Johan Simons – Dialog mit dem Tod (Arbeitsbuch 2023)

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Theater der Zeit

Arbeitsbuch 2023 EUR 24,50 CHF 30,00 tdz.de

Johan Simons

Dialog mit dem Tod


Von den zwischen 21.1.2023 und 15.1.2024 uraufgeführten deutschsprachigen Stücken werden sieben für den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreis 2024 nominiert. Fünf deutschsprachige Uraufführungen für Kinder zwischen sechs und zehn Jahren aus demselben Zeitraum werden für den Wettbewerb um den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer KinderStückePreis 2024 ausgewählt. Theater, Verlage und Autor*innen können ab sofort Uraufführungen melden und Stücktexte einreichen unter ua@stuecke.de

4.–25.5.24 stuecke.de Veranstaltet von

Gefördert von


Art Direction & Design: CIN CIN, cincin.at; Illustrations: Luca Schenardi; Photos: Anna Breit; Performers: Luca Bonamore, Lau Lukkarila; Styling: Laura-Antonia Magritzer; Makeup & Hair: Sarah Bzoch

Mit 68 Produktionen von und mit Jérôme Bel, Boris Charmatz, Anne Teresa De Keersmaeker, Lucinda Childs & Robert Wilson, Marie Chouinard, Ivo Dimchev, Trajal Harrell, Benjamin Abel Meirhaeghe, Mathilde Monnier, Needcompany, Meg Stuart, Thomas Köck, Gisèle Vienne und vielen mehr


17.8.––3.9.23 Artwork: Gipsobjekte aus dem Stück «One Song» von Miet Warlop. Konzept & Design: Studio Marcus Kraft

ZURCHER THEATER SPEKTAKEL

15.05.23 15:47

Foto: loekenfranke

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Schauspiel / Tanz / Uraufführung

EXTRA LIFE GISÈLE VIENNE ab 16. August 2023 Salzlager, UNESCO-Welterbe Zollverein, Essen

Schauspiel / Deutsche Erstaufführung

LE JARDIN DES DÉLICES / DER GARTEN DER LÜSTE PHILIPPE QUESNE / VIVARIUM STUDIO ab 7. September 2023 Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord

Schauspiel / Uraufführung / Für alle ab 14 Jahren

LA POSIBILIDAD DE LA TERNURA / DIE MÖGLICHKEIT VON ZÄRTLICHKEIT MARCO LAYERA / TEATRO LA RE-SENTIDA ab 14. September 2023 Salzlager, UNESCO-Welterbe Zollverein, Essen

Die Ruhrtriennale findet vom 10. 8. bis 23. 9. 2023 statt. Tickets und das komplette Programm unter www.ruhrtriennale.de

Gesellschafter und öffentliche Förderer


Theater der Zeit

Johan Simons Dialog mit dem Tod

Herausgegeben von

Susanne Winnacker


Johan Simons: Theaterkünstler, Regisseur und Theaterleiter


Editorial

I

n den hier versammelten Texten liest man von Spieler:innen, Weggefährt:innen und Theoretiker:innen. Selten mal Momentaufnahmen, oft persönliche Beschreibungen von Arbeits- und Freundschaftsverhältnissen, Versuche, zu skizzieren, wie sich – manchmal über Jahre und Jahrzehnte – das Arbeiten mit Johan Simons gestaltet, wie es sich entwickelt und immer und immer wieder überraschende ­Wendungen nehmen kann, sei es durch kreative Pausen oder ununterbrochenes Miteinanderwachsen. Bei solchen ­Betrachtungen ist es unmöglich, die Figur des Künstlers Johan Simons von ihm „als Mensch“ abzutrennen. Ursprünglich gedacht als Geschenk an ihn zu seinem 75. Geburtstag, erscheint es nun kurz vor seinem 76. und nicht, wie vor einem Jahr als Drucksache, bestehend aus dreißig handnummerierten Exemplaren, sondern als Arbeitsbuch, das auf der Grundlage eines ganzen Lebens vor allem seine Zeit am Schauspielhaus Bochum betrachtet und reflektiert.

Auch zu sehen: großformatige Bilder der Bochumer Inszenierungen: Bühnenbilder von Nadja Eller und Johannes Schütz. Mein großer Dank gilt allen, die an diesem Buch mitgeschrieben und so viel Zeit und Gespräche und Engagement in dieses Projekt gesteckt haben.

Susanne Winnacker

Foto privat

Sandra Hüller hat einen Brief geschrieben, Jan-Phillip Sprick untersucht die Rolle von Klang und Musik in Johan Simons‘ Inszenierungen, deren Ästhetik, Arbeitsweise und Vektoren nachgegangen wird. Jens Harzer gibt einen­ kurzen poetischen Abriss darüber, wie er Johan Simons als

Regisseur wahrnimmt, Vasco Boenisch schreibt über „Penthesilea“ und Johan Simons denkt selbst über „Alkestis“ nach – und über den Glauben. Nikolaus Müller-Schöll umreißt einen langen Entwicklungszeitraum seiner Arbeit und seiner ganz eigenen theatralen Sprache. Und immer präsent: der Tod. „Dialog mit dem Tod“ bedeutet für Johan Simons eine ebenso private wie soziale, immer und in erster Linie aber auch eine ästhetische Auseinandersetzung, in der er allerdings niemals von seiner eigenen Entwicklung als Künstler absieht. Mieke Koenen erinnert in ihrem Essay an einen der intimsten Freunde von Johan Simons und ­beschreibt seine Zusammenarbeit mit dem großen Schauspieler Jeroen Willems, der viel zu früh seine Sachen gepackt und diese Dimension verlassen hat.

5


Inhalt DER WÜRGEENGEL

5

Editorial

Psalmen & Popsongs

13

Von SUSANNE WINNACKER

1 7. Alle Menschen müssen sterben

J.S. BACH Steven Prengels

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Lieber Johan

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Anlässlich Johan Simons’ fünfundsiebzigsten Geburtstags

Fleisch ver an - ders

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Von SANDRA HÜLLER

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Alles mit Mut

Über Johan Simons

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Von SUSANNE WINNACKER

39

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EURIPIDES „Alkestis“

Von STEVEN PRENGELS

67

„The best way out is always through“

(Robert Frost)

PIERRE BOKMA im Gespräch mit Susanne Winnacker

6

Klang und Form

Von JAN PHILIPP SPRICK

Für vier Solostimmen und Orgel

3

42 Die Rolle von Musikalität im Theater von Johan Simons

Schick - sal be - sänf - tigt

Schick - sal be - sänf - tigt

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Œ #œœj ‰ œœj ‰ œœ 24 œœ Œ œ œœ œ. œ œ -œ -œœ œœ œœ . Über den Glauben ∑ ∑ ∑ ∑ j j ? ## 5 . .wœ.. œœœ œ œ œ œ œ œ œj ‰ ™™ 4 œ œ œ œ œ œ œ œ #œ œ œ œ œ #œ -œj ‰ œœjœ‰ œœj ‰ œœ 2 œœ ŒDas Verhältnis von Angst 4 œ œ. œ œ 4 œœœœ œ œ œ œ œ œ #œ œ œ œ œ - œ -œ œ 4 œ œ œ œJ und Freiheit Adagio -J (q = ca 68) mp 4 2 Œ ? ## 5 Ó ™ ™ ™ ‰ Ó ∑ Œ ™ j 4 4œ 4 4 ∑ œVon œ #œ œ œ-œj œj œ œ œ œ ˙™ œ 4 JOHAN SIMONS ∑

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Über Wiederholungen und Fragen und (immer nur vorläufige) Einsichten Von JOHAN SIMONS


Fotos der Reheinfolge nach JU Bochum, Susanne Winnacker, Joseph Kadow, Armin Smailovic, Fatih Kurceren, Birgit Hupfeld, Flóra Kruppa, Susanne Winnacker, Phile Deprez, Bernd Felder, Monika Rittershaus

71

79

„Die Freiheit, die ich meine …“

Alles auf Anfang. Jedes Mal.

Fragen, die man nie gestellt hat, zu fragen wagen

ELSIE DE BRAUW im Gespräch mit Susanne Winnacker

Von STEFAN HUNSTEIN

83

Bühnenbilder

Von NADJA SOFIE ELLER

91

„Sehen heißt, die Bilder töten“

103

Über Gewalt in den Inszenierungen von Johan Simons

Geschafft!

Wie ich lernte, Johan Simons zu hören

Von KOEN TACHELET

Von WILL-JAN PIELAGE

107

Zwei Maestros, „Zwei Stimmen“:

Johan Simons und Jeroen Willems Von MIEKE KOENEN

129

113

Johans Schweigen

Bühnenbilder

Wachsein und Warten

Von JOHANNES SCHÜTZ

Von JENS HARZER

133

Bisse, Küsse

Wie Johan Simons mit „Penthesilea“ einen innigen Zweikampf auf Tod und Leben inszenierte Von VASCO BOENISCH

142

Polyphonie oder Esperanto

Das europäische Theater der Umbildung des Johan Simons Von NIKOLAUS MÜLLER-SCHÖLL

168 Biografien 170 Impressum

7


PREMIEREN SPIELZEIT 23 | 24 SCHAUSPIEL 1. SEP 2023

23. FEB 2024

VON MÄUSEN UND MENSCHEN

DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA

nach dem Roman von John Steinbeck Regie Simon Solberg

22. SEP 2023

von Ulrich Plenzdorf mit Songs von Gundermann bis Rio Reiser Regie Roland Riebeling

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

8. MÄRZ 2024, WERKSTATT

von Erich Kästner Regie Martin Laberenz

23. SEP 2023, WERKSTATT Uraufführung

WAS FEHLT UNS ZUM GLÜCK? Fragebogen von Max Frisch Regie Katrin Plötner

BILDER DEINER GROSSEN LIEBE von Wolfgang Herrndorf Regie Laura Ollech

6. APR 2024

DIE ZEITMASCHINE nach dem Roman von H. G. Wells ein partizipatives Projekt Regie Dominik Friedel

10. NOV 2023

WOYZECK von Georg Büchner Regie Sarah Kurze

16. NOV 2023, WERKSTATT Uraufführung

WIR WISSEN, WIR KÖNNTEN, UND FALLEN SYNCHRON nach dem Roman von Yade Yasemin Önder Regie Emel AydoĞdu

1. DEZ 2023

DER NACKTE WAHNSINN Komödie von Michael Frayn Deutsch von Ursula Lyn Regie Sascha Hawemann

19. JAN 2024, WERKSTATT

DIE KINDER von Lucy Kirkwood Deutsch von Corinna Brocher Regie Jan Neumann

26. JAN 2024

NORA von Henrik Ibsen Regie Charlotte Sprenger

TICKETS: 0228 – 77 80 08 | THEATER-BONN.DE

26. APR 2024 Uraufführung

ARCHETOPIA eine musikalische Utopiesuche von Simon Solberg Regie Simon Solberg

27. APR 2024, WERKSTATT Uraufführung

TREIBGUT DES ERINNERNS ein Projekt von Verena Regensburger Regie Verena Regensburger

7. JUNI 2024 Uraufführung

FRAUEN VOR FLUSSLANDSCHAFT / FLUT nach dem Roman von Heinrich Böll mit einem Postskriptum von John von Düffel Regie Jens Groß


SCHAUSPIEL KOELN PREMIEREN 2023 24 AKINS TRAUM (AT)

ERSTMAL FÜR IMMER

EIN SOMMERNACHTSTRAUM

SOKO TATORT (AT)

VON AKIN EMANUEL ŞIPAL REGIE: STEFAN BACHMANN URAUFFÜHRUNG: 23 FEB 2024

YAZDGERDS TOD

‫درگدزی گرم‬ VON BAHRAM BEYZAIE REGIE: MINA SALEHPOUR DEUTSCHSPR. ERSTAUFFÜHRUNG: 02 SEP 2023

EIGENTUM

(LET’S FACE IT WE’RE FUCKED) VON THOMAS KÖCK REGIE: MARIE BUES URAUFFÜHRUNG: 29 SEP 2023

NOISE SIGNAL SILENCE VON RICHARD SIEGAL / BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL URAUFFÜHRUNG: 27 OKT 2023

DER PROZESS

VON FRANZ KAFKA REGIE: PINAR KARABULUT PREMIERE: 30 NOV 2023

VON WILLIAM SHAKESPEARE REGIE: JAN BOSSE PREMIERE: 17 MAI 2024

DEPOT 2

IM ANFANG WAR DER ZAUN EINE PERFORMATIVE KARTOGRAFIE GEGENWÄRTIGER MAUERN VON WHAT ABOUT: FUEGO REGIE: MARÍA F. GIACAMAN URAUFFÜHRUNG: 01 SEP 2023

KIM JIYOUNG, GEBOREN 1982

VON CHO NAM-JOO REGIE: MARIE SCHLEEF DEUTSCHSPR. ERSTAUFFÜHRUNG: 14 OKT 2023

VON UND MIT DER OLDSCHOOL REGIE: DAVID VOGEL URAUFFÜHRUNG: 08 NOV 2023

VON NELE STUHLER REGIE: NELE STUHLER URAUFFÜHRUNG: 07 DEZ 2023

GESPENSTER

VON HENRIK IBSEN REGIE: THOMAS JONIGK PREMIERE: 01 FEB 2024

DIE LETZTEN MÄNNER DES WESTENS VON TOBIAS GINSBURG REGIE: RAFAEL SANCHEZ URAUFFÜHRUNG: 22 MÄR 2024

EIN VON SCHATTEN BEGRENZTER RAUM VON EMINE SEVGI ÖZDAMAR REGIE: NURAN DAVID CALIS URAUFFÜHRUNG: 08 MAI 2024

DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM VON HEINRICH BÖLL REGIE: BASTIAN KRAFT PREMIERE: 26 JAN 2024

ÄNDERUNGEN VORBEHALTEN. STAND 17.05.2023


UBU (DEA) SCHAUSPIEL

ROBERT WILSON 23. | 24. | 25. | 26. Aug

ESCHENLIEBE (UA) SCHAUSPIEL

THERESIA WALSER | STEVE KARIER 24. Aug | 30. Aug | 04. Sep und zehn weitere Aufführungen in ganz Thüringen

DANTONS TOD RELOADED (UA) SCHAUSPIEL

AMIR REZA KOOHESTANI | MAHIN SADRI | THALIA THEATER HAMBURG 07. | 08. | 09. Sep

DIE VIELEN STIMMEN MEINES BRUDERS (UA) SCHAUSPIEL

MAGDALENA SCHREFEL | MARIE BUES 01. | 02. | 03. Sep

23. AUG – 10. SEP 2023

FÄLLT ALLE BÄUME! (UA) PERFORMANCE

BENJAMIN VERDONCK 02. | 03. Sep

kunstfest-weimar.de Karten | Tickets 03643 / 755 334

EXISTENZ (DEA) SCHAUSPIEL

WIHAD SULEIMAN | LYDIA ZIEMKE 09. | 10. Sep

Veranstalter:

Mit Wihad Suleiman © Wihad Suleiman

Das vollständige Programm wird Ende Juni veröffentlicht.

