren Eindruck als jedes Theaterstück, das sie in ihrem Leben gesehen haben. SSch _ Wie viele Pässe hast du?
LB _ Offiziell habe ich drei: USA, Frankreich und Italien. Und ich könnte vielleicht einen britischen bekommen, da meine Mutter britisch war. SSch _ Und keinen spanischen?
LB _ Ja, ich wohne hier und bin Vater eines spanischen Jungen. Ich habe bisher noch nicht danach gefragt. Aber ich glaube, ich könnte einen bekommen.
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Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 28. September 2023 in Bassis Haus nahe Madrid. Übersetzung aus dem Englischen: Siegmar Schröder
Theaterlabor, Body Fragments, 2005
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Henning Fülle: Internationale Vernetzung, Kooperation und Koproduktionsnetzwerke Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie sich die Vertreibung und Auslöschung der zeitgenössischen Kunst- und Kulturströmungen durch die Nazis in Deutschland auswirkte: dass nämlich die wesentlichen Impulse für die Entwicklung von Theater, das der Gesellschaft etwas zu sagen haben sollte, von außen kamen. So waren Etienne Decroux und Jacques Lecoq30 in Paris, Django Edwards in Amsterdam, Eugenio Barba in Holstebro und Jerzy Grotowski in Opole die ‚Meister‘, zu denen man durchaus ‚pilgerte‘, um von ihnen zeitgemäßes Theater zu lernen; oder man versuchte, sie einzuladen, in der Bundesrepublik Workshops zu geben: Die 1980er Jahre waren ein Jahrzehnt der Workshopkultur, in dem neben den schon genannten Ansätzen auch das „Method-Acting“, das Lee Strasberg in der Nachfolge Stanislawskis in den USA entwickelt hatte, nach Deutschland gebracht wurde. Axel Tangerding baute für diese Entwicklungsprozesse in Moosach bei München sein Meta-Theater; in Bremen versuchte Jürgen Müller-Othzen, ein Schauspielstudium zu institutionalisieren und auch in Hamburg und Westberlin gab es Versuche in diese Richtung.
Siegmar Schröder und das Theaterlabor Bielefeld gingen einen anderen Weg: Sie orientierten ihre Arbeit nicht zuletzt darauf, sie auf Festivals im Ausland zu präsentieren, sich aktiv in deren Kommunikationskanäle einzubringen und internationale Protagonist*innen mit ihren Arbeiten nach Bielefeld zu bringen, um von ihnen zu lernen. Anders als die Pilkentafel in Flensburg oder das TNT in Marburg, die zunächst für das deutsche Publikum produzierten, orientierte sich das Theaterlabor von Anfang an international – was vielleicht auch durch die initiatorische Bedeutung der ersten Italienreise Siegmars und die Erfahrung der dortigen Festival- und Austauschkultur angeregt worden war. Sicher spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass es in und um Bielefeld so gut wie keine Kunst und Kultur nachhaltig 30
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und zeitgenössisch anregende Instanz oder Institution gab: In Flensburg waren das die jährlichen Intensivkurse auf dem Jugendhof Scheersberg; für Marburg das Institut für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen; in Hamburg etablierte sich auf Kampnagel vom Anfang seiner Existenz als Produktionsund Präsentationsstätte freier Theaterkunst das internationale Sommertheater(festival), zu dem Dieter Jaenicke Truppen aus der ganzen Welt einladen konnte, weil es ihm gelang, finanzkräftige internationale Sponsoren zu gewinnen. Aber Bielefeld lag in einem doppelten Sinne an der Peripherie: als im Zweiten Weltkrieg schwerstens zerstörte Stadt mitten in einem ‚kulturellen Niemandsland‘, mit höchstens noch Hannover als nächster, freilich auch nicht gerade kulturell strahlenden ‚Metropole‘, und mit einer Reformuniversität, deren Ruf sich vor allem Niklas Luhmann verdankte, dem soziologischen Gegenspieler der Frankfurter Schule, dessen knochentrockene Gesellschafts- und Kulturanalysen nicht gerade geeignet waren, auf Zukunft, Fortschritt oder gar Emanzipation gerichtete Bewegungen zu initiieren, der vielmehr allen diesen ‚Ideologien‘ mit ätzender Schärfe entgegentrat. Bernd Stegemann ist einer der wenigen Theaterpraktiker und -lehrer, der aus seiner Luhmann’schen Prägung nie einen Hehl gemacht, sie vielmehr als wirklich gegenwartsmächtig behauptet und damit sehr erfolgreich die Dramaturgien des Deutschen Theaters und der Schaubühne am Lehniner Platz und vor allem auch die Regie- und Schauspielausbildung an der Staatlichen Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin nachhaltig geprägt hat.
So könnte man die Praxis des Theaterlabors gleichsam als ‚Flucht nach vorn‘ beschreiben, mit der Siegmar und seine Mitstreiter*innen sich in internationale Kooperations- und Koproduktionskreise eingebracht haben, aber die gleichzeitig entstehenden großen internationalen Festivals nicht berührten: weder das Produktionsnetzwerk, das Nele Hertling und Tom Stromberg
Jaques Lecoq (1921–1999) war ein französischer Theaterpädagoge, Schauspiellehrer, Pantomime und Begründer einer weltweit bekannten Theaterschule.
auf bundesdeutscher Seite seit Ende der 1980er Jahre aufbauten, deren Zentrum das Hebbel Theater in Westberlin, das Neue TAT in Frankfurt und der Marstall in München bildeten und an dem das Kaai Theater in Brüssel und weitere beteiligt waren – das Münchener Theaterfestival gab es zum Gründungszeitpunkt des Theaterlabors schon gar nicht mehr. Das Sommertheater auf Kampnagel war als Einladungsfestival vor allem weltweit-international orientiert und reflektierte in gewisser Weise den hanseatischen Weltgeltungsanspruch – da spielte Bielefeld schon konstitutionell keine Rolle. Diese an eigener Weiterbildung, subjektiven thematischen Interessen und am Austausch mit internationalen Partnern orientierte Praxis bildete ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal des Theaterlabors – was freilich auch dazu führte, dass es, wie Siegmar immer wieder betont, „in Deutschland gar nicht so bekannt war“, auch wenn bekannte Künstler wie Yoshi Oida und Eugenio Barba in der Liste der Kooperationsund Koproduktionspartner vorkommen. Die kommunikative Qualität ihrer Arbeitsweisen, die Ernsthaftigkeit, mit der sie ihre Absichten verfolgten und gegen Widerstände durchsetzten, sind es wohl vor allem, die das Theaterlabor zu einem wichtigen Partner in der internationalen Szene gemacht haben – was dann nicht zuletzt dazu beigetragen hat, dass seine kontinuierliche Förderung und schließlich seine Institutionalisierung kulturpolitisch nach fast 40 Jahren durchgesetzt werden konnte.
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Abb. S. 212/213: Theaterlabor/One Yellow Rabbit, Smash, Cut, Freeze, 2012
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Abb. S. 22/23: xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
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Abb. S. 22/23: xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
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Plakat Calgary, Kanada, 2011
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Zwillinge und Wegbegleiter Gespräch mit Denise Clarke, One Yellow Rabbit Siegmar Schröder _ Es ist lange her, dass wir uns das erste Mal getroffen haben. Ich glaube, es war im Januar 2009. Wir wurden von Michael Green zum High Performance RodeoFestival nach Calgary eingeladen, was für uns wirklich fantastisch war. Er organisierte dann auch noch eine Kanadatour für uns – und das, ohne Body Fragments vorher live gesehen zu haben. Denise Clarke _ Wow!
SSch _ Er hatte ein paar Ausschnitte gesehen auf Video.
DC _ Das war alles, was er brauchte, um die Qualität einer Arbeit zu erkennen. Zu dieser Zeit hatten wir in Kanada großes Glück; aber damals ahnten wir nicht, wie viel Glück. Es gab ein sehr starkes Netzwerk von Einzelpersonen, die sich überlegt hatten, dass es für uns alle viel einfacher sein würde, unser riesiges Land dadurch zu ‚verkleinern‘, dass mehrere von uns die gleiche Aufführung buchen und die Kosten teilen würden. Heute sehen wir, wie privilegiert wir waren, denn das ist verschwunden, wie ausgetrocknet.
SSch _ Sogar das Kulturministerium war daran beteiligt, und es gab viel Geld für die Tourneen, richtig?
DC _ Ja, das Geld war da. Und das Ministerium war froh, weil es im Gegenzug kanadische Kultur exportieren konnte. Für uns stellte sich heraus, dass das Theaterlabor und wir im Grunde die gleiche Company waren.
SSch _ Erinnerst du dich an den Artikel, der in der Zeitung stand, über die ‚Zwillinge‘?
DC _ „Doppelgänger“ (im Original Deutsch). Ja.
SSch _ „Doppelgänger“ – genau, das war der Ausdruck. Sehr treffend, denn Michael Green und ich waren Doppelgänger, Andy Curtis und Michael Grunert und du und Karin Wedeking auch. DC _ Ja!
SSch _ Und das Spannende war, dass es später wirklich eine Zusammenarbeit mit Karin gab. Du und Karin, ihr wart euch sehr nahe bei der Arbeit an Smash, Cut, Freeze. DC _ Ja, ich habe es geliebt.
SSch _ Was war dein erster Eindruck, als du unsere Arbeit gesehen hast? DC _ Zunächst einmal war ich sofort begeistert, weil ich das Gefühl hatte, dass die absurde Qualität des Stückes sehr gut ausgeführt war – und ich hatte schon viele absurde Arbeiten gesehen, bei denen das nicht so war. Ich dachte: „Das gefällt mir, ich fühle mich wohl.“ Ich bin froh, wenn ich anspruchsvolle Aufführungen sehe, bei der die Performer gekonnt und sehr körperlich agieren und sich frei und mit großer Autorität und Qualität ins Absurde begeben. Die Arbeit und ihre Ausführung waren sehr stimmig. Für mich war es: „Ich liebe es, ich liebe, liebe, liebe es. Ich bin glücklich, und ich verstehe es.“ Und es war eben nicht „lustig, interessant, aber lahm“. Ihr wart das Gegenteil! Ich habe gelacht. Ich war sehr beeindruckt – und ich habe mich kaputtgelacht.
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SSch _ Wir waren sehr beeindruckt vom Publikum in Kanada. Es war fantastisch. Die Resonanz war so viel besser als in Deutschland. Was war zu der Zeit los in Kanada?
DC _ Nun, ihr wart in unserem Theater. Und als ihr auf Tour wart, habt ihr innerhalb unseres Netzwerks gespielt, mit dem One Yellow Rabbit verbunden war. In dem wurde auch Anspruchsvolles geboten. Das ist jetzt in den Hintergrund getreten. Man sieht es nicht mehr so oft. Die Idee des Clowns, vor allem des europäischen Clowns, war in den 1980er und 1990er Jahren sehr beliebt, als das Geld floss und Lecoq noch lebte und Gaulier31 aktiv war. So haben eine Menge Leute unserer Generation direkt bei ihnen studiert. Deshalb hatte der europäische Clown einen starken Einfluss, und das Publikum war geübt, so etwas zu sehen. Besonders beim High Performance Rodeo und beim Push-Festival in Vancouver sah man viele solcher Arbeiten. Das Publikum war bereit, etwas Verrücktes, Lustiges und sehr Deutsches präsentiert zu bekommen – oder was wir für Deutsch hielten.
SSch _ Es war erstaunlich für uns, als wir den ersten Auftritt beim High Performance Rodeo hatten und die Leute lachten. Die Leute lachten, aber in Situationen, von denen wir dachten: „Das ist ernst! Wir haben es ernst gemeint.“ Es ging um Francis Bacon, einen großen und ernsten Maler mit einem sehr dramatischen Leben. Wir haben so gespielt, dass das kanadische Publikum darüber lachen und es sehr leicht aufnehmen konnte.
DC _ Und mit großer Zuneigung! Eine deutsche Company, ein deutsches Ensemble mit diesem Aufführungsstil zu sehen, empfanden wir als extrem, ganz extrem. Es war entzückend! Es gibt nichts Besseres als die Stärke von Künstler*innen, die es einem erlauben zu lachen und die sich wohlfühlen und selber lachen können. Und die wirklich große Stärke, was uns wirklich gefallen hat, war, mit welcher Ernsthaftigkeit ihr das gemacht habt. 31 32
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SSch _ In Deutschland gibt es die Redensart „zum Lachen in den Keller gehen“.
DC _ Ja, das ist lustig. Das Bild erinnert mich an die Arbeit mit Smash, Cut, Freeze in Bielefeld. Ich sagte bei der Probe: „Leute, das war ein Witz, ein Scherz.“ Und sie sagten: „Was?“ Wir haben so über unsere deutsch-kanadischen Unterschiede gelacht. Sie meinten: „Du bist immer so fröhlich.“ Und ich antwortete: „Ihr seid so deutsch und so ängstlich.“
Erinnerst du dich daran, dass wir unsere Rollen getauscht haben? Normalerweise kam ich morgens herein und sagte: „Hallo, hallo, wie geht’s?“ (mit hoher aufgedrehter Stimme) und sie sagten: „Gut.“ (sehr trocken) Also tauschten wir die Rollen und ich kam sehr kurz angebunden mit „Guten Morgen“ herein und sie antworteten enthusiastisch: „Hallo. Denise! Schön, dass du da bist! Wie war deine Nacht? Hast du gut geschlafen? Möchtest du einen Kaffee?“ Wir hatten viel Spaß mit dem Transfer und damit, dass man sich darüber lustig machen konnte: „Okay, wir können es ja mal als Witz versuchen.“ Denn mein Stück war durch und durch komisch. SSch _ Aber das kam erst später. Zuerst hatten wir zwei Tourneen in Kanada und ihr wart zu Gast in Bielefeld, bevor wir die Austauschproduktionen gemacht haben, Smash, Cut, Freeze in Bielefeld und den Schlachtertango in Calgary.
DC _ Merkwürdig, mein Gehirn weiß gerade nicht, was zuerst war. Ich weiß nicht mehr, wann ich Smash, Cut, Freeze geschrieben habe, und ob wir es in Bielefeld vor oder nach Michaels Tod gemacht haben. Ich glaube, er war noch am Leben. Wann bist du hierhergekommen für Making Treaty Seven?
SSch _ Das war vorher, glaube ich, als Calgary Kulturhauptstadt Kanadas wurde. Michael hat das geleitet und konnte so auch das Treffen der Ältesten und all das einbinden. Das war 2012.
Phillippe Gaulier (geb. 1943) ist ein französischer Meisterclown, Pädagoge und Theaterprofessor. Er ist Gründer der École Philippe Gaulier, einer renommierten französischen Theaterschule in Étampes bei Paris. Narcisse Blood war Pädagoge am Red Crow Community College und Repräsentant der Blood-Gemeinschaft im Bund der kanadischen Blackfoot First Nations.
DC _ Wow! Das ist zehn Jahre her.
SSch _ Und dann, etwas später, starb Michael mitten im Arbeitsprozess. Er war dabei, zusammen mit Narcisse32 dieses landesweite Projekt zu organisieren. DC _ Ja, das war 2015. Michael starb im Februar 2015.
SSch _ Für mich hat sich dadurch viel verändert, weil wir danach nicht mehr zurückgekommen sind. Ich war nur noch einmal in Kanada für die zwei großen Beerdigungen. Es war wirklich ein Bruch mit allem.
DC _ Ja, das war es wirklich. Und es war schwer, sich davon zu erholen, aber wir haben es geschafft. Ich glaube, wir sind in einer anderen Form zurückgekommen. Wir hatten nicht mehr dieselbe extreme Energie, die Michael beim Reisen hatte. Er war lieber unterwegs als zu Hause. Das ist für Blake Brooker und mich nicht so. SSch _ Ihr hattet ein kreatives Team, das weiterarbeiten konnte.
DC _ Ja. Das war das Wichtigste für uns: uns darauf zu konzentrieren, unsere Arbeit fortzusetzen, und das Festival weiterzubringen, was ein sehr teures Unterfangen ist. Michael war zu seinen Lebzeiten sehr gut darin, alle davon zu überzeugen, Geld in unsere Company und das Festival zu stecken. Das wurde immer schwieriger wegen des Schuldenbergs, den ein solches Festival jedes Jahr mit sich bringt, was es erschwerte, die Gewinnschwelle zu erreichen. Mittel wurden gekürzt, es gab weniger Geld für Reisekosten und stets wieder den Kampf um Unterstützung durch die Bundesbehörden und die Provinzen.
SSch _ Ihr habt das Festival immer als eine Art Vehikel für die Weiterentwicklung eurer Gruppe genutzt.
DC _ Ja, wir waren immer verbunden. Aber wir wollten nicht mit der Company wegen der Schulden des Festivals pleitegehen. Wir wollten mit unserer Gruppe die Arbeit machen, die wir mögen. Wir wollten uns selbst belohnen. Dir brauche ich das nicht zu sagen, du weißt, wie schwer es ist, wenn man einen großen Teil seiner Ressourcen in externe Gruppen steckt.
Man liebt sie auch, aber man kommt an den Punkt, an dem man sich fragt: Was machen wir eigentlich selbst?
SSch _ Ja, es scheint mir das Gleiche zu sein, was mir vor einigen Jahren passiert ist: Ich habe angefangen, darüber nachzudenken, was unsere Arbeit bedeutet und wie wir sie vererben können. Wie ist das bei dir? Was ist dein oder euer Erbe? Wie werdet ihr euer Wissen an die nächsten Generationen weitergeben? Wie kann man alles archivieren?
DC _ Ich habe mich mit Nachlassarbeit beschäftigt, ohne zu wissen, dass ich das tat, als ich das Lab gründete. Wir veranstalteten 20 Jahre lang ein Summerlab intensive, das ich 1997 ins Leben rief und wo ich seitdem etwa 500 Leute ausgebildet habe. Wir vermittelten dort unsere Philosophie, auch Blake gehörte dazu und Chris Cran, ein bildender Künstler – das Theater hat schon immer eng mit bildenden Künstlern zusammengearbeitet. Chris machte die darstellenden Künstler mit seiner Philosophie vertraut. Es ist wichtig, dass das Verständnis von Kunstschaffen über die dramaturgische Struktur und die Präsentation hinausgeht. Und das funktioniert nur, wenn man die anderen Künste einbezieht, vor allem die bildenden Künste. Deswegen war Chris 20 Jahre lang Teil des Lab. Und John Murell. Er galt in Kanada als eher traditioneller Dramatiker, war aber ein guter Freund des Ensembles, der Company und ist ein Meister seiner Arbeit, ein Universalgelehrter. Er brachte einen großen Reichtum an Wissen über Oper, Musik, bildende Kunst und Film mit. Wir haben so viele Leute ausgebildet, die später Intendanten wurden, Theaterstücke produzierten, Theaterautoren wurden. Sie gehören zu der Generation nach uns und zwei Generationen weiter, die jetzt die Kontrolle haben. Ich habe das Gefühl, dass wir 20 Jahre lang viel Arbeit dafür geleistet haben. Ich habe das Lab 2018 aufgegeben und ein Projekt namens Beautiful Young Artist Project begonnen. Dort arbeite ich mit Studierenden zusammen und bringe sie hierher. Blake hatte schon immer Regieassistenten, die bei uns ein Praktikum absolvierten. So haben wir junge Leute um uns, denen wir unsere Kultur nahebringen. Indem sie in ihr leben und sie ihre eigenen
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Entscheidungen darüber treffen. Zum größten Teil gefällt es ihnen, und sie gründen dann eine eigene kleine Company. Sie stimmen oft der Philosophie weitgehend zu, aber sie haben nicht diese Art von Partnerschaften, die Michael, Blake, ich, Andy und Richard so viele Jahre lang gepflegt haben.
SSch _ Wenn du eines Tages die Arbeit mit One Yellow Rabbit beendest, wird die Gruppe aufgelöst? Oder wird das Theater mit anderen Leuten den Namen behalten?
DC _ Nein, wahrscheinlich nicht. Ich denke, es ist wichtig zu sagen: „Macht euer eigenes Ding!“ Sie können alle Stücke lesen, mein Buch lesen, das Archivmaterial einsehen, was sie wollen. Wir sind für alle Arten von Gesprächen frei verfügbar. Wir haben unser Wissen nie für uns behalten. Ich gehe ca. zweimal pro Woche mit einem jungen Menschen Kaffee trinken und erzähle einfach, woran auch immer er interessiert ist. Ich möchte es sehr entspannt halten. Das ist meine Philosophie, und ich glaube, das ist auch Blakes Philosophie.
Aber entscheidend ist doch: Warum machst du nicht dein eigenes Ding? Denn ein Teil der Stärke von One Yellow Rabbit war – ich hasse dieses Wort – die Marke, uns so kühn mit einem Tier, einer Farbe und einer Zahl zu benennen, und so klar in Bezug auf Präzision, Sparsamkeit und Entspannung zu sein, eine intellektuell so genaue Arbeit zu leisten, um zu verstehen, was wir da taten. Wir haben es nie wirklich erklärt, aber wir haben es selber hinterfragt mit Dichtern, Choreografen und Dramatikern. Wir wollten wissen, wie die verschiedenen Formen zusammenwirken, und wollten mit jedem der Elemente umgehen, auch mit Richards Musik, die ein eigener starker Bereich in unserer kreativen Arbeit wurde. So bauten wir unsere eigene Kultur auf.
SSch _ Lass uns noch mal auf die Anfänge der Kultur von One Yellow Rabbit zurückkommen. Was waren die Haupteinflüsse eurer Arbeit? Stammten sie aus den USA, aus Europa oder aus anderen alten Traditionen? Wer waren die Hauptlehrer?
DC _ Brecht, Stanislawski, die Russen. Wer waren deine Lehrer?
SSch _ Das waren Grotowski und Eugenio Barba.
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DC _ Auch wir waren von Barba sehr beeinflusst, dem „Spectacle Theatre“ in den frühen Tagen – Michael, Blake und die ersten Mitglieder der Rabbits waren sehr an der clownbasierten Spektakelarbeit interessiert. Zirkus, Stelzenlaufen, Bread and Puppet Theatre und große Spektakel im Freien. Als ich der Gruppe beitrat, gefiel mir das nicht. Ich mochte Theater und fühlte mich als Clown nicht wohl. Ich war ein bisschen ein Snob, hatte auch Angst und mochte die Ästhetik nicht so sehr. Ich kam vom Tanz, hatte eine klassische Ballettausbildung, ich brachte also großes technisches Verständnis für Tanz mit. Und gleichzeitig war ich an den absurden Sachen interessiert, die sie machten. Damals studierten sie mit einer Art Mischung aus europäischem und nordamerikanischem Clown und Zirkus. Aber Zirkus war einfach nicht meine Ästhetik. Ich mag definierte Räume, so wie Blake. Blake ist ein Dichter und ein Intellektueller. Ich glaube, er war auch skeptisch gegenüber einigen Sachen, die passierten. Als das ursprüngliche Kollektiv explodierte, waren er und Michael die beiden, die übrig blieben. Dann konnte ich mich auch mit ganzem Herzen einbringen. Unsere Ästhetik hat sich mehr in Richtung der Einflüsse entwickelt, denen auch ihr gefolgt seid. Und wir waren radikal, wir stammten aus dem Westen Kanadas und hatten eine sehr starke Verbindung zum „Wilden Westen“, zur Prärie. Wir mochten keine Regeln. SSch _ Anarchischer „Wilder Westen“?
DC _ Ja. Gemischt mit strenger Disziplin. Denn für mich musste alles wirklich gut gemacht sein. Weil ich aus der Ballettwelt stammte, konnte ich mit schlampigen Arbeiten nichts anfangen, und Blake auch nicht. Blake nannte Präzision, Entspannung und Sparsamkeit die Säulen seines Stils, und ich habe das vollkommen verstanden und Michael auch. Michael verstand sehr, sehr gut die Qualität der Entspannung, die alles, was ich trainiert hatte, perfekt ausglich. Und ich verstand langsam, wie sich Subtilität und Nuancen mit Extremen verbinden. Das waren also unsere selbst geschaffenen Parameter, die auf Barba beruhen – du weißt: das Objekt als Spielpartner, Licht als Spielpartner, sehr präzise Fußarbeit, die Kombination
von Text und Bewegung, die nie ‚easy going‘ war, sondern sehr, sehr absichtsvoll. Diese Prinzipien waren es also, die uns begeisterten, und von denen wir uns bei allem, was wir taten, leiten ließen.
Und Blake war ein brillanter Schriftsteller mit einem wunderschönen poetischen Stil, sehr witzig. Seine Ästhetik, sein Geschmack schon als junger Mann – wir haben gemerkt: „Wow! Dieser Typ ist wirklich gut in dem, was er tut.“ Er hatte einfach Talent dafür, Emotionen und Humor zusammenzubringen, und seinen Schauspielern eine extreme, wunderschöne poetische Sprache in den Mund zu legen. So waren wir also: Michael war mein Lieblingsschauspieler, ich wollte so sein wie er, und er wollte in gewisser Weise so sein wie ich, was die Körperlichkeit angeht. Dann kam Andy dazu, etwas jünger als wir und ein richtiger Clown. Aber er wollte die Disziplin des ernsthaften Schauspielens erlernen, das war ein sehr glücklicher Umstand. Dann arbeiteten wir mit David Rhymer zusammen, der auch Komponist war und Musik machte, und auch das war gut für uns. Wir können singen, wenn wir wollen. Wir können Musicals machen, weißt du, im Brecht’schen Stil, mit direkter Ansprache des Publikums.
SSch _ Ja, das ist, wie die Seele eures Theaters zu sehen. Ich bin sehr neugierig auf die nächste Aufführung von dir, von One Yellow Rabbit, wenn ich das nächste Mal nach Kanada komme.
DC _ Ja, das würde uns sehr freuen; wir müssen dafür sorgen, dass du kommst, wenn wir auftreten.
In der kommenden Spielzeit werden wir Dream Machine wieder aufführen. Hast du es je gesehen?
SSch _ Hatten wir es nicht in Bielefeld?
DC _ Nein, nein. Das war nicht Dream Machine. Wir waren mit Gilgamesh bei euch. In Dream Machine geht es um die psycho-psychedelische Poesie der Beat Generation – William Burroughs, Ginsburg, und ihre Sensibilität. Es ist ein sehr schönes Musical; die Musik, die David Rhymer und Blake komponiert haben, ist wunderschön. Es wird schwierig für uns sein,
es ohne Michael wieder aufzunehmen. Aber wir werden es tun, weil wir die Show lieben, und jetzt sind wir in einem Alter, in dem wir sagen, wir tun, was wir lieben, denn wir wissen nicht, wie lange wir es noch können.
Und um auf deine Frage zurückzukommen: Ich weiß nicht genau, warum, aber ich möchte den Namen nicht an jemand anderen weitergeben, und ich denke, Blake stimmt mir da zu. SSch _ Ich habe gerade eine andere Frau aus Frankreich getroffen und sie sagte, dass sie ihr Theater nächstes Jahr schließen wird. Sie hat einen genauen Plan. Und sie sagt das Gleiche: Dass die Compagnie dann am Ende ist. Auch der Name ist dann Geschichte, denn die Arbeit endet.
DC _ Das ist fantastisch, so eine Gemeinsamkeit in unserer Generation. Ich überlege, ob ich gemein oder unfreundlich bin. Doch ich habe das Gefühl, dass es falsch und nicht authentisch wäre. Ich sehe die Künstler, die ich ausbilde, da nicht. Sie sind jung, sie sind klug, sie sind cool. Ich liebe sie. Sie verstehen sehr gut, was ich meine, wenn ich Regie führe. Aber niemand scheint mir so, dass ich sagen würde: „Du solltest das Theater übernehmen.“ Ich denke, sie sollten etwas Eigenes tun. SSch _ Ich habe der jungen Generation, die jetzt im Theaterlabor arbeitet, vorgeschlagen, den Namen zu ändern. Aber das wollten sie nicht. DC _ Wirklich?
SSch _ Sie machen weiter unter dem Namen Theaterlabor. Vielleicht weil sie dachten, dass der Name so etabliert ist, dass er eine Überlebensgarantie darstellt. Vom Künstlerischen her bin ich eigentlich nicht einverstanden, weil es wirklich etwas ganz anderes ist, was da jetzt herauskommt.
DC _ Ich habe letzte Woche mit Blake über dich gesprochen und ihm erzählt: „Siggi hat das Theaterlabor verlassen. Er muss jetzt auch aus Bielefeld weggehen. Er kann nicht bleiben und zusehen, wie die Company ihr Ding durchzieht.“ Und ich sagte: „Ich kann das verstehen.“ Ich glaube, wir schauen etwas in die
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Zukunft, wir denken vielleicht, wie es in drei Jahren ist, und wollen es nicht einfach verblassen lassen. Wir wollen, dass sich die Leute an unseren Namen erinnern. Die Erinnerung an uns, an Michael Green und Andy Curtis, Blake Brooker und Denise Clarke und uns alle – das ist das einzige Vermächtnis, um das wir bitten. SSch _ Das Problem ist, dass die Gruppen manchmal langsam sterben. Man sieht den Prozess, aber man kann ihn nicht aufhalten oder kann nicht wirklich einen Neuanfang oder ein Ende finden. Manchmal ist es auch eine Frage der Gesundheit, wie man sich fühlt, welche Energie man hat, wenn man 65 Jahre alt ist. DC _ Absolut, um ehrlich zu sein. Diese Entscheidung ist aufregend, nicht wahr?
SSch _ Ich hoffe sehr, dass du eine klare Entscheidung treffen kannst, wie du es in deinen Shows getan hast, diese Art von präziser Arbeit auch für den Schlusspunkt. DC _ Ich danke dir. Das ist auf jeden Fall unsere Absicht. Ich kann es jetzt noch nicht sagen, aber wir werden bald ein genaues Datum bekannt geben.
SSch _ Wenn du wirklich mit der Arbeit aufhörst, dann bräuchte es eine Möglichkeit, alle deine Aufführungen in einem Archiv zu sehen, mit einem sehr einfachen Zugang. Das würde ich mir wünschen.
DC _ Nun, eine Freundin von mir – sie ist Anfang 70, ihr Name ist Peggy Baker –, sie war die berühmteste zeitgenössische moderne kanadische Tänzerin. Sie tanzte in New York, sie tanzte mit Baryshnikov, mit Mark Morris, sehr schönen, starken modernen Tanz, und ihre Company war unglaublich hoch angesehen, eine sehr eigene, individuelle, eine kleine, aber starke Ausdrucksform des Tanzes, ihrer Kunstform. Und 2020 wurde ihr klar: „Oh, ich bin fertig.“ Und sie setzte sich mit ihrem Vorstand, ihren Freunden, ihren Leuten zusammen und sagte: „Ich werde in drei Jahren aufhören. Ich will noch das, das, das und das machen. Und wenn ich das gemacht habe, ist es vorbei. Ich werde eine Website erstellen und meine Arbeit für alle
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zugänglich machen. Die Leute können alles lesen und ansehen, und wenn sie es tanzen wollen, können sie sich bewerben, und ich werde ihnen wahrscheinlich alle Rechte geben, die sie haben wollen und die sie brauchen, um es aufzuführen. Ich bin fertig.“ Ich war so begeistert von ihr und so glücklich. Ich erzählte Blake davon und ich glaube, wir sind vielleicht davon beeinflusst worden. SSch _ Es ist sehr gut, wenn wir am Ende unserer Arbeit etwas finden können, das wirklich zugänglich ist.
DC _ Ja, das denke ich auch. Das wird eine große Herausforderung sein, denn wir waren in der ganzen Zeit nicht gut im Archivieren. Aber ich denke, wir können in den nächsten Jahren noch Experten werden.
SSch _ Ich habe etwa 30 große Kisten im Theater mit dem gesamten Material von allen Programmen, von Festivals und was auch immer. Ich weiß nicht, wann ich die Zeit haben werde, all dieses Material zu sichten, aber es ist wie ein Archiv. Vielleicht sollte man einen Teil des Materials digitalisieren, sodass man es im Internet sehen kann, das ganze Videomaterial. Doch es ist so viel. Die Archivarbeit ist enorm. DC _ Wir haben Glück. Wir haben das Glenbow Museum hier, das einen großen Teil unseres Archivs übernimmt. Und wir haben einen Freund, der uns bei der Digitalisierung hilft. Hoffentlich wird es etwas damit, aber ich denke, dass es genug Unterstützung geben wird, um das Archiv einzurichten.
SSch _ Ich glaube, wir befinden uns gerade in einer wichtigen Phase. Jetzt, da ich dieses Buch schreibe, sehe ich die großen Veränderungen: Die erste Generation von Freien Theatern muss sich mit dem Umgang mit ihrem Erbe auseinandersetzen, mit Archivierung und mit dem Generationswechsel. Es ist wirklich ein historischer Moment. Und für Kanada, für die Kulturgeschichte Kanadas wäre es fantastisch, wenn eure Zusammenarbeit mit dem Glenbow Museum zustande käme. DC _ Ja, das wäre fantastisch. Es ist gut, dass du den Zusammenhang formulierst, Siggi, dass es um die ganze Generation geht, um die Nachkriegsgeneration der Freien Arbeit in den
Performing Arts. Ich habe den größeren Zusammenhang bisher nicht gesehen: Wir gehen alle auf das Ende zu. Wenn man es aus der Sicht einer ganzen Generation betrachtet, dann ist es vielleicht etwas, mit dem sich Wissenschaftler beschäftigen sollten, die wissen wollen, was von den 1970ern bis zu den 1990er Jahren und dann bis ins nächste Jahrhundert hinein passiert ist. Wow!
SSch _ Die ganze Kulturlandschaft, die jetzt existiert, die Festivals, die Strukturen, die Theater gibt es, weil unsere Generation sie aufgebaut hat. Es ist ein kulturelles Erbe, das fortbestehen soll. Deshalb sollte es auch die nächste Generation kennen. Sie sollten wissen, womit sie da ganz selbstverständlich umgehen. DC _ Blake und ich sind sehr daran interessiert, dass das High Performance Rodeo an junge Künstler übergeht. Wenn sie es schaffen, ist das fantastisch. Wir wollen das Festival nicht mehr machen. Es war Michaels Leidenschaft und Blake hat unglaubliche Arbeit geleistet, um es am Laufen zu halten, doch es kostete immer so viel Zeit und war verlorenes Geld.
SSch _ Es war ein großes Bindeglied. Denn ich begegnete Michael Green das erste Mal bei einem Treffen von Festivalleitern in Prag. Wir konnten Dinge in Gang bringen und Kontakte knüpfen, besonders natürlich, wenn die Festivals mit Gruppen verbunden waren, wie in unserem Fall, bei dem die beiden Theatergruppen die Festivals ausrichteten. Das war sehr gut für die Kontinuität unserer Kooperationen.
DC _ Blake war bei kürzlich bei einem großen europäischen Theatertreffen in Serbien, er erwartete, dass es ein bisschen wie das IETM (Informal European Theatre Meeting) wäre. Aber es war nichts. Es ging nur um Political Correctness und um die Erfüllung von Kriterien sozialer Gerechtigkeit. Keine Diskussion über Ästhetik, kein schlechtes Benehmen, niemand betrank sich und machte Party.
SSch _ Niemand raucht mehr.
DC _ Alle saßen da und wurden unterrichtet, die Leute wedelten mit den Fingern auf der Bühne und sprachen über soziale
Gerechtigkeit. Blake war sehr erstaunt und meinte, dass wir sehr, sehr viel Glück gehabt hätten.
SSch _ Ich dachte, das käme aus Kanada und aus den Staaten, diese Regulierung von Verhalten. DC _ Ich bin sicher, dass es sich überall auswirkt. Blake hatte erwartet, zu sehen, was in Europa künstlerisch los ist, und er sagte, dass es fast noch schlimmer sei als in Kanada. Niemand sprach über Ästhetik oder gar Spaß.
SSch _ Diese Art von Diskussionen über Ästhetik und über all das Vergnügen, das man im Theater haben kann, gibt es mit jungen Leuten in Deutschland nicht. Man sagte – du selber hast eben Witze darüber gemacht –, dass es in Deutschland immer wichtig war, keinen Spaß zu haben, sondern ernst zu sein, intellektuell zu sein, sich theoretische Gedanken zu machen, über das, was wir tun. Während ich dieses Buch schreibe, merke ich jedoch, dass ich all das gemacht habe, weil es mir ein großes Vergnügen bereitet hat. Das war der Motor von allem. DC _ Ja, auch am Anfang von One Yellow Rabbit war die einzige Regel, dass es Spaß machen musste. Wenn wir keine gute Zeit miteinander gehabt hätten, wären wir niemals zusammengeblieben. Überall, wo wir hinkamen, haben wir Party gemacht. Wir waren immer sehr ernst, wenn es um die Arbeit ging, es war ein ernster Spaß, ein ernsthafter Spielplatz. Man war zwar konzentriert, doch es machte wirklich Spaß. SSch _ Dann freue ich mich auf die nächste Party mit dir.
DC _ Wirst du mit Paul, deiner Soloshow, auf Tournee gehen?
SSch _ Das werde ich, ich kann es auch auf Englisch machen. Ich habe sie bereits in Schweden auf einem Festival in Tokalynga und in Edinburgh auf Englisch aufgeführt. Und es funktioniert sehr einfach für mich auf Englisch. Ich möchte es auch auf Französisch und Italienisch machen, aber das finde ich schwieriger. Ich kann es beim nächsten High Performance Rodeo spielen, wenn ihr wollt.
DC _ Das wäre supercool. Ich werde es Blake sagen, das wäre schön.
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SSch _ Es wäre fantastisch, wenn wir uns in den letzten Jahren unseres künstlerischen Lebens auf eurem Festival wiedersehen würden.
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DC _ Ja, das wäre schön.
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Lokalzeitschrift Calgary, Kanada, 2009
Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 13. August 2023 per Videocall. Übersetzung aus dem Englischen: Siegmar Schröder
Siegmar Schröder: Ein Mann mit Hut und Cowboystiefeln – Michael Green Ich traf Michael Green zum ersten Mal im Mai 2004 in Prag. Dort fand ein Treffen von Leiter*innen europäischer Theaterfestivals statt. Da war dieser Mann mit Hut und Cowboystiefeln, der so offen und interessiert an unserer Arbeit war. Er spielte uns einige Filmsequenzen der Zappa-Show vor, mit der sie in Europa auf Tournee gehen wollten. Wir waren möglicherweise Doppelgänger: nicht was die Cowboystiefel anging, aber wir hatten zur selben Zeit eine Theatergruppe (One Yellow Rabbit/Theaterlabor) gegründet, hatten mit einem Ensemble über Jahre zusammengearbeitet, beide einen sehr eigenwilligen experimentellen Stil entwickelt und leiteten beide ein internationales Theaterfestival.
Das brachte uns rasch näher. Wir hatten das Gefühl, dass wir alles verstehen bzw. schon selbst erlebt hätten, was der andere gerade erzählte. Diese geistige Nähe spiegelte sich auch in unserem persönlichen Umgang wider. Ich war zu der Zeit noch sehr in Trauer wegen meiner verstorbenen Frau, mit der auch eine Ära von 20 Jahren gemeinsamen kreativen Arbeitens im Theaterlabor zu Ende ging. Michael war sehr mitfühlend und ich fühlte mich in seiner Gesellschaft sehr wohl.
Wir verabredeten, dass wir versuchen würden, One Yellow Rabbits Zappa-Show nach Bielefeld einzuladen, und Michael sagte, dass er vielleicht etwas in Kanada für uns organisieren könne.
Es kam aber so, dass One Yellow Rabbit eine Absage von der Zappanale in Bad Doberan erhielten und wir nicht in der Lage waren, eine Performance mit 20 Mitspieler*innen aus Kanada einzufliegen. Ungeachtet dessen setzte sich Michael sofort an die Arbeit und überzeugte auch andere Veranstalter davon, dass sie uns einladen sollten. Er schaffte es, Aufführungen in Montreal, Toronto, Edmonton, Lethbridge und natürlich auf seinem eigenen Festival High Performance Rodeo in Calgary zu organisieren und darüber hinaus einen Antrag beim kanadischen Kulturministerium zu stellen, das die ganzen Reisekosten finanzierte. Dabei hatte er noch keine einzige Aufführung
von uns gesehen und ein kurzer Videoclip von Body Fragments war erst fertiggestellt, als die Tournee schon stand. Es war diese geistige Verbindung, die das möglich machte. Wir hatten in den ganzen Jahren ein blindes Vertrauen zueinander. Und wir hatten Erfolg. Die Aufführungen funktionierten gut und das zweite Tourneestück Absurdesque kam 2011 noch besser an und schon hatten wir einen Ruf in Kanada aufgebaut.
Umgekehrt hatten wir viele Aufführungen von One Yellow Rabbit in Bielefeld bei unserem Festival 360° und es war nur schade, dass wir nicht in der Lage waren, andere Spielorte für die Gruppe zu finden. Zu der Zeit waren wir national viel schlechter vernetzt als international. Auch meine verrückte Idee des Projekts Doppelgaengers, bei dem wir jeweils eine Produktion in dem anderen Land neu inszenieren wollten, trug Michael mit, obwohl es dazu vieler Überzeugungsarbeit auch gegenüber seinen Ensemblemitgliedern bedurfte. So inszenierte Denise Clarke ihr Stück Smash, Cut, Freeze mit unseren Schauspieler*innen in einer deutschen Übertragung in Bielefeld und Michael Grunert und ich inszenierten gemeinsam den Schlachtertango mit Andy Curtis in einer englischen Textfassung in Calgary.
Das war schon verrückt: Die Geschichte eines Bielefelder homosexuellen Juden vor dem Publikum in Calgary. Die Premiere habe ich leider nicht sehen können, da ich meinen Flieger verpasste. Der Begriff Doppelgänger wurde übrigens nicht von uns selbst geprägt, sondern von einem kanadischen Journalisten, der 2009 ausgiebige Interviews mit Michael und mir führte und einen wichtigen Artikel darüber schrieb. Michael war immer auf der Suche, war nie zufrieden mit dem, was er gerade hatte. Dabei hatte er wirklich großes Renommee durch sein Festival und wurde im Jahre 2012 Kurator von Kanadas Kulturhauptstadt Calgary. Dort hatte auch seine letzte wichtige Arbeit ihren Ursprung. Vielleicht hatte sie auch ein wenig ihren Ursprung in unseren Diskussionen. Ich weiß noch,
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wie oft ich das Thema der kanadischen First Nations mit ihm diskutierte. Ich hatte immer das Gefühl, dass die kanadische Gesellschaft nicht wirklich reflektierte, was die eigene und die Geschichte der First Nations anging. Bis in die 1980er Jahre gab es dort noch das System der Residential Schools, bei dem die jungen Schulkinder aus ihren Familien herausgerissen wurden, ihnen verboten wurde, ihre Muttersprache zu benutzen, ihre Kultur und Rituale auszuüben.
hochkarätiges Künstlertreffen mitgestalten zu können. Zurück in Calgary kam die Nagelprobe vor dem Ältestenrat der Blackfoot, der das endgültige „Óki“ (Wort der Blackfoot für „Okay“) geben sollte. Wieder lange Gesprächsbeiträge, wieder konzentriertes Zuhören über Stunden und dann war es so weit. Michaels Traum durfte Wirklichkeit werden. Im September 2014 wurde die Produktion mit großem Erfolg gespielt. Mir war es nur vergönnt, das Stück als Videoaufnahme zu sehen.
Ich war dann bei dem ersten Treffen dabei, als eine Konferenz der Ältesten der Blackfoot Nation darüber tagte, ob man ein Theaterprojekt über die Geschichte der Region (den Friedensvertrag „Treaty Seven“) gemeinsam mit weißen Künstler*innen unternehmen solle. Es wurde sehr kontrovers diskutiert. Es gab auch Stimmen der politisch radikaleren Art, dass man von den Weißen sowieso immer nur über den Tisch gezogen würde, das sei ja schon bei „Treaty Seven“ so und das könnte auch bei dem Theaterprojekt passieren. Wie könne man gewährleisten, dass die Kultur und die Religion nicht folklorisiert werden? Wie könnte in einem solchen Theaterprojekt der beiderseitige Respekt zum Ausdruck kommen? Michael hatte diese Zusammenkunft im Rahmen von Calgary 2012 organisiert und hatte am Ende die Ältesten auf seiner Seite.
Wir hatten noch so viele Pläne in diversen Schubladen. Michael wollte selbst auch wieder kreativ arbeiten und ich schlug ihm vor, doch auch einmal bei einer Produktion, vielleicht in Bielefeld, eine Regie zu machen. Nach Jahren des Arbeitens als Kulturmanager machte er es noch einmal wahr, als Schauspieler auf der Bühne seines Theaters und in seinem Festival zu spielen. Im Januar 2015 spielte er in einer letzten Aufführung auf dem High Performance Rodeo und verabschiedete sich dort als Schauspieler von seinem Publikum. Einige Bielefelder erinnern sich noch an eine seiner Interventionen, als er in The Whaler mit nichts als Gummihandschuhen bekleidet eine beeindruckende Performance hinlegte.
Ich hatte in meinem Leben gelernt, die eigene deutsche Vergangenheit zu reflektieren und Ungerechtigkeiten zu erkennen. Selbst bei meinen intellektuellen kanadischen Freund*innen war von derartiger Reflexion wenig zu sehen. Michael war aber einer der wenigen, bei dem ich damit offene Türen einrannte. Er sagte zu mir, dass ihn das Thema auch schon seit Jahren bedränge und er es eines Tages anpacken wolle.
Im März 2013 erarbeiteten wir in einem Workshop in Banff zusammen mit Künstler*innen verschiedener Hintergründe (First oder Second Nation, Schauspieler*innen, Tänzer*innen, bildende Künstler*innen und Musiker*innen) an der Konzeption eines Theaterprojekts. Ich war als internationaler Berater eingeladen und Michael hatte mir den Flug und die Spesen finanziert, weil er meine Meinung sehr wichtig fand. Es war natürlich ein Traum, inmitten eines Nationalparks in den Rocky Mountains ein solch
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Es gab die Planung, dass immer mit wechselnder künstlerischer Leitung jedes Jahr eine neue gemeinsame Produktion entstehen sollte, und ich sollte als Open-Air-Spezialist das ganze Gelände des Freilichtmuseums Fort Calgary in einem der folgenden Jahre bespielen. Nun fliege ich auf eine Beerdigung nach Calgary. Ich werde dabei sein, wenn einer meiner besten Freunde zu Grabe getragen wird.
Da das Schicksal so brutal war, dass bei dem Autounfall fünf Menschen ums Leben gekommen sind, werde ich auch noch an einer zweiten Beerdigung teilnehmen. Auch unser Freund Narcisse Blood kam bei diesem tragischen Unfall ums Leben. Narcisse war mehr als der First-Nation-Protagonist bei Making Treaty Seven, er war ein begnadeter Geschichtenerzähler. Ich hatte mit ihm ein Projekt zur Kunst des Geschichtenerzählens geplant, das wir zusammen mit seinen Student*innen machen wollten. Er war in seiner Funktion als Stammesältester sehr respektiert und ein ‚weiser‘ Mann, obwohl er gerade mal 60 Jahre
alt wurde. Ich habe sehr spontan diesen Flug gebucht und hatte das Gefühl, dass ich diesen beiden Menschen Respekt zollen müsse. Was wird nun aus Making Treaty Seven? Es ist eine Frage, die sich nicht einfach beantworten lässt. Kann die Idee auch ohne ihre stärksten Protagonisten weiterleben?