Hauptförderer:

Hauptsponsor:

Thüringen | 2023


09 – 27/ 08 / 2023

INTERNATIONALES SOMMERFESTIVAL TANZ / THEATER / MUSIK / PERFORMANCE / KUNST / LITERATUR

KAMPNAGEL.DE

MIT CONSTANZA MACRAS, HOUSE OF BROWNIES, TÒ SU, DIE ANTWORT, MEXA, ASHLEY LOBO, VANASAY KHAMPHOMMALA, HAJUSOM, SAELEEN BOUVAR, DAN DAW CREATIVE PROJECTS UND CRIP COLLECTIVE, HAMBURG’S POSTCOLONIAL DIALOGUES, MOTUS, ANDCOMPANY&CO. UND VIELEN MEHR


12


SANDRA HÜLLER

Lieber Johan

Sandra Hüller in der Titelrolle von „Hamlet“ von William Shakespeare in der Regie von Johan Simons

Foto JU Bochum

1 Erstmals erschienen in einem Privatdruck zu nun sitze ich in meiner Küche und will Dir schreiben. Zu Deinem GeburtsJohan Simons' 75. Geburtstag bei Theater der tag.1 Und irgendwie auch nicht nur zu Deinem Geburtstag. Weil das Zeit. Für das Arbeitsbuch wurde der Text noch einmal bereitgestellt. eigentlich nicht reicht. Und jetzt wird es doch so etwas wie ein Liebesbrief. Zuallererst: Danke. Danke, dass Du schon seit fünfundsiebzig Jahren da bist. Danke, dass Du langsam ein bisschen vernünftig wirst, auf Dich achtest. Damit wir noch ein bisschen weiter­machen können. Danke für Deine Offenheit, Dein Wissen, Deine Neugier, dafür, dass Du Deine Möglichkeiten und Deine Stellung nutzt, um etwas zu verändern, Ensembles, Spielweisen, Weltsichten. Und dafür, dass Du Dich bewegen lässt, beeinflussen. Danke auch für Dein Vertrauen in mich. Seit wir uns 2007 in der Kantine der Münchner Kammerspiele kennen lernten, bist Du mir immer Lehrer gewesen. Obwohl Du Dich nicht so siehst, denke ich. Dennoch: Bei Dir habe ich gelernt, was Spiel eigentlich heißt. Bei Dir habe ich gelernt, wie frei ich sein kann. Bei Dir, bei dem ich alles denken darf (auch das Uninteressante) und nichts verstecken muss, bei Dir, der am liebsten Zuschauer ist, nicht Dompteur. Du machst einen Unterschied zwischen Mise en Scène und Regie. Wie schön. Worüber redet man? Das Innen oder das Außen? Wo steht man? Wie steht man? Manchmal kommst Du selbst auf die Bühne mit deiner Tänzerhaltung („strak“) und diesem schelmischen Ausdruck, im vollen Bewusstsein, wie heikel die Situation ist, und suchst unseren Platz. Dein Gefühl für Raum kommt auch aus dem Tanz. Jedes Mal findest Du die richtige Stelle, ich staune immer und sehe dann, was ich von innen nicht sehen konnte. Oder: Was will man verraten, was bleibt für immer geheim? Meine Geheimnisse willst Du nie wissen, das mag ich, nie willst Du wissen, woher etwas kommt, weshalb Du eigentlich auch nie bestimmen kannst, was und wie ich spiele. Kann man vielleicht den Weg des anderen nur verändern, wenn man ihn auch gegangen ist? Und dieses Alles-Dürfen und dein Respekt führen dazu, dass ich immer schenken will, schenken und schenken, Dir alles schenken im Spiel, weil ich weiß, Du würdest nie etwas nehmen, ohne zu fragen. Du bist kein Nehmer wie so manche. Es gibt keinen Automatismus. Du setzt nichts voraus. Vieles wissen wir, auch ohne zu sprechen. Nehmen wir den Zynismus als Beispiel. Am Theater und in der Kunst ist nichts hässlicher und verletzender als diese Kapitulation, dieses Leichtmachen durch Ausweichen, Sich-nicht-Stellen. Das Zynische macht den Schmerz (der Figuren) nie kleiner, im Gegenteil, es erklärt ihn zum Sieger. Nicht das Zarte, die Kraft, den Versuch, das Wachsen, die Heilung, Katharsis, Transformation. Der Zynismus am Theater negiert den grundlegenden Zusammenhang zwischen allen und allem. Und von diesem Zusammenhang leben wir ja. Auch im Theater. Manchmal (ich gebe es zu, denn zu einem Liebesbrief gehört auch immer ein Geständnis), wenn ich wütend auf Dich war im Prozess, wenn ich eine Lösung wollte, ehrgeizig wurde, hat mir dein Zusehen nicht gereicht. Es erschien mir als Flucht vor der Verantwortung. Du konntest mir (und den Kolleg:innen) nicht helfen. Heute weiß ich, dass es allein deine Geduld war und ist, das Aushalten der Leerstelle, des potentiellen Scheiterns, des Nicht-Wissens, das uns ermöglicht hat, Figuren, Geschichten, Stücke wirklich aus sich selbst heraus oder aus uns heraus entstehen zu lassen. Wie ein Gewächs, eine Pflanze, die man einfach gießt. Und an die richtige Stelle stellt. An ihre Stelle. Und damit schmückst Du Dich nicht. Es ist einfach Dein Weg.

Sandra Hüller

Lieber Johan

13


Wenn ich Jens Harzers Nachwort in Stefan Tigges’ Buch über das Theater von Gosch und Schütz lese, in dem er beschreibt, dass das größte Glück in Goschs „Onkel Wanja“ für ihn darin besteht, dass alles an seinem Platz ist, „am richtigen Ort“, dass das Stück schon beginnt, bevor die Schauspieler:innen die Bühne betreten, dann verstehe ich das zutiefst. Und erkenne etwas, das ich auch bei Dir erlebe und nicht besser beschreiben kann.

Einen herrlichen fünfundsiebzigsten Geburtstag wünsche ich Dir, lieber Johan,

Deine Sandra

14

Sandra Hüller in „Der Würgeengel. Psalmen und Popsongs“ nach dem gleichnamigen Film von Luis Buñuel, Regie Johan Simons

Niemals will ich vergessen, wie wir Frauen am Ende von „Accatone“ bei der Ruhrtriennale aus dem Metallcontainer in die Tiefe der Kohlehalle rannten: Vögel, die plötzlich ihren Käfig offen vorfanden, die Gelegenheit nutzten und flogen. Wie wir im Dunkel am Ende der Halle im Gestrüpp – nicht mehr sichtbar für das Publikum und noch immer frei – glücklich und zusammen ankamen, mit ­glühenden Lungen und Gesichtern, dann mit wehenden Haaren außen um die Halle herum zum Applaus gebracht wurden, noch die letzten viel zu kurzen Minuten des Stückes inhalierend. Das werde ich immer mit dir verbinden. Manchmal bleibt auch die Zeit einfach stehen. Und Theater wird wirklich das Brennglas, von dem manchmal gesprochen wird. Thomas Schmauser zählt in „Gier / Gesäubert / Psychose“ mithilfe eines Rechenschiebers bis Hundert und das Publikum erträgt es nicht. Ein Mensch zählt auf einer Bühne bis zu einer Zahl, die jede:r kennt, auf einem Weg, den jede:r kennt, warum ist das provozierend für manche? Ich dachte immer, ihm zusehend, da wird nicht erkannt, was dieser Prozess des Zählens für die Figur bedeutet. Dass ein Mensch in dem Moment, in dem er zählen lernt, zugleich begreift, wie lange er noch gefangen sein wird, wann er sterben wird. Gefürchtet habe ich mich da manchmal vor Teilen des Publikums, das so wütend war auf diese so zarte und traurige Entdeckung, die Du zugelassen hast. Und weißt Du eigentlich, wie wir vor „Hamlet“, nachdem wir lange das Publikum begrüßen, und bestätigen, dass wir echte Menschen sind, die wahrscheinlich Fehler machen werden, zusammen in der Gasse stehen, ganz nah, denn es ist eng, und jeder ist, wer er ist, die Abläufe immer gleich, die Dialoge, das Schweigen bei einigen? Und dann ein kleiner Schwur (ich verrate ihn nicht). Und ich merke, dass etwas gelungen ist, dass wir einander vertrauen und beschützen in diesem Abend, der auf eine von mir nicht zu beschreibende Art unaufhaltsam ist. Und das kannst u auch noch. Der Schauspieler entscheidet bei Dir selbst, wann er auf die Bühne geht. (Oder er glaubt, es zu entscheiden?) Wie lange und gründlich wir zusammen lesen. Manchmal schauen. Und immer, ­immer trainieren. Den Körper bereit machen für das, was der Geist vielleicht will. Wie ich dieses Prozesses nie müde werde, dieser Kontinuität, diesem Zuschauen dabei, wie sich eine Gruppe ­findet, verändert. Wie Du die Führung zuweilen auch abgeben kannst: Denk daran, wie Ulvi Teke während der „Hamlet“-Proben irgendwann das Training übernahm, weil seine Übungen einfach effektiver waren als Deine. Auch deshalb bist Du mein Freund. Und mein Lehrer. Weil Du das kannst. Von Dir habe ich auch gelernt, wie guter Wein schmeckt. Und dass man ihn, wenn man beim Kartenspiel gewinnen will, besser nicht trinkt. Leider habe nie gegen Dich gewonnen, ich probiere es noch ein paar Jahre.

Foto Elmar Vestner

Manchmal gehen die Stücke auch weiter:


Sandra Hüller

Lieber Johann

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Ensemble von „Der Würgeengel. Psalmen und Popsongs“ nach dem gleichnamigen Film von Luis Buñuel. Textfassung von Angela Obst in der Regie von Johan Simons, Bühne Johannes Foto Elmar Vestner Schütz. Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig. Premiere März 2023

16


„Der Würgeengel. Psalmen und Popsongs“

Foto Elmar Vestner

17


STEVEN PRENGELS

Der Würgeengel Psalmen & Popsongs Nach dem gleichnamigen Film von Luis Buñuel. Textfassung von Angela Obst.

Regie Johan Simons

Ko-Produktion mit dem Schauspiel Leipzig. Premiere Schauspielhaus Bochum: 03.03.2023, Premiere Schauspiel Leipzig: 10.03.2023.

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DER D e r WÜRGEENGEL Wü r g e e n g e l Psalmen & Popsongs Psalmen und Popsongs

1 7. Alle Menschen müssen sterben

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DER WÜRGEENGEL Psalmen & Popsongs

228. Liebster Jesu, wir sind hier (mit Hammond Orgel)

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D e r Wü r g e e n g e l DER WÜRGEENGEL Psalmen Popsongs Psalmenund & Popsongs 275. O Ewigkeit, du Donnerwort

J.S. BACH Steven Prengels

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29



SUSANNE WINNACKER

Alles mit Mut Über Johan Simons

„…Die into life: so young Apollo anguish’d His very hair, his golden tresses famed Kept undulation round his eager neck. During the pain Mnemosyne upheld Her arms as one who prophesied. – Celestial“

Johan Simons bei den Proben zu „Alkestis“

Foto Susanne Winnacker

(Unfinished) 1818–19 John Keats (Hyperion Book III)

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ieser Text ist entstanden auf der Basis mehrerer langer Gespräche und den Erfahrungen zweier Arbeiten mit Johan Simons als Dramaturgin; „Ödipus, Herrscher“ (2021) und „Alkestis“ (2022).

Unmut. Geschichten über Unmut, im Grunde in jeder der Bedeutungen, die Grimms Wörterbuch dafür hergibt, erzählt Johan Simons bereitwillig. Er erzählt sie einfach, weder eitel noch stolz drauf, sie sind im Laufe der langen Zeit nicht zu „Siegergeschichten“ über eine brutale, gewaltverzerrte Kindheit mutiert, sie sind Beispiele dafür, wie er guckt, dafür, wie er Scham überwindet, dafür, wie er mit etwas umgeht, das er selbst heute noch als einen Makel, als etwas, das fehlt, als ungestillte Gier wahrnimmt und auch so lebt. An Brecht denkend, an den er in mancher Hinsicht erinnert, könnte man sagen, „Der Fehler ist das, was fehlt“. Er lebt, als sei er immer im Exil, die Länder öfter wechselnd als die Wäsche und aus seiner Perspektive fällt es ihm schwer zu konstatieren, dass es ­Regisseure gibt, die interessanter sind als er selbst. Er hat ein paar Lieblingshorrorgeschichten, die alle von einer strengen, dominanten Mutter, einem labilen Vater, abgebrochenen Ausbildungen, früher Orientierungslosigkeit, gleichzeitig von einem starken inneren Kompass und Rücksichts­ losigkeit sich selbst gegenüber handeln, die wahrscheinlich nicht einzigartig, aber in ihren Konsequenzen doch absolut erstaunlich sind. Entscheidend ist vielleicht, wie diese Geschichten in ihm drinstecken. Wie er sie nicht herausoperiert, distanziert oder aufgelöst hat, wie sie ihm nicht Antrieb oder Motivation sind, wie er nie zum Beobachter dieser Erlebnisse geworden ist, sondern er selbst all das ist und er aus diesem Selbst heraus versteht, was er sieht. Weil er sie auch nicht

Susanne Winnacker

Alles mit Mut

31


isoliert, keine Tücher und Verbände drumherum wickelt, unter denen diese Sachen schwelen könnten, um zu einer fixen Idee, blinden Flecken oder dergleichen zu werden, sie weder rationalisiert noch idealisiert, weder dauernd noch nie von ihnen spricht, sondern – zumindest im Theater, wo er sich frei fühlt und alle Synapsen verbindet – einfach mit ihnen ist, kann er – auf dem Theater – so ziemlich alles verstehen. Und das ist selten.

3

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1 Middelbaar algemeen voortgezet onderwijs dt. Johan Simons ist ein typischer Schulversager. Er ist 1946 in dem Dorf mittlerer allgemeiner sekundärer Bildungsgang, Heerjansdam, in der Provinz Zuid Holland geboren, hat nach der Basisungefähr mit der Realschule vergleichbar. 2 „Dann bin ich zu einer Tanzschule gegangen, school die Ulo, später zusammengefasst in der MAVO1, nachdem er drei aber da war ich auch einer, na, der SchlechtesKlassen insgesamt wiederholen musste, irgendwie hinter sich gebracht te eigentlich, kann man ruhig sagen. Also, weil ich nicht zählen konnte, Musik nicht, Tänzer (er ist schwer dyslektisch, das wurde allerdings erst sehr spät festgestellt), sind natürlich sehr musikalisch, weißt du, die er konnte nicht richtig schreiben, nicht gut lesen, aber er konnte sehen, begehen von einem 3/4 auf ein 6/8, oder, die tanzen zu Strawinsky. Ich meine, das ist sehr komobachten, Zusammenhänge erkennen, schnell in ein Gespräch kommen, er plexe Musik. Und, dann stand ich immer dahinwar auch da schon listig und konnte Menschen in seinen Bann ziehen durch ten, und hab versucht, mit den anderen so mitzutanzen, aber eigentlich war ich immer Sprechen. In dieser Zeit ist es zum ersten Mal passiert, dass zwar seine Eleine halbe Sekunde zu spät, weil, ich imitierte tern nicht, aber einer seiner Lehrer, der für Geschichte, diese Fähigkeiten das Tanzen. Also… ja. Und dann bin ich nach dieser Tanzschule ganz schnell nach Paris gewahrgenommen, sich gewundert, Fragen gestellt und dafür gesorgt hat, gangen. Das war 68‘. Und da war ich beim Casino de Paris, da konnte ich kommen, um Cancan dass er nicht schon bevor er ein Jugendlicher wurde, durch alle Raster gezu tanzen.“ Interview SW/JS; September 22. fallen ist. Nach der Schule hat er sich für eine Tanzausbildung an der Rotterdamer Akademie eingeschrieben – einfach, weil es möglich war, um dort, glücklich der Schule entronnen, unglücklich und auch, wie er selbst sagt – wirklich mittelmäßig zu sein als Tänzer2. Danach Paris im Jahr 68, überall Barrikaden, alles dicht – auch schwierig –, Cancan zu tanzen für kaum Geld in dieser Zeit unter den Bedingungen von Aufruhr und Protest. Irgendwann hatte er gar kein Geld mehr, außerdem schrecklich Heimweh, also musste er, aber wollte auch, zurück. Nach Enschede diesmal, ans Opera Forum, wo er im Corps de Ballett getanzt, sich selbst und alles um sich herum allerdings als so derart mittelmäßig empfunden hat, dass auch das für ihn nicht lange aus­ zuhalten war. Die nächste Station, Amsterdam, brachte mehr Musicals und mehr Frustration, dann den Entschluss, ein richtiges Fach zu lernen: Schauspiel. An der Schauspielschule in Maastricht war auch damals schon die Voraussetzung für eine Bewerbung das Abitur. Seine Lüge diesbezüglich wurde nicht nachkontrolliert und also nicht aufgedeckt, er wurde unter Vorbehalt aufgenommen, aber, wie auch in Deutschland üblich, kommen nach dem ersten Jahr alle Lehrer:innen zusammen, um einen endgültigen Beschluss über einen Studierenden zu fassen. Neun von zehn Lehrer:innen waren dagegen, ihn zu behalten. Auch dort, sie waren der Ansicht, er imitiere nur, könne nicht spielen und werde das ganz sicher auch niemals lernen. Leo Beyers3 war der eine von den Zehnen, der seine eigene ­Karriere gleich mit aufs Spiel gesetzt, indem er ungefähr gesagt hat: „Nein, spielen kann er nicht, aber habt Ihr gesehen, wie er guckt … wie er das Spiel seiner Kommilitonen kommentiert, was er alles sieht? Wenn er kein Schauspieler wird, wird er ein Regisseur, aber er gehört ins Leo Beyers (1933-2012) war ein flämischer Theater und wenn der nicht hierbleiben darf, gehe ich auch.“4 Also durfte er Schauspieler. Er begann, nachdem er bis zu bleiben. seinem 24. Lebensjahr Schlagersänger hatte werden wollen, eine Ausbildung im Studio Am Theater Den Haag wurde er nach seiner Ausbildung als Schauspieler ­Herman Teirlinck, welche er 1959 abschloss. engagiert, konnte dort auch seine erste Regiearbeit machen, aber wieder Neben seinen Arbeiten als Schauspieler war er als Dozent für Künstlerischen Ausdruck an war es ihm nichts, es war bedrückend und altmodisch und hierarchisch, es den Schauspielschulen in Amsterdam und war ihm unmöglich, sich dort irgendwie einzufügen und nachdem er einmal Maastricht tätig. Interview SW/JS Varik, September 22. in einem cholerischen Anfall den Intendanten von der Bühne gefegt und danach seine eigene Garderobe in Schutt und Asche gelegt hatte, war auch das überstanden. Priester wollte er werden, als er ein Kind war, Predigten hat er geschrieben, weil er gut predigen konnte, sie auch zum Besten gegeben, seine Mutter hat sie alle verbrannt. Oft sagt er im Gespräch über diese frühe Zeit: „Da konnte ich hingehen, hier durfte ich kommen“, mitmachen, dabei sein und sagt das traurig, eine Scham schwingt immer mit, die ohne Dankbarkeit ist: „Ich kann deshalb so viele verschiedene Sachen machen, weil ich gut verlieren kann. So bin ich aufgewachsen, da habe ich das gelernt.“ Das heißt, er kann unfassbar viel aushalten, beurteilt das, was er aushalten muss, allein unter dem Gesichtspunkt, was es ihm nützen kann, wie er die Kontrolle bekommen kann über jemanden, der ihm etwas antut und er hat eine Fähigkeit, die ihm sehr viel Freiheit ermöglicht, die, Menschen, die ihm nicht nützen, einfach zu vergessen. Er will unter allen Umständen in dieser Realität nicht nur überleben, er will sie auch nicht verändern, sondern sie so benutzen, dass sie seinen