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Theaterlabor/One Yellow Rabbit, Smash, Cut, Freeze, 2012
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226 Workshop Ismael Ivo/Siegmar Schröder in Berlin, 2006 xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Siegmar Schröder: Begegnung mit Ismael Ivo Ismael Ivo hatte eine sehr starke persönliche Ausstrahlung und mit ihm war man sofort in ein Thema vertieft. Er dachte sehr extrem und war experimentierfreudig. Und dann entdeckten wir, dass wir beide jeweils durch ein Buch von Antonin Artaud unsere innere Motivation für einen „Totalen Akt“ bezogen hatten. Wir hatten beide die unter dem Titel Das Theater und sein Double gesammelten Texte Artauds gelesen, sie hatten uns gepackt und unseren Theaterideen eine Richtung gegeben. Wir luden ihn ein, bei unserer Sommerakademie in Bielefeld eine Gruppe zu unterrichten, und vereinbarten, einen Workshop in Berlin gemeinsam zu leiten und dabei auch Ausschau nach geeigneten Mitspieler*innen für eine Koproduktion zu halten. Schließlich gingen wir ans gemeinsame Werk Double, inspiriert von Artaud. Er machte die Choreografie und ich die Regie und das passte sehr gut. Wir ergänzten uns und im Zusammenspiel mit dem Dramaturgen Helge Björn Meyer (der später mit dem Theaterlabor gemeinsam das Buch Abseits vom Zeitgeist herausbrachte) und zwei Live-Musikern (Karl Godejohann und Willem Schulz) brachten vier Tänzer*innen zusammen mit vier Schauspieler*innen aus dem Kernensemble des Theaterlabors ein wildes Spiel auf die Bühne. Wir wissen letztlich nicht, ob unsere Aufführung Artaud in irgendeiner Weise gerecht werden konnte, aber Ismael und ich konnten ziemlich frei unsere Interpretationen dieses von Artaud beschriebenen Aktes ausleben – dem Ensemble sei Dank. Es war ein bisschen wie bei einer Teufelsaustreibung, doch unsere Besessenheit blieb. Das Ensemble machte eine intensive gute Erfahrung und die Publikumsreaktionen waren sehr positiv. Ich hatte aber auch den Eindruck, dass wir zu der Zeit das beste Publikum hatten. Es war sehr neugierig, experimentierfreudig und verfügte mittlerweile über sehr viel Seherfahrung. Wir hatten darüber gesprochen, unsere Kooperation fortzusetzen, aber Ismael ging dann nach Brasilien, leitete das Theatro Municipal de São Paulo und verstarb dort 2021 viel zu früh.
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Siegmar Schröder: Das Blaue Theater in Belgrad Wir hatten zu Plavo Pozorište eine sehr spezielle Beziehung, die für das Theaterlabor auch noch andauert, nachdem ich die Leitung abgegeben habe. Die Freundschaften, die sich hier bildeten, erstreckten sich über alle Bereiche: Organisation, Schauspiel und Regie. Im Bereich der Regie fand ich dort einen ‚jüngeren Bruder‘. Das war für mich neu. Früher war es immer der Kontakt zu den ‚Meistern‘, den ich gesucht hatte, um mich und die Gruppe weiterzubringen – hier war es nun zum ersten Mal umgekehrt. Ich wurde zum Mentor und wurde in vielen Situationen um Rat gefragt. Während unserer gegenseitigen Einladungen erinnerte ich mich immer an Situationen, in denen wir mit beiden Gruppen nächtelang zusammengesessen und intensiv über viele Fragen der Kunst und des Überlebens gesprochen haben. Bei Plavo Pozorište war der unbedingte Wille vorhanden, Fragen jeglicher Art auf den Grund zu gehen. Ich war 2005 in irgendeinem Theaterzusammenhang in Wrocław und sah zum ersten Mal eine Aufführung von Plavo Pozorište in ihrem unnachahmlichen Stil. Da war eine ähnlich absurde ‚Verrücktheit‘ im Ausdruck der Schauspieler*innen, wie ich sie selbst auch gerne auf die Bühne brachte, doch sie arbeiten als Markenzeichen mit extremen Endlosschlaufen aus Kakofonien in ihren Stücken.
Die Schauspieler*innen entwickelten mantrenhafte Sequenzen, die nirgendwohin führten. Es gab keine erkennbare Dramaturgie, dennoch veränderte sich die Zusammensetzung der sehr lauten und verstörenden Komposition wie bei der Minimalmusik im Laufe eines Stückes. Bei dem Stück, das ich in Wrocław sah, wurden Textfragmente von Dostojewski zu einem zweistündigen wahrhaftigen Veitstanz komponiert. Im Laufe der Veranstaltung verließen immer mehr Leute aus dem Publikum den Saal und es sah aus, als wäre es das Konzept der Gruppe, so lange zu spielen, bis alle draußen sind. Aber es gab dann doch ein Ende, dem ungefähr ein Drittel des ursprünglichen Publikums noch beiwohnte. Ich bewunderte die Konsequenz,
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mit der das Theater ihre sperrige Komposition vortrug. Da war eine Gruppe, die mutiger auftrat, als ich es wagte – ihre ‚Verrücktheiten‘ noch extremer inszenierte und weniger Rücksicht auf das Publikum nahm. Während ich bei meinen Inszenierungen eher ein Spiel mit dem Publikum versuchte und es mit unseren verstörenden Bildern unterhalten wollte, sah ich hier einen ‚Kampf'‘ gegen das Publikum. Wer war diese Gruppe, die so provozierend und irritierend auftrat? Ich konnte das nur herausfinden, wenn ich sie zu unserem nächsten Festival einladen würde, und ich tat das – nicht, weil das Stück mir gefallen hätte, sondern wegen ihrer Haltung. Ich ahnte, dass dahinter eine bestimmte Philosophie stecken musste, mit der ich gerne in Austausch treten wollte.
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Theaterlabor/Plavo Pozorište, Requiem, Probe in Belgrad, 2014
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Nenad Čolic, Plavo Pozorište: Brief an einen Freund Lieber Zigi!
Zuallererst möchte ich dich im Namen des gesamten Blauen Theaters umarmen, und ich glaube, du wirst verstehen und spüren, dass diese Umarmung nicht nur für jetzt gilt, sondern für die ganze Zeit und auch für die letzte Zeit, in der wir nicht in intensivem Kontakt und in Beziehung standen. Als ich erfuhr, dass du ein Buch schreiben willst und dass du in diesem Buch einen Teil über das Plavo Pozorište und unsere Beziehung haben willst, habe ich dasselbe gefühlt, wie jetzt, während ich dir schreibe: Ich empfand gleichzeitig eine Aufregung und eine Art Ehre, weil du einen Abschnitt des Buches unserer Beziehung widmen möchtest.
Aus deinem Text geht so deutlich und so berührend hervor, dass aus unserer Begegnung, die spontan und irgendwie seltsam war, eine Freundschaft, eine Beziehung entstanden ist, die bis heute immer noch anhält. Und jetzt versuchen wir sogar, sie in geschriebenem Wort, in einem Buch festzuhalten, was ich für eine großartige Idee halte. Ich denke oft darüber nach, ob ich ein Buch schreiben soll, ob ich etwas zu schreiben habe. In einem Moment scheint es mir, dass ich es tun werde, und in einem anderen Moment, dass ich es nicht tun werde. Unsere Situationen sind unterschiedlich, denn ich arbeite noch sozusagen in der Maschinerie des Theaters. Du hast dich von deinem bisherigen Leben und allem, was du am Theater getan hast, zurückgezogen – was für mich genauso wertvoll ist, als würdest du fünf Stücke im Jahr inszenieren. Deshalb finde ich die Idee und den Impuls, den du verspürt hast und der dich dazu gebracht hat, ein Buch zu schreiben, mehr als richtig. Wir kennen uns schon lange und gut, deswegen denke ich, kann ich einordnen und beurteilen, ob du ein Buch schreiben solltest oder nicht, und ob es etwas gibt, worüber du schreiben kannst: Ich denke, dass du etwas zu schreiben und zu sagen hast, wenn man dein ganzes Leben und deine Karriere betrachtet (die noch nicht abgeschlossen ist, wenn du mich fragst). Außerdem bin ich der Meinung, dass dieses Buch auf eine etwas andere Art und Weise eine Kontinuität deiner Arbeit darstellt. Theaterlabor/Plavo Pozorište, Requiem, Probe in Belgrad, 2014
Dein Text, in dem du über unser erstes Treffen sprichst, bedeutet mir viel. Ich habe mich durch ihn an viele Dinge erinnert; schließlich ist einige Zeit vergangen! Es hat mir sehr gefallen zu lesen, dass du, als du unser Stück nach Dostojewski in Breslau zum ersten Mal sahst, auf einen „Wahnsinn“ reagiert hast, der sein eigenes System in sich trug, das du verstehen wolltest. Der beste Weg war, die Leute zu treffen, die das gemacht hatten. Deshalb hast du uns zu eurem Festival eingeladen; ich glaube, das war 2005. Ich erinnere mich gut: Der Saal in Wrocław hatte ein Fassungsvermögen von etwa 150 Personen. Aus unserer Sicht war es sehr aufregend – wir sprechen heute noch oft darüber, dass eine sehr große Zahl von Leuten aus diesem Stück hinausging, nur vielleicht ein Drittel des Publikums blieb. Wir waren überzeugt, dass du dir die andere Aufführung angesehen hattest, die am Abend zuvor stattgefunden hatte und bei der nicht so viele Leute gegangen waren. Aber du hattest genau dieses Stück gesehen, bei dem die Leute massenhaft gegangen waren, und uns deshalb eingeladen. Das hat uns beeindruckt, zumal wir damals noch ein relativ junges Theater waren. Gleichzeitig wussten wir sehr wohl, dass in den 2000er Jahren das gewisse Theaterlabor im Tor 6 die ISTA organisiert hatte. Wir waren ein junges Theater, aber nicht zu jung, um zu wissen, dass die Organisation von der ISTA ein großes Projekt war, das nicht jeder machen konnte. Wir wussten, was alles dazugehört, vom Finanziellen und Organisatorischen bis hin zu den spezifischen Bedingungen, die das Odin Teatret mit seinem hohen Anspruch verlangte. Uns war völlig klar, dass unsere Zusammenarbeit und unsere Beziehung von Dauer sein würden, ohne jeden Zweifel. Als die Einladung zum Festival kam, waren wir total aufgeregt und freuten uns auf die erste Reise nach Bielefeld. Ich weiß nicht mehr, mit welchem Stück, um ehrlich zu sein, vielleicht mit dem, das wir in Breslau gespielt haben, nach Dostojewski, dem „Wahnsinn“, wie du es nennst oder wie Tage Larsen vom Odin es nannte: „eine schöne Folter“. Das war ein fantastisches Kompliment für uns. Wir haben mit dem Stück wirklich
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daran gearbeitet, dem gerecht zu werden, was uns an Dostojewski am meisten beeindruckt hatte: dem Prinzip der Negation. Wir haben tatsächlich damit experimentiert, dass wir uns fast jede Minute einen, wie du es nennst, „Kampf gegen das Publikum“ vorgestellt haben – was mir in deinem Text sehr gefällt. Wir wollten jede Minute so gestalten, dass der Zuschauer sie nicht sehen will. Nun, vielleicht sind wir zu weit gegangen, denn das Stück dauerte eine Stunde und 40 Minuten. Vielleicht ist das zu lang für ein solches Prinzip, aber wir konnten es einfach nicht kürzer machen. Das war unser Vorgehen. Wir wollten etwas erreichen, das ‚hinter‘ dem Theater zu entdecken ist, um das Theater von der anderen Seite zu sehen, so wie ich es liebe. Nicht von der Seite der Vorlieben und Erwartungen.
Das Festival in Bielefeld hatte bereits begonnen, und wir kamen während einer Aufführung an. Später trafen wir dich im Foyer des Theaters und so fing alles an. Noch heute erinnere ich mich mit großer Freude daran. Von diesem Moment an war mir klar, dass unsere Beziehung etwas Größeres ist. Bis dahin hatten wir uns schon mit vielen Gruppen getroffen, aber in diesem Moment war mir klar, dass wir gerade das Theater und die Menschen kennenlernten, mit denen wir uns noch oft treffen würden. Und so war es, Gott sei Dank, 20 Jahre lang oder mehr. Ich glaube, dass du aufgrund deiner Schnelligkeit und Mentalität viele Treffen organisiert hast und dass wir etwas häufiger im Theaterlabor waren als ihr in Belgrad, Novi Sad oder wo auch immer ... Aber das ist nicht wichtig, viel wichtiger ist das, was du in deinem Text sagst: dass wir oft bis spät in die Nacht über die Bedeutung eines Stückes, über die Bedeutung des Theaters im Allgemeinen, über die Bedeutung der gewöhnlichsten Handlung, über die Bedeutung der gewöhnlichsten Bewegungen, Abläufe bis ins kleinste Detail diskutiert und gesprochen haben. Es gab oft Meinungsverschiedenheiten, und das war gut so. Ich habe es geliebt, weil wir nicht wie ein Chor waren, bei dem einer etwas sagt und alle sagen: „Ja, das stimmt.“ Das war für mich besonders, aufregend und wichtig, weil diese Gespräche, dieser Gedankenaustausch, diese Diskussionen nachfolgende Treffen und Veranstaltungen anregten.
Ich denke, das Grundlegende bei uns ist eine ähnliche Wahrnehmung und eine ähnliche Erfahrung von Antonin Artaud als
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Mensch, Denker, Philosoph und ganz allgemein als Theaterfigur, die immer wie ein Leuchtturm war. Das habe ich in den Gesprächen und Begegnungen mit dir gespürt – ich persönlich, aber ich denke auch alle anderen: deine Schauspieler und auch die Schauspieler von Plavo Pozorište – und das war vielleicht der entscheidende gemeinsame Punkt. Ich erinnere mich, dass es, wann immer ich mit dir diskutierte (und manchmal stritten wir natürlich auch), in dem Moment, in dem wir zu Artaud kamen, kein Dilemma und keinen Streit mehr gab. Vom ersten Treffen an, vom ersten Kontakt, als ich dich getroffen habe, denke ich, dass alle unsere Schauspieler das Wort „Wahnsinn“ in einem Zusammenhang mit Artaud wahrgenommen haben, das heißt auf eine konstruktive, produktive und kreative Weise. Auch heute noch verstehen konventionelle und begrenzte Menschen nicht, was mit diesem Mann los war und warum er so wichtig war und heute noch ist. Es kommt nicht oft vor, dass man so einfach und mit einem klaren Verständnis Begriffe wie „Wahnsinn“ in einem konstruktiven Sinn verwendet. In der Tat kann das Wort „Wahnsinn“ für jemanden, der von außen kommt und einen eingeengteren Gedankengang hat, unhöflich, abwertend oder beleidigend klingen. Wenn man also mit jemandem, dem man zum ersten Mal im Leben begegnet, nach nur fünf Minuten, vielleicht sogar schon schneller, die Erfahrung macht, wie konstruktiv er ist und dass das Theater ihn braucht, dann ist das sehr selten und für mich von größtem Wert.
Das erste Stück unseres Theaters von Jahr 1995 basierte auf Artaud, das zweite folgte. Du hast auch ein Stück nach Artaud gemacht. Aber es geht nicht nur um ein Stück, sondern das gesamte Œuvre eurer oder unserer Stücke ist für mich etwas, das ich durch Artaud sehen kann, das ist der rote Faden. Das ist es, was uns untrennbar zusammenhält. Und es hat uns zu dieser verrückten Idee von dir geführt, dieses Ding Bizarre Coincidence33 zu kreieren, so frei zu sein, vielleicht sogar in gewisser Weise so unverantwortlich (aber das war uns wirklich egal), so etwas zu machen und es in Bielefeld und Belgrad aufzuführen, unabhängig davon, was irgendjemand darüber denkt. Ich glaube, dieses Projekt war für uns viel nützlicher und wichtiger als für das Publikum. Wir haben uns erlaubt,
egoistisch zu sein. Wir dachten einfach, dass wir im Theater etwas für uns getan haben.
Was mir bei deinem Text wichtig ist, ist dasselbe, was dir in der Begegnung mit uns (wahrscheinlich nicht nur in der Begegnung mit uns) wichtig war: Es ist dieser Moment, in dem der Mensch wichtig ist und im Mittelpunkt des Geschehens steht. Letztendlich hat das anthropologische Theater selbst wahrscheinlich seine Wurzeln dort und entspringt aus diesem Bedürfnis heraus. Ich weiß jetzt nicht, ob es Stanislawski ist, ob es Artaud, Meyerhold, Grotowski oder Barba ist. Es ist völlig egal, ob du es bist, ob ich es bin, das ist völlig egal. Was zählt, ist, dass bei allen Geschichten der Mensch in den Vordergrund tritt. Und das ist es, worunter ich heute sehr leide – ich persönlich, aber auch unser ganzes Theater. Um ehrlich zu sein, gibt es nicht viele Leute, mit denen wir diese Gedanken teilen können, denn bei vielen Projekten bleibt wenig Zeit für die Essenz, für den Sinn des Theaters, warum es das Theater gibt. Der Mensch im Zentrum des Geschehens des anthropologischen Theaters, unabhängig davon, wer ihn von all den Leuten, die ich gerade erwähnt habe, dort hingestellt hat, ist es, was mich persönlich zum Theater hingezogen hat und mich mein Leben lang im Theater involvierte.
Ich war zehn Jahre lang an konventionellen Theatern engagiert, ich habe zehn Jahre lang Musicals gemacht – was habe ich nicht alles gemacht? Ich war ein ‚Theaterprostituierter‘! Und ich möchte sagen, dass meine Schauspieler, und das ist ein Luxus, pure anthropologische Schauspieler sind. Sie sehen das Theater durch eine Person, durch die menschliche Beziehung, die menschliche Bedeutung, den menschlichen Wert. Auch unsere beiden Theater haben sich gegenseitig so gesehen: durch dieses menschliche Phänomen. Wir haben natürlich gegenseitig unsere Aufführungen angesehen, und manche haben uns mehr, manche weniger gefallen, doch da war trotzdem noch eine andere Ebene: dieser Blick von Auge zu Auge und 33
diese Erfahrung von Menschlichkeit. Ich glaube, dass das anthropologische Theater nicht darauf verzichten kann, und deshalb denke ich, dass das anthropologische Theater heute eigentlich verschwunden ist …
Aus meiner Sicht und meiner Erfahrung hat der Zeitgeist der letzten zehn bis 15 Jahre dazu geführt, dass es in der ganzen heutigen Kulturpolitik vor allem in Europa eigentlich fast keine Mittel für die Art von Austausch gibt, den wir hatten. Was heute in der Kulturpolitik fehlt, ist meiner Meinung nach genau diese menschliche Beziehung: die menschliche Beziehung in Projekten, die menschliche Beziehung in Aufführungen, in der Arbeit, im Austausch von Künstlern, obwohl diese neue Politik im Namen der Humanität oder des Humanismus geschaffen wurde. Vielleicht klingt das jetzt für dich zu pessimistisch? Ich würde mir wünschen, dass es für dich analytisch klingt, denn das war meine Absicht. In unserem Theater versuchen wir immer noch, unsere zentralen Arbeitsprinzipien aufrechtzuerhalten, wie sie vor zehn und 20 Jahren waren. Die Leute erkennen diesen Diskurs immer noch und beglückwünschen uns dazu. Sie können nicht glauben, dass wir ihn aufrechterhalten und immer noch so weitermachen. Wir waren vor Kurzem in Wrocław mit der ersten Produktion nach Covid, und die Leute haben es bemerkt. Entweder wir arbeiten so weiter, oder wir werden als Theater nicht mehr existieren. Wir werden sehen, wie lange wir das durchhalten können. Ich hoffe, dass wir vielleicht sogar Jüngere beeinflussen können, damit sie wissen, dass es ein anthropologisches Theater gab. Natürlich ist es Teil der Geschichte, aber in der Praxis, in der alltäglichen Umsetzung, hat es seine Bedeutung verloren. Es hat seine Bedeutung verloren vor der Dominanz, dieser Flut der Konventionalität, des Populismus, der billigen Inhalte, und es gibt einfach nichts, was man dagegen tun kann. Aber wir können versuchen zu überleben, wenn es möglich ist. Das ist mein Anstoß für meinen Beitrag zu dei-
Bizarre Coincidence war eine Parallelinstallation von zwei Theaterstücken, die ungefähr von gleicher Länge waren und gleichzeitig gespielt wurden. Das Publikum war zwischen den beiden Bühnen angeordnet und konnte sich frei bewegen und den jeweiligen Bühnenhandlungen zuwenden. Wenige Minuten vor Schluss gab es eine kurze Zäsur, sodass beide Stücke gleichzeitig endeten. (Aufführungen im Jahre 2008 auf dem Festival 360° und im Zentrum für kulturelle Dekontamination, Belgrad)
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nem Buch. Möge dein Buch auch ein Widerstand dagegen sein, das anthropologische Theater ganz abzuschaffen und in Vergessenheit geraten zu lassen. Ich kann es nicht ertragen, was mit Barba und dem Odin passiert, es ist mir unerträglich, ich kann es nicht glauben, ich kann es nicht einmal verstehen. Aber ich mag sie umso mehr, weil sie irgendwie einen Weg finden, zu kämpfen und zu arbeiten.
Zu deiner Information: Wir kämpfen immer noch gegen das Publikum. Bei der ISTA in Wrocław, im gleichen Jahr, als wir die ‚verrückte‘ Show spielten, aus der das Publikum hinausging, gab es eine halboffene Veranstaltung für etwa 70 Leute im Apocalypsis-Saal. Barba hielt einen Vortrag über das Odin Teatret, wie es entstanden ist, wie es überlebt hat usw. Er begann seinen Vortrag mit der Aussage, dass es sich um eine Gruppe von Menschen handelt, die sich vor so vielen Jahren zusammengetan haben und die ein Theater bilden, das die Gesellschaft nicht braucht. Das war für mich völlig faszinierend. Danach hat er zwei Stunden lang über verschiedene Dinge gesprochen, über jeden Schauspieler von Odin einzeln, sehr ausführlich und sehr systematisch. Am Ende gab es Zeit für Fragen, und ich stellte die Frage: „Wie haben Sie 40 Jahre lang als ein Theater überlebt, das die Gesellschaft nicht braucht?“ Ich war mir fast sicher, dass er mir nicht antworten würde oder nur auf seine gnostische Art, aber er antwortete mir auf eine sehr einfache Weise. Er antwortete, die Gesellschaft müsse „ausgetrickst“ werden. Und ich erinnere mich, dass ein Regisseur aus Slowenien, ein Teilnehmer der ISTA, ihn bat, zu erklären, was er damit meinte. Barba antwortete, dass man nur dann das Recht hat, die Gesellschaft auszutricksen, wenn man es mit seiner eigenen Wahrheit tue. Das sei die einzige Möglichkeit, als Theater zu überleben, das die Gesellschaft nicht braucht. Wenn man direkt, offen auf die Gesellschaft zuginge, würde sie einen hinausdrängen, weil sie einen nicht braucht. Aber wenn man sie betrüge, würde sie denken, dass man tatsächlich etwas tut, was sie braucht. Das kannst du nur durch deine Wahrheit tun. Es bedeutet, dass kein einziges Wort, keine einzige Handlung, keine einzige Sache mit der Gesellschaft vereinbart werden darf, alles darf nur um der Arbeit wil-
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len getan werden, um persönliche Befriedigung im Theater als Kategorie zu finden. Ich habe sechs Monate gebraucht, um herauszufinden, was er damit meinte und was die gnostische Dimension seiner Antwort wirklich war. Dann habe ich erkannt, dass der Kern der Religion in dieser Antwort liegt. Die einzige Wahrheit, die wir verstehen können, ist unsere Wahrheit, die persönliche, meine, deine, jedermanns – die individuelle Wahrheit. Wenn wir die Dinge auf der Grundlage unserer Wahrheit tun, können wir in der Gesellschaft überleben, selbst wenn wir Theater machen, das die Gesellschaft nicht braucht. Ich halte das für eine Art Geheimcode. Ich habe in einigen Situationen versucht, es zu erklären, aber ich war nie sicher, ob man mich verstanden hat. Ich bin sicher, dass du mich verstehen wirst. Das letzte Mal, als wir uns in Bielefeld gesehen haben, spielten wir Tagtraum – eine Geschichte aus Theresienstadt und es war eine der drei besten Aufführungen von Plavo Pozorište. Von den vielen Aufführungen, die wir produziert und gespielt haben, war es eine von denen, bei denen wir uns nach dem Spielen am besten gefühlt haben. Das lag auch an der konstanten Beziehung, der konstanten Frequenz und Verbindung mit dem Theaterlabor und dir und deinen Schauspielern (in welcher Reihenfolge auch immer, für uns ist es immer noch dasselbe). Ich hoffe, dass du deine richtige Beziehung zum Theaterlabor und der ganzen Situation findest. Ich will dir nicht sagen, dass du dies oder jenes tun solltest, schließlich bin ich dein ‚jüngerer Bruder‘ (um dich daran zu erinnern). Du wirst tun, was getan werden muss. Ich möchte nur, dass du auf jeden Fall das tust, was du für das Beste für dich hältst, und wünsche dir, dass du es in deinem Privatleben so einfach und angenehm wie möglich machst. Fangen wir damit an, dann werden wir sehen, wie es läuft.
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Ich hoffe, bald von dir zu hören, ich grüße alle und wünsche dir alles Gute! Neca Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Zimmermann
Theaterlabor/Ismael Ivo, Double, 2006
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Marcin Herich, Teatr A Part: Von Katowice nach Bielefeld Vom Theaterlabor Bielefeld erfuhr ich 1995 von Tadeusz Janiszewski, einem Schauspieler des Teatr Osmego Dnia (Theaters des achten Tages), der in meinem damaligen Umfeld, das heißt in den Kreisen des polnischen alternativen Theaters, als eine Person galt, die sich mit den Fragen des deutschen Freien Theaters gut auskannte. Nach der zweiten Ausgabe des A Part-Theaterfestivals, das gerade in Katowice zu Ende gegangen war und zum ersten Mal international ausgelegt war, begann ich mit den Planungen für die dritte Ausgabe. Zu dieser wollte ich unter anderem einige der interessantesten künstlerischen Phänomene der deutschen Szene zeigen. So kam es zu ersten beruflichen Kontakten mit den Kollegen aus Bielefeld und schließlich zur Aufführung ihrer Open-Air-Show Barock zum Finale des dritten A Part-Festivals im Juni 1996, das in den Arkaden des Kulturzentrums stattfand. Der Ort, der dem Theaterpublikum von den alljährlich dort stattfindenden Sommertheatergärten bekannt ist, wurde damals zum ersten Mal als Theaterraum genutzt. Das spektakuläre und fantasievolle Barock, bei dem Themen und Konventionen des Barocktheaters mit zeitgenössischen gemischt wurden, war ein großartiger Höhepunkt der dritten Ausgabe des Festivals und ein würdiger Abschluss des ehrgeizigen Programms, an dem unter anderem das Teatro Nucleo aus Italien, die Compagnie Cacahuete aus Frankreich, Gledalisce Glej aus Slowenien und die deutsche Marburger Theaterwerkstatt beteiligt waren.
Nach diesem erfolgreichen Start begannen sich meine, das heißt die des Teatr Cogitatur, dem ich damals angehörte, sowie die Wege von Siegmar Schröders Ensemble gelegentlich zu kreuzen und zu verflechten, wenn auch noch nicht mit der gleichen Intensität wie Jahre später. Nichtsdestotrotz kam das Theaterlabor auf meine Einladung hin 2001 erneut nach Katowice und präsentierte eine große Straßenshow mit dem Titel Jules Vernes Welt, diesmal auf dem Spielfeld der damaligen Grundschule Nr. 23 in der Nähe der Superjednostka in Theaterlabor/Teatr A Part, In the Jungle of History, 2015
Katowice, einem Ort, der einige Jahre lang die Freilichtbühne des Festivals gewesen war. Ich habe eine eigene Show in Bielefeld zum ersten Mal im Jahr 2000 aufgeführt, als das künstlerische Abenteuer mit meiner Open-Air-Performance Femina begann. Dank der Vermittlung von Kollegen in Bielefeld wurde die Performance im Sommer desselben Jahres dort bei einer Veranstaltung namens Theater im Park gezeigt. Drei Jahre später, im Jahr 2003, besuchte ich Bielefeld erneut und begleitete meine Kollegen vom Cogitatur-Theater bei der Aufführung des Theaterstücks Hommage an die Expressionisten unter der Regie von Witold Izdebski auf der großartigen postindustriellen Bühne des Theaterlabors. Dies waren die Anfänge meiner Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Siegmar und seinem Ensemble, die von aufrichtiger Zuneigung, Wertschätzung der kreativen Aktivitäten und künstlerischem und organisatorischem Vertrauen geprägt war. Ich erinnere mich an die herzliche Atmosphäre der Begegnungen, an die Küche hinter der Bühne, wo wir geraucht, Bier getrunken und uns unterhalten haben. Die wirklich enge Zusammenarbeit mit dem Theaterlabor Bielefeld begann jedoch erst einige Jahre später, nach der Auflösung des Cogitatur-Theaters, mit der Beteiligung des Teatr A Part an der Realisierung der deutschen Version des ortsspezifischen Projekts Venuslabyrinth. Dieses Projekt, dessen Konzept eine Travestie des brillanten Oracles des Kolumbianers Enrique Vargas und seines Teatro de los Sentidos war, wurde von Nullo Facchini, Regisseur und Schöpfer des Teatret Cantabile 2 in Vordingborg, Dänemark, konzipiert. Neben dänischen Künstlerinnen wurden auch deutsche und polnische Mitwirkende eingeladen, dieses große, anspruchsvolle und strukturell komplexe Projekt in Deutschland zu realisieren. Auf diese Weise fand ich mich zusammen mit sechs Schauspielerinnen im Oktober 2008 in Bielefeld zu einem Aufenthalt mit dem Ziel ein, zwölf Solokurzstücke zu kreieren, im Raum zu adaptieren und zu präsentieren, sechs unter meiner Regie, sechs unter der Regie von Nullo Facchini. Das gesamte Venuslabyrinth-Projekt umfasste die Vorbereitung und Präsentation
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von 28 Etüden – Minispektakeln, die in 28 Räumen (Zimmern, Badezimmern, Küchen, Sozialräumen) spielten und immer einem einzigen Zuschauer präsentiert wurden, der mit der Schauspielerin allein blieb.
Schauplatz war ein verlassener deutscher Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg (inzwischen abgerissen), Thema oder vielmehr Anlass für jede der Etüden war ein bestimmter körperlicher oder emotionaler Zustand oder eine bestimmte Eigenschaft (zum Beispiel Körpertemperatur, Einsamkeit, Kreativität), und das Projekt wurde fünf Tage lang, sechs Stunden am Tag, im Rahmen des vom Theaterlabor organisierten Internationalen Theaterfestivals 360° präsentiert. Die intensive Arbeit des vielfältigen, internationalen Teams von Schauspielerinnen in einem so ungewöhnlichen, inspirierenden Raum hatte eine außergewöhnliche Wirkung. Viele der damals entstandenen kleinen Performances waren intime Kunstwerke, und eine meiner Etüden, die ich mit der Schauspielerin Monika Wachowicz erarbeitet hatte, wird heute noch gelegentlich (unter dem Titel Green Room) außerhalb dieses Projekts aufgeführt. Ich erinnere mich an diese Zeit als eine erfüllende Herausforderung. Viele Jahre später habe ich diese Erfahrung in einer Reihe von eigenen Produktionen für ein Publikum umgesetzt, die ich mit Studierenden der aufeinander folgenden Jahrgänge des A Part Theatre Acting Studio realisiert habe. Während der Realisierung des Venuslabyrinth hatte ich nur sporadisch Kontakt mit dem Theaterlabor. Ich denke, dass diese anstrengende, aber künstlerisch erfolgreiche Zeit den Grundstein für eine noch engere Zusammenarbeit und weitere gemeinsame Aktivitäten gelegt hat. Und so kehrte ich ein knappes Jahr später, im September 2009, erneut nach Bielefeld zurück, diesmal mit einer Demonstration der kreativen Methode. Begleitet wurde ich dabei wieder von Monika Wachowicz, mit der ich drei kurze Etüden zur Veranschaulichung meiner Regiemethode vorbereitete. Die Vorführung fand im Rahmen der Veranstaltung Das Fest in Bielefeld statt.
Fünf Jahre später, im September 2014, besuchte ich das Theaterlabor erneut und nahm an dem internationalen Seminar Im
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Dschungel der Geschichte – eine Europäische Theaterreise teil, anlässlich derer ich in Bielefeld Auszüge aus der Soloperformance Transparency of the Void zeigte. Das Hauptthema des Treffens war der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs und dessen soziale und künstlerische Auswirkungen. Das Treffen diente auch als Anlass, um die Möglichkeit gemeinsamer Theaterprojekte rund um das Thema „Großer Krieg“ zu erörtern. Dieses von Siegmar initiierte intime, seminarähnliche Treffen und die begleitenden Diskussionen leiteten eine Reihe von künstlerischen Aktivitäten ein, die heute ein eigenes Kapitel in meiner Theaterarbeit bilden und die man einfach als Kriegskabarett bezeichnen könnte. Diese Begegnung war inspiriert von den historischen deutschen „Künstlerspielen“ am Standort unseres Teatr A Part. Die Studiobühne des Theaters entstand an dem historischen Ort, an dem kurz vor dem Ersten Weltkrieg das erste Stummfilmkino in Schlesien, das zur Kette der deutschen Großkinematografen gehörte, und während des Zweiten Weltkriegs das deutsche Bierhallen-Kabarett Künstlerspiele betrieben wurde.
Diese subversive Show mit den ‚Geistern‘ vergangener Zeiten bestand aus einer Art Hommage an den Ort und die Kabarettisten der beiden Kriege. Das Stück entstand fast unmittelbar nach meiner Rückkehr aus Deutschland, beeinflusst von einer plötzlichen Idee, die in Bielefeld aufkam. Zweitens war eine unmittelbare Folge des Treffens die Realisierung von zwei internationalen Koproduktionen von Theaterlabor und Teatr A Part mit dem Thema des Ersten Weltkriegs im Hintergrund: das intime polnisch-deutsche Im Dschungel der Geschichte. Variété und die überschwängliche, großformatige, wahrhaft multinationale Show The Last Days of Mankind nach Karl Kraus. Bereits während des Treffens im September 2014 in Bielefeld wurde beschlossen, in naher Zukunft eine erste gemeinsame Aufführung vorzubereiten. Wir einigten uns darauf, ein Antikriegs-Neokabarett zu realisieren, das stilistisch an die Kabarettszene der Zwischenkriegszeit erinnert, ein wenig an Brecht, was aber zeitgemäß sein und Stilmerkmale sowohl des Theaterlabors als auch meines Theaters in einer gemeinsamen Regie einbeziehen sollte.
Im März 2015 kam das sechsköpfige Ensemble des Theaterlabors (fünf Schauspieler: Yuri Brite Anderson, Alina Tinnefeld, Thomas Behrend, Michael Grunert, Lukas Pergande und der Regisseur) für einen einwöchigen Aufenthalt nach Katowice, der mit einer einmaligen Aufführung mit dem Titel Im Dschungel der Geschichte. Varieté endete. Vonseiten des Teatr A Part nahmen Natalia, Cezary Kruszyna und Monika Wachowicz an dem Projekt teil. Das Theaterlabor, das zu dieser Zeit an einem Variétéprogramm arbeitete, brachte eine Reihe von vorbereiteten Bewegungsabläufen mit, die sich unter anderem auf Stepptanz bezogen, sowie Lieder, Texte und Sketche aus der Zeit der Weimarer Republik. Ich habe mit meinem Ensemble, angeregt durch die Arbeit an Künstlerspiele, mehrere stumme Szenen aus dem Bereich des absurden Theaters mit Kriegs- und Kabarettmotiven vorbereitet. Und so erarbeiteten die beiden so unterschiedlichen Ensembles über mehrere intensive Tage hinweg eine kontrastreiche Theatercollage, in das auch völlig neue, in gemeinsamen Improvisationen entstandene Aktivitäten eingewoben wurden. Die Aufführung bestand aus zwei Teilen: einem reinen KabarettCafé-Teil im Foyer des Theaters mit einer Reihe deutscher Lieder aus der Zwischenkriegszeit, gesungen von unseren deutschen Kollegen mit Klavierbegleitung; der zweite Bühnenteil nahm das Publikum auf eine melancholische, zuweilen groteske Reise in die Kabaretts des Berlins der 1920er Jahre mit, die vom blutigen Schatten der jüngsten Kriegstragödie verdunkelt wurden.
Ich bin der Überzeugung, dass wir mit Im Dschungel der Geschichte. Variété gemeinsam ein wirklich stimmiges, bewegendes und wichtiges Stück geschaffen haben. Befürchtungen, ob die Co-Regie, der ich zugestimmt hatte, überhaupt möglich sein würde, zerstreute Siegmar: „Es ist immer möglich, wenn beide Seiten es wollen.“ Dieser Imperativ des Willens, den Siegmar damals so entschieden und unmissverständlich formulierte, gefiel mir sehr. Wir haben die Inszenierung insgesamt sechs Mal gespielt. Fünf Mal in Katowice: die Premiere im März und dann zweimal im Juni 2015 während des A Part –
International Performing Arts Festival und zwei Jahre später, im Juni 2017, ebenfalls zwei Mal während einer weiteren Ausgabe unseres Festivals.
Die einzige Tourneepräsentation der Performance fand im Oktober 2015 in Bielefeld statt, wo wir auch Künstlerspiele. Szenen aus dem Großen Krieg zeigten. Anlass für beide Präsentationen war der zweite Teil des Projekts Im Dschungel der Geschichte – Eine Europäische Theaterreise, die neben den Aufführungen von weiteren theatralen und paratheatralen Aktivitäten begleitet wurde, darunter eine mehrteilige Performance, die von den am Seminar teilnehmenden Künstlern (auch von unserem Team) in nur wenigen Stunden vorbereitet wurde und in verschiedenen Räumen des Theaterlabors stattfand. Während dieses mehrtägigen Treffens entstand die Idee, eine große internationale Aufführung für den 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs vorzubereiten. Diese Idee wurde zum Nährboden für die Entstehung von The Last Days of Mankind basierend auf Karl Kraus’ gleichnamiger Tragödie. Hauptinitiator und Produzent des Projekts war das Theaterlabor, die wichtigsten Partner waren das Teatr A Part und das Leith Theatre aus Edinburgh. Geplant waren drei Aufführungszyklen des Stücks, beginnend mit der Premiere in Edinburgh, die genau mit dem Jahrestag der Unterzeichnung des Waffenstillstands durch Deutschland und damit dem Ende des Ersten Weltkriegs (11. November 1918) zusammenfiel, über Aufführungen in Katowice beim A Part-Festival im Juni 2019 bis hin zu den abschließenden Präsentationen des Projekts auf der Bühne des Theaterlabors. Auch Künstler aus anderen Ländern wurden eingeladen, sich an der Vorbereitung der Aufführung zu beteiligen: serbische Künstler von Plavo Pozorište, bildende Künstler von der französischen Association Arsène und Schauspieler und Performer aus Irland und der Ukraine. Dem Beginn meiner konkreten Arbeit an der Umsetzung der Performance gingen nur zwei Treffen voraus. Das erste fand anlässlich des Besuchs des Theaterlabors beim A Part-Festival 2017 statt, wo Siegmar mich in das sehr allgemeine Konzept einführte; das zweite fand Anfang Oktober 2018 in Bielefeld statt, nur einen Monat vor der Premiere in Edinburgh,
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zu der ich kam, um die Details zu besprechen und meine Ideen für die Regie auf der Grundlage des mir zuvor zugesandten Drehbuchs vorzustellen. Ich kam zu dem Treffen mit Ideen für drei Szenen, die ich mit meinem Team in Katowice vorbereiten und nach Edinburgh mitbringen sollte, sowie mit allgemeinen Regieanmerkungen, die ich meinen deutschen Kollegen bei dem Treffen präsentierte.
Ich verließ das Treffen vor der Aufführung mit Einzelheiten und Neuigkeiten, die mich sehr erfreuten: Der musikalische Teil, eine Art Geschichte innerhalb der Geschichte des Stücks, sollte von der berühmten britischen postbrechtianischen Band The Tiger Lillies geleitet werden, die ein spezielles, von Kraus’ Drama inspiriertes Musikprogramm vorbereitet hatte. Ich kannte The Tiger Lillies und schätzte sie sehr, da ihr Konzert einige Jahre zuvor ein A Part-Festival eröffnet hatte. So kamen wir Anfang November zu viert nach Edinburgh: die Schauspieler meines Ensembles und ich, die zuvor die Künstlerspiele und In the Jungle of History mitgestaltet hatten. Wir landeten mitten im kalten Chaos (das Theatergebäude war nicht beheizt). Es ist kaum zu begreifen, wie in diesem Chaos aus Eile, Engpässen, Emotionen und Spannungen eine Aufführung entstehen konnte, die schließlich fantastische Kritiken und damit die Gunst der pingeligen Kritiker von Edinburgh erhielt und an sechs ausverkauften Abenden von einem Publikum mit Beifall bedacht wurde. Was hier zweifellos funktionierte, war – abgesehen von der Vermarktung – die Magie des Theaters, untermauert durch die Entschlossenheit und das Talent der Macher, vor allem der Schauspieler und Darsteller, sowie das Charisma, die Erfahrung und die Popularität von The Tiger Lillies. Die Inszenierung ging über drei Stunden und bestach durch die Vielfalt der Theaterstile, den Schwung, die Musik und das Visuelle. Das internationale Team war zusammengewachsen. An dieser Stelle muss ich eine Anekdote einwerfen. Nach unserer Ankunft in Edinburgh präsentierten wir dem Produktionsteam und, wie sich bald herausstellte, auch den Edinburgher Produzenten Szenen, die ich in Katowice vorbereitet hatte. Eine davon, die sich mit dem Leben in den Schützengräben und den Opfern des Krieges befasst, habe ich wie eine radikale Inszenierung
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nach Art der Wiener Aktionisten vorbereitet. So nahm das Thema hier eine eher kompromisslose, aber angemessene Form an (Nacktheit, Folie, Farbe, Krücken, eine deformierte Spielzeugpuppe). Nach kurzer Überlegung erklärte die Gruppe der Produzenten und Regisseure, dass die von mir vorbereitete Szene nicht in die Aufführung aufgenommen werden könne. Ich kannte keinen dieser Herren, abgesehen von John Paul, und es war mir nicht ganz klar, welche Rolle sie bei dem Projekt spielen würden. In Wahrheit zuckte ich nur mit den Schultern und lächelte überrascht. Und dann geschah das Unerwartete. Siegmar erklärte mit Nachdruck, dass er und das Theaterlabor-Team sich in diesem Fall aus dem Projekt zurückziehen würden, da er mit der Zensur der Arbeit seiner Freunde und Partner aus Polen nicht einverstanden sei. Dieser Gegenstimme schloss sich die serbische Gruppe sofort an. Es entstand eine peinliche Stille. An diesem Punkt meldete sich Martyn Jacques, der Kopf von The Tiger Lillies, zu Wort und verkündete, dass er die Szene großartig fände und sich nicht vorstellen könne, dass sie aus der Show entfernt würde, und dass er gerne eine eigene Musik dafür komponieren wolle. Das Zünglein an der Waage war ausgemacht, die Krise abgewendet, und die ausdrucksstarke Szene konnte aufgeführt werden. Es ging letztlich nicht nur um die künstlerische Qualität der Szene, sondern mehr um die Durchsetzung des Prinzips der künstlerischen Freiheit. Die nächste Folge von The Last Days of Mankind fand während unseres Festivals in Katowice im Juni 2019 statt. Wir beschlossen, die Show im Vergleich zur Edinburgh-Version deutlich zu kürzen, und so entstand eine eineinhalbstündige, kompakte Abfolge von Theaterszenen mit Live-Musik von The Tiger Lillies, die in Katowice auf der Theaterbühne des Jugendpalasts produziert und zweimal gezeigt wurde. Die letzten drei Mal wurde The Last Days of Mankind im Oktober desselben Jahres in Bielefeld gezeigt. Die deutsche Fassung der Show ist im Wesentlichen eine Kopie der Version aus Katowice, allerdings mit der bedeutenden Änderung, dass die Musik von Martyn Jaques und seinen The Tiger Lillies fehlte.
Für die Bielefelder Aufführung hatte Yuri Birte Anderson die Musik komponiert und die Texte geschrieben, und sie wurde von großartigen lokalen Jazzmusikern live gespielt. Ich möchte nur hinzufügen, dass die Aufführungen von The Last Days of Mankind an allen Orten von weiteren Theateraktivitäten unter dem Titel „Café Europa“ begleitet wurden. So spielte das Teatr A Part im Foyer des Leith Theatre in Edinburgh kurze Ausschnitte aus zwei Produktionen, In the Jungle of History. Variété und Hourglass. Anton Romanov, einer der ukrainischen Darsteller der Show, präsentierte seine Performance Map of Identity, Map of Hatred, während Siegmar dort eine LectureDemonstration seiner kreativen Methode gab, verbunden mit der Präsentation von Ausschnitten aus seinem dokumentarischen Monodrama Paul. Neben den beiden Open-Air-Aufführungen hat das Theaterlabor in der Zeit der intensiven Zusammenarbeit noch vier weitere Male seine originellen Bühnenstücke unter der Regie von Siegmar in Katowice aufgeführt: 2009 Bodyfragments, 2011 Absurdesque, 2015 Séance und 2017 No. 2, alle im Rahmen des A Part-Festivals.
Im Oktober 2020, während der Pandemie, besuchte ich Bielefeld zum letzten Mal, um im Rahmen eines Stipendiums des Adam-Mickiewicz-Instituts das Stück Four im Theaterlabor zu präsentieren. Siegmar habe ich dort nicht mehr angetroffen, er war mit seiner Familie nach Frankreich gezogen. Kurze Zeit später erfuhr ich, dass er nun seiner eigenen Wege ging. Aber aus meiner – entfernten – Perspektive ist und bleibt das Theaterlabor Bielefeld Siegmar Schröders Theater.
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Übersetzung aus dem Polnischen: Aleksandra Karsprzak, Deepl
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Dijana Milošević, Dah Teatar: Leben in einem Atemzug Der Anfang
Ein besonderes Datum in meiner Kindheit war der 25. Mai, der Tag, an dem der Geburtstag Titos offiziell gefeiert wurde. Der Name hatte für uns alle, die wir in diesem ‚Land, das es nicht mehr gibt‘ lebten, eine besondere Bedeutung: Josip Broz Tito, der damalige Präsident Jugoslawiens, von vielen verehrt und von einigen verurteilt, stand diesem Land vor, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus bewegte. Dem Land, das während der tragischen BalkanKriege der Neunzigerjahre unterging. In jedem Jahr, Wochen vor dem 25. Mai, fanden in Belgrad im Stadion der Jugoslawischen Volksarmee die Proben für das Slet statt, ein großes Turnfest und die zentrale Feier zu Titos Geburtstag – just in der Straße, in der ich damals wohnte. Dort drängten sich die Busse voller junger Menschen aus dem ganzen Land. Alle probten den ganzen Tag lang unermüdlich und übten nur eines: sich perfekt in ein lebendes Tableau einzufügen. Dieses riesige Spektakel war jedes Jahr anders, fand aber immer an diesem Tag statt. Ich glaube, genau das war der Moment, von dem an mich Inszenierungen faszinierten. Der Vater einer Schulkameradin war der Regisseur der Veranstaltung. Seine Stimme hallte durch die Straße, während er stundenlang über ein Megafon die Proben leitete. Am Tag des 25. Mai selbst sah die Straße aus, als wäre sie belagert. Ein Scharfschütze saß auf dem Dachboden unseres Wohnhauses. Das Finale von Slet wurde immer mit einem spektakulären Feuerwerk begangen, und ich stand jedes Jahr auf dem Balkon und schaute voller Ehrfurcht in den Himmel. Dieses Feuerwerk leuchtet noch immer am Ende jeder Aufführung meiner Gruppe in mir auf. Das erste Publikum
Als ich klein war, habe ich stundenlang Muster auf die beschlagenen Fensterscheiben unserer Wohnung gemalt. Schon da war ich von der Idee einer Gruppe von besonderen Menschen verzaubert, mit denen ich das Gute und das Böse teilen und viele Abenteuer erleben würde. Aber niemand in meiner Familie
wollte meine Tagträume hören. Zum Glück gab es einen Nachbarn direkt nebenan, meinen Onkel Milan, der mir zuhörte, wenn ich ihm meine imaginären Abenteuer erzählte und vorspielte. Um die Geschichten noch spannender zu machen, schnitt er Speck in dünne Scheiben und legte sie auf das Brot, das wir mit Ajvar, einer süßen Paprikasoße, aßen. Onkel Milan war mein erstes Publikum. Mein theatrales Erwachen
Der Wagen, der uns im schwedischen Göteborg abgeholt hatte, hielt in einer ruhigen Straße in einer kleinen Stadt am Rande Dänemarks. „Wir sind angekommen“, sagte unser freundlicher Fahrer und drehte sich zum ersten Mal zu uns auf dem Rücksitz um. Ich starrte ihn erstaunt an: Ein dunkelroter Fleck zog sich über eine Seite seines Gesichts. Die Fahrt hatte mehrere Stunden gedauert. „Wie konnte ich das nur übersehen?“, fragte ich mich, als ich aus dem Auto ausstieg. Ich schaute auf das Schild mit der Aufschrift „Odin Teatret“. Odin – ein nordischer Gott mit zwei Gesichtern. Es war 1985, ich war 24 Jahre alt und reiste mit meiner Freundin und Kollegin Jadranka Anđelić durch Europa auf der Suche nach meinem theatralen Erwachen. Das Gebäude erinnerte mich an ein gut erhaltenes Lagerhaus. Wir klingelten, und die Tür öffnete sich lautlos. Die Person, die sie öffnete, sprach im Flüsterton. Im Hintergrund sah ich Plakate für das Teatr Laboratorium von Jerzy Grotowski. Es war, als würde ich ein verwunschenes Schloss betreten. Einen Moment später erschienen Julia Varley und Tage Larsen, Schauspieler des Odin Teatret, und sie kamen mir gleichzeitig völlig vertraut und völlig fremd vor. Dies war der Ort, nach dem ich gesucht hatte. Er würde mir eine Tür öffnen, hinter der ein ungewisser, aufregender, beängstigender und gleichwohl zwingender Weg lag, den ich immer noch gehe – in mein eigenes Laboratorium, das DAH Teatar (Dah, serbokroatisch = Atem). Am zweiten Tag sah ich den Schauspieler Torgeir Wethal in dem Stück Das Evangelium des Oxyrhynchus. Es waren nur wenige Leute im Zuschauerraum, Leute aus Holstebro, der
Theaterlabor/Dah Teatar, Missing People – Die Macht der Erinnerung, 2014
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Stadt in Dänemark, in der sich das Odin Teatret befand. Neben uns, in der Ecke, saß Eugenio Barba, der Direktor und Gründer des Odin, mit einem kleinen Notizbuch und einem Bleistift in den Händen. Meine erste Erinnerung an Torgeir sind Farben und Geräusche: das Rot und Schwarz seines üppigen Kostüms und der Klang der fast unmenschlichen Stimme seiner Figur, Sabbatai Zevi, des falschen Messias. Er trug eine Sonnenbrille, die nicht zu seiner Figur zu passen schien und irgendwie störend wirkte. Später wurde mir klar, dass es sich um eine Brille handelte, wie sie damals von Diktatoren getragen wurde: Pinochet, Jaruzelski ... Ich kann immer noch den Nachhall dieser Aufführung, dieser Figur hören. Das war meine Theaterinitiation. Taktik des Überlebens
1993 wurde über mein Land (Serbien-Montenegro) durch die Vereinten Nationen ein Embargo verhängt. Das bedeutete auch ein Verbot von Zusammenarbeit mit diesem Land sowie ein Verbot des kulturellen, wirtschaftlichen und sportlichen Austauschs. Die großen Länder der sogenannten Ersten Welt beschlossen, unser kleines Balkanland zu bestrafen, um das Regime zu schwächen, weil es einen Bürgerkrieg angezettelt und sich daran beteiligt hatte. In Wirklichkeit brachte das Embargo nichts anderes als das Gefühl der Isolation und des Verlassenseins durch die ganze Welt, und das herrschende Regime blühte unter diesen Umständen auf.
Wir vom DAH Teatar waren uns bewusst, dass wir die Isolation durchbrechen mussten, um zu überleben, und unsere Strategie bestand darin, wechselseitigen Austausch zu schaffen – Künstler und Kulturschaffende aus der ganzen Welt zu uns zu holen und so unseren Bürgern das Gesicht des Anderen zu zeigen; aber auch selbst so viel wie möglich ins Ausland zu reisen, Verbindungen zu knüpfen und Kooperationen aufzubauen. Da wir nicht staatlich unterstützt wurden, sondern unabhängig waren, stellten die Embargos für uns kein Problem dar, und die von uns eingeladenen Künstler konnten ohne Probleme kommen. Der 34
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Austausch war nicht nur in künstlerischer Hinsicht wichtig für uns, sondern auch eine Art Sicherheitsnetz, denn wir wussten, dass wir früher oder später ins Visier des Regimes geraten und internationalen Schutz benötigen würden. Auf diese Weise haben wir viele Veranstaltungen durchgeführt: Festivals, Seminare, Workshops und Kooperationen, die zum Fundament unseres Theaters wurden. In jener Zeit bedeutete das für uns und unser Publikum echten Lebensatem. Nach wie vor ist der Austausch mit Künstlern, Kulturschaffenden und Experten aus verschiedenen Kulturen und mit unterschiedlichem Hintergrund Teil unserer Mission. Theaterlabor Bielefeld
Das Theaterlabor und das DAH Teatar gehören zur selben Generation von europäischen Theaterwerkstätten. Wir teilten den Einsatz für unsere Kunst, den Hunger nach Unbekanntem, den Drang, die Themen unserer Aufführungen zu erkunden und zu erforschen, und das Bedürfnis, uns national und international zu vernetzen. Der Hauptunterschied bestand jedoch darin, dass das Theaterlabor hauptsächlich von Männern und das DAH Teatar von Frauen gegründet worden war. Die größte Auswirkung dieser Differenz ist, dass wir bei DAH keinen richtigen Hammer finden, dafür aber jede Menge Kerzen und Tischdecken, während das Theaterlabor über eine Vielzahl von Werkzeugen und unterschiedlichen Maschinen verfügt. Ja, das mag ein Klischee sein, doch als wir gemeinsam an dem Projekt Missing People34 2013 arbeiteten – einer PerformanceInstallation, bei der wir das Publikum durch unsere verschiedenen Theater führten –, war das offensichtlich. Aber es hat unsere großartige Zusammenarbeit bei Missing People nicht gestört! Wir sind an das Projekt aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Geschichten herangegangen, teilten aber deren Sinn und Bedeutung. Im Laufe der Jahre haben wir die Arbeiten unserer Theater gegenseitig auf Festivals präsentiert, die wir beide veranstaltet haben. Und zum Theaterlabor nach Bielefeld zu kommen, war für uns jedes Mal ein Nachhausekommen jenseits unserer eigentlichen Heimat.
Siehe auch: https://en.dahteatarcentar.com/national-projects/the-power-of-remembarance/ oder www.theaterlabor.institute.
Erinnerung an die Zukunft
Wenn ich an die Zukunft denke, dann möchte ich mich an die Zukunft des DAH Teatar erinnern. Diese Zukunft entsteht in erster Linie aus einem starken Glauben an die Kraft der Kunst, insbesondere des Theaters. Sie erschafft Bedeutung, verwandelt die Monotonie des Alltags in eine Folge spannender Momente und das Grinsen und die hässliche Fratze von Hass und Gewalt, die uns oft umgeben, in einen Ruf nach Menschlichkeit. Die Zukunft, an die ich mich erinnere, erwächst aus der Liebe all derer, die ihr Leben dem DAH Teatar gewidmet haben und ununterbrochen und selbstlos ihre Kreativität, Freude und Leidenschaft in jeden Zentimeter unserer lebendigen künstlerischen Utopie gegossen haben. Und diese Zukunft gibt es auch dank all derer, die irgendwann einmal ihren Atem mit dem des DAH geteilt haben. „Die Zukunft ist eine unendliche Folge von Gegenwart.“ (Howard Zinn)
Unsere Gegenwart besteht aus: stundenlangem Sitzen vor unseren Computern, Proben und Schulungen, Besprechungen, Sorgen um den Transport von Kulissen, Kostümen, Requisiten, all das unterbrochen von Lachanfällen, einer Flasche Wein, Gesprächen, Reisen, Zeitplänen, Diskussionen über alles Wichtige und Unwichtige, Feiern, Teilen der großen Sorgen des Lebens – und dann wieder gemeinsames Feiern aller kleinen und großen Erfolge. Die Zukunft, an die ich mich erinnere, umfasst viele weitere neue Produktionen und öffnet Raum für neue Menschen, die bereit sind, sich uns anzuschließen und hinter den Schleier der Realität zu schauen. Sie bietet einen Raum für geistiges und körperliches Gedeihen, in dem es möglich ist, sich den größten Herausforderungen zu stellen und nicht wegzulaufen. Diese Zukunft trägt ein Korn in sich, das manche als Utopie bezeichnen.
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Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Zimmermann
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Theaterlabor/Teatr A Part, In the Jungle of History, 2015
Gespräch mit Axel Tangerding, Meta Theater Siegmar Schröder _ Auf deinem offiziellen Briefkopf steht immer noch Diplom-Architekt als deine Berufsbezeichnung. Deshalb gleich die erste Frage: Wie bist du ans Theater gekommen? Wo kommst du her und wie definierst du dich heute?
Axel Tangerding _ Ich muss sagen, dass das eine ziemlich neue Errungenschaft ist. Damals, als wir mit dem Theater begonnen haben, haben wir diese ganzen Titel immer weggelassen. Wir haben auch keine Kritiken gesammelt. Das war Understatement. Es ist ein neuer Trend, dass man die Titel wieder ‚rauskramt‘. Aber die Frage, wie der Architekt zum Theater gekommen ist, ist eigentlich ganz einfach zu beantworten: Während meines Architekturstudiums hat mich das Bauhaus immer sehr fasziniert, aus mehreren Gründen: einerseits die Interdisziplinarität seines Ansatzes; dann, dass es keinen Unterschied gab oder geben sollte zwischen Weißkittel und Blaukittel, also dass Handwerk und Technik ebenbürtig und auf Augenhöhe arbeiten sollten. Und der dritte Grund: Wenn du mal in Dessau warst, im Bauhaus, dann hast du es gesehen: Das Zentrum ist die Bühne. SSch _ Wir haben dort gespielt und als Theatergruppe übernachtet.
AT _ Okay, dann kennst du es. Es ist schon beeindruckend. Die Bühne ist wirklich der Mittelpunkt des ganzen Komplexes, und es ist eben keine Bühne für den täglichen Spielbetrieb, sondern eher für den Diskurs, quasi eine Austauschfläche. Und es gibt Tageslicht auf der Bauhausbühne, sehr große Fenster, die man auch öffnen kann. Die Bühne ist weiß und nicht schwarz. Das Meta Theater hat so ein paar Reminiszenzen daran, es ist auch weiß, es hat auch Tageslicht. Ich möchte mir nicht anmaßen „das Meta als Bauhaus“ geschaffen zu haben, aber es ist davon inspiriert. Es ist ein Stahlskelettbau, und es hat die gleiche funktionale Ästhetik.
SSch _ Es gibt ein paar Berührungspunkte zwischen uns, zum Beispiel Parallelen zwischen unseren Biografien. Woher kamen
bei dir die ersten Begegnungen, gerade was die Theatertechniken angeht, also auch mit asiatischen oder sonstigen „fremderen“ Theaterformen? Wann ist das bei dir entstanden? AT _ Ich hatte wirklich Glück: Schon während des Architekturstudiums gab es die Begegnung mit Ellen Stewart von La MaMa. Im Dumont Verlag in München erschien Theatre Now über das Avantgardetheater in New York und als prominente New Yorkerin war sie eingeladen. Wir hatten zu der Zeit eine studentische Gruppe und haben die Übungen aus Jerzy Grotowskis Buch Für ein armes Theater gemacht. Stewart hatte Erbarmen mit uns und hat uns quasi angeboten, Lehrer zu schicken: „Ihr müsst was lernen! Aus dem Buch hat das keinen Sinn. Nachmachen, imitieren, selber machen, Praxis!“ So haben wir als La MaMa Munich angefangen. Daraus hat sich später das Meta Theater entwickelt. Wir waren also ein ‚Startup-Hub‘. Wir waren plötzlich der Magnet in München.
SSch _ Obwohl ihr nicht im Zentrum von München wart, oder?
AT _ Wir hatten damals eine alte Gastwirtschaft angemietet. Und eine schlaue Kommilitonin wusste, dass es bei den Theaterwissenschaftlern unterm Dach Räume gab. So sind wir zu Professor Lazarowicz gegangen und sagten, wir hätten gerne den Schlüssel für den Dachboden. Der war so verdattert, dass er uns sofort den Schlüssel ausgehändigt hat, was heute ein Ding der Unmöglichkeit wäre.
SSch _ Und dann kam es zu Begegnungen, zum Beispiel mit Yoshi Oida.
AT _ Ja, aber vorher kommt noch die Begegnung mit Ellen Steward und die Begegnung mit Grotowski. Denn ihr ist es zu verdanken, dass Grotowski im Westen überhaupt bekannt wurde. Sie hat ihn durch den Eisernen Vorhang geholt, sie hat das erste Buch Towards a poor theatre publiziert. Das ist ihr Verdienst. Sonst wäre er hier überhaupt nicht bekannt geworden. Sie sagte: „Fahrt doch nach Polen.“ Und wir fragten: „Ja, wie geht das?“ Und sie: „Schreibt eine Anfrage.“ Und das habe
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ich gemacht. So war ich sechs Sommer lang in Polen. Und bei einem dieser Treffen in Polen, es war, glaube ich, beim Theater der Nationen, war eben auch Yoshi Oida. Wir saßen bei einer Übung auf einer Lichtung im Wald, und mir gegenüber saß Yoshi Oida, und wir meditierten uns an. Das sollte der Start für mehrere Begegnungen werden.
SSch _ Sehr spannend, wie ähnliche Wurzeln wir haben. Auch bei uns hatte Yoshi einen starken Einfluss, und wir haben auch zwei Produktionen mit ihm zusammen gemacht. Hat euch das als Meta Theater im internationalen Raum gehalten? AT _ Na ja, eigentlich ohne dass wir das wussten. Aber dadurch, dass wir Ellen Stewart, die ‚Mama‘ als Mentorin hatten, die mich mein Leben lang bis zu ihrem Tod 2011 begleitet hat, waren wir gleich 1981 schon mit einem Gastspiel in New York, und sind dann weiter nach Montreal. Wir waren vom Start weg international aufgestellt. Auch durch unseren anderen Mentor Jerzy Grotowski, den wir 1982 zu einer Konferenz nach München geholt hatten. Er und seine ganze Truppe wohnten damals im Meta Theater, und La MaMa wohnte ja auch fast jedes Jahr dort. Auf dem Weg nach Umbrien, nach „La MaMa Umbria“ kam sie in München angeflogen und machte einen Stopover im Meta Theater. Sie war unser strenger Geist. Von ihr stammte auch der berühmte Satz: „Take a risk on stage and not in life.“ Das war ihr Ratschlag an uns junge Theaterhasen, den wir dann auch als Titel unserer Broschüre zum 30-jährigen Bestehen übernahmen.
SSch _ Wir sind uns über die Jahre immer wieder begegnet, zuletzt im Kontext des flausen+-Netzwerks. Es gibt ein paar Gruppen in Deutschland, mit denen es solch eine Nähe gibt. Sonst habe ich so etwas immer nur auf der internationalen Ebene erfahren.
AT _ Das war mir, glaube ich, immer schon wichtig, auch von der Architektur her. Ich hatte immer schon Europa im Blick. Ich hatte das Glück, dass ich letztes Jahr eine Ausstellung im Münchner Deutschen Theatermuseum kuratieren durfte: Das andere Theater, die erste Ausstellung über die Freien Theater,
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über die Freie Szene in München. Aber ich habe natürlich auch den internationalen Kontext eingebracht.
SSch _ Das Münchner Theaterfestival spielte für mich damals auch eine Rolle. Dort waren alle, die damals so wichtig waren: Das Living Theatre, Odin Teatret, auch Pina Bausch, als sie noch nicht so bekannt war, spielten im Festivalzelt. AT _ Ja, da waren Leute zu sehen, die jetzt große Namen sind und dort klein angefangen haben. Jeder fängt mal an.
SSch _ Ich habe aufgehört, habe die Leitung abgegeben. Wie ist das bei dir? Gibt es Pläne für einen Generationswechsel?
AT _ Zwangsläufig. Auch durch die Begegnung mit asiatischen Künstlern, speziell natürlich auch nach meinem fast einjährigen Aufenthalt in Japan war für mich sehr früh in meinem Leben klar, dass sich das Leben in Perioden strukturiert. Ich habe mich immer gefragt. Was ist meine Aufgabe? Gar nicht nach Dekaden gerechnet, das ist mir unheimlich: Zehner, Zwanziger – das sagt mir gar nichts, diese Jubiläen. Es sind eher Siebenerperioden, so wie das der alte No-Meister Zeami in Der Blumenspiegel beschrieben hat. Das war für mich entscheidend. Er beschreibt, was ein No-Schauspieler erreichen kann – nicht muss! – in den Siebenerdekaden: in den Anfangsjahren, in den Jugendjahren die physischen Kräfte, die herausgefordert werden müssen. Und es wäre schade, wenn sie nicht angespornt würden. Der physische Höhepunkt war für ihn mit 35, wenn man Salti und was weiß ich in Hochform macht, also Hochleistungssportler ist. Mit 42 beginnt das Geistige, weil man das Körperliche nicht mehr steigern kann. So ist mir auch ein Satz von Yoshi Oida in Erinnerung geblieben, auf meine Frage, was er sich vorstellt, wenn er im Alter auf die Bühne geht. Er sagte, er träume davon, als alter Schauspieler auf die Bühne gehen zu können und nichts mehr machen zu müssen, und alle verstünden ihn.
SSch _ Ich habe ihn gerade vor Kurzem noch in Paris mit seinen 89 Jahren auf der Bühne gesehen und auch in Avignon. Er hat mittlerweile wirklich so eine Präsenz, dass er nichts mehr machen muss. Somit hat er das Prinzip schon erfüllt.
AT _ Er ist natürlich mein zweites Vorbild gewesen. Das eine war die Theorie und das andere ist die Praxis. So habe ich mich auch immer gefragt: „Was ist meine Aufgabe im internationalen Kontext? Bin ich der Türöffner? Oder der Reflektor?“ Aus dem Operativen bin ich schon sehr früh ausgestiegen. SSch _ Jetzt bist du mehr der Katalysator im Vorruhestand, der Sachen möglich macht?
AT _ Auch den Jüngeren. Meine Aufgabe ist seit der Coronapandemie, der jüngeren Generation die Türen zu öffnen. Vor sechs Jahren bin ich in die Bayerische Akademie der schönen Künste aufgenommen worden. Und da habe ich mich gewundert, warum da keine jungen Leute sind. Ich wurde mit den Worten „endlich ein Junger“ aufgenommen, das schmeichelt einem natürlich, aber ich hab mich gefragt, wo sind die wirklich Jungen? Ich hab mir jetzt zur Aufgabe gestellt, die Jungen da reinzubringen, und habe jetzt schon drei Symposien veranstaltet, mache Vorschläge, die 30-, 40-Jährigen dazuzuholen, die ja auch nicht mehr jung sind, die aber eine Plattform brauchen.
ern und die Tschechen, kennen uns sehr schlecht, wir wissen wenig voneinander, wobei die Tschechen mehr von uns wissen als wir von ihnen. Das hat ins Schwarze getroffen. SSch _ Wir werden also noch weiter von dir hören, so wie es aussieht.
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AT _ Wird nicht ganz ausbleiben.
Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 12. September 2023 am Rande einer Tagung im Schwere Reiter in München.
SSch _ Also arbeitest du daran, die junge Generation für ähnliche Aufgaben zu befähigen? AT _ Ich habe 2018 das IETM Netzwerk-Treffen hier in München organisiert mit 700 Teilnehmenden aus ganz Europa, Asien, Kanada, USA und in dem Rahmen habe ich den Europäischen Theaterverband gegründet. Die EAIPA (European Association of Independent Performing Arts) existiert jetzt seit fünf Jahren.
SSch _ Du bist somit der Architekt der Europäischen Theaterszene?
AT _ Genau. Mein neuestes Hobby ist seit Januar 2023 die Bayerisch-Tschechische Plattform. Denn im europäischen Verband sitze ich immer mit meinem tschechischen Kollegen zusammen, und in einer Kaffeepause haben wir diskutiert: Wo fängt Europa eigentlich an? Wir reden da über Programme und Millionen. Aber wo fängt es denn konkret an? Da haben wir festgestellt: eigentlich bei den Nachbarn. Und wir, die Bay-
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Gespräch mit Heiki Ikkola, Societaetstheater/Compagnie Freaks und Fremde Heiki Ikkola _ Ich bin in Schöneberg an der Elbe, der Stadt der Maschinenbauer, aufgewachsen und habe dort Maschinenbau gelernt. Ich habe mich von Anfang an für das Schreiben begeistert. Zum Theater kam ich eher später. In der DDR gab es diese tolle Tradition der Volkskunstkollektive. Wenn man irgendwo in einem Betrieb gearbeitet hat, dann gab es dort einen Chor, einen Zirkel schreibender Arbeiter, ein Theater ... Da habe ich Theater gespielt und hatte eine Affinität zum Zirkus. Meine erste Theatertruppe, die ich mit 17 Jahren (1987) gegründet habe, hieß dann auch Theater-Zirkus Chaos, bei der wir beide Leidenschaften verbunden haben. Wir haben uns bei einer LPG einen Pferdewagen ausgeliehen und durch den Harz unsere erste Theatertour gemacht. Und als ich die Ausbildung als Maschinenbauer fertig hatte, wusste ich, dass ich etwas mit Theater machen wollte. Ich habe ein bisschen gearbeitet in einem Job, aber habe mich dann bei Schauspielschulen beworben. Mir wurde schnell klar, dass ich eher in Richtung freischaffende Arbeit gehen möchte. Es gab keine Off-Szene in der DDR. Die innovativsten freischaffenden Theatererfahrungen konnte man im Bereich des Puppentheaters machen. Dort gab es Leute, die in der ganzen Welt unterwegs waren. Deshalb habe ich Puppentheater gewählt, auch wegen der Form, die viel experimenteller, viel suchender war. Ich habe es an der Ernst Busch (Staatliche Hochschule für Schauspielkunst) in Berlin studiert und genau 1990 mit dem Ende der DDR angefangen.
An der Hochschule waren sie auch dabei, sich neu zu orientieren und bemerkten: „An unserer Hochschule sind bestimmte Stimmen bisher nicht vorgekommen.“ Dadurch hat man Grotowski gelesen und hat sich mit Peter Brook auseinandergesetzt – aber ohne dass es groß reflektiert wurde oder im Lehrplan verankert war oder dass die Lehrer schon viel damit anfangen konnten. Man wusste nur, man kann das nicht ignorieren und muss mit den Studierenden über diese Sachen reden.
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So dachte ich direkt nach dem Studium – und das ist, glaube ich, unsere erste Schnittstelle: „Ich möchte jetzt auch von der anderen Seite etwas lernen – weniger akademisch. Ich bin nach Arzano in Italien gefahren, wo die Theater Assoziation Frankfurt jährlich eine Europäische Theaterschule veranstaltete, so nannten sie das. Da habe ich Francis Pardeilhan vom Odin Teatret kennengelernt, dann später auch Tage Larsson, und ich bin dort mit den Trainingsmethoden dieser physischen Theaterform in Kontakt gekommen und habe mir viel angeeignet. Schon vorher, während des Studiums, hatte ich mir die Trainingsvideos vom Odin Teatret angesehen. Das hat wahrscheinlich jeder von uns gemacht. Auch in unserer ersten Truppe, der Zirkus Chaos-Gruppe, hatten wir dieses Training kopiert, man hat es irgendwie versucht: „Was gibt mir das jetzt? Wie kann ich von dort aus weitergehen?“ Die Idee, wie Körperkompositionen aus diesem Training entstehen, den Schritt von der körperlichen Bildung hin zum Kreieren – all das habe ich bei Francis gelernt. Siegmar Schröder _ Ich habe das bei Ingemar Lindh gesehen und auch bei Francis einen Workshop mitgemacht. Gerade das Thema Bewegungskomposition hat mich unglaublich berührt und ich habe es als Basis für unser eigenes Training über viele, viele Jahre benutzt. Du warst auch irgendwann beim Theaterlabor – 1992?
HI _ Ja. Ich habe jetzt in meinem Gedächtnis gegraben: Wir waren mit einer Gruppe aus Magdeburg da, wir hatten gerade das Zentrum für Spiel und Theater in Sachsen-Anhalt gegründet und sind mit fünf, sechs Leuten hingefahren. Ich erinnere mich an die finnische Gruppe, die den Barbier von Sevilla aufgeführt hatte. Und ich erinnere mich an Gespräche und Theaterworkshops. Es gab auch eine Präsentation eurer aktuellen Inszenierungen, ihr hattet gerade viel Straßentheater gemacht. Von da an habe ich verfolgt, was ihr macht. Doch wir hatten tatsächlich nie persönlichen Kontakt. Als Gruppe habt ihr mir
etwas bedeutet, da war für mich immer eine Verbindung, auch durch Eugenio Barba, durch das, was ich selber schätze und lerne. SSch _ Du bist sehr stark in das Internationale eingestiegen. Wie kam das zustande?
HI _ Der allererste Impuls kam, als meine Tochter in der Schule war. Ich musste einen festen Job annehmen und habe das Puppentheater Dresden geleitet. Da habe ich einen Regisseur aus Australien kennengelernt, und wir haben uns vorgenommen, eine Kooperation zu machen. So haben wir für den Queensland Artscouncil (die Touring-Programme ausschreiben) eine Remote Tour in North-Queensland gemacht, auf den Torres-Strait-Inseln zwischen Australien und Papua-Neuguinea. Wir sind acht Wochen auf Tour gewesen mit dem Stück The Mightiest Touch of Physical Theatre at its Best – mit nur einem Koffer, weil wir mit einem kleinen Flugzeug, einer Cessna, von Spielort zu Spielort geflogen sind. So konnten wir nur körperlich Geschichten erzählen, ohne dass wir große Requisiten hatten. Das war ganz toll, dass wir dort, gerade mit den Menschen der Communitys eine universelle körperliche Sprache gefunden und diese auch durch Erfahrung und Workshops mit den Leuten weiterentwickelt haben. Das war der Anfang, nach dem ich dachte, dass mir diese Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen liegt: etwas dorthin zu tragen, Geschichten dorthin zu tragen, dann weiterzuarbeiten, wieder neue Geschichten für mich daraus zu machen und so weiter. Und dann passierte es: Während der Australien-Tour sah ich im Fernsehen, wie in Dresden die Fluten den Hauptbahnhof überströmten – es war 2002, die Jahrhundertflut. Ich bin zurückgekommen, und es hieß: „Euer Theater ist überschwemmt, ihr könnt jetzt erst mal mindestens ein Jahr nicht spielen.“
Und mein Intendant sagte: „Heiki, du kommst aus der Freien Szene, es ist deine Zeit, ihr habt jetzt keine Spielstätte, aber mach, was du willst. Du kannst tun, organisieren, machen. Arbeitet einfach flexibel, seid das unkomplizierte Beiboot. Ihr seid jetzt gefragt.“ Das Erste, was sich ergeben hat, entstand aus einem Kontakt, den ich zum Goethe-Institut in Tunis hatte.
Wir haben dort gastiert und eine Kooperation mit tunesischen Schauspielern gemacht. Interessanterweise haben uns seitdem viele Leute auch gerade aus dem Goethe-Institut-Kosmos als eine Art Experten in der Zusammenarbeit mit islamischen Ländern begriffen. Obwohl wir nur diese eine Erfahrung gemacht hatten. Dann hatte ich für drei Jahre mit meiner Partnerin, mit der ich die Compagnie Freaks und Fremde gegründet hatte, eine Residenz in Pakistan, und ich hatte im Iran eine Gastprofessur an der Teheraner Universität, wo ich Puppenspiel unterrichtet habe und wohin ich immer wieder eingeladen wurde. Ich war insgesamt acht Mal dort. Ich habe auch eine Kooperation mit einem Theater dort gemacht, das sich dem Physical Theatre polnischer Herkunft verpflichtet hatte, was aber im Iran eine Art Tabu war – auch natürlich wegen der Körperlichkeit, gerade wenn Frauen und Männer auf der Bühne sind. Sie haben im Untergrund gearbeitet, und wir haben Kooperationen in Dresden gemacht. So hat sich das immer weiterentwickelt. Es kam Russland dazu, dann haben wir in Kolumbien eine Kooperation gemacht, in Afrika, in Brazzaville im kleinen Kongo. Es war toll für mich, diese anderen Sprachen zu lesen, mich immer wieder zu hinterfragen, also eigentlich nichts zu wissen, und einen Fundus an Techniken und Fähigkeiten anzusammeln. SSch _ Und wo führt es hin?
HI _ Tja, ich hab mich nun breitschlagen lassen, die Geschäftsführung des Societaetstheaters in Dresden für fünf Jahre zu übernehmen. Was ich aber gut finde. Wir hatten das große Geschenk bekommen, obwohl wir immer auf Tour waren, von der Stadt Dresden institutionell gefördert zu werden und dort alle unsere Produktionen herauszubringen, auch wenn sie für den internationalen Markt gemacht waren. Man bringt uns dort ein großes Vertrauen entgegen. Ich wusste auch, wie das Theater eigentlich besser laufen könnte oder was ich anders machen würde. Und aus der Szene haben alle gedrängt: „Heiki, du weißt, du kannst das organisieren, das musst du jetzt auch machen!“ Also hab ich zugesagt und bin die doppelte Schiene gefahren: das Theater geleitet und auch weiter
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in der eigenen Company gearbeitet. Jetzt kommt es mir darauf an, ab 2025 die Arbeit mit der Compagnie Freaks und Fremde weiterzuführen, gerade im Bereich Puppentheater, Objekttheater. Mit all den Techniken, die wir gelernt haben, ist alles noch nicht auserzählt, da ist noch so viel zu entdecken, insbesondere in der Kommunikation zwischen den Kulturen, im Bereich des Körperlichen. Es gibt so viele Anknüpfungspunkte im internationalen Dialog. Ich habe das Gefühl, da bin ich immer noch Lehrling.
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Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 12. September 2023 am Rande einer Tagung im Schwere Reiter in München.
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Theaterlabor/Yoshi Oida, Winterreise, 2007
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Henning Fülle: Der Paradigmenwechsel der 1990er Jahre Elisabeth Bohde, Gründerin, Co-Leiterin und tatsächlich auch Eigentümerin der Theaterwerkstatt Pilkentafel (der Immobilie und der Marke) in Flensburg, beschrieb die Prozesse der Transformation der Freien Szene in den 1990er Jahren mit den Worten: „Es kam uns vor, als sei der Kapitalismus ausgebrochen.“ Sie meinte damit die Veränderungen gegenüber den 1980er Jahren, in denen sie von Gastspielen, Touren, Kooperationen, Festivals etc. tatsächlich leben konnten. Diese Entwicklungsphase der Freien Szene beschreiben deren Protagonist*innen von heute aus mit dem Zungenschlag einer gewissen Romantik und mit mehr oder weniger Bedauern, was die Ablösung der informellen Ökonomie durch ausgearbeitete schriftliche Verträge ausmacht. Während in den Achtzigern meist ‚auf Teilung‘ (de facto des Risikos und des Erfolgs) gespielt wurde und anstelle von Verträgen das Wort und der Handschlag galten, begann mit dem künstlerischen Nachwuchs, der in Hildesheim, Gießen, Hamburg oder anderswo ausgebildet worden war, das Kalkül der tariflich gerechten Bezahlung der Akteur*innen auch in der Freien Szene Platz zu greifen. Einen Übergang bildeten merkwürdigerweise auch sozialpolitische Programme, die es in den 1990er Jahren noch ermöglichten, auf einer ABM-Stelle mit einem Hochschulabschluss entsprechend dem öffentlichen Tarif bezahlt zu werden. Die erworbene Qualifikation wurde zum Kriterium für Ansprüche und Forderungen der Entlohnung von Projektarbeit in der Freien Szene als einem Sektor öffentlicher Förderung. Damit wurde auch das Gelingen der Einwerbung von Fördermitteln durch Stellung von Anträgen zu einem wesentlichen Kriterium des Erfolgs einer Gruppe, die ja – weil Projektförderung nach Haushaltsrecht – nur bis zur Premiere des Projekts gewährt wurde, was aber auch hieß, dass sie gezahlt wurde, auch wenn das geförderte Projekt beim Publikum floppte.
Dieses ökonomische Kalkül widersprach dem Selbstverständnis vieler Protagonist*innen, die es gewohnt waren, ihre Arbeit mit ideellen Motiven unter entbehrungsreichen Bedingungen zu verrichten: Inhalte, Politik, Kunst waren die wichtigen Werte,
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derentwegen man im Freien Theater wirkte – nicht so sehr ökonomischer Erfolg.
Wenn sich dabei, wie in München oder in Wien in den 1980er Jahren, in der Szene tatsächlich auch Eigentumsstrukturen herausgebildet hatten, wurde der Übergang an nachfolgende Generationen besonders schwierig. Der größte Teil der öffentlichen Fördermittel wurde im Kreise dieser etablierten Strukturen verteilt. Die Leitungen der Produktionshäuser, die schon in den 1980er Jahren als Ankerpunkte für die Förderung des Freien Theaters etabliert und verlässlich gefördert wurden, bildeten weitere Machtfaktoren auf dem Markt des Freien Theaters. Intendant*innen nannten sich die künstlerischen Leiter*innen von Kampnagel, dem HAU in Berlin oder dem Mousonturm in Frankfurt seit den 1990er Jahren. Und Nele Hertling oder Matthias Lilienthal, Res Bosshart oder Amelie Deuflhardt wurden und werden von der breiteren Szene schon längst nicht mehr unbestritten als ihre Repräsentant*innen angesehen, sondern auch als machtvolle Veranstalter*innen, von deren Entscheidungen Wohl und Wehe von Produktionen und Theatergruppen abhängen. Mit diesen Entwicklungen vollzog sich weiterhin die Ausbildung von Arbeitsteilung und Spezialisierungen in der Szene: Als Erstes kam der Glaube daran, dass ‚alle alles machen könnten‘ (oder wenigstens können sollten) unter die Räder: Siegmar Schröder, Elisabeth Bohde, Willy Praml, Winfried Wrede und wenige andere sind die Letzten, die diese Alleskönnerschaft aus Erfahrung noch bis heute repräsentieren. Diese ‚alte Garde‘ beschreibt die Prozesse als durchaus schmerzlich, aber auch – etwas resignativ – als wohl irreversibel.
Überhaupt ist neben der Verallgemeinerung der öffentlichen Förderung in den 1980er Jahren und der Etablierung von Produktionshäusern die Akademisierung von Ausbildungsgängen mitverantwortlich für die Professionalisierung der Szene – wobei Bohde und andere sich vehement gegen diese Qualifizierung wehren. „Natürlich waren auch wir in einem Höchstmaß
professionell“, sagt sie, was zweifellos richtig ist. Wenn man aber mit diesem Begriff die Gesamtstruktur beschreibt, die vom Anträgeschreiben und -administrieren, der Organisation von Produktion, Management, PR und Marketing für die Gestaltung sämtlicher Gewerke der künstlerischen Produktion – Regie, Dramaturgie, Spiel, Raum, Licht, Ton, Video – bis hin zur Web-Präsenz, der Archivierung, der Bespielung von Social Media wenigstens auf Fachhochschul-, zumeist aber inzwischen universitärem Level Bildungsgänge anbietet, so ist damit dann doch ein anderes, weiter ausgreifendes Niveau von „Professionalität“ gemeint. Und die nachwachsenden Generationen, die meist in diesen Bildungsgängen ausgebildet wurden, gehen an das Freie Theater ganz anders heran als ihre Altvorderen, die die Grundstrukturen als Zweite Säule der Theaterlandschaft aufgebaut haben. Aus meist freier Entscheidung für die Arbeit in diesen Strukturen, aber oft genug verbunden mit dem Anspruch, dies solle eine dauerhaft tragfähige Berufsentscheidung mit der Aussicht auch auf die Entwicklung von Karriere sein, die denen ihrer Kommiliton*innen für andere, etabliertere Institutionen im Hinblick auf Arbeitsbedingungen und Gratifikationen wenigstens ähnlich sei.
Der Idealismus, die Substanz der romantischen Erinnerungen der Gründergeneration sei den heutigen jungen Protagonist*innen abhandengekommen, beklagen jene, und die Übergabe ihrer Häuser oder auch nur ihrer Marken an die Nachgewachsenen fällt ihnen schwer – so schwer, dass es wohl tatsächlich öfters professioneller Moderation oder Mediation bedarf, wie bei der Vererbung von landwirtschaftlichem Eigentum. („Und ohne Tränen geht es meist nicht ab.“)
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Mit einem Bein im Gefängnis – kulturpolitische Perspektiven Siegmar Schröder: Der Zweck heiligt die Mittel In den Achtzigerjahren gab es noch fast keine Förderung für Freies Theater. Es gab diesen Begriff noch gar nicht richtig. Alles Theater außerhalb der Stadttheater galt als Laienspiel. Die ersten kleinen Projekttöpfe auf Landesebene und in den Kommunen hätten niemals Theaterproduktionen und -projekte auskömmlich finanzieren können. Als wir 1986 ein großes europäisches Theaterfestival in Bielefeld durchführen wollten, stellten wir einen Antrag über 40.000 DM beim Kulturausschuss der Stadt. Dieser wurde erwartungsgemäß abgelehnt. Der damalige Kulturamtsleiter Horst Adam bezeichnete unser Vorhaben als „Größenwahn“. (Er revidierte dann nach dem Festival seine Meinung und wurde zu einem wichtigen Unterstützer.) Ich musste also einen Umweg gehen und Mittel dort auftreiben, wo sie in ausreichender Höhe zur Verfügung standen, aber eigentlich nicht für diesen Zweck. Nach einem Gespräch mit dem Professor Dieter Baacke35 konnten wir das Festival im Rahmen einer Fachtagung durchführen mit Mitteln des Düsseldorfer Wissenschaftsministeriums.
Finanzierung war immer eine Gratwanderung am Rande der Legalität. Gestaltungsspielraum konnte als Gestaltungsmissbrauch interpretiert werden. Ich war aber generell sehr angstfrei und fand mein Vorhaben so wichtig, dass ich bereit war, Risiken einzugehen. 35
Ein Schauspieler von uns musste Zivildienst ableisten und wäre uns damit für ein Jahr verloren gegangen. Wir stellten fest, dass wir mit unserem angemieteten ehemaligen Ballsaal so etwas wie Stadtteilkulturarbeit machten und dadurch als Verein auch Anspruch auf eine Zivildienststelle hatten. Diese wurde uns schließlich bewilligt und unser Schauspieler wurde damit für ein Jahr sogar vom Bund – also der Bundeswehr – finanziert. Wir hatten dann noch viele Zivildienstleistende, die mit ihren Kochkünsten die schöne Tradition unseres mittäglichen gemeinsamen Essens bereicherten.
Beim Sozialamt gab es ein Programm mit dem Namen „Arbeit statt Sozialhilfe“. Das waren Stellen bei Vereinen, die über zwei Jahre voll finanziert wurden. Ich stellte fest, dass ich selbst Anspruch auf Sozialhilfe hatte, bekam diese bewilligt und konnte aus diesem Programm für mich eine solche Stelle beim Theaterlabor finanzieren. Ähnliche Maßnahmen gab es auch beim Arbeitsamt, die sogenannten ABM-Stellen (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen), die vor allem für diejenigen interessant waren, die neben der Theaterarbeit ein Studium abgeschlossen hatten. Dadurch gehörten sie zum Kreis der Anspruchsberechtigten, die, wenn sie arbeitslos gemeldet und ohne Aussicht auf eine feste Stelle waren, mit einer ABMStelle üppig bezuschusst wurden.
Prof. Dr. Dieter Baacke (1934–1999) war ein bekannter Medienpädagoge, der mir immer wieder zu Lehraufträgen verhalf und zwei kleine Trainingsräume für uns in der Universität zur Verfügung stellte.
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Moralisch war das gut zu vertreten, da ja auf lange Sicht all diese Menschen durch das Theaterlabor tatsächlich ein eigenes Einkommen bekamen. Für uns war es allerdings selbstverständlich, dass diese Gehälter aufgeteilt wurden, denn es ging ja darum, die gesamte Gruppe zu finanzieren, und wir waren immer als Kollektiv aufgestellt, in dem alle das Gleiche verdienten.
Eine großzügige Finanzierung für eine Produktion auf der Grundlage des Lebenswerks von Max Ernst, Tagvögel – oder die widerrechtliche Ausübung der Schauspielerei, wurde 1990 durch die NRW-Stiftung gewährt (die eigentlich eher für Denkmäler, Heimatpflege etc. zuständig war), und wir hatten zum ersten Mal am Jahresende Geld übrig. Mein Vorschlag, damit eine Betriebsrente aufzubauen, fand allerdings keine Mehrheit. Mir war damals schon bewusst, dass über die spärlichen Einzahlungen in die Künstlersozialkasse (KSK) lediglich Renten unterhalb der Armutsgrenze zu erwarten waren. 1992 konnten wir unser zweites Festival mit dem Titel 360° über Gelder der EU finanzieren. Unser gesamtes Überleben als Theater hing davon ab, ob wir clever genug waren, bei allen
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potenziellen Geldgebern erfolgreich zu sein. Immerhin wurden diese Gelder nun eher für das ausgegeben, wofür sie bestimmt waren. Langsam entwickelte sich auf Landesebene eine institutionelle Finanzierung, von der wir auch profitierten. In der Stadt Bielefeld wurde diese Entwicklung leider komplett verschlafen. Es gab für wenige freie Theater sogenannte Betriebskostenzuschüsse, die diesen Namen jedoch nicht verdienten. Wir hatten in dieser Zeit das Glück, dass unsere Arbeit bei der Landesregierung sehr geschätzt wurde und dort nicht auf eine höhere kommunale Beteiligung bestanden wurde. Mein ‚Meisterstück‘ bestand zuletzt darin, mit dem Antreten meines Sabbatjahres im Jahre 2019 für das Theaterlabor einen Mietvertrag mit einem Fördervertrag mit der Stadt Bielefeld abzuschließen, der tatsächlich zum ersten Mal eine echte Förderung darstellte. Nach 36 Jahren Kampf ums Überleben und dem ständigen Fordern nach kommunaler Anerkennung war endlich eine Etablierung erfolgt, die mir meinen Abschied leichter machte.
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Hans-Joachim Wagner: Arbeiten im internationalen Kontext – das Theaterlabor Bielefeld und die Kunststiftung NRW Das Theaterlabor Bielefeld hat sich unter der Leitung von Siegmar Schröder seit der Gründung 1983 zu einem der bedeutenden Orte für die performativen Künste in NordrheinWestfalen entwickelt – und dabei internationale Strahlkraft erworben. Als ein ensemblegetragenes Theaterhaus verhandelte das Theaterlabor während der Ära Schröder vor allem in eigenen Produktionen die drängenden Fragen unserer Gegenwart und Zukunft, die gesellschaftlichen Umbrüche und Verwerfungen, die Herausforderungen für ein Miteinander in postmigrantischen Gesellschaften, die ökologischen Krisen und die Folgen fortschreitender Globalisierung. In gleicher Weise aber reflektierte das Theaterlabor in unterschiedlichen Formaten die Relevanz künstlerischer Arbeit und die Diversität im Ästhetischen und Formalen der zeitgenössischen performativen Künste – durch die Entwicklung von Laboren, Recherchen und Residenzen sowie die Potenziale von Transmedialität, die Möglichkeiten ortsspezifischer Aktionen im urbanen Raum und die Arbeit mit Expert*innen des Alltags oder schließlich auch die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Kunst und Rezeption. Künstlerische Praxis im Theaterlabor Bielefeld weitete indes die Komplexität der Fragestellungen, indem die Diskurse stets in einen internationalen Kontext eingerückt wurden. Die Kunststiftung NRW hat über viele Jahre hinweg gerade die international ausgerichteten Aktivitäten im Theaterlabor be- und gefördert. Bereits 1993 ermöglichte die damals noch Stiftung für Kunst und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen genannte Stiftung ein Gastspiel des Odin Teatret aus Holstebro (Dänemark) mit der Produktion Kaosmos. Die von Franz Kafkas Parabel Vor dem Gesetz ausgehende Produktion tourte zwischen 1993 und 1997 in mehr als 20 Ländern weltweit. Im ersten Jahr war sie zu Gast in Bielefeld – ein gewichtiges Indiz für das wache Sensorium der künstlerischen Leitung des Hauses, wenn es darum ging, die aktuellsten Positionen nach Ostwestfalen zu verpflichten.
In der Folge trat ab dem Jahr 2000 vor allem das von Siegmar Schröder initiierte internationale Theaterfestival 360° in den Fokus der Förderung durch die Kunststiftung NRW. Besonders hervorzuheben ist in den Jahren 2011 und 2012 das Festival Doppelgänger, zu dem unter anderem das 1982 in Calgary von Michael Green und Blake Brooker gegründete One Yellow Rabbit Performance Theatre eingeladen wurde – eine Formation, die mit ihrer radikal transdisziplinär orientierten Ästhetik wichtige Impulse zu setzen vermochte. Mit welcher Weitsicht Siegmar Schröder agierte, zeigte sich im 360°-Festivaljahrgang 2013. Fünf Wochen lang schlug hier das Festivalmotto Alte Wurzeln – Junge Triebe die Brücke zwischen der Gründergeneration des Theaterlabor Bielefeld und den vielgestaltigen jungen Szenen in den performativen Künsten (eine Idee, die seit 2017 durch die enge Zusammenarbeit des Hauses mit dem nationalen Produktionsnetzwerk flausen+ – Young Artists in Residence konzeptionell aufgefächert und vertieft wurde). Zu diesem Festival wurden wiederum Ensembles aus den Bereichen Theater, Tanz und Musik eingeladen, und das Festival endete mit dem Tanzabend Yesterday des Trust Dance Theatre aus der Republik Südkorea. Es war das erste Gastspiel dieser Company in Deutschland überhaupt, dem sich zahlreiche weitere im deutschsprachigen Raum anschlossen. Das Theaterlabor Bielefeld präsentierte 2014 und 2015 zwei inhaltlich eng miteinander verknüpfte Themenfelder. Das Motto „Unterwegs“ kulminierte in der Straßentheaterarbeit Odyssee, die gemeinsam mit der Inszenierung Séance auf Tour durch Nordrhein-Westfalen und auch im europäischen Ausland, unter anderem in Großbritannien, Serbien, Ukraine und Polen, ging. Die gesellschaftlich drängenden Fragen von Flucht, Migration und Heimat standen im Zentrum. Andererseits arbeitete das Ensemble des Theaterlabors im Rahmen des internationalen Kooperationsprojekts Im Dschungel der Geschichte in Polen, Frankreich und Schottland zum globalen
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Trauma des Ersten Weltkriegs, um die Einzelprojekte dann im Festivalformat in Bielefeld zu zeigen.
In den Jahren 2016 und 2017 vertiefte das Theaterlabor in der Veranstaltungsreihe Krise Trauma Hoffnung im Rahmen eines internationalen Kooperationsprojekts gegenwärtige politischgesellschaftliche Krisen. Dazu wurden Theatergruppen unter anderem aus der Ukraine, Serbien und Irland eingeladen, um in Performances und Workshops aktuelle Arbeiten vorzustellen. Zur Eröffnung war aus Dublin Smashing Times mit der Produktion The Woman is Present eingeladen – eine Produktion, die gerade in Europa tourte. Der Krisendiskurs bezog sich in dieser Arbeit auf den Alltagssexismus, den Frauen immer wieder erfahren müssen, auf die Unterdrückung der weiblichen Stimme im sozialen, ökonomischen und politischen Kontext, das Ausschalten von Meinung, die körperliche Gewalt bis hin zur psychischen und physischen Zerstörung des Lebens. Letztlich stand hinter dieser Eröffnungsproduktion die übergreifende Fragestellung, wie der Verlust von Sprachfähigkeit und das Unvermögen von Kunst und Gesellschaft, die komplexen Fragestellungen bzw. Herausforderungen unserer Gegenwart zu verhandeln, zu überwinden sei. Ein hochkarätig ausgerichtetes Filmprogramm – unter anderem mit dem Film Frontier Church des lettischen Dokumentarfilmers Egons Upitis und dem Theaterfilm My Mykolaivka von Natalia Vorozhbyt und Georg Genoux – setzte sich mit den kriegerischen Ereignissen in der Region Donezk und dem Überfall Russlands auf die Krim 2014 auseinander.