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Vorstellungen und Ideen dient. Das bedeutet auch, was er aufs Spiel stellt in jeder einzelnen Inszenierung, die er macht, ist die Kunst, nicht die Realität. Er sucht das Reale, das, was immer noch erst zu kommen hat. Er erzählt Geschichten, die man nur auf dem Theater so erzählen kann und nirgends sonst. Das ist sehr selten. Sein jüngerer Bruder litt unter Pseudokrupp, auf einem Hof in dieser Zeit vielleicht noch nicht mal eine allzu seltene Krankheit, allerdings verbunden mit erstickendem, pfeifenden Husten und für ein kleines Kind mit Panik und der Angst, zu sterben. Er hat lange Zeit mit diesem Bruder das Zimmer geteilt und seine Mutter hat ihm die Anweisung gegeben, gut aufzupassen, sie zu rufen, wenn das bellende Husten beginnen würde, ihm auch mitgegeben, dass sein kleiner Bruder daran sterben werde, wenn er das nicht rechtzeitig bemerkt, es also seine Schuld sei, wenn das passiert. Johan Simons erzählt solche Sachen ohne Sentimentalität, auch, dass er, bis er 14 Jahre alt war, jede Nacht sein Bett genässt hat. Wenn man ihn fragt, ob das wirklich hingeschrieben werden soll, sagt er, ja, man soll ja ein bisschen verstehen, wie das alles so gekommen ist. Versteht man das von da aus? Vielleicht nicht. Zu leicht würde man irgendeine Haltung einnehmen solchen Erlebnissen gegenüber, eine des Mitgefühls, oder des Erschauerns, oder eine von Respekt, einfach, weil das kein leichter Start war in ein Leben. Über solche Versuche der Vereinnahmung lächelt er nicht, er ignoriert sie einfach und bleibt allein. Aber er selbst versteht von da aus. Das ist etwas anderes und das ist wichtig. Manchmal ist es gut, solche Geschichten zu kennen, weil man ihn erinnern kann, an die Möglichkeit, aus sich selbst heraus zu verstehen. Zum Beispiel, wenn, er während der Arbeit an einer Inszenierung, sagt, er weiß nicht, wie sich ein Mörder fühlt. Als er schon dreißig war – und er erzählt diese Geschichte, um zu beschreiben, wie viel Kraft seine Mutter hatte, wie sehr sie es immer wieder geschafft hat, dass andere Menschen tun, was sie ihnen sagte, hat sie ihm erklärt, er solle sechs Welpen, die man nicht zum Tierarzt bringen wollte, weil das zu teuer sei, mit dem Beil erschlagen. Er sagt dann, er hat sie ertränkt. Das klingt nicht ganz so brutal, außerdem, sei es unprofessionell, einen Hund zu erschlagen.

Wagemut. Die Zeit des Wagemuts beginnt vielleicht dort, wo jemand nicht mehr versucht, sich irgendwo einzupassen, bzw. auf dem Weg dahin, das nicht mehr zu versuchen, einen großen Schritt in die Richtung macht, das, was er in der Welt nicht vorfindet, selbst zu erfinden. Nach dem Desaster von Den Haag hatte Johan Simons eine Weile lang keine Arbeit, aber es war ihm, wie er selbst sagt, egal. Durch eine Freundin wurde dann der Kontakt mit dem Schauspielkollektiv Wespetheater hergestellt, einer ­Gruppe freier Spieler:innen, die Vorstellungen für Zielgruppen erarbeiteten, also für Menschen, die entweder keinen Zugang zum kulturellen Leben haben, oder aus anderen Gründen einfach nicht in ein Theater gehen würden. Für dieses Kollektiv hat er die Skripte geschrieben. Er hatte jeweils eine Woche Zeit, ein komplettes Stück zu schreiben, die Woche drauf wurde es einstudiert und zwei Wochen später kam es zur Aufführung und tourte in Zelten durch die Gegend. Der improvisatorische, sehr körperliche Stil dieser Inszenierungen erinnerte an die Commedia dell’arte und war extrem expressiv. Etwa acht solcher Skripte hat er innerhalb von zwei Jahren verfasst. Das war eine gute Zeit und ist auch wieder durch einen Krach auseinandergeflogen. Und ab da war’s dann endgültig vorbei mit dem „Mitmachen“. In den Niederlanden existiert ein anderes Kunst -und Kulturförderprogramm, der sogenannte Kunstenplan für die einzelnen Provinzen und Regionen, der vorsieht, dass alle vier Jahre und jeweils für vier Jahre Subventionen für Gruppengründungen, bestehende „freie“, also durch den Kunstenplan geförderte Gruppen, beantragt werden können. Johan Simons hat also in Nordholland einen Antrag auf Subvention für etwas gestellt und auch bekommen, das er „Regiotheater“ genannt hat. Er wollte Theater machen für Menschen, die niemals ins Theater gehen. Mit dieser Idee warf die spätere Theatergroep Hollandia schon ihre Schatten voraus, mit der er berühmt werden sollte über die Grenzen der Niederlande weit hinaus, aber bis dahin war es noch ein längerer Weg. Das Regiotheater hat er zusammen mit dem Schauspieler Pierre Bokma begonnen (heute ein berühmter Schauspieler, nicht nur in den Niederlanden und nicht nur im Theater, sondern auch im Film und einer seiner Hauptprotagonisten am Schauspielhaus Bochum), der aber so schnell so gut wurde,

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dass ihm Hauptrollen zum Beispiel am Publiekstheater, dem späteren Toneelgroep Amsterdam angeboten wurden, die er auch annahm, was zu einem Jahre währenden Bruch zwischen den beiden geführt hat, weil Bockma weggegangen ist und der nunmehr alleinige Leiter des Regiotheaters sich im Stich gelassen fühlte und das lange einfach nicht verzeihen wollte. Er hat dann zwei Jahre lang jeweils eine subventionierte Vorstellung dort erarbeitet, es haben sich dort zwei Gruppierungen entwickelt, die sich irgendwann gegenüberstanden, die Gruppe 8. Oktober und das Regiotheater; von der Provinz kam der Beschluss, die beiden Gruppen unter neuem Namen zusammenzuführen, die künstlerische Leitung sollte Johan Simons übernehmen, der Geschäftsführer sollte vom 8.Oktober kommen. Das ging etwas länger als drei Jahre gut, das Zerwürfnis betraf dieses Mal den Geschäftsführer und war endgültig. Aber ab hier wendet sich das Blatt und es ist nicht mehr Johan Simons, der im Krach gehen muss, ab da geht immer jemand anderes und Simons bleibt. ­Solange er das möchte.

Todesmut Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1985 und die Theatergroep Hollandia wurde aus den Überresten von Regiotheater und 8. Oktober geboren. Johan Simons war der alleinige Leiter, das künstlerische Arbeiten war absolut kollektiv, aber es gab niemanden mehr, dem er „verpflichtet“ war, niemanden, der ihm etwas aufzwingen konnte, niemanden, der ihn mit einem Machtwort in ­irgendeine Schranke hätte weisen können, das vertrug er damals nicht und verträgt er auch heute nicht. Wenn ihn jemand drängen möchte, wird er ganz ganz langsam – und wartet einfach und rührt sich nicht und das betrifft Menschen ganz offenbar genauso wie Transportmittel. Matthias Günther erzählt dazu eine Geschichte in seinem Text zum 75. Geburtstag von Johan Simons, die lustig und launig, aber auch paradigmatisch ist für ein Gebaren, das sicher mehr als zwei Seiten hat, von der mindestens eine einen inneren Abgrund erzählt.

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Johan war 18 und wollte eine ehemalige Austauschschülerin dort besuchen, wo sie zu der Zeit lebte, in München, also hat er den Bus genommen und ist hingefahren. „Heftiges Klingeln! Mitten auf der Maximilianstraße stehend, hatte Johan die ankommende Straßenbahn nicht bemerkt. Er schaute den Tramwagenfahrer an, der zurückschaute und fluchte. (…) Johan blieb ruhig – und stehen. Zweites heftiges Klingeln! Noch immer stand er der Straßenbahn im Weg! Gerne hätte er sich einen Zigarillo angesteckt oder einen Hut aufgesetzt. Hammerharte Übung! Johan mochte es noch nie, wenn man ihn drängte. Er reagierte nicht! So war er schon als Kind.“5 Das Selbstidealisierende des Anekdotischen weggestrichen ist es Matthias Günther: „Der Cowboy auf der Maxischon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Angst ein lebensrettender milianstrasse. Matthias Günther zum 75. GeInstinkt ist, der dazu da ist, Menschen vor Säbelzahntigern, einstürzenburtstag von Johan Simons.“, 1. September 2022, in: Theater heute Jahrbuch 2014, Berlin den Neubauten und übersehenen Straßenbahnen zu schützen, indem er 2014. S. 58-62, hier S. 58. einem angesichts solcher unvorhergesehenen, als Übermächte wahrHeiner Müller: Die Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. In: ders.: Werke. 12 Bde nehmbaren Ereignisse die sekundenschnelle Reaktion der Selbstrettung und ein Registerband. Hrsg. von Frank Höreingibt. Warum sich wohl jemand diesen Instinkt abtrainiert hat, aber nigk. Bd. 8: Schriften. Frankfurt am Main: 2005, S. 208-212, hier S. 212. Müller bezieht gleichzeitig jede unvorhergesehene absichtslose Berührung in ihm eine sich hier auf Brecht, vgl. u. a. Bertolt Brecht: unwillkürlich furchtsame Irritation auslöst. Furcht ist in der Tat ein AbDialog über Schauspielkunst [1929]. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und lenkungsimplantat, eine Lüge, also menschengemacht, Angst ist ein Frankfurter Ausgabe. Bd. 21: Schriften 1. Instinkt, der den Menschen das Überleben sichern soll. Schriften 1914–1933. Hrsg. v. Werner Hecht u. a. Berlin, Weimar u. Frankfurt a. M.: 1992, Damit ist man also beim „Furchtzentrum“ angekommen. S. 279–282, hier S. 28. „Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken“ kommentiert Heiner Müller die Lehrstücke von Brecht und sieht ein Furchtzentrum dort: „Von jetzt an und eine ganze Zeit über / Wird es keine Sieger mehr geben / Auf eurer Welt, sondern nur mehr / Besiegte“ (Brechts Fatzer).6 Alle sind immer schon Besiegte, weil es den Tod gibt. Für Johan Simons ist die Frage nach dem Tod und die Frage nach der Existenz Gottes unmittelbar verknüpft. Sie treibt ihn um, ist in ihn eingepflanzt, nicht zuletzt durch eine streng calvinistische Erziehung und das Leben auf einem Bauernhof, auf dem Gewalt nicht nur normal, sondern auch Erziehungsmittel war - und nistet in ihm. Zur Zeit der großen Flutkatastrophe 1953, die sein von Wasser umringtes Dorf schwer getroffen hat, war er sieben Jahre alt und konnte sich lange von der Erfahrung nicht erholen, dass das Land, auf dem er steht,

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unter seinen Füßen zu einem reißenden Fluss wird und alles, was sicher gewesen zu sein schien, mit sich riss. Ein kleiner Junge, der die Schuld von sich abhalten muss, dass sein Bruder stirbt – ein Junge, der immer wieder zusehen muss, wie seine Brüder und seine Onkel seinen Vater, der unter Spielsucht litt, „zur Ordnung“ riefen, indem sie ihn erst zusammenschlugen und dann in einen Schrank sperrten, so lange, bis er Besserung gelobte, einer Mutter, die solche Strafrituale nicht nur initiierte, sondern mit Genugtuung verfolgte. Johan urteilt über solche Begebenheiten nicht, er bewertet sie auch nicht, er stellt sie manchmal in den Raum. Er bewundert seine Mutter für ihre Tatkraft und Entschlossenheit und beobachtet ­seinen Vater genau, sieht dessen Fähigkeiten, er beschreibt sie auch, der Vater konnte gut erzählen, auch über sich selbst lachen, manche Geschichten niemals zuende bringen, weil er unterwegs vor Lachen nicht mehr sprechen konnte, erzählt, was er sich bei ihm abgeschaut hat und bedauert es, den Respekt vor ihm nicht aufrechterhalten haben zu können. Manchmal spricht er über das Sterben, als würde es zu ihm gehören, als wisse er, dass Leben und Tod identisch sind. Das ist oft so, wenn er an einer Inszenierung arbeitet, er dadurch auf irgendeine Weise ein anderer wird, satt wirkt, im Sinne von genährt, nicht von abgefunden, ruhig, sehr präsent, geduldig und sein gesamtes Wesen ist ganz Auge und Ohr. Tod als Phänomen ist auf je unterschiedliche Weise in allen seinen Inszenierungen anwesend. Wo der Tod nicht thematisch ist, grundiert er wie ein unterirdischer Faden die Szene. In solchen Phasen kommt er als Inspiration, immer noch weiter zu fragen, weiter zu gehen, sich inspirieren zu lassen von etwas, das nicht zu kontrollieren und nicht letztendlich zu verstehen und zu verstauen ist, sondern eine Zäsur, hinter die niemand so einfach schauen kann. Dann wird ihm alles zu einem Dialog mit dem Tod und oft scheint er sich zu freuen, über einen „Gesprächspartner“, den er nicht schachmatt setzen kann, der keine Angst hat, auch keine Furcht, noch nicht mal Eigenschaften, außer denen, die er ihm zuschreibt, wobei er jedes Mal schnell weiß, dass er sie ihm zuschreibt in Ermangelung von Widerstand seitens des Todes. Geduldiger als er selbst ist dann nur noch der Tod. Ob Gott auch so geduldig ist, fragt er sich manchmal in so Momenten, wo er, weil man das auch nicht wissen, nur „wissen“ kann, spaßeshalber annimmt, dass es das gibt, Gott. Wenn es das gibt, muss es geduldig sein, und zwar über alle menschlich vorstellbaren Maße hinaus. Er hat es so oft herausgefordert, meistens im Wissen darum, oder zumindest mit der Ahnung davon, dass das, was er tun würde, keine lebensbejahende Aktion werden würde, keine Wahl, die Gottes Segen mit sich bringen könnte und es ist nie etwas passiert. Er lebt nicht nur immer noch, nicht nur hat ihn nicht der Blitz getroffen, es geht ihm gut, sehr gut sogar. Er hat so derart oft gegen das, was man in Ermangelung einer treffenderen Beschreibung und angesichts seiner Erziehung die göttliche Ordnung nennen kann, wissentlich und willentlich verstoßen, sich dagegen entschieden um vieler Dinge Willen, nicht zuletzt um einer Macht Willen, die er zum Leben braucht, vor allem, wenn gerade ein paar Tage lang nichts Rühmliches über ihn in der Zeitung steht. Manchmal geht er dann zurück zu diesem Satz aus seinen jüngeren Jahren, das Schlimmste für Gott ist, dass es ihn nicht gibt und manchmal fragt er sich, ob er wohl trotz allem so viele gute Sachen gemacht hat, dass er der Gnade Gottes (gäbe es ihn denn) trotz allem würdig sei, als wäre Gott eine Person, was er auch ziemlich genau weiß und die sanfte Koketterie, die darin mitschwingt, lässt ihn über sich selbst lächeln. Beantworten kann er sich diese Frage aber nicht und das versucht er auch nicht. Da ist Gott ihm so schweigsam wie der Tod. Gäbe es diesen Tod nicht, dieses Sterben vor allem, das vermutlich viel schlimmer noch ist, weil man das ja noch miterlebt, dem ein Mensch durch nichts entkommen kann, würde es ihn auch so derart obsessiv beschäftigen? Weiß er nicht, aber er lacht, als ob er darüber auch schon nachgedacht hätte und zu keinem Ergebnis kommen konnte. Wie gut für die Kunst und wie schrecklich für das Leben, dass man das alles nicht wissen, sondern nur immer wieder darüber spekulieren kann. Wo dieses Schreckliche und dieses Gute sich zusammentun und auf dem Theater zu einer Frage verbinden, dem sich Zuschauer:innen nicht entziehen, sondern durch das sie wie magnetisch angezogen sind, entsteht Großes. Das kann Johan Simons so zusammenfügen, wie im Moment zumindest, kein anderer.

Langmut 1985 gründete er also die Theatergroep Hollandia, 1987 kam der Musiker Paul Koek als Ko-Leiter dazu. Diese goldenen Jahre, auf die Simons immer wieder zurückkommt, wenn er überlegt, wie ­irgendwas weitergehen muss, sowohl innerhalb der Arbeit an einer Inszenierung als auch, wenn er über Strukturen nachdenkt, sind oft beschrieben und hier nicht das Thema. Wieder allerdings lässt

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er jemanden nach ein paar Jahren zurück, der ihm im Krach die Partnerschaft kündigt, dieses Mal Paul Koek, seinen Co-Leiter und Freund, der daraufhin eigene Wege geht und sich nie wieder mit ihm versöhnt.

Sanftmut Wie arbeitet er? Kurz gesagt: demokratisch. Er selbst lacht, wenn er das über sich sagt, und fügt hinzu „manipulativ demokratisch, aber Demokratie ist immer manipulativ“. Was er damit meint, ist, dass es keinen Zweck hat, jemandem einfach zu sagen, was das Beste ist, als wisse er das überhaupt, es geht nur, wenn eine Konstellation zwischen Text und Spieler:innen entsteht, in der tatsächlich nichts von vorneherein festgelegt wird und keine Erwartung erfüllt werden muss. ­Johan Simons bereitet seine Arbeiten meistens sehr lange vor. Das heißt, er liest ein Stück wieder und wieder, bevor eine Fassung entsteht. Am liebsten auf niederländisch, wenn das möglich ist. Er liest, lässt sich erzählen, vorlesen, jedes Material dazu ist ihm recht, nichts erscheint ihm abwegig, er nimmt alles auf, ohne irgendeine Art der Inspiration abzulehnen, ohne einzugrenzen, ohne sich ein Bild zu machen, er lässt alles in sich hineinfließen, sehr lange, ohne irgend etwas zu bewerten. Und oft beginnt es damit, dass jemand etwas sagt, das ihn aufhorchen lässt, eine Frage hat, die ihm Möglichkeiten eröffnet. Nur zum Beispiel, als Elsie de Brauw, nachdem sie eine Inszenierung von „Ödipus“ irgendwo gesehen und sich danach gefragt hat, warum Jokaste eigentlich sterben muss, warum es überhaupt eine Frage von Schuld sein muss, sein totgeglaubtes Kind als Mann in seine Arme zu schließen und ihn als Mann zu lieben, hat ihn das elektrisiert und so sehr interessiert, dass er angefangen hat, sich mit dem Stück zu beschäftigen. Zu sammeln, zu fragen, zu kon­ zentrieren, zu überlegen, wer was spielen muss, wie eine Fassung sein kann, welche diese Frage auf das Spiel setzt. Stückfassungen, die auf diese Weise entstehen greifen oft sehr in den Text ein, lassen kein Wort auf dem anderen, aber sie verletzen den genuinen Ursprung der Sache nie. Es kann geschehen, dass ganze Figuren als solche nicht auftreten, wie in Hamlet, aber das bedeutet nicht, dass sie konzeptuell wegdiskutiert worden sind, sondern, dass sie „mitverkörpert“ werden in anderen Figuren, dass sie im Raum aufgehen, in der Musik klingen, oder zwischen den Spieler:innen auf der Bühne zirkulieren, ohne als Körper anwesend zu sein. Parallel zu all diesen Gesprächen experimentiert er mit möglichen Bühnenräumen, wobei er ­alles, was er erlebt hat mit der Arbeit an dem Text, mit dem oder der Bühnenbildnerin ausprobiert, um zu einem Raum zu kommen, der offen und definiert zugleich ist und der den Spieler:innen alle Freiheit lässt, ohne sie im Ungefähren verkommen zu lassen. Der Beginn der Proben ist dann eine Fortsetzung des Nachdenkens, dessen Ziel es ist, Schlussfolgerungen jeder Art so lange wie möglich herauszuzögern. Oft kann man während dieser ersten Wochen den Eindruck bekommen, er habe das Stück, den Roman, den Text überhaupt nicht gelesen. Allerdings täuscht das gewaltig – es ist eine Haltung des „Nicht-Wissens“, die er instinktiv und bewusst gleichzeitig einnimmt, um zu verhindern, dass Bedeutungen, Klischees, Ansichten darüber, wie sich etwas verhält, als körperliche Geste einrasten, um damit jede Suche, jeden ­neuen Gedanken von vornherein zu beeinträchtigen. Johan Simons liest nicht einen oder zwei Tage mit den Spieler:innen, sondern oft wochenlang. Alle Fragen sind möglich, bei Schlussfolgerungen oder Zuschreibungen von wem auch immer reagiert er unwirsch, schroff und sehr kurz. Es geht darum, Verfestigungen aller Art herauszuzögern und sie im besten Fall auf immer unmöglich zu machen. Auf diesen Proben sind dann schon alle Beteiligten einer Produktion anwesend und immer wieder auch Gäste, einfach interessierte Menschen, was wiederum dazu führt, dass alle, die dort sind, eine Form finden müssen, sich zu zeigen, die nicht davon abhängt, dass es geheim ist, oder privat, oder „heilig“. Die Auseinandersetzungen werden nicht abgeschirmt von dem, was wir gemeinhin Leben nennen. Auf diese Weise werden auch die Kostüme eingeführt. Immer mal wieder trägt eine:r der Spieler::innen schon Kostümteile, die dadurch auch weiterentwickelt und modifiziert werden können. Auch die Musik bzw. Rhythmen, Geräusche, Klänge kommen peut à peut hinzu, um einverleibt zu werden. Jede:r darf und soll etwas beitragen. Die Gespräche und Diskussionen sind oft kontrovers, manchmal hart und klar; das Einzige, was er nicht duldet, ist Respektlosigkeit in welcher Form auch immer und er hat da einen intuitiven klaren Detektor in sich, dem er ohne Verzögerung folgt.

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Alles andere wird so lange verzögert, hinausgezögert wie nur irgend möglich. Festlegungen erfolgen nicht. Die Form zum Inhalt läuft noch frei herum, zirkuliert, verändert sich, manchmal durch eine absichtslose Geste, durch irgendeine Frage, ein anderes Verstehen von etwas, das jemand lange für fraglos gehalten hat, was dann vieles andere mit sich zieht. Wie macht er das? Indem er keine Frage auf sich bezieht, kaum jemals eine beantwortet, auf die Gespräche innerhalb der ganzen Gruppe vertraut, denen er zuhört die meiste Zeit, ohne – sichtbar – in irgendwas einzugreifen. So entstehen Konstellationen, Möglichkeiten. Gedanken werden physisch. Bilder entstehen nicht. Vielleicht später. Aber auch später, aus inneren Bildern werden Gedanken. Aus Gedanken werden Gesten und Haltungen, die sich physisch innerhalb eines Raumes (ent-)äußern. Auf die Bühne zu gehen ist deshalb in Produktionen von Johan Simons keinen Einschnitt, sondern eine Fortsetzung der Auseinandersetzung unter den Bedingungen des Raums, also eher ein sanfter Übergang in etwas Räumliches als eine Zäsur. Auch hier, er spricht nicht plötzlich, unterbricht auch nicht dauernd, er folgt dem Fluss, manchmal lässt er eine Szene fünf Mal wiederholen, ohne viel zu sagen, bis sie sich verändert, alles Feste verliert, sich verflüssigt und dann erst beschreibt er, kurz, was er gesehen hat. Außerdem kann er warten. Manchmal kommen neue Spieler::innen hinzu, deren Freiheit noch nicht entfaltet ist. Es passiert dann, dass sie wochenlang dabei sind, aber nicht wirklich sichtbar werden in ihrer eigenen Art. Er schaut dann zu und wie an ihnen vorbei, als beachte er sie nicht. Irgendwann tun sie etwas, vielleicht etwas Unwillkürliches, etwas Ungeduldiges, oder Zorniges, etwas jedenfalls, das sie nicht kontrollieren und dann ist er da, sofort, sekundenschnell. Ab da arbeitet er mit ihnen und Dinge verändern sich. Das heißt nicht, dass er ständig wie ein Zenmeister in irgendeiner Reihe sitzt und Dinge sich entwickeln lässt. Er will die Spieler:innen nicht stören, er will sie fördern, immer. Aber hier elendet er jeden, der neben ihm sitzt mit ständigen leisen, aber unmissverständlichen Fragen, auf die er schnelle kurze Antworten will und zwar auf der Stelle. Zuspruch oder Ablehnung, am liebsten verbunden mit einem einzigen treffenden Satz, den er sofort verwerten kann. Das liegt nicht jedem und in den Reihen steigt, je nach Temperament, der Stresspegel oder der Rausch. Vorne ist er bis zum letzten Moment die Ruhe selbst. Diskussionen, die unter den Spieler:innen entstehen, weicht er niemals aus. Er lässt sie geschehen, hört sich alles an, selbst wenn jemand einen Tag vor der Premiere alles noch mal in Frage stellt, und entscheidet dann. Geduldig. Sanft. Und ehrlich darin. Danach geht er weg, überlegt sich alles noch mal und wenn er nichts mehr ändern kann, hat er etwas schon im Kopf für einen nächsten anderen Anfang.

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Über den Glauben Das Verhältnis von Angst und Freiheit

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Johan Simons, Intendant am Schauspielhaus Bochum

Foto Joseph Kadow

ch bin in erster Linie Künstler, Regisseur – alles andere erst in zweiter Linie, und ich komme als Regisseur an vielen Texten vorbei, von denen manche mich mehr prägen als Menschen und selbst mehr auch, als die Schriftsteller:innen, die sie verfasst haben. Am glücklichsten und am freiesten fühle ich mich in einem Probenraum. So etwas zu sagen heißt nicht, etwas über mein persönliches Leben zu sagen. Es ist einfach etwas ganz anderes. Die größte Ausdehnung und Reichweite empfinde ich dort. Die Begrenzungen sind andere und sie sind immer zu überwinden. Es ist ein anderes Bewusstsein, etwas auf einen Spielvorgang zu setzen, eine andere, schwer zu beschreibende Sicherheit, die nicht kontrolliert werden muss und deshalb mit Freiheit alles zu tun hat. Ich bin dort, ich warte nicht, ich bin da, lasse Dinge und Situationen geschehen und schaue zu, ohne ausgeschlossen zu sein. Es entstehen, wenn’s gut läuft, Gedanken, die sich physisch manifestieren und alle, die da sind, wissen instinktiv, wann sich etwas verändert – eine Atmosphäre, die Luft, die Situation. Ich denke dann nicht nach, ich tue es einfach, eingreifen, oder eben nicht. Ich kann die Spannung steigen und fallen sehen, ich kann sehen, wer noch Zeit braucht, wer Unterstützung benötigt, wer allein gelassen werden muss, auch, wer sich nicht hingeben kann – und es macht nichts. Ich finde dafür etwas, mir fällt etwas ein. Das kann zuweilen passiv wirken, ist es aber nicht. Ich kritisiere auch nicht. Wenn ich sprechen muss, sage ich so lange positive Sachen, bis der, mit dem ich spreche, weiß, was anders sein kann. Das ist für mich ein durch und durch demokratischer Prozess, dessen Freiheit darin besteht, eben nicht jede:n gleich, sondern jede:n unterschiedlich zu behandeln, nämlich so, dass er oder sie agieren kann. Vielleicht ist das eine provozierende Idee, aber jeden der Menschen, mit denen ich arbeite, die mit mir arbeiten, gleichzubehandeln, würde mich und uns nirgendwo hinführen.

Johan Simons

Über den Glauben

Ich bin sehr calvinistisch erzogen worden und habe vieles davon im täglichen Umgang als demütigend erfahren. Aus einem Widerstand gegen jede Art von Zwang, die sich für mich mit dieser Art religiöser Erziehung verbindet – nicht eigentlich mit Religion selbst (ich war als Kind sehr religiös und wollte Prediger werden – niemals allerdings Priester!) habe ich später jahrelang auf Fragen nach meiner Haltung diesbezüglich ziemlich kategorisch erklärt, die größte Strafe für Gott sei, dass es ihn nicht gibt. Sehr viele Stoffe aber, die mich im Theater interessieren, sind von Religiosität durchtränkt, man denke allein an die poetische Theorie Dostojewskis, deren traurige Anerkenntnis und Resignation der Existenz Gottes gegenüber für den Zustand der Menschheit heute so viel beizutragen hat. Oder an die Alten Griechen, denen eine Existenz des ­Göttlichen, was allerdings wieder etwas ganz anderes ist, als an Gott zu glauben, naturgegebene Voraussetzung ­allen Denkens oder Fühlens war. Ob Zufall eigentlich existiert, frage ich mich heute manchmal. Wenn ja, dann was – ist das dann die transzendentale Obdachlosigkeit, von der Walter Benjamin spricht, wenn nein, heißt das, es gibt Gott und alles ist sowieso vorherbestimmt, oder liegt zwischen diesen beiden Extremen ein Irrtum, über den es sich lohnt, nachzudenken? Ob die Wahlen, die wir treffen unser Schicksal tatsächlich verändern (können), frage ich mich auch. Das folgende schreibt der deutsche Dichter Heinrich Heine am 9. Juli 1848 an seinen Verleger (man könnte ­denken, das habe jemand vorgestern verfasst): „Über die Zeitereignisse sage ich nichts; das ist Uni­ver­sal­ anarchie, Weltkuddelmuddel, sichtbar geworde­ner Got­tes­ wahnsinn! Der Alte (also Gott) muß eingesperrt werden, wenn das so fortgeht.“ Heinrich Heine am 9. Juli 1848 (Brief an Campe)