Die Kunststiftung NRW hat mit ihren Förderungen für das Theaterlabor in Bielefeld Freiräume für Entwicklungen, für grundsätzlich offene bzw. heterogene Strukturen des Ermöglichens geschaffen. Die Gründe dafür sind vielfältig, lassen sich aber im Kern auf drei Überlegungen konzentrieren. Aus der Gewissheit, einem Haus wie dem Theaterlabor und seinem Ensemble die Perspektive zu eröffnen, in einen offenen Diskurs mit international agierenden Ensembles und deren je individueller Ästhetik und dem je individuellen Blick auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu begegnen, resultiert ein
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kaum zu überschätzender Erkenntnisgewinn. Die Erfahrung eines Gegenübers respektive eines Anderen findet stets Widerhall im eigenen künstlerischen Tun. Perspektiven weiten sich und erlauben darüber hinaus in der Kontrastierung die Präzisierung der eigenen künstlerischen Position. Der Austausch im Internationalen ermöglicht Wissenstransfer, Zuwachs an Expertise, im Theoretischen wie im Künstlerischen. Neben dieser wesentlich auf produktionsästhetischer Ebene angesiedelten Dimension gilt es jedoch, in gleichem Maße auch den Moment von Öffentlichkeit zu akzentuieren. Die Präsentation künstlerischer Arbeit in realer Gegenwart ist von zentraler Bedeutung für die performativen Künste – das hat die Coronapandemie mit allem Nachdruck gezeigt. Künstlerische Arbeit braucht den Diskurs, den Austausch, die Reibung mit einem vielfältig strukturierten Publikum und dessen ganz unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Erfahrungsräumen. Für die künstlerische Arbeit eröffnet das ästhetisch wie inhaltlich neue Sichtweisen. Das Gastspiel ist somit mehr als das Abspielen einer national oder international gerade gehypten Produktion, sondern ein Angebot an das Publikum vor Ort zur Auseinandersetzung mit neuen Inhalten und Ästhetiken künstlerischer Praxis. Für das Sehen und Erleben der folgenden Produktionen bleibt dieser Erkenntniszuwachs nicht ohne Folgewirkung – das Publikum schaut mit anderen Augen, hört mit anderen Ohren. Und die Präsenz der Produktion des Theaterlabors vor einem internationalen Publikum ist der folgerichtige Schritt: Die Präsentation vor einem neuen Publikum mit vielleicht sogar widerstreitenden Seh- und Hörerfahrungen zwingt zur Reflexion über den inhaltlichen und ästhetischen Standort. Das Gastspiel wird zur kritischen Selbstbefragung und Selbstvergewisserung. Siegmar Schröder ist es während seiner Zeit als künstlerischer Leiter des Theaterlabor Bielefeld gelungen, eine kluge Balance zwischen den Rahmenbedingungen eines lokalen Produzierens und Präsentierens und der Präsenz relevanter internationaler Positionen und eigener Produktionen im internationalen Kontext herzustellen. Diese Offenheit gilt es, heute mit allem Nachdruck und mehr denn je fürs künstlerische Arbeiten zu
reklamieren. Wenn sich Förderprogramme unversehens aufs Regionale verkürzen oder gar in Diskursen zur Zukunft der Künste unvermittelt Kriterien des Nationalen erneut greifen, muss dem mit aller Vehemenz widersprochen werden. Der Austausch ist und bleibt das Gebot der Stunde – dafür hat Siegmar Schröder sich mit allem Nachdruck und mit Gewinn für uns alle eingesetzt.
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Theaterlabor, Plakat, 2017
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Siegmar Schröder: Das Theaterlabor und die Immobilien Bereits nach zwei Jahren Arbeit in kleinen Räumen der Universität (1983–1985) wollten wir einen eigenen Raum anmieten, der auch die Möglichkeit bot, öffentlich aufzutreten und eigene Kulturveranstaltungen durchzuführen. Wir fanden einen ehemaligen Ballsaal, in dem sich 1985 ein Möbelgeschäft befunden hatte. Wir entkernten und renovierten ihn zunächst mit eigenen Kräften und sehr begrenzten Mitteln. Um den Saal wieder für öffentliche Veranstaltungen nutzbar zu machen, mussten aber neue Toiletten eingebaut und die technische Einrichtung finanziert werden.
Obwohl der ehemalige Ballsaal nicht in einem Sanierungsgebiet lag, sondern in einem Arbeiterwohnviertel, dem sogenannten fünften Kanton, konnte das Theaterlabor bereits 1988 von Städtebauförderungsmitteln profitieren. Wir haben dann zwölf Jahre das Theater in der Lerchenstraße und damit auch Stadtteilkulturarbeit betrieben. Zur Jahrtausendwende wurde für den Bereich Tor 6 der Dürkoppwerke ein großes Stadtplanungsprojekt entwickelt und es wurde angedacht, die ehemalige Ausstellungshalle, in der die Firma ihre Industrienähmaschinen präsentiert hatte, als kulturellen Ort zu gestalten. Das war insofern besonders, da bereits bei diesen Planungen das Thema Kultur eine Rolle spielte – möglicherweise durch die exponierte Stellung als eines der regionalen Entwicklungsprojekte für die EXPO 2000. Wir wurden von der Planungsgruppe eingeladen und gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, dort einen Kulturort zu betreiben. Da unser Ballsaal mittlerweile aus allen Nähten platzte und das Tor 6 neben einer großen Fläche auch noch einen besseren innenstadtnahen Standort bot, sahen wir das als große Chance für unsere Entwicklung und sagten sofort zu. Wir konnten im weiteren Verlauf sogar die Planung für den Umbau zu einem Theater mitgestalten und während der gesamten Umbauphase auf Augenhöhe mit dem Architekten und Bauleiter agieren.
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Fritz Achelpöhler war langjähriger Vorsitzender der Bezirksvertretung Bielefeld-Mitte und war an den politischen Weichenstellungen für beide Vorhaben entscheidend beteiligt.
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Gespräch mit Fritz Achelpöhler, ehemaliger Kommunalpolitiker Siegmar Schröder _ Wie war das damals in der Nachbarschaft hier im Osten von Bielefeld im fünften Kanton? Kommt da plötzlich so eine verrückte Theatertruppe an?
Fritz Achelpöhler _ Ja, ich habe erst mal nur gestaunt. Denn das Einzige, das es bis zu dem Zeitpunkt gab, war der Lerchenkrug, die Kneipe und fertig. Es gab noch das Westfalen-Kolleg, aber das war in der Nachbarschaft nicht präsent. Und dann so ein Theaterstück auf dem „Monte Scherbelino“36, das war neu! Oder wenn hier Spaziergänge auf Stelzen durchs Viertel gemacht wurden. SSch _ Du hast ja sogar an zwei Bauprojekten mitgewirkt und uns jeweils auf die Beine geholfen. Einmal hier im Viertel und danach 15 Jahre später beim großen Theaterhaus im Stadtzentrum.
FA _ Es ging hier um etwas Neues, keine klassische Sanierungsmaßnahme, sondern das positive neue Element, das ins Spiel kam. Und das Überraschende war, dass ihr uns die Kenntnis dieser Förderungsmöglichkeiten im Rahmen der Städtebauförderung des Landes mitgebracht hattet.37 Über die Bezirksvertretung war ich als Fraktionssprecher Sachkundiger Bürger im Planungsausschuss und dadurch auch Mitglied der Ratsfraktion. Was die Sanierungsfragen betraf, war ich der Sprecher für die Ratsfraktion, obwohl ich kein gewähltes Ratsmitglied war. Das hat mir vieles erleichtert. Dazu kam aber auch, dass ich niemanden hatte, der mir zuarbeitete, ich musste alles selbst organisieren. Die Verabredungen mit dem Kulturamt und dem Liegenschaftsamt musste ich treffen, musste selbst mit den Leuten sprechen. Das hat mir dann auch die nötigen Kenntnisse verschafft, um hier überhaupt etwas vorantreiben zu können.
SSch _ Also nicht so sehr das Verlagern auf Ämter und Fachausschüsse, sondern eher persönliches Engagement. 36 37
FA _ Ganz persönlich, immer 1:1.
SSch _ Ich hab dich auch so empfunden als jemand, der nicht nur in der Politik kompetent ist, sondern dass du auch ein sehr ausgeprägtes ästhetisches Empfinden hattest. Wie hast du denn das Theaterlabor gesehen mit diesem internationalen Anspruch?
FA _ Anspruchsvoll – das war nicht selbstverständlich und es war auch sehr wechselnd. Deutliche Konturen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Sprache und dann die Verdichtung im Spiel. Das war etwas. Und dann dieser Umgang auf dem Hintergrund bekannter Geschichten. Die Odyssee-Aufführung ist mir noch in Erinnerung. Wenn ich mir vergegenwärtige, was ihr dafür, nicht nur an spielerischen, sondern auch an technischen und handwerklichen – also im buchstäblichen Sinne des Wortes handwerklichen – Leistungen hingestellt habt, war das wirklich krass. SSch _ Hattest du Vergleiche? Bist du auch manchmal woanders ins Theater gegangen?
FA _ Die städtischen Bühnen waren auch experimentierfreudig in der Intendanz mit Heiner Bruns, Alexander Gruber (Dramaturg) und John Dew als Spielleiter. Das war eine hochkarätige Phase in Bielefeld, das war große Oper damals. Das kannte ich, Freie Theater hatte ich sonst nicht kennengelernt. SSch _ Wie war denn das kulturelle Gefühl in Bielefeld? Ich hatte immer den Eindruck, das kam im Kulturausschuss und bei den Politikern nicht so an.
FA _ Was ich bei euch auch gemerkt habe – das Publikum ging mit. Bei der Odyssee oder beispielsweise in Minden beim Stadtspektakel. „Wir müssen jetzt weg hier, das Wasser kommt, die Weser kommt.“ So ein Schlüsselsatz, und dann setzt sich das
Ein Hügel in der Nähe der Lerchenstraße, der durch Bauschutt aus dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. Wir hatten aus Düsseldorf von Gesprächen im Ministerium und mit Horst Hanke-Lindemann vom Theater Fletch Bizzel in Dortmund genauere Kenntnisse nach Bielefeld mitgebracht, wie man Städtebauförderungsmittel für ein soziokulturelles Projekt, das sich in privatem Besitz befindet, einbinden konnte.
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ganze Publikum in Bewegung und zieht vom Domplatz auf den höher gelegenen Marktplatz. Oder in Lemgo das Vorlesen der Namen der Frauen, die dort als Hexen verbrannt wurden. Ja, das hätte auch eine Lektüre aus dem aktuellen Telefonbuch sein können, und diese Verknüpfung des Historischen mit der Aktualität, das gibt der Historie natürlich auch ein ganz neues Leben.
SSch _ Waren diese Baumaßnahmen Einzelentscheidungen, die man einfacher durchbringen konnte? War die Institutionalisierung als langfristige Entscheidung für eine Stadt wie Bielefeld schwieriger? FA _ Ich erinnere ich mich noch an eine Haushaltsentscheidung. Ich konnte durch ein Telefongespräch erfahren, zu welchem Ergebnis die Verhandlungen zwischen der CDU und der SPD geführt hatten. Mir wurde gesagt, dass wir die Mittel, die wir für den Umbau des Theaterlabors benötigten, einsetzen könnten: „… das, was wir brauchen“. Ich habe mich noch mal erkundigt, wie denn der Stand der Kosten sei und konnte den aktuellen Betrag in den Vertrag einfügen. Das ist so ein Beispiel gewesen, wie wir an Geld gekommen sind. Aber die laufenden Betriebskosten, das war für uns ein Kapitel, da kamen wir nicht ran.
Welches Prestige ihr hier im Lande hattet, konnte ich auch daran sehen, als hier mit einem Mal der Kultusminister Hans Schwier auftauchte und mit euch und uns auf einer Bank im Garten saß und wir über das Theater und seine Sicht darauf gesprochen haben. Dass hier ein Landesminister auftauchte, war absolut neu und ungewöhnlich und zeigte, welches Prestige ihr in Düsseldorf hattet.
SSch _ Was ist das nächste Theaterstück, was du dir ansiehst?
FA _ Natürlich. Ich gucke dann auf den Plan, wenn es passt.
SSch _ Dein Interesse am Freien Theater ist also geblieben?
FA _ Zu Silvester gehe ich ins Mobile Theater38, da habe ich schon gesehen, dass sie wieder eine Premiere vorgesehen haben, und dann bleiben wir da bis über Mitternacht. Das ist immer eine schöne Situation. Leider ist Albrecht Stoll nicht mehr dabei. SSch _ Auch einer meiner allerersten Mentoren, der mir Namen wie Grotowski eingeflüstert hat.
FA _ Wir haben damals sogar selbst Hand angelegt. Das Mobile Theater war ursprünglich in der Waldemarstraße und hatte Probleme mit dem Brandschutz. Es musste eine Mauer gezogen werden. Weil es ein Abbruchhaus war, gab es kein Geld für eine Baumaßnahme. Da war eben das Glück, dass eine weitere Person, die diesem Zusammenhang eine große Rolle spielte, Egon Diekmann als damaliger Chef der Landesentwicklungsgesellschaft39, sagte: „Dann baue ich die Mauer eben selbst.“ Albrecht Stoll und ich haben Speis geschoben und Egon Diekmann hat die Ziegel gesetzt, mit Unterstützung meiner Tochter Katrin, die gerade eine Maurerlehre machte.
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SSch _ Also genau das Engagement, das die Freie Szene brauchte.
Das Gespräch mit Fritz Achelpöhler als ehemaligem Ratsmitglied der Stadt Bielefeld führte Siegmar Schröder am 9. Oktober 2023 in Bielefeld.
FA _ Carmen – im Bielefelder Stadttheater.
SSch _ Gehst du noch irgendwo in eine Aufführung der Freien Theater? 38 39
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Amateurtheater mit eigener Spielstätte in Bielefeld gegründet von Albrecht Stoll Ende der Siebzigerjahre. Die gesamte Planung des Umbaus und die Bauleitung für die Umbaumaßnahme im ehemaligen Dürkoppgebäude zum Theaterhaus wurde von Egon Diekmann und der LEG verantwortet.
Gespräch mit Andreas Kimpel, ehemaliger Kulturamtsleiter in Bielefeld Andreas Kimpel _ Sagt dir die Projektidee noch was, die ich in Bielefeld hatte: B-City? Ein europäisches Städtenetzwerk sollte es werden. Brno (Brünn) hatten wir dabei, Bialystok – Städte dieser Größe. Das habe ich in Bielefeld nicht mehr hingekriegt, aber die Idee jetzt hier in Gütersloh wieder aufgegriffen. C-City heißt es jetzt. Damals war der Name noch angelehnt an B-Movie; das C jetzt steht für Kultur, Kommunikation und so weiter. Ich habe tatsächlich fünf Städte zusammengebracht. Ich musste es an Gütersloh anpassen, ein wenig runterzoomen auf die Ebene und die strukturellen Kontexte von Gütersloh. Es sind die Partnerstädte geworden, die ich als Erstes angesprochen habe. Diese fünf Städte, mit denen Gütersloh eine partnerschaftliche Beziehung hat, sind natürlich untereinander nicht verschwistert; trotzdem ist es mir gelungen, alle fünf in ein Netzwerk hineinzubringen. Wir haben schon viele Workshops gemacht, Konferenzen … Eines der ersten Projekte, das wir jetzt machen, ist im Ansatz ganz einfach und du wirst das sicherlich bestätigen, weil du jetzt in Frankreich lebst: Was sehr niederschwellig Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen zusammenbringt oder verbindet, sind Essen und Trinken. Und über Essen und Trinken kannst du Geschichten erzählen und Kulturen kennenlernen. Aktuell sind wir dabei, ein Buch und eine digitale Version mit Beiträgen über jedes Land und den entsprechenden Querverweisen zu produzieren. Im Juni nächsten Jahres (2024) soll es fertig sein. Das ist das Startprojekt und daneben gibt es viele andere. Denn es ist mir wichtig, das Thema europäische Kulturarbeit zu einem festen Bestandteil kommunaler Kulturarbeit zu machen. Das steckt dahinter.
Siegmar Schröder _ Bei uns war die Entwicklung auch maßgeblich international beeinflusst. Die ersten Workshops wurden meist von Italienern gegeben oder anderen Menschen aus dem Ausland. In der Bundesrepublik gab es kaum vergleichbare Ansätze. Ich habe es immer als grau empfunden in der BRD in den 1970er Jahren. Und deswegen kamen alle Einflüsse von auswärts, das hat unsere Arbeit lebenslang geprägt.
Wann hast du das erste Mal das Theaterlabor wahrgenommen, kannst du dich daran erinnern?
AK _ Ja, das war Mitte der 1980er Jahre, als ich im Kulturamt Bielefeld beschäftigt war unter dem damaligen Leiter Horst Adam, der übrigens vom Theaterlabor viel gehalten hat. Er hat sich zwar auch schwergetan mit dem Theaterlabor, doch viel davon gehalten. Von den Räumlichkeiten in der Lerchenstraße habe ich nur noch ein diffuses Gefühl. Aber ich habe natürlich noch Erinnerungen an eure Straßentheaterauftritte in der Stadt. Und an deinen penetranten Einsatz vor allen Dingen hinsichtlich Akzeptanz und Förderung kann ich mich noch sehr gut erinnern. SSch _ Ich sage mal 36 Jahre Kampf und dann ein Teilerfolg.
AK _ Oh ja, das hört nicht auf. Ich sitze ja nun auf der anderen Seite; du kämpfst mit Kulturdezernenten und Kulturamtsleitern, und die Kulturamtsleiter und die Kulturdezernenten kämpfen mit ihrer lokalen Politik und sind letztendlich die letzten Lobbyisten, die die Kulturfahne hochhalten. Das muss man mal ganz klar sagen.
SSch _ Kannst du das ein bisschen präzisieren? Gibt es also eine gewisse Kulturlosigkeit im Bereich der Finanzpolitiker und auch der anderen Kommunalpolitiker, und ein paar Leute müssen wirklich hart kämpfen, dass Kultur überhaupt stattfindet?
AK _ Ja, ich empfinde es so. Ich empfinde mich wirklich noch als Bannerträger für die Kultur. Viel Kraft muss auch immer noch investiert werden, im Jahr 2023, unsere Ansätze in den Haushaltsplänen immer wieder neu zu rechtfertigen, sobald die finanzielle Situation, die finanziellen Rahmenbedingungen etwas schwieriger werden. Wenn etwas zu wackeln beginnt, werden alle nervös und wie ein Reflex wird in Deutschland sofort auf die sogenannten Freiwilligen Aufgaben geschielt, zu denen die Kultur ja immer noch gehört. Ich hatte gedacht, nach Corona hätten wir das überwunden. Haben wir aber nicht; der alte Reflex ist immer noch da. Ich bin jetzt schon seit Mitte
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der 1980er Jahre im Kulturbereich tätig und muss immer noch argumentieren, warum Kultur wichtig ist, warum Kultur keine freiwillige Aufgabe ist. SSch _ Sind Bielefeld und Gütersloh dafür noch immer zu ländlich?
AK _ Ich weiß von meinen Kollegen auch in größeren Städten: Wenn es um Geld geht, gibt es immer einen Verteilungskampf. Und solange Kultur im Bewusstsein vieler Finanzpolitiker, aber auch Sozialpolitiker, Bildungspolitiker noch eher als freiwillig gilt, wird es so bleiben, egal, ob die Stadt groß oder klein ist. Ich habe immer angenommen, wir hätten mehr geschafft. Wir haben Kulturfördergesetze, Kultur im Gesetzbuch, aber wir haben es bisher nicht geschafft, das Staatsziel Kultur im Grundgesetz zu verankern. Ich nehme ganz andere Debatten wahr, wenn ich mich im Ausland bewege. Im skandinavischen Raum werden solche Gespräche nicht geführt. Da ist Kultur ganz selbstverständlich Bestandteil von Gesellschaftspolitik und Bestandteil des alltäglichen Lebens. Viele Städte in Dänemark oder in Finnland – ich denke an das Odin-Projekt in Helsinki (Open-Digital-Industrial and Networking Pilot) – zeugen davon. Aber Deutschland tut sich nach wie vor schwer. 3,5 Prozent des kommunalen Gesamthaushalts sind Kulturausgaben in Gütersloh. Das ist eine Größenordnung, die man in vielen anderen Städten ähnlich findet, vielleicht sogar noch weniger.
Ich kann mich noch daran erinnern: In den 1990er Jahren gab es bereits eine Initiative, ausgehend vom Kulturdezernenten der Stadt Essen Oliver Scheytt, die hieß Kultur 90. Du kannst dich vielleicht auch noch erinnern? Wir haben viele Sitzungen dazu gehabt. Und es gab die Forderung: Fünf Prozent der Ausgaben des kommunalen Haushalts sollten für Kultur aufgewendet werden. Davon sind wir immer noch weit entfernt und das ist jetzt über 30 Jahre her. Das ist ernüchternd, zehrt an den Kräften und der Substanz und geht letztendlich für gute, kreative und gestaltende Arbeit verloren. SSch _ Dabei weiß man doch, dass der gesellschaftliche Umbruch, der jetzt stattfindet, dahin führen wird, dass viel, viel mehr in Kultur und auch in den gesellschaftlichen Freizeitbe-
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reich gesteckt werden müsste. Es ist noch nicht erkannt worden, dass man wirklich in etwas investiert und dass das Geld gut angelegt ist.
AK _ Ich glaube, man muss es differenziert sehen. Die Bedeutung von Kultur wurde erkannt – zum Beispiel wenn es um die Revitalisierung von Innenstädten geht oder um Integrationsmaßnahmen. Da spielt Kultur überall eine große Rolle. Wenn es dann aber zum Schwur kommt, reden wir doch eher über kleine Streusel, die man auf den Kuchen streuen will – quasi Kultur als Garnitur, aber nicht Kultur als Treiber von Entwicklungen, als maßgeblicher Gestalter, als Kernelement. Davon sind wir immer noch weit entfernt, da klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was tatsächlich umgesetzt wird, immer noch eine große Lücke. SSch _ Hast du im Zusammenhang mit dem Theaterlabor eine persönliche Geschichte oder eine Anekdote auf Lager? Falls du es erzählen darfst, in deiner Position als Kulturdezernent.
AK _ Du hast eben Dürkopp Tor 6 angesprochen, das war sicherlich ein Meilenstein, das muss man sagen. Das war im Jahr 2000. In Hannover fand die EXPO statt, und die Nachbarregion Ostwestfalen-Lippe (OWL) hat sich auf den Weg gemacht, unter dem Einfluss der EXPO ein großes Regionalentwicklungsprojekt durchzuführen. Es hieß EXPO Initiative OWL. Zu der Zeit haben wir regionale Kulturpolitik erstmals thematisiert – da warst du ja auch in den verschiedenen Workshops aktiv. Während ich jetzt rede, merke ich, dass wir da teilweise schon weiter waren, als wir es heute sind. Es gab Profile, Visionen: Man hat gesagt, wenn wir eine Region kulturell schärfen wollen, müssen wir uns an den definierten Profilen orientieren, sie als Richtschnur nehmen. Eine dieser Initiativen kam vom Theaterlabor: Dürkopp Tor 6. Auf dem ehemaligen Fabrikgelände sollte das neue städtebauliche Konzept einer Verbindung von Wohnen, Leben und Arbeiten umgesetzt werden. Finde ich nach wie vor ein gutes Konzept. Eure Initiative war, dort in verschiedene Räumlichkeiten mit der Kunst, mit dem Theater einzuziehen. Und das ist für mich keine Anekdote, sondern das ist immer noch ein klei-
nes Theaterwunder, das damals geschehen ist. Wenn ich es mal plastisch sagen darf: aus dem Kabuff in der Lerchenstraße, ... SSch _ … einem kleinen Saal, …
AK _ … in eine große Industriehalle, die auch erst mal hergerichtet werden musste. Da war ja nichts, auf gut Deutsch gesagt, das war „Bruch“ mehr oder weniger. Natürlich gab es auch die eine oder andere Unterstützung, doch wenn dieses Herzblut, die Energie bei euch nicht gewesen wäre, wäre das nie entstanden. Dadurch erst hat Bielefeld sein erstes Freies etatisiertes Theater erhalten und war damit auf einmal in einer Liga mit Städten wie Köln, Dortmund oder Münster.
Das Theaterlabor hat sich darüber hinaus zu einer Marke entwickelt. Wir haben über das Thema Internationalität gesprochen: Das war auch etwas, mit dem ihr schon sehr früh unterwegs wart. Ich würde in der Rückschau sagen, ihr wart in vielen Dingen immer zwei, drei Schritte unserer Zeit voraus. Und das war gut, gleichzeitig auch schwierig, wenn man mit Menschen zu tun hat, die bestehende Strukturen verwalten oder verteidigen. Wenn man sich aufs Theaterlabor einlässt, muss man sich auf Innovationen einlassen, auf Risiko, auf Experiment. Aber am Ende des Tages ist man immer ein Stückchen weiter, als man angefangen hat. Das ist für mich Theaterlabor, und das ist auch stark mit dir verknüpft.
Es braucht auch eine Portion Verrücktheit, um so etwas durchzuziehen. Ohne diese Verrücktheit, ohne diesen Glauben an den Weg und ohne so eine starke intrinsische Motivation, die teilweise auch an die Grenzen des Leistbaren geht, ist so was nicht möglich. Das ist und bleibt für mich Theaterlabor – plus die großen Stadtbespielungen. Wenn ich daran denke, was ihr für Figuren erschaffen habt, gigantische Figuren, bei denen ich gedacht habe: „Wie soll das funktionieren? Wie kann das halten? Wie ist das alles überhaupt mit den Sicherheitsvorschriften zu vereinbaren? Nein, lass laufen, wird schon gut gehen.“ Und es ist gut gegangen, es ist wirklich gut gegangen, ja! 40
SSch _ Ich denke zum Beispiel an die Nautilus40 bei Jules Vernes Welt. Und wir hatten auch diese schöne Rakete. Die ist jetzt leider verkauft und steht auf dem Fusion Festival an der Müritz.
Ich erinnere mich auch an die internationalen Festivals, die für uns ein Kernstück waren, weil wir durch sie in den Austausch kamen mit den anderen Gruppen und Co-Produktionen machen konnten. Im Zuge der EXPO hatten wir das wahnsinnig große Festival mit über einer halben Million DM Etat. Und danach 2003 noch ein gutes Festival. AK _ Das war 360°, nicht wahr?
SSch _ Genau. 2005 noch ein großes Festival – und dann war es plötzlich vorbei, auch von der Landesebene her. Sie wollten nicht, dass sich das institutionalisiert: „Nein, wir wollen nicht noch mehr Festivals als die Bestehenden.“ Es war wieder das gleiche Problem: Bestehendes erhalten, aber keine neuen Dinge wagen. Und das hieß für uns, dass wir herunterfahren mussten und letztlich auch die Stadt Bielefeld solche Inputs nicht mehr bekommen hat.
AK _ Dabei würde gerade etwas wie das 360°-Festival in die heutige Zeit passen. Da wart ihr wieder der Zeit voraus. Es ist bedauerlich, dass wir diese Dinge nicht weiterverfolgt und institutionalisiert haben. Ich bin der festen Überzeugung, weil ich ja auch in internationalen Projekten arbeite: Internationale Projekte brauchen Institutionalisierung, denn in einem losen Zusammenschluss werden sie zerfasern, zerbröseln. Sie müssen institutionell aufgebaut werden. Das hört sich jetzt sehr formalistisch an, doch sie brauchen eine solide Statik, ein solides Fundament, wie ein Haus. Die Räume wiederum müssen künstlerisch ausgefüllt und bespielt werden. Aber es braucht diesen Halt, und wenn es diesen Halt und diese Verbindlichkeit nicht gibt, werden die Kräfte versagen und man wird es nicht schaffen. Wer international Kulturarbeit macht, weiß, dass er mit mindestens einem fünffach, sechsfach höheren Kommunikationsaufwand zu tun hat, als wenn er mit seiner Nachbar-
Ein großes U-Boot aus Metall um den Lkw des Theaterlabors gebaut und damit ein fahrbares Großobjekt.
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gemeinde Kooperationen macht. Es ist ein Marathonlauf.
Wir haben ja gerade festgehalten, dass Kultur als Staatsziel bislang nicht durchgekommen ist. Aktuell (im Herbst 2023) reden wir über die Schließung von Goethe-Instituten – auch in Frankreich. Das ist alles kontraproduktiv für das, was eigentlich geschehen müsste. Eigentlich muss die Reise doch genau andersrum gehen, wir brauchen eine viel stärkere Internationalisierung von Kultur, wir brauchen viel mehr Kulturbotschafter im europäischen Ausland. SSch _ Steht das auch im Zusammenhang mit den jüngeren nationalistischen Bestrebungen in vielen Staaten? Und dass man dem die Internationalität entgegensetzen müsste?
AK _ Absolut. Das ist die einzige Antwort. Und das ist es auch, wofür wir den Menschen vor Ort mit kulturellen Produkten unsere kulturellen Angebote machen, mit Projekten, Inszenierungen, wie auch immer. So können wir den Menschen auch den Wert von Europa als Friedensprojekt näherbringen, die europäischen Werte wieder näherbringen und den nationalistischen Lautsprechern eine Antwort geben, die um uns herum in Europa immer stärker Gewinne bei den Wahlen einfahren. Das ist eine sehr große Gefahr, auf die wir da zusteuern. Insofern bin ich ein großer Freund davon, die kommunale Diplomatie stärker auszubauen. Kulturschaffende in Europa müssen sich untereinander vernetzen, sich mit ihren Kommunen vernetzen und ein starkes Kulturnetzwerk in Europa bilden mit gemeinsamen Austauschprogrammen. Nur durch dieses gemeinsame Lernen voneinander, das gemeinsame Entwickeln von Projekten – ich rede nicht vom Einkaufen, sondern ich rede bewusst vom gemeinsamen Entwickeln – können wir es schaffen, ein anderes Verständnis von internationaler Kultur und nicht nur national gedachter Kultur zu entwickeln. Das halte ich für ganz wichtig.
Shops sind, dass Archive keine Tresore sind, die man irgendwann mal öffnet, um die Schätze wieder ans Tageslicht zu bringen. Sondern Archive erfüllen ihren zukünftigen Zweck, wenn sie offene Archive sind, gläserne Archive, zugängliche Archive, wo man sich mit den Archivalien im Alltag beschäftigen kann, sie in den Alltag, in Geschichten einbauen kann, sie in das normale tägliche Leben integriert. Das ist für mich gute Archivarbeit. Das stößt nach wie vor auf viele Bedenken, insbesondere im konservatorischen Bereich. Es gibt auch Beispiele, die ich aus Nordfrankreich kenne mit dem Louvre-Lens, wo so etwas gelungen ist. Dazu braucht es auch den Mut, so etwas mal auszuprobieren. Wenn wir es schaffen würden, Werke der bildenden und darstellenden Kunst in solch offenen Archiven den Menschen zugänglich zu machen, dass Kinder und Jugendliche mit diesen Objekten arbeiten können, dass du als Geschichtenerzähler dort anknüpfen und die Geschichten weiterspielen kannst in der Zukunft, dann bietet das aus meiner Sicht eine viel größere Chance, mit dem kulturellen Gedächtnis und kulturellen Erbe umzugehen, als es bisher geschieht. Das wäre meine Vision. Da sind wir uns sehr ähnlich im Denken. Es wäre schön, wenn sich noch mehr Leute für so einen Gedanken erwärmen könnten, so dass man einen Prototypen entwickeln könnte.
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Das Gespräch mit Andreas Kimpel als ehemaligem Kulturamtsleiter der Stadt Bielefeld führte Siegmar Schröder am 10. Oktober 2023 in Gütersloh.
SSch _ Es gibt noch einen Bereich, für den du dich engagierst. Beim Thema Archiv haben wir beide eine sehr ähnliche Idee, eine Art Vision für die Zukunft.
AK _ Ja, Archive erzählen aus dem Gedächtnis heraus Zukunftsgeschichten. Es ist wichtig, dass Archive keine Closed
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Theaterlabor/Piazza Akram, Stabat Mater, 2013
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Theaterlabor, No. 2 Absurdesque, 2017
Henning Fülle: Kulturpolitischer Ausblick Das Beispiel des Bielefelder Theaterlabors im Kontext der Entwicklungen der Freien Szene in den 1980er und 1990er Jahren bis in die Gegenwart zeigt deutlich deren große gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung. Während die Rede von der Zweiten Säule der deutschen Theaterlandschaft, die 2008 im Schlussbericht der Enquete-Kommission Deutsche Kultur des Deutschen Bundestags noch vor allem als Forderung nach Anerkennung und weiterer Förderung formuliert wurde, war es während der Coronapandemien 2020 bis 2023 politisch schon kein Streitgegenstand mehr, dass auch der großen Zahl der soloselbstständigen Künstler*innen der Freien Szene durch die Mittel des Programms Neustart Kultur der Kulturstaatsministerin geholfen werden musste. Dabei zeigten die mehr als 200 Millionen Euro, die allein von der Bundesebene durch den Fonds Darstellenden Künste und den Dachverband Tanz und einige weitere intermediäre Institutionen verteilt wurden, sowohl den Umfang dieser Szene als auch deren nicht mehr bestrittene qualitative gesellschafts- und kulturpolitische Bedeutung.
Diese Übernahme der politischen Verantwortung für die Freie Szene, zu der sich in der existenziellen Krise Bund, Länder und Kommunen bekannt haben, müsste nun allerdings auch zum Modell für die kulturpolitische Alltagspraxis werden. So wie die Gesellschaft die Stadt- und Staatstheater-, die Orchester- und Festspiellandschaft überwiegend als kulturelle Verpflichtung akzeptiert, die dauerhaft, durchgehend und verlässlich zu finanzieren ist, muss grundsätzlich auch die Szene des Freien Theaters behandelt werden.
es nun Häuser oder Gruppen, eingebracht werden könnten und die aus öffentlichen Mitteln und unter teils staatlicher Rechtsund teils zivilgesellschaftlicher Aufsicht (durch Vertreter*innen der Künstler*innen selbst und zivilgesellschaftlicher Institutionen und Verbände) finanziert werden müssten. Auf diese Weise könnten auch die furchtbaren Ungerechtigkeiten gemildert werden, denen die frühen Protagonist*innen der Gründergeneration ausgesetzt sind, die unter den damals obwaltenden Bedingungen ohne Rücksicht auf ihre Alterssicherung ihre ganze Lebens- und Schaffenskraft in den Aufbau von künstlerischen Strukturen und Institutionen eingebracht haben – und heute deshalb mit Renten weit unter dem Existenzminimum auskommen müssen oder so lange mit voller Kraft arbeiten müssen, bis sie tatsächlich nicht mehr können. Und auch das Thema des Generationsübergangs könnte in solchen Formen, abgelöst von unmittelbar privaten und persönlichen Interessen bewältigt werden. Weiterhin sollte der Wissens- und Erfahrungsschatz, der im Freien Theater in den fünf, sechs Jahrzehnten entstanden ist, archiviert und aufgearbeitet werden sowie in die Curricula der kulturwissenschaftlichen und künstlerischen Ausbildungen eingehen.
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Dabei kann es selbstverständlich nicht darum gehen, etwa analog zum Stadttheater einzelne Institutionen institutionell und auf Ewigkeit zu finanzieren. Vielmehr müsste den besonderen differenzierten Strukturen der Freien Szene und ihrer dynamischen Entwicklung Rechnung getragen werden. Als Modell böte sich dazu die Errichtung von Landes- oder Kommunalstiftungen an, in die die bestehenden Strukturen, seien
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Lebenswerke Menschen, die sich treffen und lieben – aus der Seele sprechen Gespräch mit Angelika Göken, Theaterlabor Bielefeld Julia Varley41_ Wann hast du mit der Theaterarbeit angefangen?
Schauspielerin sein könnte, und war nicht wirklich daran interessiert, eine zu werden.
Als ich das erste Mal eine Theateraufführung sah, war ich 20 Jahre alt. Es war König Lear von einer deutschen Theatergruppe. Es war langweilig. Einige Jahre später sah ich in Bielefeld eine Straßenparade vom Teatro Nucleo. Ich wusste nichts über diese italienische Gruppe. Plötzlich öffneten sich Fenster und von allen Seiten erschienen Trompeten, Stelzenläufer, Feuer, Musiker und Tänzer. Ich dachte: „Wow! Ja!“
AG _ Wir gründeten das Theaterlabor vor 20 Jahren. Siegmar war in Italien gewesen und kehrte 1983 zurück. Wir waren in Kontakt geblieben und als wir uns wieder trafen, erzählte er mir, dass er eine Theatergruppe gründen wollte. Ich hatte mein Studium beendet und verschiedene Jobs. Ich sagte: „Okay, ich bin dabei.“ Siegmar, Karin, ein paar andere Leute und ich fingen an zu arbeiten. Wir hatten in der Universität einen kleinen Raum ohne Fenster. Wir entwickelten Aufführungen auf der Basis von dem, was Siegmar gelernt hatte. Am Anfang trafen wir uns einmal die Woche, dann zweimal, dann dreimal die Woche und schließlich jeden Tag. Ich habe nie beschlossen, dass ich für den Rest meines Lebens Theater machen würde, ich fand nur, dass es einen Versuch wert war, dass es besser war, als im Altersheim zu arbeiten oder so was Ähnliches.
Angelika Göken _ Mein Interesse für das Theater stammt aus meiner katholischen Kindheit. Ich mochte die Prozessionen, die Gottesdienste und die Meditation. Als ich entschied, nichts mehr mit der katholischen Kirche zu tun zu haben, konnte ich dem Ritual im Theater wieder begegnen.
Ich studierte Pädagogik und nahm an einigen Workshops teil, wusste aber nicht wirklich, was ich machen wollte. Ich interessierte mich dafür, in engem Kontakt mit anderen Menschen und mit Bewegung zu arbeiten. Ich traf Siegmar Schröder an der Universität und nahm an einem seiner Workshops teil. Es war eine anspruchsvolle und schwierige körperliche Arbeit. Ich liebte es. Ich sah dann viele Theateraufführungen, und nach und nach wuchs mein Interesse am Theater. Ich kann nicht sagen, dass es einen bestimmten Punkt gab, an dem ich beschloss, am Theater zu arbeiten. Ich dachte nie, dass ich 41
JV _ Wann habt ihr eure Gruppe gegründet, das Theaterlabor?
JV _ Wann hast du dich selbst als Schauspielerin begriffen?
AG _ Ich bin keine typische Schauspielerin. In meiner Jugend war ich sehr schüchtern und eher ein Mauerblümchen. Ich war nicht gut! Es war nicht so wichtig für mich, vor Leuten auf einer Bühne zu stehen. Als wir zu spielen anfingen, mochte ich das die ersten Jahre nicht. Ich dachte, ich sei zu schlecht und nicht
Das Interview wurde von Julia Varley, Schauspielerin beim Odin Teatret, beim 360°-Festival geführt und in der Zeitschrift Open Page 9 in englischer Sprache veröffentlicht (Originaltitel: People who meet and love).
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hübsch genug. Das Interessanteste an diesen ersten Jahren Arbeit mit dem Theaterlabor war für mich, in unserem fensterlosen Raum zu sein und zusammen mit fünf oder zehn anderen Leuten hart zu trainieren, zu schwitzen und wunde Stellen zu bekommen, mit meinem Körper und seinen Möglichkeiten zu kämpfen, und dann zur Improvisation überzugehen. Ich liebte die Improvisationen, die wir machten. Es war eine Möglichkeit, zu spielen und mich selbst zu erfahren – meinen Körper und Geist als Ganzes. Das war es, was ich tun wollte. JV _ Was hat dich dann davon überzeugt, Schauspielerin sein zu können?
AG _ Das war ein langer Prozess. Mit den Jahren entwickelte ich Interesse daran, dass Zuschauer unsere Stücke sahen. Es gefiel mir, wenn ich gute Auftritte hatte, aber ich freute mich genauso, wenn einer meiner Kollegen eine gute Idee hatte oder eine starke Szene spielte. Es war nicht wichtig, dass ich vor Publikum spielte, sondern dass, wer immer es tat, dabei authentisch war und aus seiner oder ihrer Seele sprach. Nach zehn Jahren wurde mir klar, dass ich keine schlechte Schauspielerin war. Ich konnte gut sein. Ich war mit einigen meiner Auftritte zufrieden. Heute hat sich das wieder verändert, ich interessiere mich nicht dafür, auf der Bühne zu stehen. Es interessiert mich mehr, anderen zu helfen, ihnen Ideen mitzugeben, was sie auf der Bühne tun können, und mich um die Dramaturgie zu kümmern.
JV _ Was, denkst du, war dein größter Beitrag für das Theaterlabor?
AG _ Meine Liebe, meine vollständige Hingabe zur Gruppe und zur Idee.
JV _ Fällt dir eine besonders wichtige Episode aus den ersten Jahren eures Theaters ein?
AG _ Unsere erste Aufführung war inspiriert von Bulgakovs Der Meister und Margarita. Die erste Version war schön, doch wir wollten noch eine andere machen. Die zweite Version wurde für uns wichtig, weil wir alle unsere Ideen einbrachten und ein wirklich gutes Ergebnis erreichten. Wir führten viele heftige
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Diskussionen. Es war ein Wendepunkt in der Beziehung zwischen Siegmar, unserem Regisseur, und dem Rest der Gruppe, und zwischen den Schauspielern untereinander. Wir veränderten uns. Zuvor spielten wir und hatten Spaß, aber wir entschieden, dass das nicht genug war. Bulgakov sagte uns mehr. Die Entscheidung, ehrlich zu sein, war wichtig. JV _ Worüber habt ihr diskutiert?
AG _ Siegmar ist ein Regisseur, der beobachtet, und er mag es nicht, den Schauspielern zu sagen, was sie tun sollen. Aber viele der Schauspieler wollten einen Regisseur, der ihnen sagte, was sie tun sollten. Siegmar ließ uns etwas zeigen, das er dann kommentierte. Wenn er jedem Schauspieler sagen sollte, was er zu tun habe, wäre der Prozess langweilig. Wir trafen die Entscheidung, dass von den Schauspielern Vorschläge kommen sollten und Siegmar dann die Komposition machen würde. Wir waren allein hier in Bielefeld. Viele Leute meinten, dass wir ein bisschen verrückt wären. Wir hatten Angst, aber wir mussten herausfinden, weshalb wir auf die Bühne gingen und was wir dort machen wollten. Das war wichtig für das Theaterlabor, und es ist einer der Gründe, warum wir noch immer existieren. JV _ Begann deine persönliche Beziehung mit Siegmar zur gleichen Zeit wie das Theaterlabor?
AG _ Nein, erst später. Die ersten sechs Jahre bis 1988 war ich schüchtern, und ich hatte einen Freund in einer anderen Stadt. Unter der Woche arbeitete ich eine Menge, und einen Tag in der Woche nahm ich mein Auto und traf meinen Freund, alles war prima. Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu den anderen Schauspielern, wir waren Freunde. Dann verliebten sich Siegmar und ich – ich weiß nicht warum. Ich kämpfte fast zwei Jahre gegen diese Liebe. Ich wollte niemals eine Beziehung mit meinem Regisseur! Es wäre zu schwierig, es würde nicht funktionieren! Ich wollte es nicht! Nein! Nein! Nein! Von dem Augenblick an, als es die anderen wussten, war ich wie getrennt von ihnen. Ich war einsam. Zum Beispiel hielten sie mich nicht mehr über alles auf dem Laufenden. Das war in Ordnung, ich konnte sie verstehen. Ich denke, ich hätte auch
so reagiert, denn es war, als hätte ich die Seiten gewechselt.. Obwohl es sehr hart war, erkenne ich rückblickend, dass es gut für mich war, um meinen eigenen Weg zu entdecken. Wäre das nicht passiert, wäre ich in meiner Mauerblümchenrolle geblieben oder hätte die Gruppe verlassen.
ich, dass es besser gewesen wäre, ein Jahr auszusetzen. Doch ich hatte Angst davor.
AG _ Ich arbeitete mehr. Ich entwickelte meine eigenen Ideen und Projekte im Theater, auch für die ganze Gruppe. Die Liebe mit Siegmar war stark und wir bekamen ein Kind.
JV _ Was passierte?
JV _ Was gab dir Kraft?
JV _ War es schwierig, die Theaterarbeit und ein Kind zu verbinden?
AG _ Ja, das war sehr schwierig. Wir hatten eine Besprechung in der Gruppe gehabt und entschieden, dass, wenn jemand ein Kind wollte, wir versuchen sollten zu helfen. Wir kannten die Schwierigkeiten von vielen anderen Gruppen. Ich hatte viele Frauen getroffen, die schwanger wurden und ihre Theater verlassen mussten. Wir reisten nicht so viel, weil wir hauptsächlich in Bielefeld arbeiteten, deshalb war es einfacher für uns. Ich war die dritte Frau in der Gruppe, die ein Kind bekam, aber es war speziell, weil Siegmar und ich beide am Theater waren. Ich setzte nur sechs Wochen zum Stillen aus. Jetzt weiß ich, dass es nicht genug war. Nach sechs Wochen setzte Siegmar Hanno in den Snuggly (Babytragesack) und wir gingen zur Probe. Wir machten Pausen, wenn ich das Baby stillte, und wir hatten Tausende von Babysittern. Viele Freunde und Siegmars Eltern mussten sich um Hanno kümmern.
Dann bekam ich zum ersten Mal Probleme mit meiner Gesundheit. Ich kümmerte mich um die Wohnung, den Garten, kochte jeden Tag ... Ich war wie viele andere Frauen meiner Generation, die denken, sie können alles. Und alles ist zu viel. Ich dachte, ich sei stark und daran gewöhnt, sehr hart zu arbeiten. Ich hatte zehn Jahre im Theaterlabor gearbeitet und es war anstrengend gewesen, aber da war es nur das Theaterlabor. Jetzt, mit dem Kind, war es eine völlig neue Situation, die einen völlig anderen Raum brauchte. Wir mussten unser Haus bauen, ich wollte ein Zuhause für meinen Sohn schaffen. Das war zu viel. Jetzt denke
JV _ Du hattest Angst, dass es für dich keinen Platz mehr geben würde, wenn du zurückkommst?
AG _ Ja. Ich hatte kein Vertrauen in mich selbst und dass ich zurückkommen konnte. Ich passte nicht auf mich auf.
AG _ Als Hanno drei Jahre alt war, hatten wir ein großes Projekt hier in Bielefeld zur Eröffnung eines Museums. Es war mein Projekt. Zwei Wochen vor der Premiere fühlte ich einen Knoten in meiner Brust. Ich dachte, ich würde erst die Premiere machen und dann zum Arzt gehen. Nichts konnte mich bei dem Projekt aufhalten. Dann, nach zwei, drei Wochen, stoppte mich der Krebs – ein völliger, totaler Stopp. Die anderen begannen, mit Yoshi Oida zu arbeiten für Die Frau in den Dünen. Ich war neidisch; ich dachte, die anderen würden berühmt werden, ins Fernsehen kommen und ohne mich um die ganze Welt reisen, und ich war darüber sehr wütend. Aber in wichtigen Momenten meines Lebens bin ich in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Ich konnte sagen: „Okay, jetzt höre ich auf.“ Und das tat ich, komplett, für neun Monate. In der Zeit ging ich nur dreimal ins Theater. Ich saß hier zu Hause, draußen im Garten. Es war ein schöner Sommer. Ich dachte an das, was wichtig war: meinen Sohn, meinen Mann, mich selbst. Ich erkannte, dass ich Fehler gemacht hatte. Im ersten Monat konnte ich mich nicht von meiner Arbeit am Theater trennen. Ich fand es unmöglich, aber ich hatte eine Menge Zeit, um nachzudenken. Ich saß hier in diesem Sommer, Stunde um Stunde, allein. Niemand war hier. Ich las nicht. Ich tat nichts. Ich schaute in den Himmel, und das war gut. Nach ein paar Wochen dachte ich: Ja, es war an der Zeit, diesen Stopp zu machen. Ich fing an, andere Leute außerhalb des Theaterlabors wahrzunehmen. Das war schön. Die letzten zwei Jahre hatte ich den Rest der Welt ein bisschen vergessen, ich hatte nicht die Zeit. Mir wurde bewusst, dass das Leben nicht nur aus Thea-
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ter bestand. Ich liebe Theater. Ich habe gelernt, wie man es macht, es ist mein Beruf, meine Leidenschaft, es ist wichtig für meine Verbundenheit mit Siegmar. Siegmar und ich sprechen stundenlang jeden Tag über Theater.
Jetzt beteiligte ich mich langsam wieder an dem, was ich lieber Kunst nenne als Theater. Kunst ist mein Leben. Ich begann zu malen und zu schreiben. Ich ging in Museen und sah mir Installationen und Gemälde an. Meine Welt wurde größer, und gleichzeitig veränderte ich mich von einer Schauspielerin mehr zu einer Schöpferin von Projekten und Ideen. Meine Vorstellung von Theater veränderte sich. Ich erkannte, dass ich nicht nur Schauspielerin war, sondern eine Schauspielerinund-und-und. Keine Sache ist wichtiger als eine andere. Mein Herz schlägt für Menschen, die Kunst machen, und für Kunst überhaupt. JV _ Gibt es ein Stück, dem du dich besonders nahe fühlst?