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Er stirbt am 17.1.1856 in Paris und der § 7 seines Testaments lautet folgendermaßen: „Ich verlange, daß mein Leichenbegängnis so einfach wie möglich sei und daß die Kosten meiner Beerdigung nicht den gewöhnlichen Betrag derjenigen des geringsten Bürgers übersteigen. Obschon ich durch den Taufakt der lutherischen Konfession angehöre, wünsche ich nicht, daß die Geistlichkeit dieser Kirche zu meinem Begräbnisse eingeladen werde; ebenso verzichte ich auf die Amtshandlung jeder andern Priesterschaft, um mein Leichenbegängnis zu feiern. Dieser Wunsch entspringt aus keiner freigeistigen Anwandlung; ich sterbe im Glauben an einen einzigen Gott, den ewigen Schöpfer der Welt, dessen Erbarmen ich an­ flehe für meine unsterbliche Seele. Ich glaube mich sowohl um meine Landsleute wie um die Franzosen wohlverdient gemacht zu haben, und die Ansprüche, welche ich auf ihren Dank besitze, sind ohne Zweifel das wertvollste Vermächtnis, das ich meiner Universalerbin zuwenden kann.“ Nachrichten aus der Matratzengruft, wie Heine seine tatsächliche und auch seelische Behausung der letzten Jahre nannte. Die Frage, die mich, nicht nur angesichts solcher Sätze und Testamente und überhaupt angesichts meines Lebens beschäftigt, ist immer wieder, gibt es diesen Gott, gibt es ihn wirklich und wenn – schaut er nur zu? Ist er „jemand“, oder „etwas“? Was, wenn wir sagen würden, es gibt ihn nicht. Könnte ihm ja egal sein, wenn es ihn gibt. Wenn er Gott ist, und Gott heißt dann: allmächtig, allwissend, weder geboren noch sterblich, tut er doch, was er tut, ob ich an ihn glaube, oder nicht? Dann bin ich sowieso eine unsterbliche Seele, oder eben nicht, was auch immer ich zeit meines Lebens anstelle, mich nicht damit beschäftige, oder doch, es mir egal ist, oder ich mich fürchte? Kann ich doch machen, was ich will, ich komme doch zurück, oder eben nicht? Also weswegen muss ich daran überhaupt glauben, wenn es einfach so ist? Es passiert sowieso, was passiert, und ich könnte ja auch die Kontrolle aufgeben und mich diesem Leben einfach hingeben. Hingabe ist eine ­Fähigkeit zur Unschuld. Also, warum tue ich das nicht? Aus Angst natürlich. Menschen – ich auch – und je älter ich werde, desto mehr, haben Angst. Wahlweise vorm Leben, vorm Sterben, vorm Tod und meistens alles das gleichzeitig – auch wenn’s absurd ist. Und wir scheinen diese Angst irgendwie benennen zu müssen, um sie damit von uns wegzuhalten, als ­etwas Allgemeines zu empfinden, womit wir dann nicht ­allein sind und vor allem als etwas, das nicht wir selber sind. Weil das so ist, habe ich Gott immer wieder weggestellt, erklärt, es gäbe ihn nicht, mich dabei dauernd mit Stoffen beschäftigt – und tue das noch – in denen Gott eine nicht zu negierende Größe darstellt. Dass Menschen sich vor Gott fürchten und immer wieder überlegen, ob es ihn nun gibt, oder nicht, hat vielleicht gar nicht so viel mit Gott zu tun, sondern mit Macht ausüben-

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den kirchlichen Institutionen, die rundweg alle, zumindest soweit ich das überblicke, die Menschen in einer Realität der Angst und vor allem der Unfreiheit sehen und fest­ halten wollen. Indem sie sich eine Deutungshoheit über den Sinn und Zweck sämtlicher Heiligen Schriften verschafft und einmütig festgestellt haben, der Mensch sei schon schuldig geboren und habe im Verlauf eines Lebens keine andere Chance als schön demütig und schüchtern durch die Welt zu laufen, den Kopf nicht zu heben und vor allem Angst zu haben, haben diese kirchlichen Institutionen das geschaffen, was die allermeisten Menschen entweder in den Widerstand oder in die Stromlinienform treibt. Was wäre, wenn ich gar nicht „sowieso schon immer“ schuldig wäre, was wäre dann Gott? Zufällig habe ich neulich die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies in der Version eines jüdischen Gelehrten (Rabbi Cooper) in der Hand gehabt. Kurz gesagt schreibt er, die Vertreibung aus dem Paradies hat nichts mit einem Fehlverhalten von Eva zu tun, sondern mit der Erfindung der Kreativität und des Bewusstseins. Ungehorsam ist hier die Urform der Kreativität und der Preis für Kreativität ist Bewusstsein. Solange Menschen eins mit Gott waren, also vor dem Rausschmiss, brauchten sie kein Bewusstsein … eine einzige Einheit, untrüglich lebenserhaltendes Tun, eine Balance in allen Dingen – wessen müsste man sich gewahr sein? Ungehorsam benötigt Kreativität, Zweifel, Mut, Risikobereitschaft – ein Ungehorsam und plötzlich wussten sie, dass sie nackt waren. Das heißt, die Menschen waren sich ihrer selbst bewusst. Eines dieser Gottesgeschenke, mit denen die Menschen, weil sie plötzlich und seitdem die Wahl haben, daraufhin dann umgehen mussten. Mir hat diese Auslegung gefallen, weil sie keine UrSchuld verteilt, sondern Zukunft – übrigens auch so eine menschliche Erfindung, die mit dem Bewusstsein für sich selbst einhergeht. Denn wenn man an so etwas wie Zukunft glauben möchte, gehört die Endlichkeit dazu. Von dem aus rückwärts gedacht, dann alle für Angst und Zweifel anfällig sind und sich fragen, ob sie auch gut im Sinne des gött­ lichen Erbarmens gehandelt haben, wenn sie ihre Verdienste auf eine Reihe setzen. Für mich ist es oft die Stille, die alle diese Arten von Angst und Unbehagen wegschafft. Wenn ich Schauspieler:innen zuschaue zum Beispiel, packt mich das. Ich tue das nicht selbst, es passiert einfach. Ich sitze so da, meine Augen fallen zu, oft denken die Leute um mich herum, ich sei in Schlaf gefallen – das Gute daran ist, dass sie sich unbeobachtet fühlen – aber ich schlafe nicht; ich nehme wahr. Oder während langer diskussionsreicher Sitzungen sitze ich manchmal einfach da, lasse das alles auf mich wirken, dann stellt sich manchmal ein größeres Bild ein und ich weiß auf einmal, wie’s geht. Das könnte etwas sein, was auf diese Ausgangsfrage indirekt antwortet. Die letzten zwei Inszenierungen, die ich gemacht habe, in denen die Frage nach Gott bzw. den Göttern ein großes


Thema war, sind „Ödipus, Herrscher“ und „Alkestis“ gewesen. Zwei Stücke, die unterschiedlicher kaum sein können, aber sie haben doch etwas sehr Wichtiges gemeinsam. In beiden Stücken geht es letztlich um das Getrenntsein des Menschen von Gott, aber nicht in einem modernen Sinne des Zweifelns daran, ob es ihn überhaupt gibt, oder darum, eine Antwort auf die Frage nach Gott zu finden. Im Griechenland dieser Stücke war es im wesentlich keine Frage, ob die Götter existieren, sondern, wie mit ihren Forderungen und ihren Ansichten umzugehen sei. (Der eine unsichtbare Gott der Christen war noch nicht recht verbreitet, jüdische Schriften kursierten bereits, eine christliche Aneignung und Zusammenfassung, also die Bibel, noch nicht.) Götter sahen aus wie Menschen, oder wie Tiere, oder wie beides, nur oft viel größer, man durfte sich von ihnen ein Bildnis machen, sie hatten im Gegensatz zu dem einen unsichtbaren Gott, den wir heute kennen, Eigenschaften, sie konnten alles Mögliche sein, genau wie Menschen, aber sie waren unsterblich und die Menschen nicht. Priester hatten eine andere Funktion als die heutigen, sie waren ausschließlich dazu da, die Kulte und Rituale durchzuführen, waren aber keine Nadelöhre, durch die der Weg zu den Göttern erst gebahnt werden musste. Das macht die Sache des Nachdenkens darüber einfacher und schwieriger zugleich, die Frage nach der Verantwortung der Menschen für ihr Handeln auf eine andere Weise brisant. Ödipus, der als Figur auf einer Schnittstelle zwischen Mythos und Demokratie existiert, weicht vom unbewussten, das heißt fraglosen Pfad des Göttlichen ab. Er schwingt sich auf gegen die Macht des Göttlichen, um zu einer Position als Politiker zu kommen. Die Götter tolerieren das nicht und halten ihm sich selbst als Spiegel vor, machen also die Frage seiner Geburt zum Fallstrick für ihn. In diesem Stück wird selbst die gesellschaftliche Stellung der Frau als historisch und nicht mehr als naturgegeben formuliert und ich leite daraus die Frage ab, warum sie eigentlich sterben muss, – die Rechte Freuds an allen möglichen finsteren Komplexen werden natürlich gewahrt. Das geht nur, wenn ich unwissentlich und zähneknirschend die Existenz des Göttlichen anerkenne, fürchte ich. Was auf dem Theater natürlich leichter ist, weil die Folgen Vergangenheit sind. Im Leben würde ich so weit nicht gehen, aber im Spiel (wo der Mensch, wie Schiller sagt, ganz Mensch ist), schon. Während wir an „Alkestis“ gearbeitet haben – und das fällt mir auch jetzt erst auf, haben wir alle die Existenz dieser Götter einfach akzeptiert, haben nicht versucht, irgendwas zu „übersetzen“ für heutige Zuschauer:innen und dabei ist dann etwas wirklich sehr Witziges herausgekommen, das gleichzeitig unendlich traurig ist. Wir haben es wörtlich genommen, dass Götter Eigenschaften haben, traurig und enttäuscht sein können, aber zu anderen, radikaleren Lösungen in der Lage sind als Men-

Johan Simons

Über den Glauben

Was wäre, wenn ich gar nicht „sowieso schon immer“ schuldig wäre, was wäre dann Gott? schen, eben weil sie keine Angst haben … Die Angst vorm Tod, auch der gesellschaftliche Ausschluss des Todes aus dem, was wir Leben nennen, so zu tun, als seien das „zwei sehr verschiedene Zustände“, wie Herakles sagt, das ist dann wohl die Angst, die uns alle diese Fragen stellen lässt. Ich kenne während meiner Arbeiten an allen möglichen ­Themen auf dem Theater diese Momente, in denen sich für mich wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem einzigen Augenblick von totaler Präsenz im Hier und Jetzt zusammenziehen. Das empfinde ich als Eingebung, als Geistesblitz und ich weiß dann plötzlich Sachen, ohne sie konstruieren, oder mühsam ausdenken zu müssen. Ich bin dann wach und habe nicht nur keine Angst, ich weiß dann gar nicht, was das sein soll. Später wieder weiß ich das sehr gut. … Wenn ­alles wieder normal ist, ist die Angst auch immer dabei. Es scheint also so zu sein, wenn ich mich frei fühle, Bewusstsein werde – wie in solchen Momenten, weiß ich alles, was ich weiß, leicht und ohne Anstrengung, das scheint mir irgendwie göttlich, auch dann, wenn ich „Gott“ in Inszenierungen nicht zum Thema mache. Und da bin ich dann wieder da angekommen, wo ich angefangen bin. Feigheit aus Angst – vor was – dem Tod und dem Sterben, der Frage, ob Gott Bewusstsein ist, oder ob Bewusstsein Gott ist. Wenn Gott Bewusstsein ist, sind wir Menschen raus. Dann gibt es eine Instanz, die etwas hat / ist, das wir nicht haben oder sind oder sein können. Dann hätten all diese kirchlichen Institutionen recht, würden aber auch nichts nützen, weil wir das ja einfach nicht haben und also auch nicht sein können. Wenn Bewusstsein Gott ist, dann sind wir Teil von allem, dann ist das Göttliche eine Energie, eine Frequenz, auf die sich jeder Mensch einschwingen kann, und alles ist wieder offen. Ich habe mich noch nicht entschieden, aber je älter ich werde, desto mehr hoffe ich auf das Zweite.

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JAN PHILIPP SPRICK

Klang und Form Die Rolle von Musikalität im Theater von Johan Simons

B

eim Nachdenken über die Rolle von Klang und Form im Theater von Johan Simons geht es um den Kern dessen, was sein Theater ausmacht. Dabei gilt es zwei Ebenen zu unterscheiden: die Ebene des „Hörbaren“ und die Ebene des „Unhörbaren“. Diese beiden Ebenen sind zudem noch in paradoxer Weise aufeinander bezogen. Während das klanglich „Hörbare“ auf das sprachlich nicht Sagbare verweist, trägt das strukturell „Unhörbare“ dazu bei, die sprachliche Ebene der Inszenierungen in eine Form zu bringen. Ausgehend davon sind es insbesondere zwei genuin musikalische Parameter, die wesentliche Aspekte des Theaters von Johann Simons zu fassen vermögen: Klang und Form. Musik und Klang spielen so also nicht nur explizit hörbar eine wichtige Rolle bei Simons, sondern auch im Hinblick auf die implizite „Musikalität“ seines Theaters. Während auf der Ebene des Klangs gewissermaßen ein Grundton der Inszenierungen gefasst werden kann, hilft ein musikalisch verstandener, temporaler Formbegriff dabei, die innere Dramaturgie und Spannungsentwicklung zu beschreiben. Mit dem Bezug auf Form lässt sich auch die konkrete Funktion beschreiben, die die Musik in seinem Theater einnimmt. Natürlich hat die Musik bei Simons immer auch in unterschiedlicher Weise die Funktion, Stimmungen zu verstärken, aber auch die, parallele Geschichten zu erzählen und zu unterstützen. Was aber immer mit der Musik in Simons‘ Theater verbunden ist, ist die Funktion der formalen Strukturierung oder – etwas anders gesagt – der unaufdring­ lichen Gliederung. In diesem Sinne wird ein abstraktes Potenzial der Musik genutzt, das unabhängig von der jeweils emotionalen und ästhetischen Wirkung der Musik existiert. Die Musik ist einerseits sehr wichtig für die Dramaturgie, andererseits drängt sie sich in der Regel nicht in den Vordergrund, sondern hat – ähnlich wie häufig in seinen Stücken die Anwesenheit aller Schauspieler:innen auf der Bühne – eine dauerhaft-zurückhaltende Präsenz.

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Simons arbeitet mit sehr unterschiedlichen Musiker­innen und Musikern zusammen. Es gibt, seit die Theatergroep Hollandia sich 2004 aufgelöst und der Musiker Paul Koek und Johan Simons‘ Wege sich getrennt haben, kein festes „Duo“ mehr. Die Diversität der verschiedenen Einsatz­ formen der Musik ist dann auch das, was das „Musikalische“ an Johan Simons‘ Theater ausmacht. Und dennoch gibt es Kontinuitäten, die ich hier pointiert – ohne dem ­Fazit zu viel vorwegzunehmen – so charakterisieren würde, dass die Musik bei ihm nie etwas Äußerliches ist, sondern dass die sehr heterogenen Klangwelten in den verschiedenen Arbeiten immer aufs Engste mit den Regiekonzepten und der Dramaturgie verschmolzen sind. Um sich dem musikalischen Parameter des Klangs in den Inszenierungen von Johan Simons zu nähern, ist die Frage hilfreich, was fehlen würde, gäbe es die klanglichmusikalischen Elemente in den Inszenierungen nicht. Auch hier zeigt sich ein Paradox: Die Musik ist kein Element der Arbeiten von Johan Simons, das unmittelbar im Gedächtnis bleibt, das aber bei der Erinnerung an den „Klang“ der Inszenierungen in sehr direkter Weise einen Kern der Botschaft trifft und auf diese Weise die Erinnerung an die ­Inszenierungen umso nachhaltiger macht. Diese Rolle der Musik, beziehungsweise des Sound­ designs, in Simons‘ Inszenierungen zeigt sich an dem künstlerischen Background derjenigen, die in vielen seiner Inszenierungen für diesen Bereich verantwortlich sind. Es handelt sich etwa mit Benjamin van Dijk, Mieko Suzuki oder Warre Simons fast ausnahmslos um Künstler:innen, die sich in der Selbstbeschreibung sowohl als Komponist:innen als auch als Soundesigner:innen oder Klangkünstler:innen bezeichnen. Wie bereits angedeutet stellt sich bei der ­ ­Beschreibung und Analyse der von ihnen entwickelten Klängen gelegentlich die Frage, ob es in der Inszenierung überhaupt „Musik“ gab. Oder ob nicht die Inszenierung insge-


samt einen bestimmten „Klang“ hat, der sich sowohl aus den häufig künstlich produzierten Klängen als auch aus einer spezifischen Musikalisierung der Sprache zusammensetzt. In dieser Hinsicht kann man also keinesfalls davon sprechen, dass die Klänge ein akzidentielles Moment zur sprachlichen Ebene darstellen. Die Klänge sind sehr eng mit der Sprache verbunden, drängen sich aber nie in den Vordergrund und etablieren auf diese Weise eine zusätzliche Aufmerksamkeitsebene, die das Publikum für den subtilen Umgang mit der Sprache sensibilisiert, ohne plakativ zu sein. Der musikalische Blick auf Simons‘ Theater erweist sein Potenzial insbesondere im Zusammenhang aus formal und rhythmisch sehr genau gebauten Einzelszenen und deren Einfügung in eine übergeordnete Struktur. In vielen Inszenierungen gibt es häufig eine klare Trennung zwischen ­Musik und Abschnitten ohne Musik. Auf diese Weise kommt der Musik automatische die Rolle der formalen Strukturierung zu. Und auch wenn beispielsweise Klänge über längere Zeiten hinweg eine quasi dauerhafte Präsenz haben, ist das ein formales Statement. Durch diese enge Verwobenheit der Musik mit anderen Aspekten seines Theaters, ist die Musik bei Simons keine reine Theatermusik, die anlass­ bezogen Stimmungen vertont, verstärkt oder illustriert. Sie wird vielmehr Teil der theatralen Installation, setzt im wahrsten Sinne des Wortes den „Ton“ einer Inszenierung und ergänzt sich damit mit anderen wiederkehrenden Elementen in Simons‘ Theater. Die Auswahl der Musikerinnen und Musiker macht deutlich, dass Simons von einem weiten Musikbegriff ausgeht, in dem es keine klare Trennung von Musik und Geräusch gibt. In der von der Kritik gefeierten Inszenierung von Tschechows „Iwanow“ am Schauspielhaus Bochum zeigt sich exemplarisch die gesamte Bandbreite, mit der Simons Musik in seinem Theater einsetzt, auch wenn die Musik in dieser Inszenierung – insbesondere auch mit der epischen Länge der Aufführung – eine eher untergeordnete Rolle einnimmt. Für Musik und Sounddesign ist der junge Multiinstrumentalist und Sounddesigner Benjamin van Dijk – Jahrgang 1997 – verantwortlich, der einen Hintergrund in elektroakustischer ­Musik und in der Entwicklung texturierter, geschichteter und provokativer Klänge hat. Die Musik und die verwendeten Klänge sind vielfach unmerklich präsent, oder anders gesagt: Sie setzen teilweise so leise ein, dass man keine Anfänge wahrnimmt, sondern die ausgehaltenen Töne irgendwann einfach präsent sind und man erst in der Retrospektive bemerkt, dass sie schon länger dagewesen sein müssen. Auf diese Weise ist die Musik ein atmosphärisches Element, aber auch eines, das zunächst unbewusst zu größerer Konzentration im Hinblick auf die sehr komplexe Textebene zwingt. Neben den lang ausgehaltenen und teilweise auch sukzessive immer lauter werdenden Tönen nutzt Benjamin van Dijk aber auch ganz klassisch eine Glocke als strukturierendes Element, die den Ablauf des langen Abends ordnet. Hinzu kommt noch eine Bandbreite an