AG _ Ja, es ist eins der letzten, das wir 2001 machten. Es ist über Felix Nussbaum, einen jüdischen Maler, der in einer Stadt hier in der Nähe geboren wurde und mit dem letzten Transport nach Auschwitz kam. Er malte sein Leiden. Siegmar, unser Sohn und ich gingen in ein Museum mit seinen Gemälden, 50 Kilometer von Bielefeld. Wir waren dort drei Stunden, und als wir herauskamen, sahen wir uns an und waren uns einig, dass wir das nächste Stück über ihn machen würden. Nicht viele Leute haben es gesehen. Es war sehr schwierig, ohne Worte, mit starker Musik und bewegenden Bildern. Wir spielten es nur hier in Bielefeld, wir gingen nicht auf Tournee. Ich weiß nicht warum, aber niemand wollte es sehen.
Malerei ist sehr wichtig für uns, in jedem Stück nehmen wir Bezug auf Maler. So wie Felix Nussbaum in seinen Gemälden von seinem Leben sprach, sprachen wir über ihn mit Bildern. Ohne eine besondere Regel versuchten wir, eine besondere Energie und eine spezielle Art der Bewegung zu schaffen. Es war besonders wichtig für mich, weil ich durch meinen Krebs in den letzten Jahren viele Probleme gehabt hatte, mich zu bewegen. Aber als ich diese Gemälde sah, berührten sie mich so tief, dass ich sofort eine Vorstellung davon hatte, wie ich mich
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bewegen wollte. In einer Szene machte ich einen Tanz. Die Choreografie war geprägt durch das Gesicht, die Hände und Arme und die Position der Finger. Die Bewegungen waren langsamer. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich weiß, dass es gut war! JV _ Was wurde zentral nach dem Training der ersten Jahre?
AG _ Ich kann nur für mich sprechen, nicht für meine Kollegen. Wenn wir uns für ein Thema entscheiden, arbeite ich erst nicht viel, aber das Thema geht mir im Kopf herum. Ich brauche Zeit, ein, zwei, drei Wochen. Ich suche nach Literatur. Ich höre Musik und suche Melodien aus, die zu passen scheinen. Ich suche nach Bildern und Objekten und tue völlig andere Dinge, während das Thema in mir wächst. Dann treffen wir uns im Theater und machen eine Art Training. Wir gehen in einen leeren Raum und sind dort zusammen mit alldem, was wir mitbringen. Manchmal arbeiten wir nur allein mit einer Idee einer Bewegung, die sich in Beziehung zu dem Thema findet. Es sind nicht eine Rolle oder ein Charakter wichtig, sondern das Thema. Als wir die Odyssee machten, arbeiteten wir mit dem gesamten Text, und bei Barock bezogen wir uns auf die gesamte Epoche von 300 bis 400 Jahren. Das Thema geht von meinem Bewusstsein in meinen Körper. In den letzten Jahren war es wichtig für mich, mit den Möglichkeiten meines Körpers zu arbeiten, der nicht wirklich funktioniert. Die Tatsache, dass mein Körper eingeschränkt ist, war die interessante Herausforderung. Ich konnte meinen Rücken nicht gut bewegen, also musste ich versuchen, die Bewegung in einen anderen Teil meines Körpers zu verlagern, wie in mein Gesicht oder nur in einen Finger. Ich benutzte mein Handicap.
JV _ Brachte dich deine körperliche Einschränkung stärker zu Stimm- und Textarbeit?
AG _ Nein, der Krebs hat mir meine Stimme gestohlen. Von dem Moment an, als ich Krebs bekam, konnte ich nicht mehr singen. Vorher habe ich eine Menge gesungen. Aber ich bekam Krebs und das Singen war weg. Es war einfach nicht möglich. Es war kein physisches Problem. Die Musik verschwand. Ich hatte kein Problem, Texte oder Gedichte zu sprechen, doch ich
wollte nicht singen. Sogar als ich fünf Jahre später wieder anfing zu spielen, wusste ich, dass das Singen weg war. Es war vorbei. JV _ Vermisst du es?
AG _ Nein, ich weiß, dass es Schicksal war. Es ist, wie es ist. Es war eine Art Preis. JV _ Wie bist du zum Theater zurückgekehrt?
AG _ Nach neun Monaten fühlte ich mich sehr gut. Die anderen fingen an, eine Straßenperformance zum Thema Barock zu erarbeiten. Ich begann, darüber nachzudenken, was Barock ist. Ich entdeckte den berühmten deutschen Dichter Andreas Gryphius. Ich las seine Gedichte und liebte sie. Sie sagten so viel aus über meine Erfahrungen der letzten Zeit, weil die Nähe von Leben und Tod sein Thema ist. Man muss das Leben nehmen, solange es da ist. Das Morgen kann Leiden bringen. Morgen kannst du tot sein. Siegmar und ich nahmen viele Ideen aus der Barockzeit, um dieses Stück über den 30-jährigen Krieg, die Pest, Ludwig XIV. und Versailles zu schaffen.
Für mich war es gut, nach der Pause wieder in der Gruppe zu sein. Das Gefühl war anders. Die anderen gaben mir eine Menge Freiheiten. Ich konnte sagen: „Ich kann keine Requisiten mehr tragen, ich kann nicht aufbauen, ihr müsst mir helfen.“ Sie antworteten: „Selbstverständlich.“ Sie waren froh, dass ich da war, und wollten mich unterstützen. Die Beziehung zwischen uns allen wurde besser. Sie wussten, dass ich in ihrem Alter war und dass es sein konnte, dass ich nächstes Jahr nicht mehr da sein würde.
Wir begannen zu proben und ich überlegte, was ich in dieser Performance machen sollte. Ich musste manche Szenen machen, Michael und Karin konnten sie nicht machen. Ich musste sie machen! Ich mag dieses Straßentheaterstück. Ich habe es letztes Jahr zum letzten Mal gespielt. Jetzt haben wir einige Rollen neu verteilt, weil ich es nicht mehr schaffe. Wir haben es sehr oft auf Burgen in der Region gespielt. Es hat mir so viel Leben und Kraft gegeben. Es lehrte mich: Morgen kannst du sterben, aber heute kannst du dich bewegen und es genießen.
JV _ Das Wissen, dass nichts unendlich ist, gab dir Kraft?
AG _ Ja, so war es. Als meine Freunde die Performance sahen, sagten sie: „Angelika ist zurück.“ Ich war zwei oder drei Jahre lang ganz besonders lebendig während der Performance von Barock. JV _ Fühlst du dich nun schwächer?
AG _ 1994 ging es mir schlecht. Barock war 1995, und 1998 kam der Krebs zurück. Ich fühlte mich monatelang sehr müde und ging zum Arzt. Ich dachte: „Jetzt ist alles vorbei.“ War es aber nicht. Zwei Jahre lang hatte ich häufig Schmerzen. 1999 und 2000 musste ich dauernd zum Arzt. Das erste Mal, als ich erkrankte, habe ich neun Monate pausiert. Beim zweiten Mal brauchte ich das nicht. Ich wollte arbeiten, um mein Leben zu leben. Mein Leben ist das Theater und alles andere war in Ordnung. Mein Familienleben funktionierte gut, Hanno war gesund und für mich war es nicht weiter schwierig. Ich hatte viel Hilfe. Es war einfach. Ich war sehr traurig, natürlich, weil ich wusste, dass ich unheilbar krank bin. Die ersten zwei Jahre habe ich sehr viel darüber nachgedacht, aber ich würde mein Leben nicht einfach aufgeben. Nein, jetzt würde ich erst recht leben.
Ich machte zwei Wochen Pause, nahm Medikamente – und arbeitete weiter. Und dann haben wir die Odyssee gemacht. Alles lief sehr gut. Und dann nach zwei Jahren kam der Krebs zurück. Bis letzten Juni habe ich gedacht, ich hätte ihn besiegt. Fast fünf Jahre hatte ich mich gut gefühlt. Fünf sehr gute Jahre: mein Leben. Gut, es war manchmal mühsam, aber ich machte, was ging, und es war okay. Die Ärzte rieten mir, vorsichtig zu sein. Der Krebs könnte sonst wieder ausbrechen. Aber warum sollte ich über Dinge nachdenken, die in dem Moment so fern waren? Was sollte ich machen? Aufhören zu leben? Das kam nicht infrage.
JV _ Fühlst du dich verantwortlich, weil du an jeder Produktion eurer Gruppe beteiligt bist? Ich habe gehört, dass du gerade jemand anderem deinen Part in Kamikaze beibringst. Wie fühlst du dich dabei?
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AG _ Das ist inzwischen kein Problem mehr. Nachdem wir Barock gemacht hatten, beschloss ich, bei keiner anderen Straßenproduktion mehr mitzumachen, denn unsere Straßentheater sind wirklich anstrengend. Ich war dazu nicht länger in der Lage. Ich ging weg vom Spiel, hin zur Regie. Im Frühjahr habe ich zum ersten Mal bei einer Produktion mit jungen Schauspielern Regie geführt. Ich bin traurig wegen Odyssee oder Tanz an der Mauer. Bis vor Kurzem habe ich noch gedacht: Diese beiden Stücke möchte ich die nächsten Jahre nur noch spielen. Um die anderen Stücke tut es mir nicht so leid, das ist ok. JV _ War die Regiearbeit eine neue Aufgabe für dich?
AG _ Ich glaube nicht, dass ich wirklich eine Regisseurin bin. Ich bin sehr weich, und es war interessant für mich, mich selbst zu beobachten. Die Gruppe bestand aus sechs jungen Schauspielern, die mich schlicht liebten. Tatsächlich: Sie liebten mich! Es war eine einfache kleine Performance und wir trafen uns zwei- bis dreimal in der Woche. Wir arbeiteten gemeinsam an Text und Stimme. Wir mochten die Arbeit, weil wir uns mochten. Die anderen im Theaterlabor haben die gleiche Erfahrung gemacht. Jeder von uns hat in den letzten Jahren ein eigenes Projekt geleitet. Wir sind ja nur vier Schauspieler und können nicht ein Stück nach dem anderen produzieren. Das geht auf Kosten der Kreativität.
JV _ Hast du das Gefühl, dass der Krebs dir zu einem besseren Blickwinkel auf die Dinge verholfen hat, dass du Probleme und Konflikte jetzt anders siehst? Klarer?
AG _ Probleme werden unwichtiger. Die meisten Probleme, die wir im Theaterlabor hatten, waren nicht essenziell. Mit Tom und Siegmar sind wir zu sechst. Nach 20 Jahren gemeinsamer Arbeit sind wir ruhiger geworden. Als wir jung waren, konnten wir wochenlang darüber diskutieren, ob das Geld reicht oder wie wir unsere Stücke verkaufen. Heute weiß ich, dass es uns im Theaterlabor sehr gut geht. Wir sind reich! Keiner von uns braucht viel Geld. Es interessiert uns nicht so sehr. Wir alle sind Organisationstalente, also läuft es. Die Frage ist vielmehr, wie wir uns um unsere Arbeit kümmern.
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Ich liebe Diskussionen. Ich genieße es, zu kämpfen. Thomas hasst das. Wenn ich anfange mit: „Thomas, was hast du gemacht?“, sagt er gleich: „Stopp, hör auf, ich möchte nicht mit dir streiten.“ Er weiß, dass ich das mag. Ich kenne ihn und er kennt mich. Unsere Gruppe ist keine ‚große Familie‘, aber wir respektieren uns gegenseitig sehr und für mich ist das das Wichtigste.
Und ich hatte eine ganz besondere Position in den letzten Jahren. Ich konnte kommen und gehen, wann immer ich wollte. Ich hatte eine Menge Freiheiten. Niemand kann für Geld so eine Freiheit kaufen, wie ich sie in den letzten Jahren hatte. Ich bin meinen Kollegen sehr dankbar dafür. JV _ Gibt es etwas, was du gerne noch tun würdest?
AG _ Ich hatte geplant, zu unserem 20-jährigen Bestehen ein Buch herauszubringen: etwas selbst zu schreiben, aber auch Geschichten zu sammeln, Texte und Fotos. Das wäre mein Projekt für die nächsten Jahre gewesen. Dann, gerade gestern, als ich Mike Pearsons Performance sah, kam mir der Wunsch, eine Soloperformance zu machen. Ich wäre eine spezielle Art Schauspielerin. JV _ Dass du krank bist, schränkt also weder deine Wünsche noch deine Ideen ein?
AG _ Nicht immer. Die letzte Woche war sehr schlimm. Ich hatte keine Ideen und wollte auch keine haben. Manchmal leide ich sehr unter den körperlichen Einschränkungen, aber dann überwinde ich sie, indem ich beispielsweise darüber rede oder ins Theater gehe. Häufig, wenn ich andere Performances sehe, bekomme ich neue Ideen, und auf dem Weg nach Hause reden Siegmar und ich, reden und reden. Ich gehe immer erst hin, kurz bevor das Stück anfängt, und bin danach auch immer schnell wieder weg. Ich möchte nicht so viele Menschen treffen, weil die Leute geschockt sind, wenn sie mich nach längerer Zeit wiedersehen. Ich muss auf mich aufpassen. Ich bin sehr traurig, dass manches nicht mehr so geht wie früher, ich muss vorsichtig sein. Das ist das Leben. Manchmal ist es nötig, Stopp zu sagen,
einen ganz normalen, ruhigen Tag zu verbringen und einfach nur aus dem Fenster zu gucken. Von meinem Bett aus kann ich große Bäume sehen und Vögel. Manchmal kann ich stundenlang einfach nur die Vögel beobachten. Das ist gut, ich brauche das. Es ist wie eine Art Meditation, einfach ruhig zu sein.
Vor acht Wochen hatte ich große Angst. Ich fühlte mich krank und unser Festival rückte näher. Das war sehr hart, einige Tage lang, aber ich habe es überstanden. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Wir werden sehen. Das Leben geht immer weiter. Ich bin müde. Die letzten zwei Wochen habe ich nie mehr als zwei Stunden die Nacht geschlafen. Ich wollte einfach nicht die Augen zumachen. Ich weiß nicht, wie ich schlafen soll. Aber ich habe keine großen Schmerzen. Ich bin seit neun Jahren in guten ärztlichen Händen. Er ist schon interessant … der Körper.
JV _ Gibt es etwas, das dir noch wichtig ist? Etwas, das noch in dieses Interview sollte?
AG _ Nein. Diese 20 Jahre … Gestern Abend habe ich noch darüber nachgedacht, was wichtig sein würde, aber da ist so viel. Die wirklich wichtigen Dinge sind mit den Menschen verbunden, die einem begegnen und die man liebt. Die Liebe ist für mich ein ganz wichtiges Thema geworden in den letzten Wochen. Auch in Bezug auf Kunst und Theater …
Menschen können nur deshalb wirklich im Theater aufgehen, weil sie lieben und geliebt werden. Menschen haben eine Seele. Die Fragen, die ich mir jetzt stelle, sind: Was kommt danach? Irgendetwas ist da. Jeder von uns hat eine Seele, da bin ich sicher. Wenn das nicht so wäre, gäbe es kein Theater. Warum? Es gäbe keinen Grund, Theater zu machen, Künstler zu sein. Ein Künstler ist friedlich. Es ist gut, Kunst zu machen.
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Das Gespräch mit Angelika Göken führte Julia Varley im September 2003 in Bielefeld. Übersetzung aus dem Englischen: Kirsten Bohle, Stefanie Schröder
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360° Festivalplakat, 2008
Siegmar Schröder: Was bewegt Angelika hatte ihr Lebenswerk schon früh abgeschlossen und starb während unseres Festivals 360° im Oktober 2003. Die letzte Aufführung, die wir zusammen gesehen haben, war die von Mike Pearson, der zusammen mit Peter Brötzmann eine denkwürdige Freejazz-Improvisation auf unsere Festivalbühne brachte.
Als ich im November 2022 in Paris Eugenio Barba und Yoshi Oida traf und lange Gespräche führte, bekam ich die Idee zu diesem Buch. Der Erste, der mir dabei einfiel, mit dem ich über ein solches Buchprojekt sprechen wollte, war Mike Pearson. Ich konnte aber keinen Kontakt mehr aufnehmen. Bei meiner Suche im Internet stieß ich auf einen Nachruf. Er war wenige Monate zuvor verstorben. Ich habe dann später seinen langjährigen Wegbegleiter Richard Gough gebeten, einen Beitrag für das Buch zu verfassen, um die sehr spezielle Entwickung der walisischen Szene zu beschreiben.
Mit dem frühen Tod von Wegbegleitern fehlen in diesem Buch auch einige bedeutsame Überlieferungen weiterer persönlicher Geschichten. So hätte ich sehr gerne mehr über Ismael Ivo veröffentlicht, mit dem wir Workshops und eine spannende Koproduktion umgesetzt haben. Während der Arbeit an diesem Buch bin ich auf viele gebrochene Biografien gestoßen. Das künstlerische Leben verläuft nicht geradlinig. Künstler*innenbiografien sind oft gekennzeichnet durch große Selbstzweifel und eine starke Sensibilität bezogen auf die Mitmenschen und das gesellschaftliche Umfeld. Einerseits beziehen wir daraus unsere Stärke, Kunst zu produzieren, die sich mit dem Wahrgenommenen auseinandersetzt, andererseits leiden wir stark an der Erkenntnis, dass wir es nicht schaffen, mit unserer Kunst die Welt zu verbessern, ja nicht einmal unseren eigenen Ansprüchen zu genügen.
Coronapandemie persönliche Verluste erlitten und sah sich nicht in der Lage, ein Interview zu geben. Auch die soziale Lage und insbesondere die Altersarmut verschärft die künstlerischen Krisen der Kunstschaffenden. Ein Teil meines Gedenkens gilt also auch den vielen Namenlosen, die keine brillanten Karrieren hingelegt haben, aber dennoch einen Teil ihres Lebens den darstellenden Künsten gewidmet haben. Der andere Teil gilt all denen, denen ich in meinem Theaterleben auf internationaler Ebene begegnet bin und die uns schon verlassen haben.
Während der weiteren Arbeit an dem Buch hatte ich eine Vereinbarung für ein Interview mit Troy Emery Twigg getroffen, der auf der Seite der Blackfoot Nation erheblich zum Gelingen des Projekts Making Treaty Seven beigetragen hatte, und stellte in dem Moment, als ich ihn anrufen wollte, fest, dass er einige Tage zuvor verstorben war.
Ich wünsche mir sehr, dass es gelingen wird, das Werk der unsichtbaren und verstorbenen Künstler*innen sichtbar in einer Art lebendigem Archiv zu erhalten.
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Forciert werden solche, schon in der Natur der Sache begründete Krisen, durch Pandemien wie COVID-19, die für viele Künstler*innen das Ende ihrer Laufbahn besiegelten. Ein weiterer wichtiger Wegbegleiter des Theaterlabors hatte in der
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Siegmar Schröder: Koproduktionen mit Yoshi Oida Bei unserer ersten Einladung auf ein internationales Festival 1984 (Lago di Bracciano) sahen wir das Solo Interrogations von Yoshi Oida. Für unser Festival 360° im Jahr 1992 gelang es mir, Oida mit dem Stück nach Bielefeld zu holen. Während seines Aufenthalts auf unserem Festival begannen wir, gemeinsam ein Projekt zu entwickeln: Er hatte vorgeschlagen, den Roman Die Frau in den Dünen von Kobo Abe für die Bühne zu bearbeiten. Wir einigten uns schließlich darauf, die Produktion in gemeinsamer Regie umzusetzen. Yoshi arbeitete als Vorbereitung an einem Skript, und wir entwickelten die bildliche Umsetzung mit Sand auf der Bühne. Es entstand schließlich ein sehr schönes Zusammenspiel von abstrakten Sandbildern und -spielen und konkreter, einfacher Spielhandlung, die an manche Arbeiten von Peter Brook erinnerte. Die Zusammenarbeit war auch deswegen so harmonisch, weil uns beiden als Regisseuren gleichermaßen bewusst war, worin die eigene Stärke und die des anderen bestand. Die Produktion wurde 1995 auf das wichtige Impulse-Theaterfestival eingeladen – wobei vielleicht auch der große Name von Yoshi Oida eine Rolle gespielt haben mag. Auch das ZDF zeichnete die Arbeit für seinen Theaterkanal auf.
Ein paar Jahre später klopfte Yoshi wieder an unsere Tür, weil er mit uns eine Inszenierung nach dem Liederzyklus Winterreise von Franz Schubert erarbeiten wollte. Er hatte dafür bereits ein Skript geschrieben, das alle zwölf Lieder verband. Wir vereinbarten wieder eine Co-Regie, aber diesmal gab es anfangs gegensätzliche Ansichten über die Besetzung. Yoshi wollte, dass ein Opernsänger die Lieder singen und die Spieler*innen die Handlungen szenisch illustrieren sollten. Schließlich konnte ich mich aber damit durchsetzen, dass die Schauspieler*innen einen großen Teil der Lieder selbst singen und der Opernsänger nur einen Teil übernehmen sollte. Das war ein gewagtes Konzept und setzte viel Vertrauen in die Stimmen unserer Akteur*innen voraus. Musikkritiker*innen waren eine für uns noch nicht bekannte Gattung. Der Erfolg gab uns schließlich recht: Die Verbindung der natürlichen Gesangs-
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stimmen und die intensiv erarbeiteten schauspielerischen Haltungen unserer Protagonist*innen ließen die Lieder sehr gut zur Geltung kommen – was auch von der Fachkritik anerkannt wurde.
Auf der anderen Seite setzte sich Yoshi mit der extremen Reduktion der visuellen Animation durch, die ich auf einen überdimensionalen Eiskristall hatte projizieren wollen. Es entstand eine sehr schöne Anmutung, die nicht vom Bühnengeschehen ablenkte, das sehr durch den japanischen No-Theater-Stil geprägt war. Die Konzeption der Winterreise hatte Yoshi bereits für eine Inszenierung nach Mexiko weiterverkauft und er lud mich ein, zusammen mit ihm das Stück dort mit Opernsänger*innen noch einmal zu inszenieren, was wir 2007 in Monterrey und Mexiko-Stadt tatsächlich umgesetzt haben.
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Gespräch mit Yoshi Oida Siegmar Schröder _ Ich bin sehr froh, dass wir dieses Interview machen können. Dadurch, dass ich gerade in Frankreich lebe, muss ich mich nur in den TGV setzen und bin in drei Stunden in Paris. Wann ist deine nächste Aufführung? Yoshi Oida _ Die nächste Aufführung ist ein Stück von einem französischen Autor mit dem Titel Jeanne, so wie Jeanne d’Arc. Es geht um eine Frau in den Mittvierzigern, die ihren Lebensweg verloren hat. Sie verlässt ihren Mann und ihren Sohn und läuft durch die Stadt mit der Frage, wie sie ihr Leben fortsetzen soll. Sie trifft einen alten Mann, der von mir gespielt wird und der seine Frau verloren hat. Sie beobachten die Vögel. SSch _ Ich hatte beim Festival in Avignon bereits die Gelegenheit, einen Ausschnitt aus der Arbeit zu sehen. YO _ Ja, dort haben wir schon etwas präsentiert. Ein zweites Stück spiele ich immer noch. Das hat ein französischer Regisseur mit mir entwickelt und es heißt Vier Fragen an Yoshi Oida. SSch _ Ist dies das letzte Jahr mit diesem Stück?
YO _ Avignon.
SSch _ Gut, dann komme ich nach Avignon, um es dort zu sehen. Du bist also sehr beschäftigt. Du hast eine Menge Projekte, wie ein junger Künstler.
YO _ Ich möchte weitermachen, bis ich sterbe. Es war das, was ich in meinem Leben gemacht habe, und ich kann gar nichts anderes. Eine andere Sache ist noch das Bücherschreiben. Ein Buch soll im nächsten Jahr in der Edition L’Onde Théâtrale herauskommen, das von der Entwicklung eines Stückes handelt und den gesamten Prozess der Probenarbeiten darstellt. SSch _ Das heißt, dass du gleichzeitig Regie führst und das Buch schreibst?
YO _ Nein, nicht parallel. Ein paar Tage Proben, dann wieder ein paar Tage schreiben usw.
SSch _ Du spielst als Schauspieler und du führst zum Beispiel bei Opern Regie. Gibt es da eine Vorliebe oder ist beides gleich gewichtet?
YO _ Nein, ich spiele es im nächsten Jahr auch noch. Und es gibt noch die Oper. Ich werde Mitte Februar 2024 für eine Oper Regie führen.
YO _ Es gibt einen Unterschied. Wenn ich Regie führe, habe ich eine große Verantwortung, weil das ganze Stück gut werden muss. Beim Schauspielen habe ich weniger Verantwortung.
YO _ In Bordeaux. Und ein weiteres Stück kommt im April heraus. Ein französischer Autor schreibt ein Stück über einen Engel, der auf die Erde gefallen ist und zu Gott spricht. Ich werde Gott spielen.
YO _ Nein, beim Regieführen habe ich auch Spaß. Beim Schauspielen fühle ich mich aber leichter, weil das Gesamtresultat vom Regisseur verantwortet wird.
SSch _ In welcher Stadt wird das sein?
SSch _ Ah, das ist ein anspruchsvoller Charakter. Das Stück Jeanne wird nun Premiere im November 2023 haben. Ist das in Vitry? YO _ Ja, und wir spielen es noch in sechs anderen Städten in Frankreich.
SSch _ Kommt ihr damit auch in den Süden?
SSch _ Hast du dann mehr Spaß?
SSch _ Wenn du Regie führst – und das ist eine Frage, die von meinem Mitautor Henning kommt –, hast du mehr ein europäisches System im Kopf, so wie es für die Oper als europäische Entwicklung zu erwarten ist, oder hast du alte japanische und asiatische Traditionen auch in deinem Kopf?
YO _ Ich versuche, nicht das europäische System zu verwenden und auch nicht die japanische Klassik. Ich versuche jedes
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Mal herauszufinden, was die richtige Umgangsweise mit einem Stück ist. Und es gibt sowieso kein System, nach dem ich arbeite. Wenn es sich zum Beispiel um Oper handelt, die nächste wird Bizet Die Perlenfischer sein, dann versuche ich mir vorzustellen, wie Bizet die Oper inszeniert hätte, würde er in der heutigen Zeit leben. Mit dieser Denkweise respektiere ich den Autor und biete meine Erfahrungen an, um diesen großen Künstler so zu präsentieren, dass er heute wieder wahrgenommen werden kann. Das ist das Ziel. Die Technik kommt also von der Energie des Autors. Der Autor indiziert, wie ich es umsetzen soll. SSch _ Als wir die Winterreise zusammen machten, gab es da nicht auch große Anteile von No-Theater, die du eingebracht hast?
YO _ Natürlich. Ich habe Theater gesehen, seit ich vier, fünf Jahre alt war, in der ganzen Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Es gab noch kein Fernsehen, wenig Kino und so war es das einzige Vergnügen, ins Theater zu gehen. Ich habe sehr viel Theater gesehen. Später sah ich dann auch westliches Theater. So hat sich eine Menge Seherfahrung in meinem Kopf angesammelt und es kommt unbewusst immer etwas aus meinem Gedächtnis zutage, wenn ich eine Inszenierung mache. Ich versuche nicht, No-Theater oder anderes japanisches Theater zu machen. SSch _ Also hast du keine vorgefertigte Methode und Struktur, nach der du arbeitest. Du entwickelst immer auf der Grundlage des Stückes oder des Librettos?
YO _ Natürlich ist es so bei den Kritikern wie bei dir auch. Sie wollen den Stil verstehen. So gibt es schnell Urteile darüber, aber ich arbeite nicht in einem bestimmten Stil. Das Einzige, was man vielleicht als Gemeinsamkeit sehen kann, ist, dass ich Minimalist bin. Vielleicht habe ich eine einfache Persönlichkeit und ich mag keine zu komplizierten Aufführungen.
SSch _ Ich erinnere mich noch an die Filmprojektion in der Winterreise, die wir auf einen großen Eiskristall warfen, der über der Bühne schwebte. Du sagtest, dass du diese filmischen
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Elemente nicht haben wolltest, und wir haben sie dann so lange bearbeitet, bis die Bewegung in den Bildern nicht mehr zu sehen war. Das war ein Beispiel des Minimalisierens. Du sagtest, du willst es gar nicht, und ich machte einen reduzierten Vorschlag und so haben wir uns von beiden Seiten angenähert und das Ergebnis war sehr stark.
YO _ In der Tat glaube ich, dass Regieführen nicht darin besteht, Dinge hinzuzufügen, sondern Dinge wegzulassen. Früher wollte ich auch viel mehr Dinge in eine Szene einbauen, fand aber heraus, was nicht notwendig war. Am Anfang habe ich in meiner Vorstellung sehr viele Dinge, betrachte dann alles: Was ist notwendig? Was ist nicht notwendig? Es ist also Subtraktion. Kreative Arbeit ist nicht Addition, sondern Subtraktion. SSch _ Also Minimieren …
YO _ Ja, das Resultat ist das notwendige Minimum.
SSch _ Ja, das ist sehr klar und ich hatte das auch in unserer Zusammenarbeit bei der Produktion Die Frau in den Dünen gespürt. Wir starteten mit einer Menge körperlicher Aktionen, da unser Training zu der Zeit sehr stark davon geprägt war, und du kamst und sagtest: „Weniger, hier kannst du weniger machen.“ Und du hast alle körperlichen Aktionen auf die wirklich notwendigen Handlungen reduziert, sodass wir sehr gute kondensierte Resultate erzielten. Eine Frage habe ich auch in diesem Zusammenhang: Was hat dich an der deutschen Theaterszene interessiert? Du hattest ja einige Arbeiten in Deutschland gemacht. Was war dein Eindruck von Deutschland? YO _ Ich habe schon lange nichts mehr in Deutschland gemacht, ungefähr 20 Jahre. SSch _ Und wie war es davor?
YO _ Für mich war Deutschland immer: Interpretation. Als ein Beispiel sah ich in Bielefeld einen Figaro, der in einem Fitnessstudio gespielt wurde, also eine Transformation in die heutige Zeit. Es gab zu der Zeit viele solcher Modernisierungen. Es ist interessant zu modernisieren, aber in vielen Fällen geht der urTheaterlabor/Yoshi Oida, Winterreise, Probe, 2007
sprüngliche künstlerische Wert durch die Interpretation verloren. Die Klassik ist möglicherweise langweilig, wenn man jedoch um jeden Preis eine Übertragung auf die heutige Zeit macht, ist es vielleicht eine gute Idee, nur geht die Originalqualität verloren. Also ist mein Weg immer der des Respekts gegenüber dem Original. Was ich in Deutschland gesehen habe, war viel Interpretation. SSch _ Also ein sehr intellektueller Ansatz.
YO _ Das Publikum kann sich über den Kopf erfreuen, aber nicht über das Herz. Ich bevorzuge den Weg über das Herz.
SSch _ Ja, das ist gut und vielleicht erklärt das auch, warum wir uns getroffen haben. Du hattest dann ja auch in Deutschland mit Freien Theatern gearbeitet, mit dem Meta-Theater und uns. Hattest du das Gefühl, dass die Freie Theaterszene anders war, flexibler? Was war dein Grund, in diesem Bereich zu arbeiten?
YO _ Ich arbeitete in Deutschland mit der Schaubühne und dem Thalia Theater. Diese Theater haben eine große Organisation und großen akademischen Anspruch. Als ich deine Gruppe traf, war es klar, dass es sehr wenig braucht, um Theater zu machen. Technik, Intelligenz, Gefühl und was noch? Das Wichtigste ist die Menschlichkeit, weil die Menschlichkeit etwas für die Aufführung hervorkommen lässt, aus den Schauspielern, aus der Gruppe. Beim Thalia Theater und bei euch gab es einen Charme durch die Menschlichkeit. Deine Schauspieler sind nicht zu erfolgreich, so dass sie einen Bezug zum Leben behalten haben. Das ist für mich sehr wichtig, weil man eine sehr gute Aufführung mit technisch versierten Schauspielern machen kann, aber manchmal fehlt die menschliche Qualität. Genauso ist das bei mir in der Regiearbeit. Natürlich ist das Ziel, eine gute Aufführung zu machen, aber das Ziel ist es auch, in der Zeit der Proben mit guten Menschen zusammenzusein.
In gewisser Weise entscheiden letztlich das Publikum und die Kritiker über das Resultat, ich muss es nicht bewerten. Ich möchte eine gute Zeit mit guten Menschen über ein oder zwei Monate haben und fühle mich dann glücklich. Ich fühlte mich
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also gut in der Zeit in Bielefeld während der Proben, weil ich von guten Menschen umgeben war. In gewisser Weise urteile ich nicht darüber, ob deine Schauspieler gut oder schlecht sind, welche Technik sie haben, doch die menschliche Beziehung sollte sehr „aggréable“ (angenehm) sein. Wie sagt man auf Englisch? SSch _ Ich werde eine Übersetzung ins Deutsche finden.
YO _ Das war also immer ein sehr wichtiger Teil in meinem Theaterleben, also auch der Grund, warum ich mit deiner Gruppe gearbeitet habe.
SSch _ Ja, das war fühlbar, diese Menschlichkeit, wie auch die Co-Regie mit dir wie ein natürlicher Prozess war. Es war nicht so, dass jeder versuchte, seine Ideen durchzusetzen, sondern vielmehr sollte das Beste für das Stück entschieden werden. Ich mochte diese Art der Zusammenarbeit sehr. Du hattest dich schon früh entschieden, eigene Projekte zu machen, also nicht nur mit Peter Brook zu arbeiten, sondern eigene Stücke wie zum Beispiel Interrogations, das ich 1984 zum ersten Mal sah. YO (lacht)
SSch _ Es war am Lago di Bracciano. Dort war ein Festival und du hattest eine Aufführung. Erinnerst du dich?
YO _ Bracciano?
SSch _ In Italien, nicht weit von Rom.
YO _ Ja, ja.
SSch _ Dort sah ich deine Aufführung und lud sie dann 1992 zu unserem Festival 360° nach Bielefeld ein. YO _ Ja, ja, ich erinnere mich.
SSch _ Wie viele Jahre hast du Interrogations gespielt?
YO _ Ich habe damit 1979 angefangen und spielte es noch im letzten Jahr.
SSch _ Das ist also eine Art Persönlichkeitsstück?
YO _ Leider ist mein Musiker, Dieter Trüstedt, verstorben.
SSch _ Oh, das habe ich nicht gewusst.
YO _ Wenn ich also weiter aufführen will, muss ich einen neuen Musiker finden. Außerdem bewege ich mich bei Interrogations viel und bin jetzt 90 Jahre alt. Aber es spielt keine Rolle in dem Stück, ob ich mich viel bewege oder nicht. Wenn ich einen Musiker finde, dann würde ich das Stück wieder aufnehmen. SSch _ Ich weiß vielleicht einen. Ich kenne einen Cellisten, der sehr gut und vielseitig ist. Ich sah gerade vor ein paar Wochen ein Konzert von ihm und dachte, dass ich mit ihm gerne ein Stück machen würde. YO _ Ist er Franzose?
SSch _ Nein, auch ein Deutscher aus Bielefeld. Er ist ein alter Freund und wird immer besser, je älter er wird. Ich kann dich mit ihm in Kontakt bringen, wenn du möchtest. YO _ Ich mag die Melodie als Rhythmus.
SSch _ Er macht Melodie, Rhythmus, Sounds. Er ist sehr flexibel und manchmal tanzt er musizierend mit dem Cello. Ich kann dir etwas schicken. YO _ Ja, mach das bitte.
SSch _ Das Interview ist Zeuge davon, wie internationale Kunst funktioniert. Menschen treffen sich, sprechen miteinander, haben Ideen und verbinden sich und andere miteinander. So hat es doch immer im internationalen Bereich funktioniert. YO _ Ja, genau.
SSch _ Aber war es kein Problem für dich, eigene Produktionen zu machen, als du mit Peter Brook gearbeitet hast? War das auch bei den anderen so üblich?
YO _ Ja, wenn ich mit Peter gearbeitet habe, war es nie eine Gruppe, es war immer nur eine Produktion. Peter hatte ein Theater und ein Büro, die Schauspieler waren nicht angestellt. Also stellte er für jedes Projekt die Schauspieler zusammen und zwischen den Produktionen waren wir frei. Und ich hätte auch Projekte ablehnen können, wenn sie mir nicht gefallen hätten. Aber er arbeitete immer mit denselben Schauspielern,
deswegen sah es aus wie ein Ensemble. Immer dieselben Gesichter, doch wir wurden nicht durchgängig bezahlt, nur während der Proben und Aufführungen. Wenn die Aufführungen beendet waren, dann bekamen wir nichts. SSch _ Von außen sah es immer aus wie ein Ensemble.
YO _ Vom Herzen und vom Kopf her war es eine Gruppe, formal und finanziell war es keine.
SSch _ Also war das gut für dich. Du hattest deinen persönlichen Teil und konntest dich auch auf anderen Ebenen weiterentwickeln.
YO _ Ja, manchmal arbeitete ich allein und dann wieder mit Peter, alle anderen machten das auch so.
SSch _ Und du konntest in der Zeit anfangen, Regie zu führen.
YO _ Ja, genau.
SSch _ Mein Mitherausgeber ist sehr interessiert an der Fragestellung, wie du dich hier im europäischen Theater mit deiner Tradition gefühlt hast. Vielleicht hast du auf diese Frage bereits geantwortet, dass du kein genaues Konzept im Theater hast, aber in jede Aufführung all deine Erfahrungen einbringst.
YO _ Ich werde immer wieder darauf angesprochen, ob ich europäisches mit japanischem traditionellen Theater verbinden würde. Aber es geht zunächst einmal um die Ausbildung, darum, die Konzeption der beiden Theaterformen zu erlernen. Alles ist interessant und gut zu wissen, aber wenn ich Theater mache, dann versuche ich, meine eigene Art zu finden. Wenn also Leute sagen: „Es sieht wie japanisches Theater aus“, gut, aber es ist nicht so. Wenn ich dasselbe Stück in Japan spiele, sagt niemand, dass es wie japanisches Theater aussieht. Viele Leute hier sehen das so. Das ist okay, das ist ihr Eindruck. Es ist ein bisschen so wie bei Picasso, der auch afrikanische Maskenkunst benutzte. Aber Picasso ist eben Picasso. Oder Van Gogh ist kein japanischer Otukatu-Künstler, obwohl er diese Drucktechnik gelernt hat, sie sogar kopiert hat, sondern er ist eben Van Gogh. Nur Gott hat alles aus dem Nichts erschaffen, aber die Kreationen der Menschen sind immer die
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Theaterlabor, Kamikaze, 2002
Entwicklung von etwas, was schon vorher existiert hat. Was ist also der Unterschied zwischen Kreation und Imitation? Wenn es ein schlechter Einfluss ist, ist es eine Imitation, aber wenn es ein guter Einfluss ist, dann wird es Kreation, wie bei Picasso. Niemand würde sagen, dass er afrikanische Kultur kopiert hat. Bei Miró sagt man, dass der Ursprung die Kalligrafie war, aber er hat eben seinen eigenen Stil daraus entwickelt.
Ich bin also im europäischen Theater geblieben und auch hier gibt es eine Entwicklung. Das Regietheater gibt es noch gar nicht so lange. Vorher war es ein Theater der Schauspieler, die das Spiel bestimmten, auch in Deutschland. Nach Stanislawski wurde das Theater mehr von Regisseuren kontrolliert wie zum Beispiel Peter Stein.
aber das ist keine Realität. Das ist, warum das Theater so wundervoll ist. Nur wenn du ins Theater gehst, kannst du das Theater sinnlich erfahren.
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Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 21. Oktober 2023 in Paris. Übersetzung aus dem Englischen: Siegmar Schröder
Im deutschen Theater hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Aber das Wichtigste in unserer Arbeit ist doch immer, was als Nächstes kommt. Theaterarbeit bedeutet, herauszufinden, was man als Nächstes machen kann.
SSch _ Was ist deine Hinterlassenschaft? Du hast Bücher geschrieben, es gibt Filme mit dir und sicherlich viele Videoaufzeichnungen deiner Theaterstücke. Wo wird man dich finden, gibt es einen Platz für dich, wirst du ein Internetarchiv haben?
YO _ Nein, Theaterschauspiel ist etwas Magisches zwischen dem Publikum und dem Schauspieler. Da passiert etwas, nur in diesem Moment. Es kommt nicht auf die Zahl der Schauspieler oder des Publikums an, doch da passiert etwas. Das ist Theater. Das kannst du nicht auf Video aufzeichnen. Ein Video kann nur einen kleinen Teil vom Charme des Theaters wiedergeben. Es ist also unnütz. Es ist genauso unmöglich, es in einem Buch mit Worten genau zu beschreiben. Im Theater passiert etwas zwischen Zuschauern und Performern. Das kann man nicht erklären. Ich habe selbst auch darüber geschrieben, doch nie diesen Moment festhalten können. Dieser Moment verschwand immer wieder. Insofern ist es okay, wenn er nicht festzuhalten ist. Deswegen hat ein Archiv für mich keine Bedeutung. Heute spiele ich und die Leute sehen zu, das passiert, das ist wichtig und dann ist es wieder verschwunden. Bücher, Filme und Videos können einen Teil festhalten,
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Gespräch mit Eugenio Barba, Odin Teatret Siegmar Schröder _ Wir trafen uns das erste Mal vor 41 Jahren in Bologna. Wie war die Situation damals in Italien? An was erinnerst du dich?
Eugenio Barba _ Italien unterschied sich damals kulturell und politisch stark von anderen europäischen Ländern; das hatte bestimmte Ursachen: Es begann in den 1960er Jahren, noch vor den 68ern, als ein Theaterkritiker, Franco Quadri, sich mit zwei anderen Theaterkritikern zusammentat. Er war ein sehr bekannter Zeitungskritiker damals, zuerst bei Panorama und dann bei La Repubblica. Was war los? Viele Avantgardekünstler spielten Theater außerhalb der traditionellen Spielstätten. Sie arbeiteten in allen möglichen Räumen: Garagen, Werkstätten, kleinen Fabriken und vor allem in Kellern. Deswegen hießen sie in Italien und besonders in Rom I Teatri delle Cantine (Kellertheater). Zu dieser besonderen Entwicklung des italienischen Theaters zählten etwa 15 bis 20 Künstler, zum Beispiel Carmelo Bene. Das Besondere war aber, dass so ein bekannter Kritiker wie Quadri sich dafür interessierte, was das „Neue Theater“ genannt wurde („Il manifesto per un nuovo teatro“ 1966), und ganz Italien dazu aufrief, sich anzuschauen, was dort passierte. Das war der eine Faktor, den es so in anderen europäischen Ländern nicht gab: Ein traditioneller Theaterkritiker, wahrscheinlich zu der Zeit der bekannteste, besuchte kleine Aufführungsorte und unterstützte diese neue Theaterform. Der zweite Faktor war die Kommunistische Partei Italiens: Sie erkannte, dass sie auf diesem Feld positive Resonanzen hervorrufen konnte, und unterstützte Festivals. In Städten, in denen sie damals die Mehrheit hatte, wurden eine Menge Genehmigungen für Festivals erteilt, und die Partei fing selbst an, Festivals zu organisieren. Parteimitglieder, die Kulturamtsleiter (Assessori alla cultura) waren, vergaben auf lokaler und regionaler Ebene Gelder, unterstützten besonders die Art von Theater, das von den Gruppen wie Odin Teatret, Bread and Puppet Theatre oder Living Theatre eingeführt wurde: das Straßentheater.
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SSch _ Gehörte das zum Programm der Kommunistischen Partei, oder passierte das auf Initiative von einzelnen Personen? EB _ Das passierte individuell, in jeder Region anders: An manchen Orten war die Partei sehr radikal, weil die Person, die die Partei führte, sehr radikal war und sich zum Beispiel für das Neue Theater interessierte. Andere Regionen konnten sehr konservativ sein, und dann blieb es bei der alten Sichtweise, Theater als den Ort zu betrachten, wohin man abends ausgeht, um eine Vorstellung zu sehen. Es kam sehr darauf an. Es gab auf jeden Fall in den 1980er Jahren eine Zeit, die „die überschäumende“ genannt wurde (l’Effervescente) und in der große Feste zelebriert wurden – Feste für die Bürger, bei denen das Theater eine große Rolle spielte. SSch _ Gibt es auch einen Ausdruck dafür auf Italienisch?
EB _ „Il teatro dell’effimero“, das „Theater des Flüchtigen“. Die erste Generation von Theatergruppen war sehr interessiert an einer politischen Botschaft. Dann kam die nächste, die mehr experimentierte und auch von Malerei, von Performancekunst inspiriert war. Das passierte im Übergang: von den ersten, sagen wir, politischen Gruppen zu den Gruppen, die sich auch von anderen Bereichen künstlerisch inspirieren ließen. Ein anderer, ebenfalls sehr renommierter Theaterkritiker, Bartolucci, schrieb damals, dass es in Italien zwei Arten von Theater gäbe: die Schauspieler, die mit Schuhen auftreten, und die Schauspieler, die barfuß auftreten. Damit meinte er alle, die von Grotowski, dem Living Theatre und dem Odin Teatret inspiriert waren.
SSch _ Damals habe ich dich als einen der ‚Meister‘ kennengelernt, der viele Gruppen beeinflusst hat. Was war das für ein Gefühl für dich? Du bist nach Italien zurückgekommen, zurück nach Hause, und dort warst du ein ‚Influencer‘. EB _ So habe ich es nicht empfunden. Ja, als ich 1981 nach Italien zurückkam, hatte ich schon eine Menge Kontakte in Frankreich, in Schweden und Norwegen, auch im Rest Skandi-
Theaterlabor, Body Fragments, 2005
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naviens. Italien war für mich anders, das Engagement der Theaterleute war aufgrund der politischen Situation tiefer. Ich denke, es lag daran, dass einige wenige Gruppen es geschafft hatten, eine starke Identität herauszubilden. Sie hatten zwar nicht viel Geld, doch künstlerisch und in politischer oder auch kulturpolitischer Hinsicht verfügten sie über großes Prestige. So habe ich starke persönliche Bindungen zum Beispiel mit dem Teatro Nucleo (Cora Herrendorf und Horacio Czertok), mit dem Teatro Ridotto (Lina Della Rocca und ihrem Mann Renzo Filipetti) aufgebaut. Dann gab es das Teatro Tascabile di Bergamo, sehr wichtig für uns mit Renzo Vescovi, und das Teatro Potlach. Von der Vielzahl der Gruppen waren es etwa sechs, die besondere Bedeutung und etwas Autonomes geschaffen hatten, sowohl im Verhältnis zum traditionellen Theater als auch zum Avantgardetheater. Es bestanden also eher persönliche Bindungen, als ich zurück nach Italien kam; es hatte nicht damit zu tun, dass ich Italiener war. Denn ich hatte mich bereits emotional für die Zugehörigkeit zu einem anderen Land entschieden. SSch _ Du hattest zu der Zeit beschlossen, in Dänemark zu leben und nicht nach Italien zurückzukehren?
EB _ Das ist mir in der Vergangenheit und in der Gegenwart nie in den Sinn gekommen. Italien ist ein schönes Land. Aber es hat nichts mit dem Italien zu tun, in dem ich geboren wurde, und mit den Jahren, die ich dort verbracht habe. Es hat heute eine völlig andere Kultur, eine andere Mentalität. Ich fühle mich in Skandinavien viel mehr zu Hause als in Italien, um ehrlich zu sein.
SSch _ Was ich mich beschäftigt: Um 1982 herum gab es in der Emilia-Romagna so viele Kommunisten, überall „Bandiere Rosse“ (rote Fahnen), „Festa dell’Unità“ („L’Unità“ war die Zeitung der Kommunistischen Partei Italiens), eine große Anzahl an Theaterfestivals und eine tolle kulturelle Atmosphäre. Wie kam es dann zum Umschwung mit Forza Italia, Lega Nord?
EB _ Das war später, Ende der 1980er Jahre. Es war der Moment, der „il Congelamento“ genannt wird, das „Einfrieren“ der Generation, die die starke Bewegung des „Teatro di Gruppo“
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(Theater der freien Ensembles) hervorbrachte. Zunächst gab es eine Generation, die das Theater als ein Mittel der Transformation der Gesellschaft oder ihrer selbst betrachtete. Sowohl Brecht als auch Dario Fo waren für sie sehr wichtig, weil sie starke soziale und politische Inhalte einbrachten. Auf der anderen Seite standen Artaud und Grotowski, die auf die Wirkung fokussierten, die das individuelle Potenzial auf die Entwicklung des Individuums und auf die Rollenentwicklung haben kann. Ihnen folgte eine Generation, die langsam begann, in anderen Kategorien zu denken, die das mehr als eine Art persönlicher künstlerischer Forschung verstand. Das trug dazu bei, dass der Traum, eine Gruppe am Leben zu erhalten, mehr und mehr verloren ging. Ein Ensembletheater zu betreiben ist aus vielen Gründen sehr kompliziert: aus materiellen, aus wirtschaftlichen Gründen, weil man eine Verwaltung aufbauen muss. Gleichzeitig ist die Gruppendynamik sehr komplex, und viele der damaligen Akteure waren Autodidakten. Von Anfang an musste man also nicht nur sein Handwerk erfinden, sondern auch die Regeln, die die Gruppendynamik betreffen. Einige Gruppen haben das geschafft, sie wurden zu echten kulturellen Einrichtungen, während es anderen Gruppen nicht gelang und sie wieder verschwanden. Viele Akteure aus diesem Umfeld gingen dazu über, in Projekten zu arbeiten. Denn ein Projekt konfrontiert die teilnehmenden Menschen nicht mit der großen Aufgabe, eine eigene Kultur aufzubauen. Kultur bedeutet, dass man Werte hat, dass man ein Know-how hat – und all das weitergibt. SSch _ Es braucht Jahre der Arbeit, um die Kultur einer Gruppe aufzubauen.