Jan Philipp Sprick

Klang und Form

zitierter Musik, wie beispielsweise der zweite Satz aus Beethovens Klaviersonate „Pathétique“ oder das A-capella-­ Lied von Roberta Flack „The first time ever I saw your face“. Insgesamt ist die Musik in „Iwanow“ nicht dominant, aber vielfältig und präsent und hat ihre stärksten Momente in der klanglichen Grundierung des sehr präzis gesetzten Tons der Inszenierung, die sich dem Publikum unmittelbar mitteilt und erschließt. Die Musik fasst hier klanglich etwas sehr dezent – aber in der Wirkung umso stärker – zusammen und trägt die lange Aufführung daher in entscheidender Weise mit. Die Rolle der Musik in der Inszenierung von Dostojewkis „Der Idiot“ am Hamburger Thalia Theater ist eine ganz andere. Der Pianist Per Rundberg spielt in der Aufführung live Klaviermusik von der russischen, mittlerweile von einem Kultstatus umgebenen Komponistin Galina Ustwolskaja. Ihre Klavierkompositionen zeichnen sich einerseits durch eine große Kargheit aus und haben andererseits einen sehr majestätischen, stellenweise fast pathetischen Charakter. Ihre große Wirkung entfalten sie aus einem überschau­ baren motivisch-thematischen Material heraus. In der ­Inszenierung ist den Kompositionen teilweise ein improvisatorischer Gestus eigen, der in seiner Abstraktion – die Musik ist das Gegenteil von illustrativ – stellenweise auch eine veritable Gegenwelt zu dem Bühnengeschehen ausmacht. Anders als bei „Iwanow“ ist die Musik nicht parallel zu dem Bühnengeschehen in Form von Klängen präsent, sondern hat hier wirklich die Funktion einer Ouvertüre und dann im Folgenden von Zwischenmusiken, die die Handlung unterbrechen und damit für Pausen und formale Struktur sorgen, beziehungsweise der uferlosen Romanvorlage für die Bühnenadaption eine formale Struktur geben. Musikalische Grundlage ist Ustwolskajas Sonate Nr. 5 für Klavier aus dem Jahr 1986, die gleich zu Beginn des Abends erklingt und dort sofort mit in erster Linie dissonanten und spannungsreichen Passagen einen dramatischen Ton setzt. Nach dem ersten Abschnitt gibt es eine kurze Zwischenmusik, die dann von hohen und tiefen Tönen mit Skalenmelodik bestimmt ist. Auch während des Ingangsetzens der Drehbühne erklingt immer wieder Musik. Nach weiteren Zwischenmusiken gibt es im weiteren Verlauf einige sehr klar mit markanten Textaussagen korrelierenden Einsatz der Musik. So bereitet eine längere Musikpassage atmosphärisch den ausgebreiteten und inhaltlich wichtigen Monolog des Protagonisten über die Frage „Darf man einen Menschen töten?“ vor. Es ist auch häufig so, dass die Musik mit wuchtigen Akkorden unmittelbar an zentrale Passagen anschließt und so den Nachhall dieser wichtigen Aussagen in den Bereich der Klänge verlagert. Das gelingt in den meisten Fällen gut, birgt aber auch die Gefahr, dass die Musik – gerade vor dem Hintergrund von Ustwolskajas Pathos – zuweilen einen illustrierenden Charakter annimmt. In einer weiteren Zwischenmusik sind repetitive Akkorde der klangliche Hintergrund für eine gemeinsame Bewegung des

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gesamten Ensembles an den vorderen Bühnenrand. Jetzt kommen Aktion auf der Bühne und Musik zusammen, nachdem die Rolle der Musik zuvor in erster Linie eine eigenständige, unterbrechende und kommentierende war. Es gibt aber außer den Klavierabschnitten auch andere musikalische Elemente. Neben einem – wie auch in Iwanow präsenten – Glockenschlag kommt eine Mundharmonika zum Einsatz, die einen großen Kontrast zu den überwiegend brachialen Klavierklängen bildet und deren Einsatz umso stärker wirkt, da Musik in der Inszenierung insgesamt sehr sparsam eingesetzt wird. Und je weiter das Stück fortschreitet, umso mehr zieht sich die Musik zurück. Im zweiten Teil nach der Pause dauert es fast eine halbe Stunde, bis wieder Musik zum Einsatz kommt. Und auch hier ist es nicht das Klavier, sondern wieder die Mundharmonika, die offenbar bewusst als klanglicher Gegenentwurf eingesetzt wird. Insgesamt bleibt bei der Inszenierung der Eindruck zurück, dass die Abstraktion der Kompositionen von Ustwolskaja von der Inszenierung nicht vollständig eingeholt werden. Die Musik bleibt in erster Linie ein Ordnungselement und ist darin womöglich auch austauschbar. Was hier ­vielleicht sogar möglich gewesen wäre, ist der Versuch, die ästhetisch radikale Musik von Ustwolskaja zum Ausgangspunkt und zur Inspiration für die Auflösung des Schauspiels in eine ähnlich bizarre und zerklüftete Ausdruckswelt zu machen, wie sie die Musik vorlebt. In diesem Sinne hat die Musik in „Der Idiot“ eben nicht nur eine gliedernde und streckenweise auch illustrierende Funktion, sondern sie birgt auch die Utopie, ein klangliches Beispiel für eine ganz andere Art des Schauspielens und des Theaters zu sein. In der Inszenierung „Ödipus, Herrscher“ nach Sophokles ist Mieko Suzuki für die Klangregie verantwortlich. Ich spreche hier bewusst nicht explizit von Musik, sondern von „Klangregie“, da hier in jedem Fall von einem sehr weiten Musikbegriff auszugehen ist, da Suzuki als Klangkünstlerin und DJ mehr an unkonventionellen und überraschenden Klängen, sowie an der klanglichen Einrichtung, Charakterisierung und Materialität von Räumen interessiert ist. In dieser Produktion ist es sehr interessant, dass die Bühne und mit ihr die gesamte äußere Form der Inszenierung eine Strenge hat, zu der die abstrakten Klangwelten von Suzuki in idealer Weise passen und die durchgehend immer auch ein ver­ störendes Potenzial haben. Die Musik, beziehungsweise die sehr reduzierten, aber darin umso intensiveren Klänge sind in dieser Inszenierung dafür verantwortlich, dass das ruhige, teilweise quälend langsame Tempo, in dem die Regie die Geschichte hier entfaltet, überhaupt auszuhalten ist. Das ist in diesem Zusammenhang keineswegs negativ g ­ emeint, da aus der eng verflochtenen Kombination aus langsamer Entwicklung der Handlung und aus unterstützenden und die Handlung verstärkenden Klängen eine extreme Spannung und eine ebensolche Konzentration erwächst. Die abstrakten Klänge fungieren als geradezu ideales Bindeglied zwischen der konzentrierten Textebene und dem sehr

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karg und doch bombastisch ausgestatteten Bühnenraum. Durch ihre Schroffheit gelingt es insbesondere den Klängen, die beiden anderen Ebenen miteinander zu verbinden und miteinander in Beziehung zu setzen. Das Ergebnis ist ein visuell-akustischer Raum, in dem die Stimmen und ­Texte in besonderer Weise resonieren können. Ähnlich wie Benjamin van Dijk in „Iwanow“ arbeitet Suzuki auch mit lang ausgehaltenen Tönen. So gleich in den ersten Minuten der Aufführung, die mit einem tiefen Ton, also in gewisser Weise einem „Orgelpunkt“ beginnt, über dem sich dann aber mehr und mehr Klangballungen auftürmen. Im weiteren Verlauf entwickeln sich die Klänge zunehmend von einem abstrakt-atmosphärischen „Außen“ zu einem Medium, das auch innere Zustände der Protagonist:innen hörbar macht. Dies reicht von einer klanglichen Repräsentation von Ödipus‘ Nachdenken durch hohe Töne, über den Einsatz von Kirchenglocken und Live-Schlagzeugern, die teilweise mit Tanzbewegungen kombiniert werden. Die Vertonung der ­inneren Zustände ist hier einerseits deutlich und klar und andererseits nicht plakativ und vordergründig. Je länger die Aufführung dauert, desto intensiver wirken die sich verstärkenden wechselseitigen Verbindungen aus visueller und klanglicher Darstellung. Auch in rhythmischer Hinsicht ­werden die Klänge bewegter, sodass wir hier in formaler Hinsicht insgesamt von einer Steigerungsidee ausgehen können und damit von einer entgegengesetzten Entwicklung als in der Adaption von Dostojewskis „Der Idiot“, wo sich die Musik sukzessive zurückgezogen hat. Wenn „Ödipus“ dann allerdings ohne Musik und Klänge endet, fällt das wiederum nach der vorherigen Steigerung sowohl als Leerstelle auf und lenkt die Konzentration zugleich noch einmal sehr deutlich auf die textliche Ebene. In der Produktion von Sophokles’ „Alkestis“ – die im Sommer 2022 zunächst in einem antiken Amphitheater beim Athens Epidaurus Festival stattgefunden und dann den Auftakt der Spielzeit 2022/23 in Bochum markiert hat, wird Musik in einer ganz anderen – nur vermeintlich vordergründigeren – Weise eingesetzt als in den bisher diskutierten Produktionen. Durch den stilistischen Rückgriff auf die ­Musik aus Christoph Willibald Glucks Oper „Alceste“ und die dazu stark kontrastierende Verwendung von Popsongs und Schlagern bekommt die Musik eine ganz eigene Ebene in dem Stück, da es immer wieder Momente gibt, in denen die Musik zentral in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät und nicht eine die Textebene begleitende, untermalende oder subtil charakterisierende Ebene darstellt. Simons arbeitet in dieser Produktion mit dem belgischen Komponisten und Klangkünstler Steven Prengels zusammen. Bereits 2015 hat Simons in der Produktion ­ ­„Accattone“ nach Pasolini mit Steven Prengels zusammengearbeitet, wo Bach-Kantaten unter der Leitung von ­Philippe Herreweghe musiziert wurden. Den Kern der musikalischen Ebene in „Alkestis“ bilden musikalische Motive nach Christoph Willibald Gluck. Doch was ist hier mit


„­ musikalischen Motiven“ gemeint? Für den Hörer oder die Hörerin, die Glucks Oper nicht kennt, klingt es zunächst unweigerlich wie Originalmusik von Gluck, die von einem hervorragenden Gesangsquartett s­zenisch präsentiert und von einer Orgel begleitet wird. Es handelt sich jedoch durchgehend um Neukompositionen unter Verwendung von Motiven aus Glucks Oper, also gewissermaßen um Stilkopien, die ästhetisch bewusst einen Bruch zu der sehr zeitgenössischen Atmosphäre auf der ­Bühne – die Schauspielerinnen und Schauspieler befinden sich durchgehend auf einem Campingplatz – darstellen. Das Gesangsquartett singt die relativ kurzen Intermezzi dann auch relativ ungerührt und ohne große opernhafte Geste, was die ästhetischen Brechungen auf unterschiedlichen Ebenen ­ dann noch weiter verstärkt. Aufgrund des antiken Stoffes ist es hier natürlich auch naheliegend, dass der Musik die Funktion des antiken Chors zukommt und sie so – wie in den anderen hier besprochenen Produktionen auch – die Aufführung formal strukturiert, indem die Gluck-Paraphrasen immer zwischen den einzelnen Szenen erklingen und sie damit nicht wirklicher Teil der Handlung sind, sondern eher eine Meta-Handlung darstellen. Dies ist komplett anders bei den eingespielten Popsongs: Sie sind auf die jeweiligen Personen fokussierten Kommentare dramaturgisch entscheidender Momente, die auf das Publikum den Eindruck machen, als sollten diese Momente retardiert, gedehnt und dadurch in ihrer emotionalen Intensität gesteigert werden. Etwas, das man nicht aussprechen kann, was aber „gesagt“ sein soll, wird durch Musik verkörpert. Der Inszenierung gelingt es, emotionale Tiefe durch eigentlich kitschig-oberflächliche Songs zu erzeugen. Dass das hier so überzeugend in Szene gesetzt wird, zeigt das Potenzial, durch geschickte Juxtaposition sehr heterogener Elemente die mangelnde Subtilität einzelner Elemente ins Gegenteil zu verkehren. Besonders eindrücklich geschieht dies mit dem Schlager „Ich liebe das Leben“ von Vicky Leandros aus dem Jahr 1975. Dieser Song wird in Alkestis‘ Sterbeszene eingebaut. Damit dehnt sich diese für den Handlungsverlauf zentrale Szene und ermöglicht es dem Zuschauer oder der Zuschauerin durch das ­retardierende Moment der leicht zugänglichen und emotionalen Musik, sich den Wahnsinn dieser Tat klarzumachen. Die Wirkung der Szene ist umso verstörender und erschütternder, als sich Alkestis‘ eigene Ambivalenz hier bildhaft und deutlich hörbar mitteilt. In ähnlicher Weise werden noch eine Reihe weiterer Popsong oder Schlager in die Inszenierung eingebaut, die ihrerseits auch wieder einen Großteil ihrer Wirkung aus dem Kontrastmoment entfalten. Im Sinne eines Fazits hat der Versuch, die unterschiedliche Rolle und Funktion von Musik und Sound in vier aktuellen Produktionen von Johan Simons näher zu beschreiben, trotz der Heterogenität der verwendeten Musiken und Sounds verbindende Elemente aufgezeigt, die sich auch daran zeigen, dass es sich bei den vier Produktionen um zwei russische Stoffe und zwei antike Stoffe handelt, man

Jan Philipp Sprick

Klang und Form

aber zugleich keine Kontinuitäten zwischen den jeweils verwandten Stoffen im Hinblick auf die Verwendung von Musik erkennen kann. Eine Kontinuität ist, dass die Musik nie nur äußerlich ist, sondern dass der Anspruch ist, die Inszenierungsidee im Kern zu unterstützen und zu pointieren. In „Iwanow“ hat die Musik eine subtil-begleitende Rolle und bedient sich einer großen stilistischen Vielfalt. Sie unternimmt hier gar nicht den Versuch, mit den sehr charismatischen Schauspieler:innen – insbesondere Jens Harzer und Gina Haller – konkurrieren zu wollen, hat aber atmosphärisch mehr Einfluss auf den zeitlichen Verlauf der langen Aufführung, als es die vergleichsweise kleinen Interventionen zunächst glauben machen wollen. In „Der Idiot“ ist es anders, da hier genau das Gegenteil zum Eklektizismus aus Iwanow vorliegt: Die Inszenierung kommt mit der sehr eindrücklichen Musik einer einzigen Komponistin aus, was aber gleichzeitig dazu führt, dass die ästhetisch radikale Musik von Galina Ustwolskaja – auch dadurch, dass sie als formal strukturierendes Element dann erklingt, wenn auf der Bühne pausiert wird – wiederum ein Maß an ästhetischer Konsequenz vorgibt, dass dann von den Schauspielerinnen und Schauspielern nicht immer überzeugend eingeholt wird, oder um es positiv zu formulieren: Ustwolskajas ästhetische Konsequenz hätte noch stärker auf die Schauspielerinnen und Schauspieler wirken und deren Arbeit grundieren können, wenn es sich um eine tatsächlich kollaborative Arbeit handeln soll. In „Ödipus“ scheinen Regiekonzept und klangliche Ebene am engsten miteinander verwoben gewesen zu sein, da beide Ebenen vergleichs­ weise streng konzipiert waren und diese Strenge keine Öffnungen in kurze vordergründig emotionale Welten zugelassen hat. „Alkestis“ schließlich zitiert bestimmte theatrale Verwendungsweisen von Musik – Choreinlagen und Popsongs und Schlager als ästhetische Brechungen – und zeigt, dass die Musik auch hier nicht nur eine illustrierende Folie ist, sondern auch die Handlung und die Zeichnung der Figuren substanziell voranbringt, wobei es mit den auf Gluck zurückgehenden Passagen eher um Ordnung und Gliederung geht und die Popsongs und Schlager starke emotionale Ausbrüche abfedern, dehnen und damit intensivieren. Das Überraschende und Unerwartete bei gleichzeitiger Konzentration auf die klare und kondensierte Erzählung der Stoffe ist etwas, dass das Theater von Simons auszeichnet. Musik und Klänge arbeiten dieser ästhetischen Zielsetzung stärker zu, als es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat. Sie sind vielmehr wesentliche Elemente für die große Überzeugungskraft von Johan Simons’ Theater.

Die Musik von Mieko Suzuki zu „Ödipus, Herrscher“ am Schauspielhaus Bochum in der Regie von Johan Simons. Erschienen bei raster media Gültig bis Juni 2025

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EURIPIDES

Alkestis Für vier Solostimmen und Orgel von STEVEN PRENGELS Basierend auf ALCESTE von Christoph Willibald von Gluck

Textfassung von Mieke Koenen und Susanne Winnacker Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Winnacker

1. Sopran: Antonia Busse / 2. Sopran: Natalija Radosavljevic / Ioulia Spanou Mezzosopran: Sarah-Léna Winterberg / Ioulia Spanou 2. Alt: Luzia Ostermann Uraufführung: Athens Epidaurus Festival, Griechenland, 1. Juli 2022, Regie Johan Simons Schauspielhaus Bochum 2022

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1

ALKESTIS

CHOR 1 O Zeus

Text: Susanne Winnacker, nach Euripides Musik: C.W. von Gluck/Steven Prengels

Con moto (h = ca 88)

1 . Soprano Solo

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w Adagio (q = ca 68)

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Schick - sal be - sänf - tigt

Schick - sal be - sänf - tigt

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51


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52

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kommt Dich,

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Dei - nes Wei - bes

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3.A. Solo

poco meno mosso (q = 70)

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so schlimm, dass man sich die mp

Es ist zum Fürch - ten,

so schlimm, dass man sich die

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9

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ist der Tag,

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107

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dem Du Dein ge - lieb - tes Weib dem Tod ent - ge - ge - ge - hen se - hen

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œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ nœ œ nœ œ œ œ 55


10

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56


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57


12

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58

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60


xx

xxx

61


62


S. 59 „Alkestis“ von Euripides im Sommer 2022 beim Athens Epidaurus Festival, Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz S. 60 „Alkestis“ am Schauspielhaus Bochum, Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz S. 62 „Alkestis“ am Schauspielhaus Bochum S. 63 „Alkestis“ beim Epidaurus Festival Fotos S. 59 und S. 63 Bernd Felder, S. 60 und S. 62 Elmar Vestner

63


JOHAN SIMONS

Über Wiederholungen und Fragen und (immer nur vorläufige) Einsichten

„Sterben denn nicht schon genug Menschen für Dich?“ („Alkestis“, Euripides)

I

m Laufe der Zeit bin ich manchmal gefragt worden, wie ich eigentlich zu meinen Themen komme, also unter welchen Umständen mich etwas so sehr fasziniert und anzieht, dass ich einen Stoff suche, mit dem ich das auf dem Theater erzählen kann. Oder finde ich einen Stoff und habe gleich so viele Fragen an ihn, dass er mich nicht mehr loslässt, bis er auf einer Bühne Gestalt annimmt, oder eine ­Mischung aus dem und noch viel mehr. Und immer wieder gibt es Stoffe, die ich inszeniere, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, von denen ich sofort oder später das Gefühl habe, ihnen etwas schuldig geblieben zu sein. Oder diese Stoffe fallen irgendwo an einen Platz in mir und tauchen wieder auf, wenn irgendeine Konstellation zwischen einer Frage und einer Situation sich ergibt. So war das bei „Woyzeck“ und bei „Lear“ … Jahre nach der jeweils ersten Inszenierung wollte ich unbedingt weiter entwickeln, was ich damit schon gemacht hatte. Sei es, dass sich eine gesellschaftliche Situation verändert hat, so dass mir die Möglichkeit erschien, mit dem gleichen Stoff noch mehr und/oder anderes zu erzählen, einfach, weil ich älter ge-

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worden bin und mehr Erfahrungen gemacht habe, die mich anders auf eine Figur wie zum Beispiel den König Lear blicken lassen, oder ich Spieler:innen begegnet bin, mit denen ich das nochmals auf einer Bühne aufs Spiel setzen wollte. Manchmal kommt es mir vor, als ob alle Inszenierungen, die ich je gemacht habe und noch machen werde, ein einziges Werk seien, als erzähle ich im nächsten das vorherige weiter oder bestreite es, oder sage es nochmal anders, in einem anderen Bild, mit einem anderen Text und vielleicht ist das auch so. 2016 habe ich, nicht weit weg von hier, aber doch in einem völlig anderen Zusammenhang, der Ruhrtriennale, die Oper „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck inszeniert. Wir haben dort das um 1760 entstandene Libretto des italienischen Dichters Ranieri de’ Calzabigi für diese Reformoper „Alceste“ in der italienischen Originalfassung benutzt, in der zum Beispiel die Figur des Herkules gestrichen war. Dort war es Apollon, der Gott des Lichts, der Heilung und der Musik, der Alceste und Admeto wieder zusammengebracht hat. Eine Oper stellt andere Forderungen, es gibt einen anderen Umgang mit Zeit als in einem Theaterstück. Der Kampfplatz der Götter erscheint in der Oper als wesentlich geordneter, der Olymp ist weiter weg, die Musik grundiert die Szene.


Zeichnung von Johan Simons während der Proben zu „Alkestis“

Foto Isabell Weiland

In dem Theaterstück, dem ursprünglichen Text des Euripides, funktioniert sie als Eingriff in die Zeit, als Chor, als Einspruch und Zäsur – auch als Ausdruck einer Haltung, wozu ich weiter unten noch etwas sage. Schon damals haben mich auch die Kinder, die in dem ursprünglichen Text von Euripides vorkommen und kaum eine Stimme haben, fasziniert. Die Kinder sind es ja, welche die Streitereien und Uneinigkeiten der Erwachsenen auszu­ baden haben, sie sind es, die immer wieder „weggestellt“ und weggeschickt werden, wenn die Erwachsenen ihre eigenen Geschichten wichtiger finden. Das aber heißt, die Zukunft wegzuschieben und deren Stimme zu verbiegen, sie mitschuldig zu machen und ihren Blick von Anfang an zu trüben. Als die Einladung kam, in diesem Jahrtausende alten Areal in Epidaurus für eines der wichtigsten Festivals, die es in Europa gibt, eine Inszenierung zu planen, waren es mindestens drei Gedanken, die sich in meinem Kopf überkreuzt haben. Dieser ungewöhnliche Ort des Theaters in Epidaurus, die Frage, wie ich für zwei verschiedene Orte gleichzeitig denken und erfinden kann, von denen ich keinen im Moment vor mir habe, also für das Amphitheater in Epidaurus mit seinen irrwitzigen Ausmaßen und für Bochum, wo es die Eröffnungspremiere für die neue Spielzeit werden würde und das Thema: der Wunsch nach Übermenschlichkeit des Menschen, seine Schwächen und Stärken, seine Unvernunft, sein Größenwahn, seine Kleinlichkeit, der Egoismus, des im schlimmsten wie im schönsten Sinne Unausrechenbaren des Subjektes – und – was findet im Tod statt. Wie kann ein Mensch Entscheidungen treffen angesichts von etwas, das keine Vorstellung mehr zulässt, keine Fantasie und kein Wissen. Was ist ein Leben und, ist eines wertvoller als ein anderes, was ich mich angesichts der Kriege, die immer näher rücken und die Leben von so vielen Menschen fordern, immer wieder frage. Ist es ein grausamer Scherz der Götter, jemandem einen Tausch von Leben vorzuschlagen, kann das überhaupt Rettung sein und wenn ja, vor was? Damals habe ich noch oft gesagt, die größte Strafe Gottes ist, dass es ihn nicht gibt. Heute suche ich die Auseinandersetzung mit dem Tod im Leben und auf dem Theater, weil Leben und Theater für mich nicht zwei getrennte Zustände sind.

Wesen sind und über die Macht der Götter, die den Erdlingen immerzu Fragen stellen, auf die sie dann keine Antworten wissen, die ihnen mit ihren „Geschenken“ Entscheidungen abverlangen, die sie nicht treffen können, sie in ein Entweder - Oder zwingen, welches unendlichen Wesen – und das sind hier die Götter und die Menschen nicht – fremd ist. Und wir zeigen eine andere Möglichkeit auch, die Begeisterung für die verschiedenen Existenzformen, von denen das, was wir Tod nennen, nur eine unter vielen möglichen ist, wenn Alkestis zu dem Lied „Ich liebe das Leben“ in den Tod tanzt und die Freiheit, die darin liegen kann, sieht. Wenn Admetos sagt, „Du vernichtest mich, wenn Du gehst“ sagt er auch, es gibt mich, weil Du mich siehst. Das wiederum ist nicht einfach Egoismus, das ist die Urform der ­Sozietät. Dieser Text von Euripides gibt keine Antworten und ­Gewissheiten entstehen nicht – es gibt immer wieder ein „Andererseits“, das zu einer nächsten Frage führt. Vielleicht mache ich also dieses Stück ein drittes Mal – vielleicht auch nicht. Wer weiß.

Auf irgendeine Weise ist diese „Alkestis“ auch das Selbstporträt eines alten weißen Mannes geworden, der ich selber bin und als welcher ich Angst habe vor dem Tod. Wenn Admetos ins Angesicht der sterbenden Alkestis sagt: „Tröste Deine Liebsten, tröste vor allem mich“ findet sich darin auch eine ReflexFion des intrinsischen Egoismus so eines Satzes wie, „ich liebe Dich“, der immer von sich selbst ausgeht und den anderen erst in zweiter Linie meint. Es ist ein Versuch, kritisch zu sein gegenüber diesem „Ich“, um das es dort ständig geht. Es ist ein Stück über die Unsicherheit der Menschen darüber, ob sie wirklich unendliche

Johan Simons

Über Wiederholungen und Fragen und (immer nur vorläufige) Einsichten

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„The best way out is always through“ (Robert Frost)

Pierre Bokma in „Passion I und II“ nach Michail Bulgakows „ Meister und Margarita“ und Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“. Regie, Bühne, Musik Robert Borgmann. Premiere Oktober 2021 Foto Armin Smailovic

PIERRE BOKMA im Gespräch mit SUSANNE WINNACKER Susanne Winnacker: Ich kenne Dich als König Lear,

Theresias und als Herakles und dann gibt es noch diese Seite der Smokings und der roten Teppiche. Das bist Du alles beides, oder? Pierre Bockma: Ich hasse es. Aber, ich verstecke mich nicht. Wenn ich was sagen will, dann muss ich es ­sagen. SW: Nachdem Du mit Johan zusammen das Regiotheater

gegründet hattest, damals, ganz in den Anfängen, bist Du zum Publiekstheater gegangen, weil es ein interessantes Angebot gab von Gerardjan Rijnders und aus dem Publieks­ theater wurde Toneelgroep Amsterdam und Du warst immer noch dabei? PB: Ich wollte sehr gern nicht nur mit Johan, sondern

auch mit Gerardjan Rijnders arbeiten und überhaupt einfach viele verschiedene Erfahrungen machen, das ist, wie es einfach geht … SW: Aber nicht mit Johan; eine ganze Weile lang.

PB: Eine ganze Weile, ja, das saß nicht gut mit ihm.

SW: Weil Johan es nicht duldet, wenn man ihn verlässt.

PB: Nein, Johan denkt immer, dass man … ihn nicht gut findet, kann ich mir vorstellen, dass man so denkt, dass man das fürchtet. Aber, das war nicht so, das war überhaupt nicht so. Ich muss sagen, nach drei, vier Spielzeiten wäre ich gern zurückgekommen. SW: Und warum ging das nicht?

PB: Weil er schon eine Gesellschaft gegründet hatte, Theatergroep Hollandia eben. Und weil Gerardjan mir ständig interessante Sachen angeboten hat, die ich unglaublich gern untersuchen wollte. Aber das ist natürlich in ­meinen Gedanken, glaub ich wirklich, die Umkehrung der Mentalität in Holland. Ich kam aus der Armee und dachte, man kann sich sehr frei fühlen, aber wenn man etwas will, soll man mit einer Disziplin so was untersuchen… Und das hab‘ ich auch immer in Interviews gesagt. Und das wurde,

Pierre Bokma

glaub ich, auch wohl übernommen von meiner Generation Spieler*innen und Schauspieler*innen. Also, Disziplin. Man soll nicht bei der ersten Schwierigkeit sagen, ‘Oh nein, wir gehen auseinander … und man bekommt da eine Beziehung zu, wo man ist, hier zu Gerardjan Reijnders. Das war die erste Erfahrung … ich habe immer auch doch vertraut, dass ich zu Johan zurückkehren würde. Und wir haben auch gearbeitet zusammen. Wir haben Othello gemacht, und das war … Das war eigentlich ganz gut. Johan hatte natürlich unglaublich viel Erfolg. Das war schon toll. Ich hatte nie eine einmalige Beziehung zu Johan. Ich fand so viele Sachen interessant und war natürlich plötzlich ein bisschen beeinflusst von Gerardjan Reijnders, „Ah, Du bist doch schon sehr, sehr wichtig für Toneelgroep Amsterdam“. Und das hab’ ich wohl selbst auch gedacht. Das hat mich wohl davon abgehalten, zurück zu Johan zu gehen. Es war ganz schwer, weil er mich damals gefragt hat, weil ich immer wieder, ich wollte weg von Ivo van Hove, ich konnte das nicht mehr. Aber, es hat mich unwahrscheinlich viel Mühe gekostet, um überhaupt noch Johan … Du verstehst wahrscheinlich, wenn man einander sehr lange nicht gesehen hat …Wenn man miteinander arbeitet, hat man auch dieselbe Ebene, und wenn man das nicht tut, im selben Bereich, wird’s auch schwierig. Und dann hab’ ich gedacht, ja, das ist dann Dein Lohn … (lacht) Das bekommst Du dann, wenn Du nicht den Kontakt hältst, oder die Beziehung bewässerst und sorgst, dass sie lebendig bleibt.‘ SW: Aber so ist Johan doch auch.

PB: Hm … Johan … bei Johan … also, ich hoffe immer auf das Beste und ich glaube daran, dass es auch passiert, ­Johan glaub’ ich, nicht… SW: Doch … PB: Ich weiß nicht, damals hat er mir kein Zeichen dafür gegeben und ich glaube auch nicht, dass er das gedacht hat und ich fürchtete mich ein bisschen davor. Dann hat er

„The best way out is always through“

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mich gefragt und dann hat er uns ein unglaubliches, merkwürdiges Stück spielen lassen. Das war wirklich, das war sehr hart mit Gerardjan Reijnders, er war schon mit bei ­Johans Gruppe und dann haben wir das gemacht und das war … ich glaube … das doofste Stück, das ich je gelesen, geprobt und gespielt habe. Das mussten wir dann dreißigmal spielen. Das war sehr hart. SW: Was war das für ein Stück?