EB _ Und diese Fähigkeit und das Verantwortungsgefühl, all das aufzubauen und weiterzugeben, waren nicht mehr vorhanden. Man kehrte mehr und mehr zurück zu der Art und Weise, wie Theater vorher immer funktioniert hatte: als eine Art Eintagsfliege, etwas Temporäres für zwei Stunden, für die Zeit, die eine Vorstellung dauert. Und das war es dann. Heute gibt es auch wieder Menschen, die zusammenkommen und eine Gruppe gründen wollen, aus anderen Gründen als die Generationen der 1970er und 1980er Jahre, sie möchten nicht-
institutionelles Theater machen – wie die große Mehrheit der Theater auf der Welt. Diese nicht-institutionelle Kultur wird vor allem von Menschen umgesetzt, die ihre Wurzeln verloren haben.
SSch _ Ich habe noch eine Frage zu Ingemar Lindh: Ich traf ihn ca. 1980. Ich besuchte einen Workshop und war absolut begeistert von seiner Arbeit. Ich habe den Eindruck, dass auch die Odin-Ausbildung sehr stark auf den Methoden von Ingemar Lindh basierte. Wie hast du ihn kennengelernt? Wie bedeutsam war sein Einfluss für dich? EB _ Ingemar hatte bei Etienne Decroux studiert, und sein ganzes Wissen basierte auf der körperlichen „Mime Corporel“, die wahrscheinlich die einzige wissenschaftlich basierte Art ist, sich den Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Körpers zu nähern. Als er 1967 nach Holstebro kam und uns besuchte, erzählte er, dass er und einige andere Studenten aus dem Studio Decroux hinausgeworfen worden waren, weil Decroux entdeckt hatte, dass sie sich für Grotowski interessierten. Jetzt wussten sie nicht, wohin sie gehen sollten. Da habe ich zu ihnen gesagt: „Ihr könnt zu uns kommen und hier arbeiten. Ihr könnt einen unserer Räume benutzen.“ So kamen sie ans Odin Teatret und arbeiteten dort als Studio Zwei. Sie blieben viele Jahre. Es waren Yves Lebreton, Ingemar Lindh, Marie Alexa und eine andere Französin, deren Namen ich nicht mehr weiß. (Gisèle Pélisson; Anm. SSch) Aber wir haben uns gegenseitig nicht beeinflusst.
Durch Ingemar gelang es aber, Decroux einzuladen. Er gab 1968 einen Workshop in Oslo im selben Jahr, in dem wir Dario Fo und Jacques Lecoq einluden. Das ganze Training von Decroux zielte auf ein sehr spezifisches Genre hin, nämlich die körperliche Darstellung. Während für mich Training die Möglichkeit bedeutete, sich nicht auf irgendeine Form von Technik, von Stil zu spezialisieren. Den Körper zu trainieren sollte vielmehr ermöglichen, das Unerwartete zu erfinden oder zu finden. Also zwei sehr, sehr unterschiedliche Ziele, würde ich sagen, aber beiden lag das Bewusstsein zugrunde, dass wir trainieren müssen, um uns vom Privat-Persönlichen zu be-
freien, der einschränkenden Ansammlung von Klischees, die deine Art zu agieren charakterisieren und dir nicht erlauben, über sie hinauszugehen.
SSch _ Ich erinnere mich an einige der Übungen, die rein körperliche Aktionen waren, die Ingemar Lindh in seinem Workshop vorgestellt hat und die ich später bei der Arbeit mit Francis (Francis Pardeilhan, ehemaliges Mitglied des Odin Teatret) wiedersah. Ich erinnere mich, wie Kombinationen dieser Übungen zu einer Bewegungskomposition wurden. Für mich war das ein sehr wichtiges Training, weil ich in der Folge immer diese Art von Kompositionsmaterial verwendet habe: Impulsbewegungen, Gleichgewichtsübungen und all diese Bewegungen. Damals hatte ich das Gefühl, dass es nicht Original-Decroux war, sondern etwas bereits Weiterentwickeltes. Vielleicht war es auch die Zusammenarbeit mit Odin, vielleicht doch ein gegenseitiges Beeinflussen?
EB _ Wir haben eigentlich nie zusammengearbeitet. In Wahrheit weiß ich sehr wenig von ihm. Ich weiß, dass er ein sehr guter Lehrer war. Einmal habe ich ihn gebeten, mit einigen jungen Schauspielern des Odin zu arbeiten. Francis war einer von ihnen sowie Julia Varley und Silvia Ricciardelli. SSch _ Damit wäre also die Verbindung zu Ingemar geklärt.
EB _ Er war ein hervorragender Pädagoge, nicht nur fachlich, sondern auch menschlich eine außergewöhnliche Persönlichkeit.
SSch _ Du warst immer ein großer Netzwerker, hattest Freunde in Italien, Freunde in Südamerika, standest mit all diesen Gruppen und unterschiedlichen Menschen in Verbindung. Daraus entstanden einige deiner Meisterwerke wie die großen Treffen zum 40-jährigen oder 50-jährigen Jubiläum des Odin Teatret, eine Art großes Teambuilding für all diese Leute, die zusammenkamen. Es war immer fantastisch zu spüren, dass man nicht allein ist. Das war eine sehr wichtige Sache. Wer hatte denn die Idee, den Pirandello-Preis aufzuteilen?
EB _ Alle Preise, die ich bekomme, habe ich immer verschenkt. Meistens besteht ein Preis aus Geld, das leicht weiterzugeben ist. Manchmal habe ich das Geld DIGNITY (Danish Institute
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against Torture) gegeben, das in Dänemark gegründet wurde und Folteropfern in verschiedenen Ländern hilft. Sehr oft gab ich es Grotowski, weil er Geld brauchte, als er in Polen oder dann im Exil lebte. Er verdiente nie viel Geld. Einmal, als ich den größten Betrag bekam, fast 80.000 Euro – es war der SonningPreis im Jahr 2000 –, habe ich ihn in drei Teile geteilt: Ein Drittel gab ich der kubanischen Theaterzeitschrift Revista Conjunto, die sehr wichtig war, weil sie alles veröffentlichte, was auf dem südamerikanischen Kontinent geschah. Das zweite Drittel habe ich einer Bürgerinitiative in Holstebro gegeben, die ein Jugendkulturzentrum in Albanien bauen wollte und dafür Geld sammelte. Und ein Drittel gab ich einem dänischen Priester – ich nenne ihn den Sohn der Antigone –, der Flüchtlinge versteckt hatte, die die Polizei abschieben wollte. Er wurde deswegen angeklagt und es gab einen Prozess gegen ihn. Da brauchte er Geld, und ich habe es ihm gegeben. Als ich den PirandelloPreis bekam, war das sehr seltsam. Denn es war kein Geld, sondern eine riesige Maske von Pirandello in Gold, die ursprünglich ein Kilo wog. Nun, als ich sie nach so vielen Jahren bekam, waren es „nur noch“ rund 600 Gramm – nicht, weil sie an Gewicht verloren hatte, sondern es wurde mit den Jahren reduziert. Ich habe also die Maske bekommen, doch was sollte ich damit machen? Ich würde sie nicht verkaufen, nein, das nicht. Als Emigrant fühlte ich mich immer frei, bereit, irgendwo hinzugehen. Meine Wurzeln liegen gewissermaßen im Himmel, in bestimmten Werten, in einer bestimmten Sicht auf die Welt und nicht an einem Ort oder in einer Nation. Ich hatte das Gedicht von Pirandello vor Augen, in dem er sagt: „Ich weiß nicht, woher ich komme; ich weiß nicht, wohin ich gehe“ und so weiter. Deshalb wollte ich den Preis mit allen Theatergruppen teilen, die ich kenne. Denn ich habe wirklich das Gefühl, dass wir wie Brüder sind. Das Interessante an Brüdern ist, dass sie ganz anders sind als man selbst, sie können sogar unerträglich sein, und dann wünscht man sich wieder, sie zu treffen. Man hat das Gefühl, dass es eine tiefere Bindung gibt. So hatte ich die Idee, die Maske einzuschmelzen und Ohrringe daraus machen und sie an die Gruppen zu schicken. Das war ein großer Skandal in Italien, weil die Maske von einem bekannten Künstler (Emilio Greco) gefertigt worden war.
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SSch _ Ich habe einen dieser Ohrringe bei mir zu Hause. Immer wenn ich ihn mir anschaue, denke ich, es war eine wirklich großzügige Idee, die Maske zu teilen. Es war ein starkes Symbol, um zu zeigen, dass wir miteinander verbunden sind. EB _ Das war meine Sichtweise auf meinen Beruf, auf das Theater. Es bedeutete für mich einen Weg herauszufinden, wie die Menschen waren, ob sie wie ich waren. Nicht in Bezug auf die Ideen, sondern im Wunsch zu arbeiten. Natürlich sind die Arbeiten unterschiedlich, weil wir unterschiedlich sind. Es ist schön, Vielfalt zu erleben. Gleichzeitig gibt es Gemeinsames: diese Art von blindem Kampfeswillen, der uns alle auszeichnet.
SSch _ Jetzt, nach 41 Jahren treffen wir uns wieder, und ich frage mich, wie es weitergeht. Denn ich habe aufgehört, mein Theater zu leiten, und du hast dein Theater in Holstebro aufgegeben. Was ist mit dem Erbe? Wie kannst du es bewahren?
EB _ Ich habe nicht aufgehört. Ich wurde quasi rausgeschmissen aus dem Ort, den ich aufgebaut habe. Ich hatte beschlossen, einen neuen Leiter einzusetzen, aber weiter an dem Ort zu arbeiten, den ich zusammen mit meinen Schauspielern geschaffen hatte. Das dänische Gesetz besagt, dass ein neuer Direktor, ein neuer Geschäftsführer Leute entlassen kann, wenn er seinen Posten antritt. Also hat er mich einfach entlassen, mit dem Einverständnis der anderen aus dem Vorstand. Das war mein Vorstand seit vielen Jahren. Sie haben das Archiv geschlossen und die meisten der Schauspieler, mit denen ich gearbeitet habe, entlassen – alles auf brutale und unwürdige Weise. Ich habe nichts dazu gesagt, ich habe nicht protestiert; ich wollte ja dieses riesige Nordisk Teaterlaboratorium, das ich zusammen mit meinen Mitarbeitern aufgebaut habe, nicht weiter leiten. Es gab viele Aktivitäten, viele Theatergruppen dort, die unabhängig voneinander arbeiteten. Die Idee des neuen Direktors war, dass es eine hierarchische Institution sein sollte, er wollte alles entscheiden. Es sollte nur ein Ensemble geben, und dieses Ensemble sollte Nordisk TeaterlaboratoriumEnsemble heißen. Aber er ist ein Manager, kein Künstler – es geht um Macht, nicht um Visionen. Er ist gut darin, Anträge zu
schreiben und Geld zu bekommen. Doch das künstlerische Moment ... Es gab riesige internationale Proteste gegen die Stadt Holstebro, unter anderem protestierten die Kritiker und die Hochschullehrenden. Man wusste, dass ein neuer Direktor kommen und die Leitung übernehmen würde. Unerwartet war, dass alle Erinnerungen an das Odin Teatret oder das Gruppentheater, die nicht nur dieser kleinen Stadt gehörten, sondern der Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, ausgelöscht wurden. Und es wäre die Verantwortung des Bürgermeisters gewesen, sie zu schützen. Dass das Archiv geschlossen wurde und viele Dinge einfach weggeworfen wurden, das war das Unglaubliche. Heute arbeite ich weiter mit dem Odin Teatret, wir sind auf Tournee und feiern nächstes Jahr unser 60-jähriges Bestehen in verschiedenen Ländern. Aber die meisten der internationalen Aktivitäten habe ich an die Fondazione Barba Varley übertragen, die ich mitgegründet habe. Julia Varley hatte die Idee. Sie hatte einen kleinen Geldbetrag als Erbe bekommen und wollte ihn für die Unterstützung von Frauen am Theater einsetzen. Auf ihren Wunsch schloss ich mich an und nun unterstützt die Stiftung die ‚Namenlosen‘. So wie es Walter Benjamin sagte: „Die Aufgabe des Theaters und des Historikers ist es nicht, über die Berühmten und Bekannten zu schreiben, sondern über die ‚Namenlosen‘“. Die Stiftung hilft den Namenlosen, kleinen Gruppen, kleinen Individuen, vor allem beim Teilen von Wissen. Wir geben ihnen als Open Source Zugang zu Kursen, zu Filmen, zu Zeitschriften über Theater und Anthropologie.
SSch _ In Deutschland führt man gerade die gleiche Diskussion nach all den Jahren des Freien Theaters, der Theatergeschichte. Wir haben Theaterstrukturen in Bielefeld und anderen Städten aufgebaut, aber wie vererbt man das alles? Es gibt nur sehr wenige Museen in den Städten, die wirklich versuchen, die Geschichte des unabhängigen Theaters zu präsentieren. Ariane Mnouchkines Archiv liegt in der Bibliothèque Nationale de France. Es ist eine sehr schwierige Situation. Eine Stiftung zu gründen ist also eine gute Strategie.
EB _ Du erwähnst Ariane; sie und auch Grotowski und andere haben ihre Dokumente an klassische Archive übergeben. Auch das Odin Teatret hat Dokumente der ersten 50 Jahre an ein Archiv abgegeben, an die Dänische Königliche Bibliothek. Du kannst dir die Dokumente dort ansehen, doch es ist ein Ort, an den nur Spezialisten, Forscher und Gelehrte gehen. Es ist so, als ob man seine Vergangenheit dazu verdammt, eine Art Schneewittchen zu sein, das schläft, bis jemand kommt und es kurzzeitig aufweckt. Eines der größten Projekte der Fondazione Barba Varley ist der Aufbau eines lebendigen Archivs der ‚Schwimmenden Inseln‘ – das ist das Bild, das ich benutze, um die Theatergruppen zu beschreiben. Es geht darum, nicht mehr über das Theater als eine singuläre Einrichtung oder ein einzelnes Modell zu sprechen, sondern nur noch im Plural. Es gibt Theater mit unterschiedlichen Techniken, unterschiedlichen Zielen und auch unterschiedlichen Publikumsgruppen. Ich wollte ein lebendiges Archiv über das Odin Teatret haben, aber auch über das Dritte Theater, was die Kultur des Theaters des freien Ensembles für mich ist, ein Archipel verschiedener Inseln. Ich gründe es in Süditalien, in Lecce, in der Region, in der ich geboren wurde. Politiker waren interessiert an meiner Bibliothek, meinen Büchern und meinem gesamten künstlerischen Erbe, an allem, was ich hatte – sie nahmen es. Und ich habe es ihnen unter der Bedingung gegeben, dass sie ein lebendiges Archiv für die ‚Inseln‘ aufbauen. Was ist dieses lebendige Archiv? Es ist meiner Arbeit gewidmet, der Geschichte des Odin Teatrets und der Geschichte des Dritten Theaters. Das Dritte Theater steht für eine besondere Form des künstlerischen Ausdrucks, die von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt werden sollte. Es gibt jetzt eine Initiative von Politikern und Wissenschaftlern, die die UNESCO davon überzeugen wollen, das Gruppentheater als Weltkulturerbe anerkennen zu lassen. Ich möchte einen Ort der Erinnerung dafür errichten. Das lebendige Archiv funktioniert zum einen wie ein normales traditionelles Archiv. Alle Dokumente sind vorhanden, man kann hingehen und sie studieren, Forscher können dort alles finden, sowohl digital als auch auf Papier. Und dann gibt es noch eine zweite Seite: die Übermittlung. Wie kann man erreichen, dass die Ver-
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gangenheit nicht in der Vergangenheit gefangen bleibt, sondern in die Gegenwart transformiert wird? Zum Beispiel durch das Veröffentlichen bestimmter Dokumente, die sehr inspirierend und aktivierend sind. Dafür gibt es weiterhin die ISTA (Internationale Schule für Theateranthropologie), die Traditionen der Theatertechniken aus der Vergangenheit in die Gegenwart überträgt, die Filme macht, die kostenlos heruntergeladen werden können. Es gibt Treffen, Versammlungen, alle Möglichkeiten des Austauschs, all das, was die große Anzahl und Vielfalt der Gruppen ausmacht. All das soll auch in Lecce stattfinden.
Der für mich interessanteste Aspekt ist jedoch ein dritter, mit dem wir – der Designer Luca Ruza, Julia und ich – die Dokumente, das kognitive Kapital in eine künstlerische Sprache verwandeln wollen in Form einer Installation, fast in Form einer Performance mithilfe interaktiver Technologie: Du betrittst eine Art Landschaft, die dir eine ähnliche sinnliche Erfahrung wie eine Performance bietet. Du betrittst einen Wald aus Orchideen, stell dir vor: einen riesiger Raum voller Orchideen. Du berührst eine Orchidee. Und plötzlich erscheint der Name einer Gruppe, dann Bilder, Filme, auch konkrete Informationen, wo man sie finden und wie man sie unterstützen kann. Unterstützen, helfen – das macht die Kultur des Gruppentheaters aus. Die Gruppen trafen sich oft und bauten ständig Beziehungen auf, sehr persönliche Beziehungen. Die Fortführung des Austauschs und der internationalen Treffen ist also auch der Zweck des lebendigen Archivs ‚Schwimmende Inseln‘ in Lecce.
SSch _ Du konzentrierst dich jetzt bei deiner Arbeit mit den Gruppen auch auf eine Internetplattform?
EB _ Ja, genau. Heute kann dir das Internet eine Hilfe sein. Ich bin sehr traditionell in dem Sinne, dass die Freude aus der Arbeit mit den Schauspielern für mich das Befriedigendste ist. Aber ich bin mir des mächtigen Instruments bewusst, das das Internet mit Videokonferenzen und all diesen freien Zugängen darstellt. Ich bekomme so viele positive Reaktionen von Leuten, die sagen, dass sie niemals die Möglichkeiten hätten, bestimmte Dinge zu erfahren, zu verstehen, ohne die OnlineISTA-Sessions. Viele konnten aus wirtschaftlichen Gründen
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nicht kommen oder hätten eine aufwendige Reise unternehmen müssen. Also akzeptiere ich, dass dies auch eine Möglichkeit ist, die ‚Namenlosen‘ zu unterstützen, die benachteiligt sind.
SSch _ Ich habe kürzlich traditionelle Tänze in Malawi gesehen, die Gesang, Musik, Tanz und das Erzählen einer Geschichte beinhalteten, und fragte mich, ob das auch eine Ergänzung für die ISTA sein könnte. EB _ Wir haben in der ISTA gerade eine neue Tradition aufgenommen, die „Mundo Rodá“. SSch _ Aus welchem Land?
EB _ Aus Brasilien. Sie haben von der Landbevölkerung gelernt, die jeden Dezember zusammenkommt und drei Wochen lang die Tradition von Maskenszenen aufleben lässt, in denen die Reichen, die Mächtigen und die Armee verspottet werden. Das hat viel Energie: Musik, Trommeln – eine Komposition, die eine der interessantesten im Theaterbereich ist, die ich je gesehen habe. Diese Tradition ist eine der vielen, die in der Internationalen Schule für Theateranthropologie gezeigt werden. Hier werden Vertreter verschiedenster Traditionen vorgestellt: das No-Theater aus Japan, Peking Oper, indischer Tanz oder balinesisches Topeng-Maskentheater. Alle Künstler zeigen die technischen Prinzipien, nicht die Ergebnisse, sondern die ersten Schritte, wie sie sich vorbereiten, ihre lebendige Präsenz zu entwickeln, um ausdrucksstark in ihrem bestimmten Stil zu sein. Die ISTA arbeitet daran, in kleinen Gruppen von 50 bis 60 Teilnehmenden – Schauspieler, Wissenschaftler, Regisseure, die am eigenen Körper die Erfahrung machen wollen, wie die Theatertechnik oder die Aufführungstechnik funktioniert. Das Ziel ist bei allen, sich vom natürlichen, spontanen Verhalten zu entfremden und es zu formalisieren, eine ganz andere Gestalt anzunehmen. Eine Form oder Gestalt, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sehr kinästhetischer Ebene zu stimulieren. Kinästhetisch im Sinne eines Bewusstseins für unseren Körper und für die Körper der anderen. Das ist es, was die ISTA auch heute noch tut. Früher stammten die meisten Traditionen aus Asien, heute sind sie aus Lateinamerika.
SSch _ Ich habe das Gefühl, dass diese Theaterbewegung auch davon beeinflusst wurde, dass viele Theatermacher wie du und auch Grotowski und Artaud unter diesen asiatischen Einflüssen standen. EB _ Ohne Zweifel. Bei uns waren es asiatische Schauspieler. Wir strebten danach, dass die Schauspielerei ein Vehikel sein sollte, ein Prozess, der in der Lage war, sowohl das auszudrücken, was wir wissen, als auch das, was wir nicht wissen. Als wir die asiatischen Schauspieler und Tänzer sahen, hatten wir das Gefühl, dass es eine Art von Wissen gab, das uns helfen würde, das zu erreichen, wonach wir uns sehnten: einer Rolle eine spirituelle Dimension zu verleihen, nicht nur ideologische oder soziologische Bedeutung. Für uns, für unsere Generation war das sehr, sehr wichtig. Es ging nicht darum zu imitieren, sondern zu versuchen, ein Äquivalent zu schaffen, etwas, das vom formalen Standpunkt aus anders war. Aber wie konnte man diese Art der Verdichtung der Kraft erreichen, die man als Zuschauer spürte, wenn man einen balinesischen Tänzer oder einen japanischen Schauspieler sah? Das war für uns wichtig. Das funktioniert nur, wenn du ein starkes Interesse an der Vertiefung deiner Theatertechnik hast, ein Know-how zu gewinnen, nicht bloß ein Interesse an einem ästhetischen Ergebnis.
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Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 18. Juni 2023 in Ferrara. Übersetzung aus dem Englischen: Siegmar Schröder
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Abb. S. 22/23: xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Siegmar Schröder: Die Jubiläen des Odin Teatret Ich wurde nach der Durchführung der ISTA 2000 in Bielefeld auf alle folgenden Jubiläumsfeiern des Odin Teatret nach Holstebro eingeladen. Das war immer ein Anlass, viele Bekannte aus der ganzen Welt zu treffen. Diese Feiern wurden jeweils mit einem riesigen Aufwand inszeniert und ich hatte manchmal das Gefühl, dass die Inszenierung dieser Begegnungen die höchste Kunst des Odin Teatret zeigte und auch die Kommunikationsqualität des ‚Menschenfängers‘ Eugenio Barba. Beim 40-jährigen Jubiläum im Jahre 2004 genoss ich wieder einmal dieses Zelebrieren. Dieses Mal war es nicht so ernst und rückwärtsgewandt, wie beim 30-jährigen Jubiläum, bei dem noch die großen Meister*innen, viele alte und kranke Theaterleute versammelt waren, und es war noch mal eine Hommage an Grotowski, Judith Malina (Living Theatre), Kazuo Ono und andere. Ich weiß noch, wie der schon klapprig wirkende Grotowski durch alle Reihen ging und jedem*r Einzelnen die Hand schüttelte. In einer Performance wurden alle Namen der Verstorbenen aus dem Umfeld des Odin Teatret vorgelesen. Die Liste war damals schon sehr lang und mit einigen der vorgelesenen hatte ich selbst auch noch gearbeitet.
Diesmal, zum 40. Geburtstag, war die Inszenierung viel leichter und mehr in die Zukunft gerichtet. Das Mal davor war der Toten gedacht worden, diesmal standen die Lebendigen im Zentrum. Schönster Ausdruck des Ganzen war ein Picknick am Strand, lange Tischreihen im großen Halbkreis um ein Zelt, in dem ein Kaffeehaus Orchester spielte. Stürmisch brauste das Meer, es war ein windiger, sonniger Tag. Wir aßen mit den Fingern.
Beeindruckend war auch das großformatige Sandbild, das in einem Glasrahmen an einer Wand des Aufführungsraums hängt. Während seiner Rede zog Eugenio einen Stöpsel und der Sand floss aus dem Bild. Das Bild zerrann im Laufe des nächsten Tages und löste sich auf. Gleichzeitig wurde der verschiedenfarbige Sand in Glasflaschen abgefüllt, die allen Teilnehmer*innen am Ende der Feier mitgegeben wurden. Beim 50-jährigen Jubiläum sah ich eine Koinzidenz: Ich hatte Theaterlabor, Workshop im Leith Theatre, Edinburgh, 2017
mir durch meine Erfahrungen mit dem Sundance Fragen nach der Zeitgestaltung in Aufführungssituationen zwischen Ritual und Performance gestellt und das Odin hatte dies offensichtlich mit der Einladung der „Secret People“ ebenfalls getan: das große Ritual einer indischen Truppe, die durch ihr Land reist und dort in stundenlangen Zeremonien mit viel Feuer, Tanz, Rauch, Farbpigmenten und sehr eingängiger Musik, die mehr an balinesisches Gamelan als an indische Musik erinnert, eine Ritualperformance durchführt. Sie dauerte hier ca. 3 1/2 Stunden; eingebettet war eine Aufführung mit vielen Figuren, Liedern und Szenen aus 50 Jahren Odin Teatret. Das Zeremoniell der Inder ging indes weiter.
Nach dem Höhepunkt der Odin-Performance wurden alle Kostüme in ein überdimensioniertes Grab geworfen und die Requisiten fanden den Weg dorthin mithilfe eines Förderbands. Dann wurde das Grab zugeschüttet und es folgte ein indisches Ritual. Der Feuertanz eines jungen Mannes und ein Trancetanz von zwei Frauen, die mit ihren Haaren Farbpigmente auf dem Boden verwischten und dann nach den vielen Kopfbewegungen aus der Trance erweckt wurden, bildeten die Höhepunkte. Auch die große Open-Air-Performance am Vormittag war sehr gut gemacht. Alle Aktionen fanden auf einem riesigen gelben Tuch statt. Der erste Teil folgte dem bekannten Strickmuster der soziokulturellen und theateranthropologischen Mischung, aber dann drehte sich das Publikum zum See um, in dem riesige Buchstaben „50 Jahre Odin Teatret“ brannten, dazu eine Reihe von Menschen mit bengalischen Feuern und große Heliumballons, an die Puppen angebunden waren. In der Mitte des Sees tanzte dazu eine balinesische Tänzerin auf einem Ponton. Dann wurde das gelbe Tuch wie ein großes Zelt von hinten über die Zuschauenden geführt. Für das 60-jährige Jubiläum verfügt das Odin Teatret nicht mehr über den Ort, an dem diese Zeremonien mit Hunderten von Gästen stattfanden. Es findet 2024 erstmals dezentral in verschiedenen Ländern statt.
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Theaterlabor/Plavo Pozorište, Requiem, 2015
Gespräch mit Duccio Bellugi-Vannuccini, Thêatre du Soleil Im Vorfeld hatte ich mich mit Duccio über unsere jeweiligen Ursprünge unterhalten. Er hatte an der Essener Folkwangschule Tanz studiert und danach eine Zeitlang in Deutschland gelebt. Da er als Italiener aber inzwischen in Frankreich lebt, hatten wir vier Sprachen für das Interview zur Verfügung und haben es letztlich auf Englisch geführt. Als die Aufzeichnung begann, war Duccio schon mittendrin.
Duccio Beluggi-Vanuccini _ Ich bereite gerade eine Dokumentation über einen Workshop in Kiew vor, den wir im März 2023 durchgeführt haben, ein Jahr nach dem russischen Einmarsch, mit ungefähr 100 Teilnehmern. Auch ganze Theatergruppen nahmen teil; sie spielten während des Krieges in Kiew. Ich fragte mich, warum so viele Männer dabei waren. Normalerweise nehmen ja immer mehr Frauen an solchen Workshops teil, aber ich war besonders erstaunt, dass die Männer nicht eingezogen waren. Aber sie waren an der zweiten Front aktiv. Sie sammelten nach ihren Vorstellungen Geld, versorgten die Orte, die befreit worden waren, organisierten Verpflegung und versuchten, auch in den russisch besetzten Gebieten zu helfen. Sie wollten die Nation durch ihre Kunst am Leben halten.
Ariane Mnouchkine war von der russischen Invasion sehr betroffen, weil sie selbst russische Wurzeln hat. Sie fühlte sich irgendwie betrogen und beschloss, in der Ukraine einen Workshop zu geben. Wir hatten auch hier in Frankreich bereits Geld gesammelt und an ukrainische Theater geschickt. Es wurde als Geschenk angenommen – als Verneigung vor dem Tod, es war wundervoll! Wir waren dort zu zweit und haben die Dokumentation gedreht; morgen sollen wir sie Ariane vorstellen. Also ist morgen ein großer Tag. Siegmar Schröder _ Ist das eine Videodokumentation?
DB _ Ja. Wir waren mit drei Kameras dort, und anfangs meinten sie: „Nein, ihr könnt das nicht filmen!“ Natürlich herrscht dort eine andere Situation. Jeden Moment kann ein Alarm kommen und ein Drohnenangriff bevorstehen. Aber sie leben
ihr Leben, ihr normales Leben. Du kannst ganz normal in ein Restaurant gehen und essen, nur dass ab 23 Uhr Ausgangssperre ist und die Restaurants deshalb eher schließen. Ansonsten versuchen die Leute, ihr normales Leben zu leben, was wirklich unglaublich scheint. SSch _ Wir hatten mal eine Kooperation mit Leuten aus Dnjepropetrowsk, wir waren dort mit einer Aufführung und machten eine Koproduktion mit Schauspielern von dort. Nach dem Projekt kam der Krieg, und es gab unterschiedliche Reaktionen darauf: Einer ging freiwillig zur Armee, ein anderer desertierte und war dann auf der Flucht. Das Leben hatte sich mit einem Mal total verändert.
DB _ Wir sprachen mit einem Teilnehmer, der direkt von der Front zurückkam. Er war nicht Soldat, sondern Helfer. Als der Workshop zu Ende war, musste er wieder an die Front, weil er auch Priester war und gebraucht wurde. SSch _ Mein Hauptanliegen bei unserem Gespräch ist die Frage nach dem Wissenstransfer und der Archivierung eurer Arbeit. Du bist einer der Direktoren von ARTA. Kannst du erklären, was das ist?
DB _ ARTA bedeutet Assoziation für Recherche über die schauspielerische Tradition. Wir laden Meisterinnen und Meister aus der ganzen Welt ein, mit uns ihr Wissen über ihre Tradition und ihre Kunst zu teilen. Ich muss sagen, es ist keine leichte Aufgabe, Teilnehmer dafür zu gewinnen. Wir haben zum Beispiel einen der größten Kyogen-Meister aus Japan eingeladen, der dann mit einem Assistenten und einem Dolmetscher kam, aber keiner kennt ihn in Frankreich. Und anders als in den 1980er Jahren haben wir heute die Einstellung verloren, dass man seine Kunst nur um ihrer selbst willen vertiefen sollte. Studieren, um verschiedene Visionen zu entwickeln, um unterschiedliches Wissen körperlich zu sammeln. Stattdessen machen die Leute einen Workshop mit einem bekannten Regisseur, weil sie hoffen, ein Engagement zu bekommen. Wir versuchen, die Balance
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zu halten und Lehrende einzuladen, die dich zu den Wurzeln des Theaters führen können. Was ist Theater eigentlich, wo kommt es her? Wie arbeitet man mit den Augen? Wie mit dem Körper? Das ist sehr anstrengend, doch eine leidenschaftliche Anstrengung. SSch _ Wer kommt zu euch? Studierende, auch von Universitäten?
DB _ Unterschiedliche Leute. Wir haben eine Art Stipendium für Leute, die das als Weiterbildung machen wollen. Das finanziert der Staat. Das können auch Leute bekommen, die bereits in einem Theater arbeiten. Und wir haben unterschiedliche Preise für die Workshops. Es kommen wirklich alle Arten von jungen Leuten her, viele junge Leute, die mit einer Schule oder Theaterschule fertig sind, aber auch 50-Jährige. Es kommen alle, die glauben, dass es für sie hilfreich ist, ihre Vorstellungskraft zu vergrößern. Das ist das, was wir tun.
Diese Schule begann mit Claire Duhamel und Lucia Bensasson, die auch Schauspielerin bei uns war, auf einen Impuls von Ariane. Das ganze Théâtre du Soleil wollte und will, dass sie die Arbeitsweisen des Théâtre weitergibt. Wenn wir ein neues Stück vorbereiten, studieren wir jedes Mal eine andere Kunstform. Diese Kunstform muss nicht unbedingt im Stück zu sehen sein, aber sie hat unsere Imagination erweitert, die Art, deine Rolle auf eine neue Weise zu finden. Die Leute, die das verstanden haben, kommen hierher, um mit Kathakali, Pansori oder Kyogen und No-Theater zu arbeiten. Es ist eine andere Welt, es gibt keine Grenzen. SSch _ Ich kann also auch kommen?
DB _ Auf jeden Fall. Du solltest kommen, ich gebe dir hier ein Programm mit. Es ist wirklich wundervoll; Eugenio Barba war auch hier. Es vertieft deine Wurzeln und du siehst die Verbindungen der Kunstformen, von denen du im Vorfeld gesprochen hast. Wir laden überwiegend die asiatischen Kunstformen ein, da dort die Tradition noch am stärksten vorhanden ist, aber wir sehen auch auf Europa und suchen hier nach ursprünglichen Formen wie zum Beispiel die italienische Tarantella.
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SSch _ Ihr vermittelt also nicht direkt euer Wissen, sondern ihr zeigt, wie ihr gearbeitet und gelernt habt, wie ihr denkt? DB _ Ja, genau. Das ist unser Weg zu arbeiten, und wir denken, dass er es wert ist, mit anderen geteilt zu werden.
SSch _ Siehst du, dass die jungen Leute heute nicht mehr so sehr eine profunde Ausbildung anstreben, sondern mehr den schnellen Erfolg?
DB _ Das ist leider wahr und eine Gefahr für das Theater, und dagegen müssen wir ankämpfen. Ich verstehe auch, warum es so ist. Weil es sich nicht auszahlt. Wenn du in einem kleinen Theater mit 50 Sitzplätzen spielst, verdienst du nichts, also gehst du zum Fernsehen.
SSch _ Es ist also nicht mehr der Traum der jungen Leute, ein kleines unabhängiges Theater aufzumachen?
DB _ Genau. Ich glaube, zur Zeit des Dritten Theaters in Italien brannte eine andere Flamme. Es gab auch andere Möglichkeiten. Man konnte immer irgendwo einen Raum bekommen und etwas machen. Heutzutage ist es unmöglich, einen Proberaum zu finanzieren. Oft kommen Leute zu uns und fragen, ob sie nicht in unseren Räumlichkeiten proben können, und wir versuchen zu helfen. Viele Dinge sind viel institutionalisierter als früher. SSch _ Gibt es manchmal Workshops oder Vorlesungen, die Ariane selber abhält? Ich sah letztens eine Dokumentation im französischen Fernsehen darüber.
DB _ Ja, sie gibt etwas weiter, das sie nicht Methode nennt. Sie nennt es Praxis, die Art, wie wir Theater praktizieren. Es ist ihr sehr wichtig. Viele Jahre lang haben wir sehr große Workshops mit 450 Teilnehmern bei uns durchgeführt. Alle Schauspieler waren in die Improvisationen und die Arbeit mit den Kostümen involviert. Es war auch sehr aufwendig, eine Auswahl zu treffen, weil die Nachfrage immer größer war als die Anzahl der Plätze. Und es war für die Teilnehmer kostenlos. Es war somit ein enormer Kostenfaktor, daran kann man sehen, wie wichtig uns diese Investition war.
Wir machen diese großen Workshops schon länger nicht mehr bei uns, sondern wir gehen damit auf Reisen. Wir waren in Amiens letztes Jahr, das bedeutete, dass Ariane mit einem Dutzend Schauspielern und vielen Kostümen dort zeigte, wie sie arbeitet. Wir haben es in Kiew gemacht und waren in Santiago de Chile, in Schweden und in Südafrika, aber da war Ariane nicht dabei. Ich leitete den Workshop zusammen mit sechs Mitgliedern unseres Theaters, die nun die Arbeit machen, die ich normalerweise mache, wenn ich mit Ariane zusammenarbeite. Eine Art Assistenz bei den Improvisationen, um das Niveau zu heben, um den Leuten sehr effektiv Wege aufzuzeigen. SSch _ Wie der Zufall es will, habe ich gerade mit einem Bekannten aus Malawi gesprochen, der an dem Workshop teilgenommen hat. DB _ Ja, da war jemand.
SSch _ Er schrieb mir, dass er in Südafrika dort eine französische Theatergruppe getroffen habe, das Théâtre du Soleil. DB _ War das der Mann mit dem besonderen Gesicht?
SSch _ Ja, McArthur. Ich werde für sein nächstes Festival eine kleine Aufführung vor Ort erarbeiten. DB _ Wunderbar.
SSch _ Ja, die Leute dort sind fantastisch und er ist sehr klar. Er will nicht nur davon profitieren, mit Europäern zusammenzuarbeiten. Er verlangt ein Gleichgewicht, eine Begegnung auf Augenhöhe und das ist gut so. Die Kultur, vor allem die der Tänze, ist sehr reich.
DB _ Da gibt es also eine Verbindung, denn ich leitete den Workshop, an dem er teilnahm. Das ist ein Weg, unsere Praxis des Theatermachens zu teilen. Wir glauben, dass wir Grundsätze für die Praxis gefunden haben, die es wert sind, entdeckt zu werden.
SSch _ Ich habe mir in meinem künstlerischen Leben auch immer wieder die Frage gestellt, wie Kreativität zu erzeugen ist, welche Teile zusammengefügt werden müssen, wie sie zube-
reitet werden müssen. Es gab letztlich nie eine klare Methode, wie es gemacht wird, sondern jedes Mal ein neues Suchen. Vielleicht ist es schwierig, eine solche Tradition, diese Arbeitsweise weiterzugeben. DB _ Wir nehmen, was immer uns inspiriert, und wir suchen uns etwas, was uns weiterbringt, weil wir immer darauf vertrauen, dass wir im Theater alles aussprechen können, und damit auch den Weg wählen müssen, das zu tun. Manchmal setzen wir uns mit sehr untypischen Formen auseinander, die ganz anders sind, als man es von uns erwartet, so wie gestern bei der Aufführung von Notre Vie dans l’Art. Ich glaube, dass es sehr gut war, dass Ariane Richard Nelson eingeladen hat, um diese Arbeit zu machen, da es uns neue Perspektiven eröffnet hat.
SSch _ Das ist fantastisch. Ich mag unterschiedliche Inputs sehr gerne, in verschiedenen Stilen zu spielen und auch unterschiedliche Stile zu verstehen. Ich weiß, dass es nicht viele Leute gibt, die so denken, aber ich glaube, es ist gut so zu agieren, weil es aufregend und überraschend ist.
DB _ Und wir haben das große Privileg, uns Zeit zu nehmen. Wir nehmen uns viel Zeit, eine Form zu studieren, und proben neun Monate für eine Aufführung. Das kostet sehr viel Geld und ist einer der Gründe dafür, dass wir uns selbst nicht viel auszahlen. In dieser Zeit arbeiten wir sehr hart daran, in eine Disziplin oder Form einzutauchen, nicht bloß zu kopieren, was man in einem Video sieht, sondern mit einem Meister die ganze Herangehensweise zu lernen. Und ARTA bietet die Möglichkeit, einen Eindruck von dieser Herangehensweise zu bekommen. Es gab Leute, die hier einen Workshop über Kathakali mitgemacht haben und danach nach Indien gegangen sind, um es dort weiter zu studieren. Sie waren keine Kathakali-Tänzer, sondern wollten als Darsteller ihren Horizont erweitern. Dasselbe passierte beim koreanischen Panzori. Dieses intensive Studieren öffnet dir Türen. SSch _ Es ist schließlich nicht nur der Weg zu arbeiten, sondern zeigt auch eine Lebensweise. Gibt es eine Verbindung zur anderen Seite der Kunst? Gibt es auch ein ethisches Erbe?
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DB _ Wir haben eine Leiterin, die eine sehr starke Persönlichkeit ist. Daran besteht kein Zweifel. Und für sie sind Theater, Politik und soziale Aufmerksamkeit miteinander verbunden. Daher haben ihre Aufführungen verschiedene Schichten. Es gibt die Unterhaltung, die wunderbare Ästhetik und darunter weitere Schichten, die die Zuschauer zu bestimmten Themen führen, nicht auf intellektuelle Weise, sondern sie werden in einem positiven Sinne mit Gedanken ‚kontaminiert‘. Auch wenn die Zuschauer politisch nicht besonders aktiv sind, merken sie doch, dass wir wichtige Fragen über das Leben stellen, die sie nachdenklich machen. Ariane selbst ist sehr engagiert und muss gemäß ihren eigenen Ansprüchen auch Vorbild sein. Sie kann nicht eine Haltung vorgeben, sich dann aber selbst 10.000 Euro im Monat auszahlen. Sie bekommt wie wir alle 2.000 Euro im Monat. Alle bekommen das gleiche Gehalt. Ich bin nun seit 37 Jahren an diesem Theater und ich würde sehr gerne besser bezahlt werden, aber das ist nicht die Art und Weise, wie wir denken, wie wir arbeiten. Ich kann nicht das eine sagen und das andere tun. SSch _ Ihr könnt also nur eine glaubwürdige politische Aussage im Theater machen, wenn ihr auch im Privaten so handelt. DB _ Genau. Das ist natürlich manchmal ermüdend. Du arbeitest viel mehr. Wir reinigen das Theater selbst; wir kommen um drei Uhr nachmittags vor der Vorstellung ins Theater, saugen auf den Tribünen, putzen die Toiletten. Ich werde in ein paar Wochen 61 Jahre alt, doch ich habe keine Privilegien, weil ich älter bin und bereits fast 40 Jahre an diesem Theater.
SSch _ Bei uns gab es auch den Punkt, an dem Leute 60 wurden und sagten, dass sie kein Straßentheater mehr machen könnten.
DB _ Das kann ich natürlich verstehen, es hängt von deinem Körper ab. Und Straßentheater ist deutlich härter, als in einem warmen Theaterraum zu spielen. Also musst du dich entscheiden. Es wäre eine Lüge, Straßentheater zu machen, wenn du körperlich nicht mehr dazu in der Lage bist. Entweder machst du eine Sache richtig und bist wirklich dabei oder du machst etwas anderes. Ich verstehe das vollkommen.
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SSch _ Wirst du mit 62 in Rente gehen? Wirst du weiterarbeiten können?
DB _ Ehrlicherweise habe ich mich noch nicht danach erkundigt, aber ich sollte es tun, weil wir in Frankreich das System „Intermittent“ haben, das für die Zeiten, in denen ich nicht engagiert war, die Rentenansprüche zu einem geringeren Prozentsatz ausgleicht. Das geht so weit, dass ich in einer Woche nur drei Aufführungen bezahlt bekommen habe und der Rest der Woche aus dem Ausgleichssystem kompensiert wurde. Ich habe deshalb oft weniger als 2.000 Euro bekommen und werde so auch weniger Rente erhalten. Ich weiß nicht, wie das mit den Rentenzahlungen funktioniert, wenn ich das Rentenalter von 62 Jahren erreicht habe und gleichzeitig noch weiterarbeite. An der Universität unterrichte ich auch noch, und da gibt es eine Grenze von 65 Jahren, bis zu der ich das machen kann. SSch _ In Deutschland arbeiten die Freien Künstler als Freelancer und ihre Rente fällt noch niedriger aus als in Frankreich. DB _ Das erstaunt mich, obwohl es sicher darauf ankommt, wo du arbeitest. Wenn du an einem Stadttheater arbeitest, wirst du bessergestellt sein.
SSch _ Ja, und dort gibt es noch eine zweite zusätzliche Rentenkasse, die die Rente erhöht, aber das gibt es in der Freien Szene nicht. Ich bin etwas besser aufgestellt, weil ich bereits seit Jahren Geld beiseitegelegt hatte.
DB _ Du konntest von Glück reden, dass du so viel hattest, dass das möglich war. Bei uns kommen die meisten mit dem Geld nicht bis zum Monatsende. Ich bin auch privilegiert, weil ich ein Haus habe, das mein Eigentum ist, in dem ich wohnen kann und keine Miete zahlen muss. SSch _ Wenn wir über das Aufhören sprechen – hat Ariane sich jemals dazu geäußert?
DB _ Sie hat schon viel über die Weitergabe der Arbeit gesprochen, was passiert, wenn sie nicht mehr arbeiten kann. Wir haben die Situation allerdings noch nicht gelöst. Es ist sehr komplex. Auf der einen Seite braucht sie jetzt mehr Zeit, um
ein neues Projekt durchzuführen. Das war auch ein Grund dafür, dass wir das Stück mit Richard Nelson gemacht haben. Auf der anderen Seite sieht sie auch, dass sie 89 Jahre alt ist und nicht mehr lange warten kann, bis sie wieder ein neues Stück macht. Es könnte das letzte Stück sein oder das vorletzte – sie weiß es nicht und wir wissen es auch nicht. Sie spricht aber darüber, was passieren soll, wenn sie nicht mehr da ist, wie das Theater fortgeführt werden kann. Deshalb lädt sie auch andere Leute ein. Sie möchte nicht, dass Richard Nelson das Theater übernimmt, aber sie will sehen, ob das eine Möglichkeit ist weiterzuarbeiten, wie das zum Beispiel das Pina Bausch Zentrum praktiziert. Sie laden Choreografen ein, um mit der Company zu arbeiten. SSch _ Die Gruppe würde künstlerische Entscheidungen treffen, mit wem als Nächstes gearbeitet werden soll? DB _ Ja, genau.
SSch _ Und unterschiedliche Regisseure mit unterschiedlichen Stilen würden eingeladen? DB _ Ja, das könnte ein Weg sein, aber ich weiß im Moment noch nicht, ob und wie es funktionieren könnte.
SSch _ Ariane war sehr verärgert über Eugenio Barbas Entscheidung, die Leitung des Nordisk Theaterlaboratorium abzugeben, ohne die Übergabe zu gestalten.
DB _ Ja, ich habe gehört, dass die Situation für ihn in Holstebro nicht gut ist. Also denkst du, man sollte man nie aufhören oder die Leitung abgeben?
SSch _ Das letzte Mal, als ich Yoshi getroffen habe, hat er gesagt, dass er wahrscheinlich auf der Bühne stirbt oder so lange spielt, bis er nicht mehr kann.
DB _ Ja, es kommt immer darauf an, wie man sich fühlt und wie es für die Zuschauer ist. Bei Akrobaten ist es so wie beim Straßentheater, dass man mit 61 Jahren nicht mehr dasselbe machen kann wie mit 21. Wird das durch Tiefe und Weisheit ausgeglichen? Es geht letztlich um Energie, reine Energie. Möglicherweise gibt es einen Punkt, an dem man nicht mehr
zufrieden ist mit dem, was man auf der Bühne macht. Macht man es nur für sich selbst oder für die anderen? Es bleibt dem eigenen Bewusstsein überlassen, eine Entscheidung über das Weitermachen oder das Aufhören zu treffen. SSch _ Für Yoshi ist es natürlich eine andere Entscheidung, da er nur für sich selbst Verantwortung trägt. Ariane trägt aber Verantwortung für ein ganzes Theater und alles, was darin passiert.
DB _ Sie hat ganz klar gesagt, dass sie die Maschinerie des Theaters nicht verlangsamen wolle wegen ihres Alters. Dass sie zurücktritt in dem Moment, in dem sie das fühlt. SSch _ Ich bin sehr neugierig, wie sie es machen wird.
DB _ Wir auch, aber im Moment sind wir sehr viel neugieriger auf das, was sie in der nächsten Aufführung mit uns vorhat. Wir haben jetzt bald ein Gespräch mit ihr und dem Ensemble, bei dem sie uns ihre Pläne offenbaren wird. Am Ende der jetzigen Aufführungsserie wollen wir gerne mit ihr ein neues Stück proben, das dann Ende 2024 herauskommt. SSch _ Ihr habt bereits jetzt ein gutes Archiv und man findet viel auf eurer Website.
DB _ Wir haben viel zugänglich gemacht. Du kannst auf unserem Vimeo-Kanal Mephisto sehen, wenn du willst. Und die andere große Sache ist die, dass der größte Teil des Archivs von der französischen Nationalbibliothek übernommen wurde. Wir überlegen nun, ob wir dasselbe mit dem Archiv von ARTA machen. Wir haben unzählige Videos über die Workshops gesammelt und so wären sie für Interessierte zugänglich. Da sind sicherlich einige kleine Schätze darunter. SSch _ Weißt du, dass ich 1999 euer Stück Tambours sur la Digue hier in Paris gesehen habe? Es gefiel mir sehr gut und ich wollte es nach Bielefeld einladen, aber es scheiterte daran, dass unsere Bühne 50 cm zu schmal war. DB _ Das war ein ganz besonderes Stück, geschrieben von Hélène Cixous. Das war ein besonderer Moment in meinem Leben mitzubekommen, wie das Stück entwickelt wurde und
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wie Hélène und Ariane zusammenarbeiteten. Eine Szene wurde wieder an Hélène zurückgegeben, sie schrieb sie neu. Dann wurde die neue Szene geprobt und sie funktionierte nicht. Dann versuchten sie, zwei Szenen zusammenzulegen und so weiter. Ein Hin und Her, das die beiden sehr gut beherrschten. Es war ein bisschen so, als hätte man Molière arbeiten sehen. Ein sehr lebendiges Arbeiten, ständiges lebendiges Verändern. Das Stück war bereits von Anfang an als Stück für Marionetten geschrieben. Bevor wir mit den Proben anfingen, gab es für uns ein wenig Reisegeld und wir machten uns auf nach Asien, um dort verschiedene Formen von Puppen- und Marionettenspiel zu sehen. 1999 kam das Internet auf, und wir bekamen plötzlich E-Mails mit Einladungen zu Aufführungen und Festivals und so reisten wir in kleinen Gruppen von drei Personen zu verschiedenen Orten in Asien. Ich war in Japan, Korea, Taiwan und Vietnam und wollte verschiedene Puppentheater sehen. Dann begannen wir zu proben, aber wir konnten das Wesen dieser Puppen nicht finden. Wir versuchten, die Bewegungen der Puppe und ihre Stimme auf zwei Personen aufzuteilen. Das funktionierte einmal, doch beim zweiten Mal nicht, irgendetwas fehlte. Wir versuchten vieles und machten weiter, bis irgendwann Ariane die Arbeit stoppte und sagte: „Lasst uns mal an etwas anderem arbeiten.“ Das tat sie manchmal, wenn wir uns in einer Sackgasse befanden. Also improvisierten wir mit anderen Texten und ließen den Text des Stückes beiseite. Wir sollten uns von ihm befreien, um zu erkennen, wo das Problem lag.
Dann sagte ich zu jemandem: „Sie möchte eine Puppe, also lass uns eine Puppe sein. Lass uns Puppenspieler und Puppe sein.“ Ich band mir einen Stock an den Ellbogen und baute eine Vorrichtung, an der man mich hochheben konnte und sagte meinen Kollegen, dass sie mich nun manipulieren müssten. Ich würde nichts von alleine tun. So gingen wir auf die Bühne. Im Bühnenbild war eine Art Kanal, über den man hinüberspringen musste. Sie gaben mir einen Impuls und ich reagierte darauf und sprang. Sie hielten mich hoch und es wirkte so, als ob ich fliegen würde. Die Livemusik reagierte sofort darauf, und alle Anwesenden (bei uns waren immer alle Schauspieler dabei, auch wenn sie selbst nicht probten) spürten, dass hier
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etwas Besonderes vor sich ging. Dieses Arbeiten, die Freiheit zu haben, alles Mögliche, was einem einfällt, auszuprobieren, macht dieses Theater aus. SSch _ Die Recherche so lange zu betreiben, bis man etwas findet, was wirklich funktioniert? DB _ Richtig.
SSch _ Wir konnten das Stück leider nicht zur Eröffnung unseres Theaters zeigen. Wir haben ein Festival gemacht mit der ISTA, jedoch leider nicht mit dem Théâtre du Soleil.
DB _ Das ist etwas, das ich auch gerne einmal mitgemacht hätte, die ISTA. Ich habe ein Buch darüber und finde es großartig, dass all diese Meister zusammenkommen und man ihre Arbeit verfolgen kann. In gewisser Weise haben wir mit dem Théâtre du Soleil auch so gearbeitet. ARTA hätten wir auch „ISTA“ nennen können, es sind dieselben Wurzeln.
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Das Gespräch führte Siegmar Schröder am 7. Dezember 2023 in Paris. Übersetzung aus dem Englischen: Siegmar Schröder
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Was bleibt? Was wird? Siegmar Schröder: Es gibt ein internationales Leben nach dem Theaterlabor Blicken wir mal in die jüngste Vergangenheit. Die Schlaglöcher sind nur ein Problem, wenn man ein Auto hat, und jeden Tag Maisbrei zu essen nur, wenn man etwas zu essen hat. Wie realisiert man Kulturaustausch mit einem der ärmsten Länder der Welt? Malawi, „the warm heart of Africa“ – es stimmt, die Menschen sind dort sehr freundlich, sozial und liebevoll. Bei den Menschen, die ich auf dem Theaterfestival in Blantyre treffe, ist es offensichtlich, dass alle sehr herzlich zueinander sind und ich als Weißer nicht besonders hofiert werde. Ich bin sehr beeindruckt von dem Engagement, mit dem das Easter Theatre Festival in Malawi ausgerichtet wird. Die Umstände, unter denen dies stattfindet, sind für uns unvorstellbar, auch wenn man glaubt, sie aus den Medien zu kennen. Selbst die Erzählungen unserer Tochter, die hier seit sieben Monaten lebt, konnten wir zwar verstehen, aber nicht nachvollziehen. So wird ihr verboten, abends nach Einbruch der Dunkelheit auf eigene Faust durch die Stadt zu fahren. Erschwerend kommt noch hinzu, dass dann keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr zur Verfügung stehen. Nachvollziehen konnte ich es erst vor Ort. Das Festivalprogramm endete für uns Europäer*innen jeweils sehr früh. Meine Präsentation war für 18:15 Uhr angesetzt und damit die letzte Veranstaltung. Aber, wie sich herausstellt, war das schon zu spät. Es fand sich nur wenig Publikum ein.
Die Teilnehmer*innen, die am nächsten Tag zahlreich meinen Workshop besuchten, konnten abends nicht kommen, da sie weder ein Auto besaßen, noch sich ein Taxi leisten konnten. Wir suchten nun nach einem Zeitfenster, in dem ich meine Präsentation tagsüber noch einmal zeigen konnte.
Die Dunkelheit hier ist tatsächlich viel dunkler als in Europa und sie kommt plötzlich, sodass man wirklich das Gefühl hat, alle Menschen, die zu Fuß ihre Einkäufe oder Trinkwasser nach Hause tragen, würden sich schneller bewegen. Und in der Tat wird es schlagartig leer auf den Straßen und abends ab acht Uhr ist fast niemand mehr unterwegs. Auch Autofahren ergibt dann keinen Sinn, weil es ja kaum etwas gibt, wo man hingehen könnte. Es gibt selbstredend kein Stadttheater und keine Konzerthalle. Mir wurde gesagt, dass es nachts auch keine Polizeikontrollen gibt, die tagsüber sehr häufig sind. Es gibt nur sehr wenige Restaurants und Bars, die sich zumeist in Hotels befinden, die entsprechend teuer für die Einheimischen sind, und so findet man dort eine Mischung aus Weißen und reichen Malawiern, eine kleine Clique, in der sich alle zu kennen scheinen.
Ich wollte meine Präsentation mit einem Witz beginnen, so wie ich das bei meinen großen Lehrmeistern, den Blackfoot First Nations, gelernt hatte. Ich wollte erzählen, dass ich aus Deutschland komme und dass dort auch Armut herrscht. Meine Künstlerkolleg*innen und ich selber erwarten nur sehr geringe Renten, die unterhalb der Armutsgrenze liegen. Ich war mir nicht sicher, wie diese Art von Humor mit diesem selbstironischen Anteil ankommen würde und so habe ich mir eine noch auf der Bühne befindliche Trommel genommen, mir einen Hocker hingestellt, die Arme gehoben und innegehalten. Ich bin ans Mikrofon gegangen und habe ein wenig über kulturelle Identität gesprochen, dass ich ein großes Problem mit deutschen Volksliedern und -tänzen habe und dass daher auch
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viele Deutsche nach Afrika kommen, um dort Tänze und Trommeln zu lernen, weil andere Kulturen attraktiver als die eigene sind.
In der Tat gibt es einen unglaublichen kulturellen Reichtum. Allein am ersten Abend wurde bei einem Konzert erklärt, dass es über 200 verschiedene Musikrichtungen in Malawi gibt. Am nächsten Tag wurde über die Anzahl der verschiedenen Tänze eine ähnlich große Zahl genannt. Nach 45 Jahren Seherfahrungen ist es nicht einfach, mich zu beeindrucken, aber diese Entschlossenheit, Leidenschaft und technische Exzellenz der Tänze waren so beeindruckend, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die Tanzgruppen hatten ethnologische Arbeit geleistet und Tänze aus entlegenen Gegenden, die teilweise auch heiligen Ritualen entstammten und auszusterben drohten, einstudiert und mit extremer körperlicher Präsenz aufgeführt. Ich saß in der ersten Reihe und wurde regelrecht umgehauen. Mir passiert das sehr selten. Es war der Effekt, der viele meiner Theaterlehrer dazu brachte, Tanz und Theater aus Bali, Indien, Brasilien, Japan und Afrika in ihre Arbeit einzubinden. Ein ritueller Tanz hat alles, was gutes Theater haben muss: Livemusik, Gesang, Bewegung, Kostüme, Masken und eine Geschichte, die damit erzählt wird. Es reißt mich mit, im Gegensatz zu vielen deutschen Theaterproduktionen, die vor allem aus einem theoretischen Konzept bestehen. Der Aspekt von Spannung und Energie, die sich von der Bühne auf das Publikum überträgt, war für mich immer wichtig. Auch die Erkenntnis, dass das, was auf der Bühne stattfindet, eine große Kunst ist, bei der ich das Gefühl habe, so etwas selbst niemals zu können. Eine besondere Körperarbeit, eine Technik, gepaart mit extremer Power und Ausdruckskraft machen mich immer wieder demütig.
Ich habe dem Publikum in meiner Präsentation nach einer solchen Tanzaufführung gesagt, dass ich seit 40 Jahren auf der Suche sei, solche Ausdrucksformen zu finden, und ich habe hart daran gearbeitet, die Schauspieler*innen haben sich körperlich an ihre Grenzen begeben, aber nun komme ich hier nach Malawi und sehe, dass andere das schon machen, dass es hier bereits in der kulturellen Tradition enthalten ist. Zum
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Glück konnte ich noch einiges zeigen, was hier in Malawi nicht so bekannt ist wie zum Beispiel eine große Bespielung eines Platzes mit über 300 Akteur*innen.
Das Easter Theatre Festival fand in dem einzigen Raum in Blantyre statt, der für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung steht, dem Jakaranda Cultural Center/Maison de France. Ca. 100 Zuschauer*innen konnten das von fünf Scheinwerfern beleuchtete Bühnengeschehen verfolgen. Die alte Tonanlage aus dem Pavillon (Hannover) funktioniert bestens für kleine Bands und die Beschallung der Aufführungen. Es gibt auch eine Hannover Avenue, da es sich um die Partnerstadt handelt und ich habe über den Freundeskreis Malawi und Städtepartnerschaft Hannover-Blantyre e. V. auch eine Menge Material für eine Schule hier mitgebracht. Wie weit führt eigentlich der kulturelle Austausch mit einem Land wie Malawi? Kann man hier irgendwo eine Grenze ziehen? Zur Kultur gehört auch die gesamte gesellschaftliche Situation: wenn ein junger Theaterbegeisterter uns erzählt, dass es nach seinem Schulabschluss nichts mehr gibt, was er tun könnte, abgesehen von der Tatsache, dass es keine einzige Dramaschool in Malawi gibt. Er kann nicht aufs College, das viel zu teuer ist, und an ein Studium ist nicht zu denken. Es gibt eine weiterführende Schule, an der wenigstens eine Mischung von verschiedenen Künsten gelehrt wird, die aber auch zu viel kostet. Man sieht hier, dass das implementierte englische Bildungssystem, eine Hinterlassenschaft der Kolonialzeit, eine breite, gute Ausbildung der jungen Leute behindert. Da scheinen benachbarte Länder wie Simbabwe, die mal ein sozialistisches Bildungssystem hatten, deutlich im Vorteil. Ist unsere Projektidee, hier eine kleine Kulturszene zu etablieren, viel zu unrealistisch, da es an den normalen Lebensumständen scheitern wird?
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Workshop Easter Theatre Festival in Blantyre, Malawi, 2024
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McArthur Matukuta, Easter Theatre Festival: Für nachhaltigen Wohlstand – meine Austauscherfahrungen Austausch und Zusammenarbeit sind wichtige Methoden für die Weiterentwicklung meines Theaters und für die Kreativwirtschaft. Der Austausch bringt Künstler, Publikum, Sponsoren und Geschäftsleute aus dem ganzen Land und dem Ausland zusammen, um Ideen auszutauschen, Erfahrungen zu teilen und künftige Projekte zu planen. Mit Deutschland, Wales, Polen und Schottland habe ich internationale Austauscherfahrungen sammeln können; einige regionale Austausche fanden in Südafrika, Sambia und Simbabwe statt, und derzeit baue ich einen neuen Austausch mit Frankreich auf. So habe ich viel gelernt. Ich habe individuelles Wissen erworben und auch meine Organisation hat davon profitiert. Mit der Austauscherfahrung ist es mir gelungen, das erste und bislang einzige internationale Theaterfestival in Malawi zu etablieren. Ich habe neue Impulse bekommen, wie man Theaterprojekte auf internationaler Ebene entwickeln kann. Ich habe es geschafft, auf verschiedenen internationalen Bühnen aufzutreten. Ich glaube aber, dass auch wir den Kooperationspartnern etwas mitgegeben haben.
Meiner Meinung nach sollte der Austausch auf Augenhöhe stattfinden und gemeinsame Ziele besprochen werden. Alle Parteien müssen in ähnlicher Weise profitieren, unabhängig von den finanziellen Mitteln, denn das Wichtigste soll der Austausch sein und das Teilen von Idealen. Geld ist nur ein Katalysator, um den Austausch zu ermöglichen. Unabhängig davon, ob entwickelt oder unterentwickelt, wollen wir Künstler voneinander lernen, denn Kunst und Theater sind dynamisch. Künstler, die sich positiv für die Entwicklung von Künstlern einsetzen, unabhängig davon, woher sie kommen, sollten auch eine wichtige Rolle bei Austauschprojekten für eine bessere Theaterwelt übernehmen.
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Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Zimmermann
Es gibt zwei Seiten der Medaille beim Austausch, eine positive und eine negative. Die positiven Aspekte habe ich oben beschrieben, im Folgenden nenne ich einige der negativen.
1. Einige der Partner wollen sich nicht an die Methode des Gebens und Nehmens halten. Sie wollen diktieren, was zu tun ist, wie es zu tun ist, wann es zu tun ist usw. 2. Einige Partner mischen sich in die Verwaltungen anderer Partner ein.
3. Ressourcen werden nicht zu gleichen Teilen geteilt. Die Partner, aus deren Ländern die finanziellen Mittel kommen, wollen immer den Löwenanteil für sich.
4. Die Anzahl der Teilnehmer bei Austauschprojekten ist nicht ausgeglichen. Der Partner, von dem die finanziellen Mittel stammen, möchte immer mehr Teilnehmer stellen als der andere.
Theaterlabor/Teatr A Part, In the Jungle of History, Probe, 2015
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Zum Schluss: Siegmar Schröder und Henning Fülle im Gespräch am 30. Januar 2024 in Berlin Siegmar Schröder _ Lieber Henning, wir sind nun fast am Ende der Arbeit an unserem Buch. Ich wollte dich mal fragen, was dein vorläufiges Resümee ist, was du während des Prozesses selbst erfahren hast?
Henning Fülle _ Bereits im Vorfeld unserer gemeinsamen Arbeit wurde bei mir durch das Projekt Weggefährten der Theaterwerkstatt Pilkentafel, bei der wir uns überhaupt erst kennengelernt hatten, etwas angestoßen, das sich nun fortgesetzt und vertieft hat: Mir ist deutlich geworden, dass ich bei meinen Forschungen über das Freie Theater von den späten Sechzigerjahren bis in die erste Dekade der 2000er einen großen Teil davon selbst gar nicht wahrgenommen habe. Konkret habe ich vom Theaterlabor nie eine Arbeit gesehen – auch von der Theaterwerkstatt Pilkentafel nicht. Ich habe realisiert, dass ich von der gesamten Bewegung dieses Freien Theaters, das sich Ende der Siebziger-/Anfang der Achtzigerjahre herausgebildet und sich zu einem Netzwerk von Strukturen verdichtet hat, so viel gar nicht selbst mitbekommen habe. Das betrifft auch dessen Quellen. Ich habe nie etwas von Grotowski oder dem Odin Teatret gesehen. Lediglich Peter Brook, Ariane Mnouchkine oder Robert Wilson habe ich gesehen, also eher solche Dinge, die doch eher der Hochkultur zugerechnet wurden. Diese Perspektive hat sich für mich so weitergeschrieben, als ich als Dramaturg zu Kampnagel gegangen bin (1997) – ein internationales Produktionshaus, für das wir ein bestimmtes künstlerisches Niveau durchzusetzen versuchten, wobei Gruppen wie die Pilkentafel oder das Theaterlabor eher durch das Raster gefallen sind. Es ist mir also aufgefallen, dass mir ein großer Sektor des Dritten Theaters eigentlich entgangen ist.
SSch _ Wir wurden auch mit diesem Begriff „Niveau“ konfrontiert, doch haben das anders verstanden. Wir haben gesehen, dass man in bestimmten Zirkeln verkehren musste, in den Metropolen wahrgenommen werden musste. Hast du das von
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deiner Warte auch als eine Art von ‚Closed Shop‘ gesehen und wurde von den großen Häusern ein bestimmter Mainstream vorgegeben?
HF _ Ja, zweifellos. Als ich auf Kampnagel anfing, wurde mir die Frage gestellt, wie ich mich zu bestimmten Produktionen der Hamburger Szene verhalten würde, wie ich als Dramaturg entscheiden würde, wer auf Kampnagel spielen dürfe. Ich hatte vorher mit Jo Fabian gearbeitet, kannte Nele Hertling und Tom Stromberg und habe damals durchaus mit einer bestimmten, vielleicht auch hauptstädtischen Arroganz geantwortet, dass für mich immer ein bestimmtes künstlerisches Niveau ausschlaggebend wäre. Niveau als fast ausschließender Begriff: De facto lief das damals darauf hinaus, dass bestimmte Produktionen der Hamburger Szene wie von Barbara Neureiter, Gilla Cremer unter anderem auf Kampnagel nicht mehr spielen konnten. Das ‚Kampnagel-Niveau‘ war markiert durch Regisseure, die vom Regiestudiengang der Hamburger Uni kamen – Nicolas Stemann, Sandra Strunz Falk Richter, Matthias von Hartz zum Beispiel – oder Protagonisten der Gießener Schule, die sich heute als She She Pop, Showcase Beat le Mot oder Rimini Protokoll durchgesetzt haben. SSch _ Geht es bei dem Begriff Qualität oft um Modeerscheinungen?
HF _ Das würde ich so nicht sagen. Man mag es vielleicht auch als eine Mode bezeichnen, aber die Dinge die Andrzej Wirth in Gießen vermittelt hat, sind ein sehr komplexes, ästhetisch und philosophisch fundiertes Herangehen, das noch vom Brecht’schen Lehrstück und der amerikanischen Performance herstammt. Das ist nicht einfach nur eine Mode, sondern ein intellektuell vermitteltes System von Theaterkunst, das wahrscheinlich anschlussfähiger an bestimmte bürgerliche Feuilletondiskurse ist als zum Beispiel der Theaterhof Prießental. SSch _ Bestand der Gegensatz zwischen Intellektualität und Sinnlichkeit?
HF _ Das weiß ich nicht so genau. Wir hatten schließlich auf Kampnagel auch Gruppen wie La Fura dels Baus, die extrem sinnliches Theater machten. Ich habe Leo Bassi außerordentlich geschätzt. Auf Kampnagel war es eher der Versuch, Freies Theater auf einer anschlussfähigen Diskursebene zu etablieren, vielleicht auch durchzusetzen, was damals ja noch von kulturpolitischer Bedeutung war. Es ging darum, den erreichten Stand der Förderung der großen Theaterhäuser mit diesem vermeintlich hohen ästhetischen Diskursniveau zu halten. Dabei ist mir aber sicher viel durch die Lappen gegangen. Das habe ich bei der Arbeit mit den Weggefährten und an unserem Buch sehr deutlich wahrgenommen.
SSch _ ... die eigene Spielstätten und Festivals betreiben und den damit verbundenen organisatorischen Überbau? Alles selbstgemacht?
HF _ Nicht bei der nächsten Auflage. Es ist auch nicht so, dass die Ergebnisse meiner Untersuchungen über das Freie Theater nun wertlos geworden wären oder im Widerspruch zu den neueren Erkenntnissen stehen würden. Ich sehe sogar sehr deutlich eine Konkretisierung meiner Ergebnisse und wurde durch die Interviews mit Eugenio Barba, Nullo Facchini, Teresa Nawrot und die Beiträge von Mike Pearson und Richard Gough und anderen Protagonisten in meinen Annahmen über das freie Theater bestätigt.
SSch _ Welche Fragen sind von deiner Seite noch offen?
SSch _ Musst du dein Buch nun um ein Kapitel erweitern?
SSch _ Haben sich nicht diejenigen Theater, die nicht so stark im Fokus der Aufmerksamkeit standen, gleichzeitig auch mehr damit beschäftigt, ein alternatives Lebens- und Arbeitsmodell aufzubauen und ein Ensemble innerhalb einer sehr nachhaltigen Projektentwicklung zu bilden?
HF _ Ja, zweifellos, aber das ist eine Entwicklung, die ich auch in meinen Forschungen wahrgenommen habe. Auch beim Beispiel She She Pop, die als eine feministische Gießener Truppe Ensemble- und Strukturbildung betrieben haben; Rimini Protokoll haben sich ebenfalls sehr bewusst um die Gestaltung des Verhältnisses von individuellem Leben und dem Leben als Künstler in der Gruppe gekümmert.
Es gibt jedoch Unterschiede in dem Bereich, dass die Gruppen aus dem Kontext dieses Buches viel stärker Institutionen gebildet haben, …
HF _ Ja, alles selbstgemacht und das mit einer unglaublichen Energie, meist aus dem Nichts ohne öffentliche Förderung geschaffen – über Kommunikation, Interaktion und Austausch. Von der elementaren Qualifikation für das Theaterspielen, über die Produktion von Stücken und Festivals, also den gesamten künstlerischen Bereich, bis hin zur Eroberung, Besetzung und der Vorbereitung der Spielstätten – „den Kalk von den Wänden kratzen“, wie du es erzählt hast. So haben sich kulturelle Institutionen gebildet, die aus der Kulturlandschaft der jeweiligen Städte nicht mehr wegzudenken sind. HF _ Du hast dich nun auch sehr intensiv rückblickend mit den letzten 40 Jahren beschäftigt, in denen du das Theaterlabor gegründet, entwickelt und betrieben hast. Kannst du da Höhepunkte nennen?
SSch _ Es verhält sich eher umgekehrt. Ich erkenne nun, dass so viele wichtige Dinge passiert sind, die ich in diesem Buch gar nicht ausreichend würdigen kann oder zu denen ich keine externen Beiträge erhalten habe. Die Begegnung mit Ismael Ivo zum Beispiel war für mich sehr wichtig und hätte mehr Beachtung verdient. Genauso auch Susanne Linke und Palle Granhoj aus dem Tanzbereich. Ich merke also, dass es nicht gelingt, innerhalb einer solchen Veröffentlichung alles komplett mit der entsprechenden Würdigung und Gewichtung aufzuarbeiten. Gleichzeitig wurde ich durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit, gerade auch durch die Gespräche und Interviews auf Dinge gestoßen, die ich schon länger nicht mehr im Bewusstsein hatte. Dadurch dass ich aktuell keine Position als Theaterleitung bekleide, habe ich sehr viel mehr Zeit, alles zu reflektieren, und habe in den Gesprächen eine neue Qualität in der Kommunikation entwickelt. Früher haben wir auch miteinander gesprochen, aber man war immer in dem geschäftlichen Treiben gefangen – all dessen, was du gerade beschrieben hast. Ich bin, ohne es vorher ge-
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plant zu haben, durch die Arbeit mit dem Buch auf ein neues Kommunikations- und Reflexionsniveau gekommen. Vielleicht gehe ich in diesem Feld noch weiter und arbeite auch andere Bereiche, die hier noch überhaupt nicht angesprochen wurden, auf. Hier wird ja vor allem der Bereich der internationalen Arbeit abgebildet; das Feld, wie wir konzeptionell an Theaterproduktionen in den unterschiedlichen Zusammenhängen herangegangen sind, ist noch nicht behandelt. HF _ Es gibt also keine wirklichen Höhepunkte? Was war denkwürdig für dich?
SSch _ Einige der Höhepunkte sind im Buch beschrieben, die auch einen Fokus erhalten haben: die Co-Produktion The Last Hours, die wir in Prag gemacht haben, da wird auch beschrieben, wie wir dort konzeptionell gearbeitet haben. Und die Arbeit mit den First Nations in Kanada war ein solcher Höhepunkt – auch weil sich hier noch mal eine neue Sichtweise auf viele elementare Dinge im Theaterbereich und im Menschlichen ergab: der Umgang mit der Zeit, wann man Zuschauer wird, wann eine Aktion, die von anderen gesehen wird, Theater wird – also elementare Fragen –, aber auch der respektvolle Umgang miteinander, zum Beispiel beim Ältestenrat, wo jedem so lange zugehört wird, bis er geendet hat. Mich interessiert auch für die Zukunft ein weiteres Kennenlernen von Kulturen, die mir fremd sind, dort in den Austausch zu gehen und etwas zu lernen. Mir geht es grundsätzlich um ein lebenslanges Lernen. Bei den Blackfoot habe ich dazu sehr viel gelernt. HF _ Die Frage nach den Höhepunkten erzwingt geradezu die Frage nach Tiefpunkten. Gab es solche Situationen, wo du kurz davor warst, alles hinzuschmeißen, wo die Dinge nicht mehr so liefen, wie du wolltest?
SSch: Es gab natürlich Rückschläge, wenn zum Beispiel ein EU-Projekt nach sechs Wochen Arbeitszeit nicht bewilligt wurde. Manchmal war die Kommunikation mit anderen Theatern schwierig, weil die Sichtweise auf die Produktionsbedingungen unterschiedlich war. Wir hatten das Gefühl, dass im britischen Raum in diesem Feld ganz anders gedacht wurde, als wir das auf dem europäischen Festland gewohnt waren.
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Solche Reibungen sind dann natürlich bei einem großen europäischen Koproduktionsprojekt kontraproduktiv. Das kann schon an die Substanz gehen. Wenn man widersprüchliche Positionen hat, die man nicht auflösen kann, wird es schwierig. Wir haben dieses Projekt dann trotz der Schwierigkeiten mit dem schottischen und dem irischen Partner gut zu Ende gebracht. Einmal gab es eine Koproduktion mit einer estnischen Theatergruppe, die durch unser Kulturamt vermittelt worden war. Wir lernten uns aber erst während der Zusammenarbeit kennen und merkten, dass wir uns nicht verstanden. Nach einem heftigen Streit mit dem Regisseur, bei dem wir unsere Kooperation abbrechen wollten, konnten wir erst am nächsten Tag, nachdem wir die Nacht mit Wodka durchzecht hatten, eine Vereinbarung treffen, wie wir diese Aufführung trotz allem gemeinsam durchführen konnten. Insgesamt waren das aber immer nur kleine Rückschläge und haben das Ganze nie infrage gestellt. Ich wusste, dass ich mich bei solchen Kooperationen im richtigen Moment zurücknehmen musste, um das Projekt nicht zu gefährden.
HF _ Wenn ich deine Lebensgeschichte überblicke, hast du dich vom Ende deiner Schulzeit bis heute bzw. bis vor ein paar Jahren dem Theatermachen im umfassenden Sinne gewidmet. Kann man sagen, dass es dein Lebenswerk ist, das du da vollbracht hast? SSch _ Ich kann es nicht als ein Werk begreifen. Es ist auch nicht etwas, das man abschließen kann. In jeder Phase meines Schaffens gab es starke Momente, zum Beispiel wenn die Zuschauer wirklich berührt waren oder wenn ich besondere Menschen getroffen habe. Aber es waren immer Prozesse, die nicht aufhören, auch wenn sie bei mir im Moment nicht innerhalb des Theaterbetriebs ablaufen. Ich habe eine neue Sprache gelernt und finde das Bewegen in anderen kulturellen Lebensumständen sehr spannend. Das lebenslange Lernen spielt also weiter eine Rolle für mich. Eine Leitungsfunktion in einem gewissen Alter abzugeben ist für mich logisch, da sie so viel Anstrengung beinhaltet, dass man sich um seine eigene Entwicklung im künstlerischen und
persönlichen Bereich nicht mehr kümmern kann. Das Arbeitsvolumen nimmt leider auch mit einer gewissen Etablierung nicht ab. Die Finanzen an den kleinen Häusern sind weiterhin prekär und es geht zu viel Arbeitsleistung in diesen Bereich zulasten der Kunst. Leider wird die Förderung nicht erleichtert, sondern wir haben das Gefühl, dass sich die Antragstellungen in den letzten Jahren weiter verkompliziert haben. Dieser Job ist also schwierig. Wir stellen in der bundesdeutschen Szene fest, dass solche künstlerischen und administrativen Leitungsstellen, so sie denn ausgeschrieben werden, sehr schwer zu besetzen sind.
Für die heutige Generation sind derartige Arbeitsplatzbeschreibungen abschreckend, auch wenn es häufig ‚nur‘ um die Funktion der Geschäftsführung geht. Aber Leute, die die geforderten Qualitäten mitbringen, können woanders viel mehr Geld verdienen. Durch die Aufgabe meiner Funktion kann ich nun reflektieren, was mich zur Kunst gebracht hat und ob es nicht noch Ansätze gibt, die sich lohnen, weiter bearbeitet zu werden. Ich unternehme im Moment wieder neue Wanderjahre und interessiere mich für die Überlieferungen aus der Szene, in der ich mich immer bewegt habe.
HF _ Wenn du dir einen qualitativen Sprung vorstellen würdest, der für die gesamte Szene in der Anerkennung der Lebensleistung der Gründergeneration bestehen würde, wie könnte so etwas aussehen? Eine kulturpolitische Anerkennung, die deutlich macht, dass die Gesellschaft, für die ihr dieses Theater gemacht habt, diese Arbeit als Kernbestandteil ihrer gesellschaftlichen Kultur anerkennt?
SSch _ Ich habe mittlerweile die Visionen eines revolutionären Umbruchs des gesamten Theatersystems in Deutschland verloren. Früher hätte man gerne die Stadttheater abgerissen, um alles neu aufzubauen, mit einer ganz neuen Produktionsorganisation und -dynamik für die Kunst. Das wird nicht mehr passieren. Wir können aber mit unserem Erfahrungswissen als Gründer sehr gut an den Stellen beraten, an denen künstlerisch-strukturelle Prozesse ablaufen, wenn das vonseiten der Gesellschaft gewünscht wird. Wir können ebenso helfen, be-
stehende Strukturen sinnvoll zu nutzen. Man könnte also auf einen großen Erfahrungsschatz zugreifen. HF _ Das tut man aber nicht.
SSch _ Nein, das war schon immer so, dass politische und kulturpolitische Entscheidungen nicht auf der Grundlage langjähriger Erfahrung und vorhandenen umfangreichen Wissens getroffen werden. Man reagiert immer nur auf das Aktuelle und vermeidet nachhaltige, längerfristige Planungen. Dadurch gerät man auch sehr schnell in Vergessenheit. HF _ Und eine kulturpolitische Entscheidung, die besagen würde, dass man das Freie Theater, also die Zweite Säule, finanziell auf ein ähnlich hohes Niveau wie die Stadt- und Staatstheater bringen würde, wäre das ein wünschenswerter Ansatz, ein kulturpolitisches Ziel, für das man noch arbeiten, das man noch anstreben könnte? SSch _ Es würde nicht um Geld gehen. Es ist in den letzten Jahren mehr Geld in die Freie Szene geflossen, die Qualität ist dadurch aber nicht höher geworden.
Es würde mehr um Ausbildung gehen, wie kommen die Leute zur Kunst. Das würde beinhalten, die Geschichte des Freien Theaters und dessen Methoden der letzten 40 Jahre zu verinnerlichen. Als Nächstes müssten Prozesse ermöglicht werden, in denen geforscht werden kann, sich Künstler zusammensetzen und ihre Ideen ausprobieren, in denen sie ermutigt werden, auch weitergehende Visionen zu entwickeln. Dass also auch Prozesse begleitet werden, wie wir sie früher gemacht haben, nur unter besseren finanziellen Voraussetzungen. Es geht darum, dass diese kreativen Prozesse von einer Förderung begleitet werden. Förderung ist völlig neu zu definieren. Sie muss eine mögliche Gruppenentwicklung begleiten. Bitte keine Ausschreibungen, bei denen die Themen schon vorgegeben sind! Umgekehrt müssten Recherchen und Austauschsituationen gefördert werden, die von den Künstlern eingebracht werden. Mein rückblickendes Resümee ist in diesem Bereich, dass die NRW-Kunststiftung immer eine solche Förderpolitik hatte. Sie förderte die ‚schwierigen‘ Projekte, die nicht das große Prestige
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und die Öffentlichkeitswirksamkeit hatten, sondern bei denen es um bestimmte sensible Diskurse und internationalen Austausch ging, mit dem auch das Niveau der Kunst in NRW erhöht werden sollte. Diese Art von Begleitung, bei der wir auch in der Provinz Bielefeld wahrgenommen wurden, war für unsere Arbeiten im internationalen Feld elementar. Diese Art der Förderung sollte auf kommunaler, regionaler, Landes- und Bundesebene Einzug halten. HF _ Das würde wahrscheinlich mehr Geld benötigen, aber es ginge vor allem um eine andere Förderstruktur. SSch: Und um eine andere Denkweise: Misstrauen abbauen, das immer noch ein maßgeblicher Faktor der Gestaltung von Anträgen und Ausschreibungen ist.
HF _ Ich habe in den Gesprächen herausgefunden, dass Eugenio Barba aus der von ihm gegründeten Institution hinausgeworfen wurde, Grotowski hat seine Truppe aufgelöst und ihrem Schicksal überlassen, die Frage der Zukunft von Ariane Mnouchkine ist noch offen: Ich will damit sagen, die Gründergeneration kommt spätestens jetzt ins Rentenalter und es stellt sich die Frage, wie kann man den Übergang organisieren? Macht man es wie Denise, die sagt, One Yellow Rabbit wird es nicht mehr geben, oder Danièle, die dasselbe für die Compagnie du Hasard beschlossen hat? Kann man den Übergang überhaupt organisieren und wenn ja, wie? Was sind die Fehler, die man in dieser Situation machen kann?
SSch _ Grundsätzlich wird ja mehreres übergeben. Es ist nicht nur die künstlerische Hinterlassenschaft, die Theatergruppe, es ist ja auch die Spielstätte, das Festival, die soziokulturelle Arbeit. Diese verschiedenen Säulen können auch einzeln betrachtet werden. Der ‚Konzern‘ kann auch ‚zerschlagen‘ werden, weil diese Art der Institution, wie wir sie geschaffen haben, von einer neuen Generation so nicht betrieben werden kann und will. Man kann also einzelne Säulen herausnehmen, wie zum Beispiel das Festival oder die kulturelle Arbeit, und daraus eigene Subinstitutionen schaffen, die einfacher zu bewältigen sind. Viele der Strukturen sind mit den Protagonisten gewachsen, die sie aufgebaut haben. Sie sind in ihrer Struktur auf die
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jeweilige Person abgestimmt. Man muss also bei einer Übergabe zunächst analysieren, was überhaupt vorgefunden wird, worin (woraus) die Hinterlassenschaft besteht. Dann kann man vielleicht feststellen, dass es eine Marke gibt, die man lieber aufgibt, weil sie die künstlerische Aussage der Vergangenheit nicht mehr aufrechterhalten kann. HF _ Wie hast du deinen Übergang geregelt?
SSch _ Ich habe ihn nicht gut genug geregelt, obwohl ich mir in den letzten zehn Jahren meiner Leitung viele Gedanken darüber gemacht hatte und wir auch verschiedene Experimente in diese Richtung versucht haben, wie zum Beispiel auch ein zweites junges Ensemble parallel zu integrieren. Das ist uns nicht gelungen. Ich kann in diesem Feld nun gut andere beraten, weil ich selber gescheitert bin.
HF _ Ist es ein Thema der Übergabe der ‚Herzblutgeneration‘ an eine jüngere Generation, dass diese nicht mit dem identischen Herzblut herangeht – ohne jetzt damit sagen zu wollen, dass alle Jüngeren nur den Verwertungsaspekt sehen?
SSch _ Es geht nicht darum, die jüngere Generation zu diskreditieren, und auch nicht um einen Alleinvertretungsanspruch der Gründergeneration. Es geht vielmehr um die Frage, wie eine Zeitlang diese beiden Generationen nebeneinander und zusammenarbeiten können, sich austauschen und voneinander lernen. Das hat etwas mit Geld zu tun. Für solche Prozesse, in denen für eine Zeit parallele Strukturen existieren, braucht es finanzielle Flankierung. Die einen sollen nicht das Gefühl haben, hinausgeworfen zu werden, und die anderen sollen bereits sehr unabhängig agieren können. Das Dilemma besteht also darin, dass diese Prozesse nicht möglich sind, und so gibt es an vielen Häusern heftige Konflikte. HF _ Elisabeth Bohde hat auch berichtet, dass sie mehrere Versuche mit jungen Leuten unternommen haben, die jeweils darauf hinausliefen, dass die Jungen die Alten hinausdrängen und alles anders machen wollten.
SSch _ Der wichtigste Aspekt, der in diesem Zusammenhang beachtet werden sollte, ist der Aspekt der Macht. Wieso gelingt
es uns nicht, als Menschen, die ihr Leben lang revolutionären Gedanken nachgingen, im persönlichen Umgang mit anderen, damit anders umzugehen? Dieses Thema muss auch selbstreflexiv betrachtet werden. „Ich bin in einer bestimmten Position und übe diese Macht aus.“ Oder: „Ich möchte eine gewisse Macht erlangen!“ Es geht selten um künstlerische Auseinandersetzungen, sondern um unreflektiertes Machtstreben. Das bedeutet, dass Mediation eine sehr wichtige Rolle spielen kann – also eine neutrale Person zu benennen, die zunächst einmal die Macht zur Gestaltung der Prozesse bekommt. Vielleicht kann man dann solche Prozesse besser organisieren.
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Zeittafel der internationalen Arbeiten Siegmar Schröders/Theaterlabor Bielefeld Gastspiele, Workshops, Koproduktionen, Aktivitäten Theaterlabor Bielefeld/ Festivals in Bielefeld Siegmar Schröder auswärts .....................................................................................................................................................................................................................................
1976 Erster Clownworkshop mit Pippo (Giuseppe Ingala) .....................................................................................................................................................................................................................................
1979 Workshop mit Gaetano Cartolaro ..................................................................................................................................................................................................................................... 1980
Workshop mit Teatro Tawa, Italien
Dreimonatige Mitarbeit bei Gaetano Cartolaro im Kölner Theater die Bacchanten; Besuch des Münchner Theaterfestivals .....................................................................................................................................................................................................................................
1981 Gastspiel Teatro Nucleo, Italien ..................................................................................................................................................................................................................................... 1982
Ausbildung in Commedia dell’Arte in Venedig beim Teatro All’Avogaria; Mitarbeit beim Teatro Nucleo, Ferrara: Schauspieler bei der Straßentheaterproduktion Luci mit Tourneen in Deutschland und Süditalien, Koordination eines Site-SpecificProjekts mit Leo Bassi in Sant‘Arcangelo; Workshops von Eugenio Barba in Bologna und Stanislaw Scierski (Teatr Laboratorium) in Ferrara ..................................................................................................................................................................................................................................... 1983
Gründung des Theaterlabor Bielefeld zunächst an der Universität Bielefeld Workshop mit Teresa Nawrot (Schauspielerin bei Grotowski) ..................................................................................................................................................................................................................................... 1984
Theaterlabor, Absurdesque, 2008
Einladung zum Festival Carte d’Atlante des Teatro Avventura am Lago di Bracciano, Italien: Arbeitsdemonstration Frammenti in Trevignano und Straßentheaterparade in Anguillara; Workshop Paratheater in Brzezinka, Polen, bei Marek Musial
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1985
Workshop mit Walter Ybema (ehemals Dramaturg beim Einladung zum 1. Europäischen Reisenden Theaterfestival Odin Teatret); nach Blois, Frankreich, ausgerichtet von der Compagnie Anmietung eines ehemaligen Ballsaals als Proben- und du Hasard; Aufführungsraum; Workshop von Mike Pearson (Brith Gof, Wales) Gastspiel Teatro Nucleo, Italien, mit Sogno di una Cosa; Gastspiel Bekereke, Spanien, mit Eco; Mitorganisation und Teilnahme am Festival Spielzeit in Bielefeld: Gastspiel Teater Albatross, Schweden, mit Schwarze Blumen; Gastspiel Ludovico Muratori (Teatro Tascabile di Bergamo, Italien), Bharata Natyam und Der fromme Tanz sowie Workshop indischer Tanz; Gastspiel Teatr Osmego Dnia, Polen, mit Autodafé ..................................................................................................................................................................................................................................... 1986
Ausrichtung des 2. Europäischen Reisenden Theaterfestivals in Bielefeld mit Leo Bassi, Frankreich; Teatro Nucleo, Italien; Brith Gof, Wales; Teatro Tascabile, Italien; Teatr Osmego Dnia, Polen; Bekereke, Spanien; Teater Albatross, Schweden; La Otra Orilla; Theater Kohlenpott; Theaterassoziation Frankfurt, alle Deutschland; Gastspiel Yuyachkani (Peru) mit Los Musicos Ambulantes; Polnische Theaterwoche mit Gastspielen von Wiatyk, Teatr Provisorium und Teatr Blik ..................................................................................................................................................................................................................................... 1987
Gastspiel Teatro Nucleo, Italien, mit A media Luz; Einladung des Theaterlabors zum Waves-Theaterfestival Gastspiel Teatr Osmego Dnia, Polen; nach Kopenhagen, Dänemark, ausgerichtet vom Teatret Gastspiel Teatr Provisorium, Polen; Cantabile 2, mit der Produktion MiM; Workshop mit Robert Harvey (Roy Hart Theatre, Aufführung MiM im Teatro Communale, Bozen, Italien Frankreich) ..................................................................................................................................................................................................................................... 1988
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Wiedereröffnung des Theaterlabors nach Renovierung: Gastspiel Teatro Nucleo, Italien, mit Vocifer Azione; Koproduktion Hurra, hurra Germania mit Brith Gof, Wales, im Rahmen des europäischen Theaterzyklus The Disasters Of War
1989
Gastspiel Teatro en Vol, Italien; Gastspiel Teatro Cambaleo, Spanien ..................................................................................................................................................................................................................................... 1990
Gastspiel Cantabile 2, Dänemark, mit Kriegens Kinder
Reise nach Łódź, Polen: Aufführungen von Vaterland und Vorbereitung des Kooperationsprojekts Die Reise nach Delphi mit dem Teatr 77; Reise nach Budapest, Ungarn: Aufführung von Vaterland und Vorbereitung Die Reise nach Delphi mit dem Theater Arvisura ..................................................................................................................................................................................................................................... 1991
Gastspiel Tanztheater Alpha, Schweiz; Gastspiel Brith Gof, Wales
Tournee mit Tagvögel in Ungarn (Budapest, Székesfehérvár, Szolnok, Szeged); Teilnahme am Festival in Jelenia Góra, Polen, mit Tagvögel ..................................................................................................................................................................................................................................... 1992
Workshop mit Julian Vergas von Cuatrotablas, Peru; Aufführungen von Tagvögel in Dänemark: Louisiana Museum Gastspiel Cantabile 2, Dänemark; of Modern Art (bei Kopenhagen), Odense, Aalborg und Gastspiel Yuyachkani, Peru; Holstebro; Ausrichtung des Theaterfestivals 360° mit Yoshi Oida, Aufführung Tagvögel in Bratislava, Slowakei; Frankreich; Roberta Carreri (Odin Teatret, Dänemark); Aufführung Tagvögel in Tartu, Estland Kom Teatteri, Finnland; Brith Gof, Wales; Akademia Ruchu, Polen; Derevo, Deutschland; Cuatrotablas, Peru; Arvisura Szinhazi Trasag, Ungarn ..................................................................................................................................................................................................................................... 1993
Gastspiel Odin Teatret, Dänemark, mit Kaosmos; Gastspiel Living Theatre, USA, mit Rules of Civility and Decent Behavior; Wald, Site-Specific-Koproduktion mit Ruto Killakund, Estland ..................................................................................................................................................................................................................................... 1995
Koproduktion Die Frau in den Dünen mit Yoshi Oida, Frankreich; Gastspiel Cantabile 2, Dänemark, mit Exile ..................................................................................................................................................................................................................................... 1996
Workshop mit Ida Kelarowa, Slowakei
Einladung zum A Part-Festival nach Katowice, Polen, mit Barock
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1997– 1999
Theater im Park Open-Air-Festival in Kooperation mit dem Kulturamt Bielefeld ..................................................................................................................................................................................................................................... 1999
König Lear-Produktion mit Gastregisseur Mario Delgado Aufführung von Jules Vernes Welt in Chojnice, Polen (Cuatrotablas, Peru) ..................................................................................................................................................................................................................................... 2000
Übernahme der neuen Räume des Theaterlabors auf Aufführung von Jules Vernes Welt in Łódź, Polen dem Gelände Dürkopp Tor 6; Theaterfestival 360° und Internationale Schule für Theateranthropologie (ISTA) in Zusammenarbeit mit dem Odin Teatret, Dänemark; Aufführungen: Compagnie du Hasard, Frankreich; Gardzienice, Polen; Granhoj Dans, Dänemark; Augusto Omolú Ensemble, Brasilien; Dah Teatar, Serbien; Iben Nagel-Rasmussen, Odin Teatret, Dänemark; I Made Djimat Ensemble, Bali; Compangnie Jant-Bi, Senegal; Susanne Linke, Berlin; OdinTeatret, Dänemark; Kanichi Hanayagi und Ensemble, Japan; Teatro delle Albe, Italien; Raghunath Panigrahi und Ensemble, Indien; Teatrum Mundi Ensemble (Gemeinschaftsaufführung aller Beteiligten der ISTA) ..................................................................................................................................................................................................................................... 2001
Aufführung von Jules Vernes Welt auf dem A Part-Festival in Katowice, Polen ..................................................................................................................................................................................................................................... 2002
Aufführung von Jules Vernes Welt in Limburg, Niederlande; Die Auferstehung, Koproduktion mit Teater Albatross in Tokalynga, Schweden ..................................................................................................................................................................................................................................... 2003
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3. Internationales Theaterfestival 360° Gäste: Cantabile 2, Dänemark; Pan Pan, Irland; German Stage Service, Deutschland; Granhoj Dans, Dänemark; Mike Pearson, Wales; Peter Brötzmann, Deutschland; Odin Teatret, Dänemark; Susanne Linke/Urs Dietrich, Deutschland; T-Factory, Japan; Teater Albatross, Schweden; Teatr Cogitatur, Polen; Teatro Buendia,
Workshop Ismael Ivo/Siegmar Schröder in Berlin, 2006
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Theaterlabor, Airport, 2006
2003
Kuba; Theater Kohlenpott, Deutschland; Theater Kontrapunkt/Theaterlabor, Deutschland; Yoshi Oida, Frankreich; Ismael Ivo/Koffi Kokó, Deutschland; Gastspiel Leo Bassi, Spanien, mit La Vendetta; Workshop mit Mike Pearson, Wales; Aufführung: Die Auferstehung (Teater Albatross/ Theaterlabor) ..................................................................................................................................................................................................................................... 2004
Sources Research Innovation – mehrjähriges Aufführungen von Barock in Warschau und Kalisz, Polen; Rechercheprojekt mit dem Grotowski Institut, Wrocław, Workshop mit Ismael Ivo und Siegmar Schröder in Berlin und dem Tschechischen Theaterinstitut, Prag ..................................................................................................................................................................................................................................... 2005
4. Internationales Theaterfestival 360°; Jules Vernes Welt, Straßentheater in Kalisz und Jelenia Góra, Gäste: Compagnie Pal Frenak, Ungarn; Ister Teatar, Polen; Serbien; Natalka Polovynka, Ukraine; Fatima Miranda, Premiere von Body Fragments auf der Biennale Venedig, Spanien; Plavo Pozorište, Serbien; Teatr Zar, Polen; Italien Natalka Polovynka, Ukraine; Theatre Association Chorea, Polen; Krepsko; Lhotaková & Soukup; Farma v Jeskyni, alle Tschechien; Ismael Ivo; Susanne Linke/Amanda Miller; Helena Waldmann; Tanztheater Bielefeld; Theaterwerkstatt Bethel, alle Deutschland; Koproduktion Water Dances im Rahmen des Festivals: Petr Nikl, Tschechien, und Krepsko/Theaterlabor Bielefeld; Internationales Arbeitstreffen Sources – Sound – Sonority mit Plavo Pozorište, Serbien; Teatr Zar, Polen; Farma v Jeskyni, Tschechien; Fatima Miranda, Spanien; Natalka Polovynka, Ukraine; Ancient Orchestra, Polen ..................................................................................................................................................................................................................................... 2006
BodyVoice, Internationale Sommerakademie Teil 2 in Bielefeld mit Yoshi Oida, Frankreich; Ismael Ivo, Deutschland; Tage Larson, Odin Teatret, Dänemark; Koproduktion Double mit Ismael Ivo
Textil – ein geschichtsträchtiger Stoff, Koproduktion mit Centrum Kultury i Sztuki Kalisz in Opatów, Polen; BodyVoice, Internationale Sommerakademie Teil 1 in Wroclaw, Polen, mit Zygmunt Molik, Natalka Polovynka, Teatr Zar und Association Chorea; The Last Hours, Koproduktion von Farma v Jeskyni, Prag, Teatr Zar, Wroclaw, und Theaterlabor in der Fabrika, Prag; Aufführung von Body Fragments in Wrocław, Szczecin, Polen; Aufführung von Jules Vernes Welt in Warschau, Polen
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2007
Koproduktion Winterreise mit Yoshi Oida; Inszenierung Winterreise mit Yoshi Oida mit mexikanischen 5. Internationales Theaterfestival 360°, Gäste: Granhoj Sänger*innen in Monterrey, Mexiko, und Aufführung in Dans, Dänemark; Zid Theatre, Niederlande; Pal Frenak, Mexico-City; Ungarn; Teatr Cinema, Polen; Vojta Svejda & Aufführungen von Body Fragments auf dem Infant Festival Jan Kalivoda; Jiri Adámek; Krepsko, alle Tschechien; in Novi Sad und Belgrad, Serbien; a tonal-Theater, Avi Kaiser/Sergio Antonino; Aufführung Airport in Jelenia Góra, Polen Tchekpo Dance Company, Theaterwerkstatt Bethel, alle Deutschland; Gastspiele und Workshop des Teatro Action, Argentinien ..................................................................................................................................................................................................................................... 2008
6. Internationales Theaterfestival 360° zum Aufführungen von Airport in Warschau , Polen; 25-jährigen Jubiläum des Theaterlabors, Gäste: Auführungen von Absurdesque in Belgrad, Serbien; AGORA, Belgien, Avi Kaiser, Sergio Antonino und Rami Koproduktion Room of Miracles in Prag, Tschechien Fortis, Deutschland/Israel; Dah Teatar, Serbien; Fatima Miranda, Spanien; Granhoj Dans, Dänemark; Ivo Dimchev, Bulgarien; Krepsko, Tschechien; Plavo Pozorište, Serbien; Teatr Kana, Polen; Teatr A3 Kolekcjonerzy Wzruszeñ, Polen; Koproduktion Room of Miracles– mit Krepsko und Petr Nikl, Tschechien; Koproduktion Das Venuslabyrinth mit Cantabile 2, Dänemark, Teatr A Part, Polen; Koproduktion Bizarre Coincidence mit Plavo Pozorište, Serbien ..................................................................................................................................................................................................................................... 2009
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Ausrichtung des Festivalprojekts Das Fest von Bielefeld mit Plavo Pozorište, Serbien; AKHE, Russland; One Yellow Rabbit, Kanada; Ansamble Miraz, Serbien; KoME, Deutschland/Polen; Branco Simic, Eva Maria Gauss, Alexandra Kamp, alle Deutschland
Erste Kanadatournee mit Workshops und Auftritten mit Body Fragments in Calgary, Edmonton, Lethbridge, Montreal und Toronto, organisiert von Michael Green, One Yellow Rabbit, Calgary; Aufführung Absurdesque in Calgary; Einladung zum Waves-Festival nach Vordingborg, Dänemark, mit Jules Vernes Welt; Aufführungen Jules Vernes Welt in Plock, Polen; Einladung zum Infant-Festival in Novi Sad, Serbien, mit Absurdesque; Koproduktion Bizzare Coincidence mit Plavo Pozorište in Belgrad, Serbien; Einladung zum A Part-Festival in Katowice, Polen, mit Body Fragments
2010
Gastspiele Nanohach, Novogo Fronta, LaS Company, alle Tschechien; Gastspiel Teater Albatross, Schweden ..................................................................................................................................................................................................................................... 2011
Junge Triebe-Festival mit Workshops und Aufführungen Zweite Kanadatournee: Calgary, Edmonton, Lethbridge, u. a. mit Inner Fish, Kanada; Whitehorse mit Absurdesque, organisiert von Michael Clarke, Ausrichtung des Festivals Art@Home; Workshop West Theatre, Edmonton; Gäste: Divadlo Doma; Nanohach; Novoga Fronta, Einladung zum A Part-Festival nach Katowice, Polen, alle Tschechien; Kaiser Antonino Dance Ensemble; mit Absurdesque IP-Tanz; Vento e Corde, alle Deutschland; Produktion Hinter den Augen, Gastregie: Jenny Svärdsäter, Göteborg, Schweden ..................................................................................................................................................................................................................................... 2012
Kooperationsprojekt Doppelgängers (One Yellow Doppelgängers: Produktion Schlachtertango mit Andy Curtis Rabbit, Kanada/Theaterlabor) mit den Gastspielen (One Yellow Rabbit) in Calgary, Kanada, Regie: Siegmar von One Yellow Rabbit: Sign Language, A Body of Schröder, Michael Grunert; Work und Gilgamesh La-Z-Boy; Workshop zu Making Treaty Seven mit Blackfoot Nations in Produktion von Smash, Cut, Freeze mit dem Ensemble Banff, Kanada, im Rahmen von Calgary Culture Capital 2012; des Theaterlabors in Bielefeld, Regie: Denise Clarke Teilnahme am Sundance der Blackfoot Nations nahe (One Yellow Rabbit) Fort Mc Leod, Kanada ..................................................................................................................................................................................................................................... 2013
Koproduktion Stabat Mater mit Piazza Akram, Italien, Vento e Corde, Deutschland; Festival Alte Wurzeln – Junge Triebe zum 30-jährigen Jubiläum des Theaterlabors mit internationalen Gastspielen: Plavo Pozorište, Serbien; Trust Dance Theatre, Südkorea; Denise Clarke, Kanada; Cantabile2, Odin Teatret, Granhoj Dans, alle Dänemark; Branco Simić; Paradeiser Productions; Zinola/Gonzales; urban reflects; bodytalk; Andy Zondag/Unusual Symptoms, alle Deutschland
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2014
Koproduktion Missing People – Die Macht der Aufführungen Missing People – Die Macht der Erinnerung in Erinnerung mit dem DAH Teatar, Serbien; Belgrad, Serbien; Im Dschungel der Geschichte – Europäische TheaterGastspiel beim Tokalynga-Festival des Teater Albatross, reise Workshop-Seminar aller Beteiligten; Schweden mit einer Preview von Seance; Aufführung der Koproduktion Requiem; Erarbeitung und Aufführung der Koproduktion Requiem mit Workshop mit Margaret Pikes, Roy Hart Theatre, Plavo Pozorište in Belgrad, Serbien Frankreich ..................................................................................................................................................................................................................................... 2015
Im Dschungel der Geschichte – Eine europäische Aufführung Séance beim International Theatre Laboratory Theaterreise Meeting in Falmouth, Cornwall, Großbritannien; Workshop mit dem Leith Theatre, Schottland; Aufführung Séance beim A Part-Theaterfestival in Katowice, Abschlussfestival, Ausstellung und Symposium; Polen; Aufführungen: Requiem (Plavo Pozorište/TheaterIm Rahmen des Projekts Im Dschungel der Geschichte – labor); Künstlerspiele (Teatr A Part); N. N. (Leith Eine europäische Theaterreise: Koproduktion mit Teatr A Part Theatre/Theaterlabor); In the Jungle of History. Varieté unter dem Titel In the Jungle of History. Varieté. Proben und (Teatr A Part/Theaterlabor); Workshop-Performance Aufführungen in Katowice, Polen; Association Arsène, Frankreich; Arbeitsaufenthalt im Elsass, landschaftliche Erkundungen Workshops, Vorträge, Austausch mit Camouflage mit Association Arsène, Frankreich ..................................................................................................................................................................................................................................... 2016
Internationales Kooperationsprojekt Krise Trauma Teilnahme am Festival Transgression in Belgrad, Serbien Hoffnung: Vorführung Dokumentarfilm Frontier Church des lettischen Filmemachers Egons Upitis ..................................................................................................................................................................................................................................... 2017
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Hikkikomori Binationales Theaterprojekt der Theaterlabor-Jugendgrupppe mit dem Studio de Bakkerij, Rotterdam, Niederlande; Internationales Projekt Krise, Trauma, Hoffnung; Gastspiele in Bielefeld: How far, Antigone? mit Smashing Times Theatre Dublin, Irland; No more Masterpieces mit Plavo Pozorište, Belgrad, Serbien; Anton Romanow, Ukraine; Georg Genoux, Berlin/Kiew; Nicole Nagel, Köln; Zee Upitis, London/Riga; Kultura Medialna, Ukraine; Divided Together: Videowalk – Work-in-Progress, Koproduktion mit Zee Upitis, Lettland
Simultanaufführungen Hikkikomori in Rotterdam; Workshops Krise, Trauma, Hoffnung in Dnjepropetrowsk, Ukraine, und Edinburgh, Schottland; Choreografie für sechs Stimmen auf dem Festival Jamel rockt den Förster im Rahmen des Projekts Krise, Trauma, Hoffnung; Aufführungen auf dem A Part-Festival in Katowice, Polen: No. 2 und In the Jungle of History. Varieté; Einladung nach Dnjepropetrowsk, Ukraine, mit Séance
2018
Arbeitstreffen des Europäischen Koproduktionsprojekts Café Europa in Edinburgh, Schottland; Teilnahme an einem Erasmusprojekt über inklusive Theaterpädagogik bei Plavo Pozorište in Belgrad, Serbien; Erste Aufführung im Rahmen von Café Europa: The Last Days of Mankind in Edinburgh mit Leith Theatre, Schottland; The Tiger Lillies, Großbritannien; Association Arsene, Frankreich; Teatr A Part, Polen; Plavo Pozorište; Serbien, und Schauspieler*innen aus der Ukraine; Teilnahme am Construction-Festival in Dnjepropetrowsk, Ukraine – Workshops, Proben, Filmaufnahmen ..................................................................................................................................................................................................................................... 2019
Mauerspringer-Festival in Bielefeld; Gäste: Compagnie du Hasard, Frankreich; Teatro Due Mondi, Italien; Hortzmuga Teatroa, Spanien; Aufführungen The Last Days of Mankind; Übergabe der Leitung an das Team vom Theaterlabor
Teilnahme am Europäischen Kooperationsprojekt Mauerspringer, durchgeführt vom Teatro Due Mondi, Faenza, Italien: Teilnahme am Festival/Projektplanung in Feings, Frankreich; Aufführungen der Straßenproduktion Moving On in Bilbao, Spanien, und Faenza, Italien; Aufführung The Last Days of Mankind in Katowice, Polen (A Part-Festival); Gastspiel Paul in Katowice, Polen .....................................................................................................................................................................................................................................
2022 Aufführung Paul auf dem Tokalynga Flying-Festival, Schweden ..................................................................................................................................................................................................................................... 2023
Präsentation und Workshop auf dem Easter Theatrefestival Blantyre, Malawi ..................................................................................................................................................................................................................................... 2024
Aufführung von Work in Progress, Easter Theatre Festival, Blantyre, Malawi, und Kooperation mit Compagnie du Hasard, Frankreich
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Theaterlabor/Ismael Ivo, Double, 2006
Personenregister Fritz Achelpöhler
Er studiert erst Geschichte und Philologie in Freiburg im Breisgau und Göttingen, dann Sozialwissenschaften in Bielefeld. Zunächst Gymnasiallehrer in Bielefeld, von 1988–2001 leitet er das Gymnasium am Waldhof. Lange Jahre ist Achelpöhler ehrenamtlich in der Evangelischen Kirche und kommunalpolitisch in der Bezirksvertretung und im Rat tätig. Er veröffentlicht Beiträge zu schul- und kirchengeschichtlichen Themen, zuletzt das Buch König – Kirche – Ravensberg über die Errichtung der autoritären Monarchie Friedrich Wilhelms III. im preußischen Staat und in der evangelischen Kirche. Eugenio Barba
In Süditalien geboren wandert er 1954 nach Norwegen aus, studiert ab 1961 in Warschau Regie, schließt sich aber ein Jahr später Jerzy Grotowskis Teatr Laboratorium in Opole/Wroclaw an. 1964 kehrt er nach Oslo zurück und gründet das Odin Teatret. Nach der ersten Produktion Ornitofilene mit Aufführungen in ganz Skandinavien wird das Odin von der dänischen Gemeinde Holstebro eingeladen, dort ein Theaterlabor einzurichten. Barba inszeniert mit dem Odin Teatret und dem interkulturellen Ensemble Theatrum Mundi 81 Produktionen. 1979 gründet Barba die Internationale Schule für Theateranthropologie (ISTA) und damit diesen neuen Studienbereich Theateranthropologie. Seine Veröffentlichungen, wie The Paper Canoe oder On Dramaturgy and Directing. Burning the House, werden in viele Sprachen übersetzt. Er ist Ehrendoktor u. a. der Universitäten von Århus, Bologna, Havanna, Warschau, Buenos Aires und Shanghai und erhält Auszeichnungen, wie den dänischen Akademiepreis, den internationalen Pirandello-Preis und den Thalia-Preis des Internationalen Verbands der Theaterkritiker.
Leo Bassi
Der Komiker und Zirkusartist ist für seine Soloauftritte, Theaterperformances und sein politisches Engagement bekannt. Er entstammt einer italienisch-französisch-englischen Artistenfamilie mit über 130 Jahren Zirkustradition. Auch Leo Bassi erlernt die Zirkuskunst, wählt aber das freie provokative Arbeiten: Er positioniert sich gegen Kommerz und Konventionen und arbeitet mit legalen und illegalen Mitteln. So ‚interagiert‘ er mit der US Airforce, dem deutschen Zivilschutz, der schweizerischen Feuerwehr, den Bürgermeistern von Taschkent und Montreal. Er realisiert eine Zirkusshow mit 22 schweren Baggern in Barcelona und tritt in Rio de Janeiro mit der größten aufblasbaren Ente der Welt auf (20 m Umfang). In der Gummientenkirche in Madrid vollzieht er religiöse Riten zu Ehren des Plastikentengottes. Duccio Bellugi-Vannuccini
Der italienisch-französische Schauspieler und Regisseur studiert Bewegungskunst bei Jacques Lecoq, Etienne Decroux und Pina Bausch. Er absolviert die Internationale Schule für Pantomime Marcel Marceau und wird 1987 Mitglied des Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine. Seitdem wirkt er in allen Stücken und Filmen der Companie mit. Zudem spielt er unter der Regie von Irina Brook, Robert Lepage und Richard Nelson sowie in Filmen u. a. mit Isabelle Huppert, Virginie Efira und Mathieu Amalric. Er führt selbst Regie bei den Dokumentarfilmen Un Soleil à Kaboul und Au Bord de la Guerre sowie bei mehreren Kurzfilmen. Seit 2008 pflegt er eine künstlerische Zusammenarbeit mit Maria Grazia Agricola von der Choros Association Turin und seit 2022 ist er Co-Direktor der Theaterschule Association de Recherche des Traditions del’Acteur (ARTA) an der Cartoucherie de Vincennes in Paris.
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Elisabeth Bohde
Die Flensburgerin arbeitet nach ihrem Schauspiel- und Tanzstudium an der Université d’Aix en Provence und in Paris als zunächst freischaffende Theaterpädagogin. 1983 gründet sie in Flensburg die Theaterwerkstatt Pilkentafel, wo sie als Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und als Mentorin für junge Freie Theatergruppen wirkt. Gemeinsam mit Torsten Schütte baut sie dort ab 1998 eine eigene Spielstätte auf, die 2013 zu einem demokratischen Produktionshaus transformiert wird. Bohde arbeitet auch als Hörspielregisseurin für den NDR und als Gastregisseurin beim Theater Wrede und 3 Hasen oben. Sie ist im Vorstand des Bundesverband Freie Darstellende Künste e. V. (BFDK) und engagiert sich im Landesverband freie darstellende Künste Schleswig-Holstein E. V. (fdk_sh) und im flausen+-Bundesnetzwerk, bei dem sie auch Jurymitglied ist. 2009 erhält Bohde den Kulturpreis der Stadt Flensburg, 2017 den ASSITEJ Preis und 2019 den Theaterpreis des Bundes – alles gemeinsam mit Torsten Schütte. Denise Clarke
Die kanadische Choreografin, Schauspielerin, Regisseurin, Dramatikerin und Lehrerin ist festes Mitglied des One Yellow Rabbit (OYR) Theaterensemble. 1997–2019 konzipiert und leitet sie das OYR Summer Lab Intensive und leitet heute das OYR BeautifulYoungArtist-Programm. Clarke arbeitet als freischaffende Choreografin und Regisseurin u. a. für das Theatre Calgary, die Opernhäuser von Vancouver und Calgary und das Shaw-Festival. 2019 erscheint The Big Secret Book. An Intense Guide To Creating Performance Theatre. Sie erhält zahlreiche Auszeichnungen, darunter lokale Theaterpreise in Calgary, Edmonton und Toronto. Mit dem OYR-Ensemble wird sie mit dem Alberta Lieutenant Governor General Distinguished Artist Award und dem Calgary Mayor’s Distinguished Artist Award ausgezeichnet. 2013 wird sie Ehrendoktorin der University of Calgary und Mitglied des Order of Canada.
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Nenad Čolić
Der Belgrader Theaterregisseur, Pädagoge und Schauspieler ist zunächst einer der Gründer des Signum Theaters und danach Schauspieler im Dah Teatar. Er sammelt Erfahrungen in der praktischen Arbeit mit dem Schauspieler Torgeir Wethal vom Odin Teatret und arbeitet in Mailand mit dem italienischen Regisseur Massimo Giannetti, dem Gründer des Teatro Specchi e Memorie. 1995 gründete Čolić Plavo Pozorište (Das blaue Theater) – ein Theaterlabor, mit dem er bisher fast 30 Aufführungen erarbeitet hat, die auf zahlreichen Theaterfestivals im In- und Ausland gezeigt werden. Als Pädagoge leitet er zahlreiche Bildungsprojekte von Plavo Pozorište mit Teilnehmer*innen aus der ganzen Welt, darunter auch inklusive Theaterprojekte. Horacio Czertok
Der argentinische Regisseur, Dramatiker und Schauspieler leitet ab 1969 die Experimental Theatre Group in Comodoro Rivadavia und ist Schauspieler bei der Comuna Baires. Als nach dem Militärputsch 1976 die meisten Mitglieder aus Argentinien fliehen, gründet Czertok zusammen mit Cora Herrendorf in Buenos Aires die Comuna Nucleo. 1978 flieht auch er vor der Militärjunta und schafft im italienischen Ferrara im Gebäude der Psychiatrie einen neuen Sitz für das Teatro Nucleo. Mit dem Theater wirkt er an der Initiative mit, die schließlich zur Abschaffung der ‚Irrenhäuser‘ in Italien führt. Bis 2012 arbeitet er am Universitätsklinikum Emilia Romagna, Studiengang für psychiatrische Rehabilitation, und leitet Theaterprojekte zur psychischen Gesundheit. Er ist Gründer des Zusammenschlusses Teatro Carcere, koordiniert europäische Projekte und ist Botschafter der Elektronischen Plattform für Erwachsenenbildung in Europa (EPALE) und Autor des Buches Teatro in esilio.
Nullo Facchini
Der Gründer des Teatret Cantabile 2 (1983) und Leiter des Ensembles bis 2022 kreiert und leitet insgesamt über 90 Produktionen mit der Gruppe. Außerdem gründet er 1988 die dänische School of Stage Arts, eine der wichtigsten Alternativen zur institutionellen, klassischen Theaterausbildung in Dänemark. Nach Ende seiner Zusammenarbeit mit Cantabile 2 gründet Facchini TanTou, ein Freies, nicht-institutionelles Ensemble. Nullo Facchini gewinnt mehrere Preise, u. a. den Kjeld-Abell-Preis der Dänischen Akademie für seine Arbeit mit alternativen Theaterdramaturgien und 2018 den dänischen Reumert-Preis für die Aufführung des Jahres für die Performance Hidden number von Cantabile 2. Außerdem wurde er 2020 beim Cairo International Festival of Experimental Theatre ausgezeichnet. 2023 erhält er den Wilhelm-Hansen-Preis für seine künstlerische Karriere in Dänemark. Henning Fu ̈lle
Studium der Geschichte, Politik und Pädagogik in Marburg, Lehrerausbildung in Westberlin. Nach jahrelanger Berufspraxis als Erwachsenenbildner und Funktionär der grünnahen politischen Stiftungen in Hamburg und auf Bundesebene wechselt er den Berufsweg und wird Regieassistent bei Jo Fabian Dept. in Berlin. Von 1997–2001 arbeitet er als Dramaturg auf Kampnagel in Hamburg und anschließend als freier Dramaturg. Seit 2007 übernimmt er Gastprofessuren und Lehraufträge für Dramaturgie und Theatergeschichte an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG), der Universität Hildesheim und an der Universität der Künste (UdK) in Berlin. 2015 wird er mit der Arbeit Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960–2010) an der Universität Hildesheim zum Dr. phil. promoviert. Er arbeitet im Verein Inititative für die Archive der Freien Darstellenden Künste mit und schreibt an seiner Habilitation über Differenzspuren zum staatstragenden Theater in der DDR.
Angelika Göken (ab 1990 Göken-Schröder, 1959–2003)
Sie war Diplompädagogin, Schauspielerin und Dramaturgin sowie Mitbegründerin des Theaterlabor Bielefeld. Dort wirkte sie über 20 Jahre bis zu ihrem Tod 2013 in allen Projekten, Festivals und internationalen Tourneen mit. Ihre besondere Nähe zur Lyrik und bildenden Kunst beeinflusste viele Produktionen des Theaterlabors; als Regisseurin erarbeitete sie mit Reisen in Nördliche Gärten eine Produktion inspiriert von der Poesie Rolf Dieter Brinkmanns. Richard Gough
Der künstlerische Leiter des Centre for Performance Research (CPR) und Professor für Musik und Performance an der University of South Wales, Cardiff, widmet sich seit 50 Jahren der Entwicklung und Erforschung interdisziplinärer, experimenteller Performancearbeit. Er kuratiert und organisiert zahlreiche internationale Theaterprojekte, wie Konferenzen, Sommerschulen und Workshopfestivals, und produziert Tourneen von experimentellem Theater und traditionellen Tanz-/Theaterensembles aus aller Welt. Bei mehr als 70 Produktionen führt Gough Regie, er hält Vorträge und leitet Workshops in Europa, China, Japan, den USA, Kolumbien und Brasilien. Er ist Gründungspräsident (1997–2001) von Performance Studies international (PSi), Chefredakteur und Mitbegründer von Performance Research. The Journal of Performance Arts und Herausgeber und Redakteur von Performance Research Books.
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Michael Grunert
Michael Grunert absolviert von 1979–1983 in Köln seine Ausbildung zum Schauspieler im Theater Die Bacchanten unter der Leitung von Gaetano Cartolaro. Seit 1986 ist er Mitglied des Theaterlabor Bielefeld und seitdem an nahezu allen Projekten und Produktionen des Ensembles als Schauspieler beteiligt. Seit 2005 kommen Regiearbeiten hinzu. Tourneen führen ihn mit dem Team durch Deutschland, ins europäische Ausland und nach Kanada. Mit dem Solostück SchlachterTango – ein Doku-Drama ist er seit 2010 unterwegs. Außerdem arbeitet Grunert in der Theaterpädagogik und in der Ausbildung des künstlerischen Nachwuchses. Linnea Happonen
Die Theatermacherin ist künstlerische Leiterin der 2001 in Prag gegründeten Theatergruppe Krepsko. Ihre Performances sind meist nicht textbasiert, sondern betonen das Visuelle von Ausdruck und Atmosphäre, von winzigen Solos bis hin zu Kabaretts mit 20 Performer*innen. Zahlreiche ortsspezifische Projekte von Happonen werden in Bäumen, Zoos, Brunnen und verlassenen Gärten aufgeführt. Ihre Performances sind weltweit in über 30 Ländern getourt. Sie gibt international zahlreiche Workshops und ist noch immer auf der beständigen Suche nach der Magie des Theaters.
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Marcin Herich
Der polnische Theaterkünstler, Regisseur, Choreograf, Philologe und Theaterpädagoge ist zunächst Mitglied des Teatr Cogitatur. 2004 gründet er das Teatr A Part in Katowice, mit dem er bis heute fast 30 Produktionen realisiert. Er arbeitet mit dem Theaterlabor Bielefeld, dem dänischen Theater Cantabile 2, dem polnischen Banialuka-Puppentheater, der Band The Tiger Lillies u. v. a. zusammen, ist Schöpfer von bühnenund ortsspezifischen Aufführungen und Aufführungen im Freien. Die Performances werden in bisher über 30 Ländern auf fünf Kontinenten aufgeführt. Herich ist Gründer und künstlerischer Leiter des Internationalen Festivals für Darstellende Künste A Part, das seit 1994 in Katowice stattfindet. Er ist Autor zahlreicher Texte über Geschichte und Theorie der darstellenden Künste und Gründer und Leiter des Schauspielstudios Teatr A Part. Heiki Ikkola
Studiert an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin Puppenspielkunst und arbeitet dort als Gastdozent. Als Puppenspieler, Regisseur, Schauspieler und Autor ist er freischaffend tätig und erlebt produktive Begegnungen in gemeinsamen Arbeiten und Weiterbildungen u. a. mit Mitgliedern des Odin Teatret, dem russisch-deutschen Tanztheater Derevo u. v. a. An der Seite von Helmut Raeder ist Ikkola für das Programm des Schaubuden-Sommers in Dresden verantwortlich. Nach einem Intermezzo als Künstlerischer Leiter des Puppentheaters Dresden 2001–2005 gründet er 2006 mit Sabine Köhler die freie Compagnie Freaks und Fremde, die sich vor allem dem Objekt- und Puppentheater verschreibt, und unternimmt damit weltweit Theater- und Recherchereisen. Seit Mai 2020 ist er Geschäftsführer und Künstlerischer Leiter des Societaetstheaters Dresden.
Robert Jakobsson
1976 gründet er sein erstes ‚eigenes‘ Theater Eldteatern und ist dann Schauspieler am Teatro Nucleo, Ferrara. 1984 gründet er mit Nadia Scapoli das Teater Albatross in Stockholm und 1988/89 die Tokalynga Theatre Academy in Halland. Er schreibt Texte, entwickelt Stoffe, spielt, führt Regie und unterrichtet. Er geht stets viel und gern international auf Tourneen. Ende der Neunzigerjahre beginnt Jakobsson, parallel zu körperlich-expressivem Theater auch Erzähltheater zu machen. Er arbeitet zudem in der bildenden Kunst mit Assemblagen und im Bereich Film. Er organisiert Seminare, Festivals und Workshops, hauptsächlich in Tokalynga, aber auch z. B. in Yaoundè, Kamerun. Parallel zur Theaterarbeit forscht und reist er – nach Osteuropa, in die USA, die DR Kongo, nach Russland, Kamerun und Armenien. Er widmet sich u. a. ökologischen und Naturthemen sowie dem Holocaust, osteuropäisch-jüdischer Geschichte, der Russischen Revolution, dem Kolonialismus in Afrika und dem Raubbau in Westafrika. Michel Jaquelin
Nach seinem Staatsexamen in Kunst und dem Diplom in Fotografie wirkt er als bildender Künstler und Fotograf für Theater und Tanz (u. a. für A. Vitez, T. Kantor, P. Bausch, C. Régy, W. Forsythe) und arbeitet für Zeitschriften wie Théâtre/Public, La Revue du Théâtre, Mouvement. Mit Bühnenbild befasst er sich seit 1992. Ab 1993 schafft er in Zusammenarbeit mit seiner ‚Komplizin‘ Odile Darbelley eigene Aufführungen und Performances und gründet mit ihr die Association Arsène, die in Wolxheim (Elsass) mit dem Maison Carré auch einen Residenzort mit kleiner Spielstätte betreibt. Unter dem Namen L’Art Tangent veranstaltet das Kreativteam Performances und Happenings und veröffentlicht ein Buch. Neben Aufführungen in Frankreich u. a. auf dem Festival in Avignon werden sie auch auf das Undergroundzero-Festival in New York eingeladen.
Andreas Kimpel
Der gebürtige Bielefelder ist 1989–1995 Abteilungsleiter im Kulturamt der Stadt Bielefeld. Dann übernimmt Kimpel im Auftrag des Landes NRW bis 2001 die Leitung des regionalen Kulturbüros OWL (Ostwestfalen-Lippe); hier koordiniert er u. a. das „Handlungsfeld Kultur“ im Rahmen der EXPO Initiative OWL (1. Regionale-NRW). Anschließend wird er Leiter des Kulturamts der Stadt Bielefeld, bis er 2005 als Beigeordneter der Stadt für Kultur und Weiterbildung nach Gütersloh wechselt. Von 2018–2022 ist er Vorsitzender des Kultursekretariats NRW – Sitz Gütersloh. 2019 wird Andreas Kimpel Stellvertretender Vorsitzender im Kulturausschuss des Städtetages NRW und Mitglied im Kulturausschuss des Deutschen Städtetages. Dariusz Kosiński
Die polnische Theater- und Aufführungstradition steht im Mittelpunkt der Forschung des Professors für polnische Sprache und Literatur (Universität Krakau), insbesondere das Werk und die Ideen von Jerzy Grotowski. Kosiński ist Autor einer Biografie und zweier Monografien über den Künstler. Von 2010–2013 ist Kosiński Programmdirektor des Jerzy Grotowski Instituts in Wroclaw, zudem Mitherausgeber der Grotowski-Gesamtausgabe und Initiator des Portals grotowski.pl. Kosiński gründet und leitet Forschungsprojekte über die Theateravantgarde Mittel- und Osteuropas. Er ist Vizepräsident der Polnischen Gesellschaft für Theaterforschung (2013–2016), im Programmrat des Instituts für Musik und Tanz (2013–2017), Chefredakteur der Online-Enzyklopädie des polnischen Theaters und Autor von Polnisches Theater. Eine Geschichte in Szenen.
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Danièle Marty Peskine
Zusammen mit ihrem Mann, dem Autor und Regisseur Nicolas Peskine, gründet die Schauspielerin 1977 in Blois die Compagnie du Hasard. Nach Peskines Tod 2001 übernimmt Marty deren Leitung. In deren Produktionen ist sie u. a. zu erleben in La Cave (über 100 Mal gespielt, derzeit auf Tournee), Figaro (uraufgeführt in Burkina-Faso, gespielt in Westafrika und Europa) und aktuell in Antigone vs Créonne und La Dame à la Capuche. Danièle Marty führt zudem für die Compagnie du Hasard Regie. Marty scheut weder Zeit noch Energie, um Mittel für Projekte zu beschaffen, so 2023 für das Festival Vite, au théâtre! oder für die Antigone-Produktion, die mit den Mittelschulen und Gymnasien von Blois erarbeitet wird. McArthur Matukuta
Der studierte Mediziner ist Gründer und seit 25 Jahren geschäftsführender und künstlerischer Leiter des Solomonic Peacocks Theatre, Malawi. Zudem leitet er das Easter Theatre Festival in Blantyre. und arbeitet mehrere Jahre als Koordinator des Blantyre Arts Festival. Für die Bühne arbeitet McArthur als Schauspieler und auch als Regisseur. Er hat bisher in über 100 Stücken mitgewirkt und bei ca. 70 Produktionen Regie geführt. Ziel des Experten für Theater in der Entwicklungsarbeit ist, die kreativen Künste als Wirtschaftszweig in Malawi zu etablieren und so Künstler*innen eine realistische Zukunft in der Branche zu ermöglichen. Zu diesem Thema wird Matukuta regelmäßig auf nationaler und internationaler Ebene konsultiert. Er ist Berater beim Jacaranda Cultural Centre und Schirmherr der Initiative Women in Theatre Malawi.
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Rolf Michenfelder
Ist das letzte aktive Gründungsmitglied des Theater neben dem Turm (TNT) in Marburg, wo der Regisseur, Autor, Schauspieler und Performer neben TNT-Aufführungen Solo- und freie Produktionen realisiert. Erste zufällige Theatererfahrungen macht er 1976. 1979–1982 tourt er mit dem Straßentheater Theater Mas o Menos in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz. Nach einem Projekt bei Teatro Potlach (Italien) ist er 1983 Gründungsmitglied der Marburger Theaterwerkstatt (heute TNT). Michenfelder steht für politisches Autorentheater; seit vielen Jahren experimentiert er mit erweiterten Theaterformen auch für den öffentlichen Raum und seit 1992 an theaterfremden Orten (site-specific work). Er entwickelt Audiowalks und integriert Expert*innen des Alltags in seine Stücke. Dijana Milošević
Die Theaterregisseurin, Aktivistin, Autorin und Dozentin ist Mitbegründerin des DAH Teatar Research Center, Belgrad und seit über 30 Jahren dessen leitende Regisseurin. Auch bei anderen Compagnien auf der ganzen Welt führt sie Regie. Sie ist künstlerische Leiterin von Theaterfestivals, Vorsitzende des Verbands der unabhängigen Theater in Serbien sowie kulturpolitisch tätig. Milošević ist an friedensfördernden Initiativen beteiligt und arbeitet mit feministisch-aktivistischen Gruppen zusammen, außerdem ist sie Vorstandsmitglied bei IMPACT, einem Netzwerk für Kunst und Konflikttransformation. Milošević lehrt an renommierten Universitäten, schreibt Artikel und Essays über Theater. Sie ist Empfängerin angesehener Stipendien und Preise (u. a. Fulbright, Arts Link, Helena Vaz de Silva).
Teresa Nawrot
Die polnische Schauspielerin studiert an der AleksanderZelwerowicz-Theaterakademie Warschau. Ab 1971 ist sie im von Jerzy Grotowski gegründeten Teatr Laboratorium Schauspielerin und Grotowskis Assistentin bei seinen paratheatralischen Aktivitäten. Ab 1975 tritt sie auch am Teatr Współczesny (Zeitgenössisches Theater) in Breslau und am Stara Prochownia (Altes-Pulverturm-Theater) in Warschau auf. Nach der Schließung des Teatr Laboratorium 1982 durch Grotowski wirkt sie als freischaffende Film- und Theaterschauspielerin und hält Vorlesungen über die Grotowski-Methode in den Vereinigten Staaten, Südamerika, Australien, Ägypten und Westeuropa. 1983 gründet sie in Berlin die Schauspielschule NawrotReduta (ab 1995 Reduta Berlin); der Name leitet sich vom Warschauer Avantgardetheater Reduta Theater ab. Seit 2020 heißt sie Akademie für Schauspiel Reduta Berlin. Nawrot hat die Gesamtleitung inne und unterrichtet Grotowski-Technik und Schauspieltechnik. Yoshi Oida
Der japanischer Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller ist zunächst in Japan durch Fernsehen, Kino und zeitgenössisches Theater bekannt. 1968 geht er nach Frankreich und arbeitet mit Peter Brook. 1970 tritt er in das von Peter Brook gegründete Centre international de recherche théâtrale (CIRT) ein und wirkt an den berühmten Aufführungen am Théâtre des Bouffes du Nord mit (u. a. La Conférence des oiseaux, Le Mahabharata, La Tempête, L’homme qui). Er spielt in Filmen von Peter Greenaway oder Martin Scorsese. Oida schreibt theoretische Werke über das Theater, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden: L’Acteur flottant, L’Acteur invisible und L’Acteur rusé. Ab 1975 inszeniert Yoshi Oida auch selbst Theater, Opern und Tanz (u. a. Fin de partie, Les Bonnes, Nabucco, Don Giovanni).
Mike Pearson
Der Hochschulprofessor, Theaterregisseur und Autor war Vorreiter des experimentellen Theaters im Großbritannien der 1970er und 1980er Jahre und der Entwicklung der ortsspezifischen Performance als eigenständiger künstlerischer Form. Pearson war 1973 Mitbegründer des Cardiff Laboratory Theatre. 1981 gründete er Brith Gof, mit der er Aufführungen an außergewöhnlichen Orten inszenierte, wie in einer stillgelegten Rover-Fabrik, auf einer Werft oder in Bahnhöfen. 1999 wurde Pearson Professor für Performance Studies an der Aberystwyth University. Er schrieb mehrere Bücher, u. a. Site-Specific Performance oder Marking Time: Performance, Archaeology and the City. 2014 zog er sich aus Aberystwyth zurück und gründete in Cardiff Good News from the Future, eine Physical Theatre Company für Menschen über 60. Er verstarb 2022 im Alter von 72 Jahren. Margaret Pikes
Margaret Pikes zählt zu den Gründungsmitgliedern des Roy Hart Theatre. An den meisten der frühen Produktionen der Gruppe beteiligt, arbeitet Margaret nun frei als professionelle Sängerin in vielen Genres, darunter experimentelle Musik, Jazz und französischem Chanson. Viele Jahre lang singt sie als Solistin den Canto General (Pablo Neruda/Mikis Theodorakis). Sie lebt sechs Jahre lang in Togo (Westafrika) und singt regelmäßig mit dem Jazz-Trio Anima. Seit mehr als 50 Jahren ist Margaret Pikes international als Gesangslehrerin tätig. Sie lebt heute in Köln und Montagnac (Frankreich) und gibt Einzelunterricht und leitet Workshops. Ihr Buch Owning our Voices: Vocal Discovery in the Wolfsohn/Hart Tradition, geschrieben mit Dr. Patrick Campbell, wird 2021 von Routledge veröffentlicht.
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Tilman Rhode-Jüchtern
Der gebürtige Bielefelder studiert u. a. Geografie auf Lehramt, wird nach dem 1. Staatsexamen zum Thema „Geografie und Planung“ promoviert und hat während seines Referendariats in Bremen Lehraufträge an den Universitäten Marburg, Kassel und Osnabrück. Von 1977–1999 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld (Oberstufenkolleg, Staatliche Versuchsschule und Curriculumwerkstatt). 1995 habilitiert er sich an der Universität Bielefeld; 1999–2011 ist er Professor für Geographiedidaktik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und von 2011–2013 Gastprofessor an den Universitäten Hamburg und Wien. Er ist Mitherausgeber von Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften und Praxis Neue Kulturgeographie. Siegmar Schröder
Siegmar Schröder ist Diplompädagoge, Regisseur, Produzent, Festivalleiter, Schauspieler, Herausgeber, Techniker, Manager – kurz: Freier Theatermacher. Nach einem Jahr Mitarbeit beim italienischen Teatro Nucleo gründet er 1983 das Theaterlabor Bielefeld und leitet es bis 2019. In der Zeit setzt er ca. 90 Produktionen um, davon zahlreiche internationale Koproduktionen, zehn internationale Theaterfestivals, die internationale Schule für Theaterantropologie (ISTA) und viele Tourneen. Seit 2019 macht er vermehrt Netzwerkarbeit (flausen+) und Soloprojekte, u. a. seine Soloperformance Paul, und Projektarbeit für das Easter Theatre Festival in Blantyre, Malawi.
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Axel Tangerding
Der studierte Architekt gründet 1980 in Moosach bei München das Meta Theater. Es erhält wesentliche Impulse durch Workshops und Kooperationen mit La MaMa Theatre, New York, und Jerzy Grotowskis Teatr Laboratorium. 2002 wird Tangerding für sein interkulturelles und internationales künstlerisches Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen. Er ist in den Vorständen des IETM in Brüssel, des International Theatre Institute und seit 2015 des BUFT (heute BFDK) tätig. 2012 erhält Axel Tangerding den Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung. 2016 wird ihm von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste die Wilhelm-Hausenstein-Ehrung zuteil; seit 2017 ist Tangerding Mitglied der Akademie. 2018 initiiert er den europäischen Dachverband der Freien Szene (EAIPA – European Association of Independent Performing Arts) und organisiert das Jahrestreffen des IETM 2018 in München. Michelle Thrush
ist als Cree mit französisch-schottischem Hintergrund in einer Nekaneet First Nation Familie in Saskatchewan (Kanada) aufgewachsen. Als Métis kann sie sich in beiden Welten bewegen und vermitteln. Sie arbeitet über 30 Jahre im Theater, Fernsehen und Film, u. a. in Jimmy P., der 2013 in Cannes für die Goldene Palme nominiert wurde. Sie leitet mit einer Unterbrechung die künstlerische Arbeit beim Projekt Making Treaty Seven von 2012–2023. Sie tourt mit ihren Solostücken und initiiert immer wieder soziokulturelle Projekte mit der indigenen Bevölkerung in Kanada.
Hans-Joachim Wagner
arbeitet seit seinem Studium der Musikwissenschaft, der Kunstgeschichte und Deutschen Philologie als Kulturmanager, Kurator, promovierter und habilitierter Wissenschaftler und Autor. Nach Tätigkeiten am Theater Koblenz und den Bühnen Köln ist er Musikreferent im Kulturdezernat der Stadt Köln. 2006 wird er Fachbereichsleiter für Musik und Darstellende Künste bei der Kunststiftung NRW. 2018 übernimmt er die Leitung des Büros für die Bewerbung Nürnbergs als „Kulturhauptstadt Europas 2025“. Seit August 2021 ist er Leiter der Stabsstelle „Ehemaliges Reichsparteitagsgelände“ der Stadt Nürnberg und verantwortet hier u. a. die Entwicklung des Lern- und Begegnungsorts Zeppelinfeld und Zeppelintribüne und die Transformation der Kongresshalle zu einem Ort der Künste und Kulturen. Walter Ybema
absolviert ein Lehramtsstudium in Frankfurt am Main und arbeitet kurzzeitig in diesem Beruf. 1980/81 wird er Regieassistent von Eugenio Barba am Odin Teatret in Dänemark und ist an der Entwicklung der Theateranthropologie beteiligt. Neben der Herausgabe von Publikationen ist er als Regisseur der Theaterassoziation Frankfurt und als Leiter der Europäischen Theaterschule (Italien) tätig. Zusammen mit einem Team aus Lehrer*innen und Musiker*innen erarbeitet er seit 2011 an einer integrierten Gesamtschule ein Modell, Theater-Musikkunst zum Zentrum des Regelunterrichts in allen Fächern der Jahrgänge fünf bis zehn zu machen.
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Europäische Koproduktion The Last Days of Mankind, 2019
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Theaterlabor, Plastik Play Plus, 2004
Theaterlabor, Séance, 2014
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Theaterlabor, Absurdesque, 2008
Weiterführende Links Die Links führen auf Websites, die weitere Informationen zu verschiedenen Themen des Buches enthalten. Unter www.theaterlabor.institute finden sich weitere Interviews, die ihren Weg in die Printausgabe nicht gefunden haben, Tonausschnitte der abgedruckten Interviews sowie deren Transkriptionen in der Originalsprache. Außerdem wird dort ein Archiv der im Buch beschriebenen Arbeit des Theaterlabor Bielefeld mit weiteren Fotos und Videobeispielen entstehen.
theaterlabor. institute
Odin Teatret
Grotowski Institut
Thêatre du Soleil
Teatro Nucleo
Freies Theater
LAFLIS
Reduta Berlin
ARTA
Teatro Potlach
CPR
Compagnie du Hasard
Theaterlabor Bielefeld
ISTA
Teatr ZAR
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Roy Hart Theatre
Weggefährten
Yoshi Oida
Cuatrotablas
Institutet för Scenkonst
Teater Albatross
Pilkentafel
Tan Tou
Leo Bassi
Dah Teatar
Plavo Pozorište
TnT
Farma v jeskyni
Krepsko
Die Macht der Erinnerung
Making Treaty Seven
Granhoj Dans
Association Arsène
Metatheater
Teatr A Part
One Yellow Rabbit
Freaks und Fremde
The Last Days of Mankind
Tiger Lillies
Teatro Due Mondi
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Fatima Miranda
Easter Theatre Festival
TTB
High Performance Rodeo
Grenland Friteater
Festival Jelenia Gora
Internet Archive
Theaterarchiv
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Wir haben es einfach gemacht! Reisen in internationale Theaterwelten Herausgegeben von Siegmar Schröder, Henning Fu ̈lle
Redaktionelle Mitarbeit: Mareike Zimmermann © 2024 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de
Layout, Satz + Bildbearbeitung: mahlke.one Lektorat: Iris Weißenböck Fotograf*innen: Tom Dombrowski, Luca Gavagna, Michel Jaquelin, Anne Lax, Siegmar Schröder, Harris Smartdesigner Thambo, Andreas Varnhorn
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-469-6 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-479-5 (ePDF) ISBN 978-3-95749-480-1 (EPUB)
Das Theaterlabor Bielefeld, gegründet 1983 von Siegmar Schröder gemeinsam mit Studierenden, ist ein prägnantes Beispiel für die Entwicklungen, die seit den 1980ern zu einer Modernisierung des deutschen Theaters und in Folge zur Konstituierung des Freien Theaters als „Zweiter Säule“ der Theaterlandschaft führen sollten.
Ein Ensemble, das kollektiv und egalitär die Gegenstände und Themen seiner künstlerischen Arbeit selbst bestimmte, sich permanent bei den großen, beispielgebenden Künstler*innen des „anderen Theaters“ in Europa aus- und weiterbildete, das zu internationalen Festivals eingeladen wurde und schon früh auch selbst Festivals und Koproduktionsbeziehungen in Europa und bis nach Nordamerika entwickelte und schließlich eine Institution bildete, die Bestand hat und inzwischen von einer nachkommenden Generation übernommen wurde. Die Entwicklung dieser Theaterkunst aus der Kraft der Selbstermächtigung wird von Siegmar Schröder und Henning Fülle in Berichten und Interviews, Gesprächen und Erinnerungen nachgezeichnet und in den Kontext der künstlerischen und institutionellen Aufbrüche der westdeutschen Theaterlandschaft seit den 1970er Jahren eingebettet. Mit Interviews und Texten von Eugenio Barba, Yoshi Oida, Leo Bassi, Margaret Pikes, Horacio Czertok, Nullo Facchini, Robert Jakobsson u. v. m.
Siegmar Schröder ist Theatermacher. 1983 gründete er das Theaterlabor Bielefeld und leitete es bis 2019. In der Zeit hat er ca. 90 Autorenproduktionen, davon zahlreiche internationale Koproduktionen, zehn internationale Theaterfestivals, die Internationale Schule für Theateranthropologie (ISTA) und viele Tourneen umgesetzt. Seit 2019 macht er vermehrt Netzwerkarbeit (flausen+) und Soloprojekte. Henning Fülle ist Dramaturg, Kulturforscher und Hochschullehrer an der Kunsthochschule Karlsruhe, Universität Hildesheim und UdK Berlin. Bei Theater der Zeit erschien 2016 „Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft 1960–2010“.
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