PB: „Offertorium“, von dem Sohn eines Kritikers und

nach der Premiere dieses Stückes habe ich gesagt, ok, wir spielen das dreißigmal. Aber bitte, sag mir niemals, dass das ein Stück ist, das ok ist. Denn wir alle wissen, dass es das nicht ist und dass wir es spielen müssen, weil sonst die ganze (Theater)-Gesellschaft in Trümmer fällt. Sag doch das, dann ist es ok. Aber, versuche nicht, mich zu überzeugen, dass Feuer Wasser ist. Weil, das find‘ ich doof. SW: Hat er aber auch nicht versucht, oder? PB: Bitte?

SW: Hat er das versucht?

PB: Ja, ja, ja, ja. Und Gerardjan auch und das hat mich

unglaublich enttäuscht. SW: Wieso beide?

PB: Sie mussten … Wir wollten das ja gar nicht machen. Aber wenn aufs Neue eine Produktion abgesagt würde, dann sagt die Stadt, „Ihr bekommt kein Geld mehr.“ Klar, es war, Daumen hoch oder runter. SW: Gerardjan Reijnders ist ein Regisseur, wieso waren die

jetzt beide beteiligt an diesem Stück, haben sie beide Regie geführt? PB: Johan war der Leiter Theatergroep Hollandia, da-

mals schon Zuidelijk Toneel Hollandia, also nach der Fusion und er hatte Gerardjan eingeladen, dieses Stück zu inszenieren. Gerardjan war damals schon bei Toneelgroep Amsterdam. SW: Und wie fand Gerardjan Reijnders das Stück?

PB: Sehr toll. Wir haben den Schriftsteller eingeladen, um zu fragen: Was ist das Ziel? Worüber handelt überhaupt dieses Stück? Dramaturgisch kann das nicht sein, was du hier schreibst, im Hinblick auf den Anfang, auf das Personal … Was ist denn symbolisch und was buchstäblich? Es war hässlich! Und auf keine dieser Fragen hat er geantwortet! Er ist zwar gekommen, hat sich hingesetzt und Kaffee ­getrunken, ist aber dann aufgestanden, es steht alles in meinem Stück - und ist weg gegangen und Gerardjan Reijnders hat gesagt: „Ja, siehst Du, er hat es erklärt.“ Ich sagte: „Kannst du dann mal wiederholen, was er erklärt hat?“ Da ist er unglaublich frech und böse geworden und ist auch gegangen. Und dann ist Johan gekommen und hat gesagt: „Wir müssen das machen. Das ist ein gutes Stück.“ Ist es nicht. Es ist hässlich, wie „Des Kaisers neue Kleider“. SW: Und wie ist es dann weiter gegangen?

PB: Na, ich war dann irgendwann wieder weg.

Ich wollte mich damals nicht an eine Truppe binden. Und irgendwann wieder später hat Johan gesagt: „Ich werde nach München gehen. Da hab‘ ich gesagt: „Wenn du willst,

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komm ich mit.“ „Gut.“ Und dann haben wir das gemacht. Ich war in München mit ihm an den Kammerspielen. Aber ich war nicht fest dort, ich war als fester Gast engagiert. Das heißt, in jeder Spielzeit ein großes Stück, und vielleicht auch ein kleines, so hab‘ ich insgesamt neun Stücke gemacht. SW: Und dann bist du auch von da nach Bochum mit ihm

gegangen, bist dort wunderbarerweise festes Ensemble­ mitglied und hast aber weiter die Freiheit, zu wählen … PB: Ja.

SW: Wenn Johan eine Idee hat für ein Theaterstück, spricht

er dann mit dir darüber und fragt dich, ob du dazu Lust hast? PB: Ja.

SW: Hattest Du Lust zu „Lear “? PB: Ja. Ja, sehr, sehr, sehr.

SW: Und was denkst Du über diese Figur, bist Du zufrieden

mit dem Bochumer „Lear“? PB: Nein. Nein.

SW: Würdest du nochmal einen Lear machen?

PB: Weiß ich nicht. Ich glaube, manchmal muss man ­ achen lassen. Nee. Könnte sein, nee … man kann aber S ­darüber nachdenken. Man kann auch, ohne es zu spielen, verstehen, was diese Rolle enthält SW: Warum bist du nicht ganz zufrieden?

PB: Weil ich es zu oberflächlich fand. Ich fand, es war zu wenig gegenwärtig und es war zu wenig eine Verbindung zwischen dem Shakespeare-Lear und dem heute … Wo Shakespeare gesagt hat, benutze das Stück im hier und jetzt und in Deiner Zeit, innerhalb des Mosaiks Deiner Zeit, da, wo Du bist, wo Du lebst und wo Du sterben wirst. Und dann find‘ ich, man kann natürlich versuchen, allem was irgendwo, wie soll man das sagen, allem, was so typisch an so einer Figur ist, etwas hundertachtzig Grad anderes gegenüberzusetzen, aber das ist nicht immer richtig, ist nicht immer klug und entwickelt nicht immer eine eigene Logik und dann hat es keinen Inhalt. Es kann dann auch eine verführerische Lüge sein. Aber es ist nicht so. Ich habe, als ich Abstand dazu hatte, gedacht, fast alle Könige bei Shakespeare sind mittelmäßige Figuren. Shakespeare hat immer versucht, auf dieser Machtposition des Königs einen normalen Menschen einzufügen. Und was dabei rauskommt, das haben wir verpasst. Ich hätte sehr gern den Lear als Zigeunerkönig gespielt, aber das wollte Johan auch wieder nicht und dann denk‘ ich, jaaa … Du bist auch einer… Du … du bist eigentlich Lear. Das hätte ich gern gemacht. Ich hätte gern Johan als Lear gespielt. SW: (lacht) Das kannst Du ja noch machen. Das wäre be­

stimmt ein supergutes Solo. PB: (lacht) Ich weiß nicht, ob Johan das schätzen würde.

SW: Ich glaube schon, zumindest als Idee! Johan hat so viel

Humor und, wenn er jemanden akzeptiert als Spiegel, dann bist es sicher Du. Und es ist ja klar, dass Johan selbst als Künstler alles andere als mittelmäßig ist, es etwas anderes an ihm ist, was Du auch im Lear siehst. PB: (lacht) Wir kennen uns richtig gut. Das ist schon so. Und, warum ich damals auch weggegangen bin, das habe


ich ihm nie gesagt. Weil ich gedacht habe, wenn ich nochmal länger bleibe, werde ich ganz bleiben und dann werden wir ein Problem bekommen, das unangenehm werden kann, das kann ich auch sagen. SW: Welches?

PB: Johan kann manchmal auch machtvoll sein und ich

hab‘ da auch Recht bekommen von Freunden, mit denen er, nachdem ich weg war, gearbeitet hat und sehr erfolgreiche Jahre und Spielzeiten gemacht hat. Aber wenn man mit ­Johan ein Problem bekommt, ist es endgültig. Was wir ­heute haben ist, dass wir lange Zeit unseren eigenen Weg, unsere jeweils eigenen Pfade beschritten haben. Wir haben natürlich mittlerweile auch beide Maßnahmen gegen Erdbeben getroffen in unserem Charakter, beide. SW: Was wäre das für ein Problem geworden, in das Du ge­

raten wärest? PB: Ja, es wäre ein Problem geworden, wenn ich gesagt hätte, Johan, Du wiederholst Dich. Wir müssen auch andere Sachen machen. Ich glaube, das hätte in Johans Denken damals ein Machtproblem gegeben. Ich glaube, das alles wäre, ich kann es auch genau sagen, nach sieben Jahren wäre das gewesen. SW: Die berühmten sieben Jahre? Wirklich?

PB: Oh, die berühmten sieben Jahre, sagst Du?

SW: Das verflixte siebte Jahr. – Was ist mit Ödipus? Teiresias?

Hat Dich Johan da auch gefragt, ob Du es spielen möchtest? PB: Ja.

SW: Was hat Dich daran interessiert?

PB: Das Unglückliche an Teiresias, das Zwiespältige. In dem jemand unumkehrbar, ohne Mitleid von anderen, eine Entscheidung tragen muss. Und nicht als Genugtuung, aber als Strafe und der obendrein eine Gabe hat. Und dann trotzdem im Kern Deines Wesens das umzukehren in etwas Positives. Eine Aberration vom Denken, find‘ ich, um nicht wie ein Tier zu leben, sondern, z. B. in diesem Fall, Mitleid zu zeigen. Mitleid mit einer Kreatur, die nichts Falsches getan hat, sondern in –von Menschen ausgedachten – Mythen bestraft wird, weil sie vom Geschlecht Perseus ist. Also, die griechischen Mythen sind, wie Lars Norén mal gesagt hat, wenn man ein richtiger Schriftsteller, ein Geschichtenerzähler ist, dann nehmen die Geschichten nach drei, vier, fünf Seiten ihre Position ein und übernehmen den Schriftsteller. Der Schriftsteller wird der Sklave der Personage. Und das ist auch im griechischen Mythos passiert. Die griechischen Mythen haben Geschichten erfunden, von den Göttern aus, und die haben letzten Endes bestimmt, wie es geht. Und das hat Riesen-Institutionen zur Folge gehabt. Delphi, die Seher, das sind Seher … Also eine unglaublich schöne Verbindung mit der Natur und den Riesenfragen des Lebens: Wie kann das so sein? Wie ist es, dass alles so rund ist. So eine göttliche Form und unwahrscheinlich. Und Teiresias durchschaut das, sieht das, und hat Mitleid und sagt ihm: ‚Du kannst nicht anders. Wenn ich Missetäter und Beschmutzer dieses Landes einfach nur zu Ödipus sage, fühle ich mich schon schuldig.

Pierre Bokma

SW: Schuldig, als Teiresias?

PB: Ja, als Teiresias, dass er das sagen muss. Er soll’s

doch sagen! SW: Ja, aber ist es wirklich eine Schuldfrage?

PB: Ja, natürlich eine Schuldfrage. Der ist unschuldig. Ödipus ist unschuldig. Er hat keine Strafe verdient. Das Geschlecht hat Strafe verdient? Hat es die verdient? Nein! Götter und Menschen: Da ist nur bei den Göttern Schuld, und nicht bei den Menschen. Ein Auto kann nichts dafür, dass es eine Panne hat. Wir haben es gemacht; den Wagen. Und dann kommt eine Panne, manchmal. Da kann man nicht dem Wagen die Schuld geben. Es ist so unglaublich schwierig. Ich wollte Dir auseinandersetzen, wie ich über Teiresias gedacht habe. Das geht bei mir unglaublich weit und kompliziert. Ich würde hoffen, dass ich es in einem Gedanken, der alles enthält, verstehe … dann noch soll ich es üben und muss trotzdem immer einen Weg gehen. Immer muss ich diesen Weg gehen, um herauszufinden, was ich eigentlich versuche zu denken. Was will ich denn eigentlich denken? Was will ich denn eigentlich … Ich glaube, Wissen ist etwas, das kommt einem zu. Das fällt hinein. Aber das ist immer so ein Apfel, der von Bäumen fällt. Richtig. Das finde ich schön. Es fällt eine Frucht vom ständigen Denken … plötzlich bumm, patz! Epiphanie heißt es. Das kommt. Man kann nur hoffen, dass in diesem Apfel kleine Sachen stecken, die neue Bäume wachsen lassen. Ja. Das kann man hoffen, obwohl, das kann natürlich böser ­Samen sein, oder was auch immer. SW: Und wie geht der Weg von Teiresias zu Herakles?

PB: Ja, auch Herakles muss doch eine gewisse Haltung haben, die Götter ihm nicht abstreiten können. Die sie ihm nicht nehmen können. Das find ich so toll. Das habe ich an Herakles geliebt, das fand ich so toll. „Was auch immer, Herr! Aber ich war ein toller Mensch! Ihr Götter könnt mir nicht nehmen, dass ich Farben liebe, dass ich Wind liebe, dass ich herumgehe … Ich habe das rausgefunden, ich habe mich Dir gegenübergestellt, Vater. Und es gibt nichts, das Du daraus machen kannst.“ Und das find ich ja toll. Das ­finde ich schön. SW:

Die nächste Herausforderung werden die „Brüder

­Karamasow“, jedenfalls in Bochum und mit Johan … Und ­alles, was Du bis jetzt denkst, gedacht und empfunden hast, wird darin auf irgendeine Weise wieder reflektiert auf neue Weise einen Samen entstehen lassen. PB: Aber ja! Was denn sonst (lacht).

„The best way out is always through“

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„Die Freiheit, die ich meine …“ ELSIE DE BRAUW im Gespräch mit SUSANNE WINNACKER

„I’m nobody! Who are you? Are you nobody, too? Then there’s a Pair of us – don’t tell They’d banish us, you know. How dreary to be somebody! How public, like a frog To tell your name the livelong day To an admiring bog! “ Emily Dickinson

Elsie de Brauw ist eine niederländische Schauspielerin. Sie arbeitet seit 1987 in unterschiedlichen Zusammenhängen mit Johan Simons, außerdem frei in Film und Theater. Sie gewann zwei Mal den Theo d’Or (2006 und 2011) und 2007 das goldene Kalb als beste Schauspielerin der Niederlande. Sie ist die Lebenspartnerin von Johan Simons.

SW: Wo hast Du Deine Schauspielausbildung absolviert? EdB: In Maastricht.

SW: Wo hast Du angefangen zu arbeiten, danach?

EdB: Erstmal in Rotterdam, bei Bonheur; gibt’s nicht mehr. Und bei Fakt in Rotterdam; gibt’s auch nicht mehr. Alles kleine Gruppen. Ich hatte in meinem letzten Jahr auf der Schauspielschule Johan kennengelernt, und er hatte schon eine Gruppe, Hollandia. Aber ich wollte nicht in eine Gruppe meines Mannes, natürlich. Ich fand es sehr schön, was sie da machten. Aber ich wollte trotzdem nicht. Und es hat noch zwei Jahre gedauert. Ich habe noch ein wenig herumgespielt; das war nicht schlecht, weißt Du, aber es war ein wenig zu unverbindlich insgesamt. Und nach zwei Jahren bin ich dann doch zu Hollandia gegangen. Und Jeroen (Willems) und Betty (Schuurmanns) und so, die waren da ja schon. SW: Was hat Johan da gemacht, in Maastricht, er war als

Foto Fatih Kurceren

Schauspiellehrer da, oder? Susanne Winnacker: Was ist für Dich Freiheit?

Elsie de Brauw: Für mich ist Freiheit, ohne Angst zu

sein. SW: Und ist das für dich als Schauspielerin ein Maßstab? EdB: Ja.

Schauspielerin Elsie de Brauw

SW: Also, bist Du als Schauspielerin frei?

EdB: Nein, aber das ist mein Versuch, jedes Mal … ich habe das Gefühl, dass ich, jedes Mal, wenn ich mit einem Text arbeite, eine Verbindung zustande bringen muss zwischen mir und dem Text. Und das kann nur, wenn diese Ängste nicht im Wege stehen. Also wenn der Text im Kopf ist und … wie ich bin … was ich … was ich davon halte und wie ich mich damit verbinde. Ängste muss man einen Schritt … zurücknehmen, sodass es eine klare Verbindung wird. Und das ist das schönste Gefühl von Freiheit. Dann fliegt man den Weg.

Elsie de Brauw

„Die Freiheit, die ich meine …“

EdB: Ja, er war da in jedem Jahr ein Mal.

Und ich war in einer Klasse nur mit Frauen und wir durften einen Regisseur auswählen für das letzte Stück und wir fanden alle total toll, was er machte. Aber er war natürlich ein Macho-Mann, er hatte in jeder Klasse, in jeder, eine Freundin. Und dann sagte ich zu den anderen Frauen, wir waren nur Frauen: „Nicht schon wieder eine von uns mit ihm.“ „Nein, nein, natürlich nicht!“ SW: Und dann warst Du’s selbst.

EdB: Ja, aber … erst später. Weil ich dachte, als er reinkam: „Uuuah; all diese Frauen, das ist blöd“, aber die gingen gleich so kichernd auf ihn zu. Und ich fand das so hässlich. Und dann haben wir Pasolini gemacht, „Orgie / Der Schweinestall“. Und Johan war dann damals so entspannt. Das hatte ich noch nie erlebt, weil die Maastrichter Schauspielschule sehr streng war, „Du machst das so, und Du machst das so, und dann bist Du an der Reihe, und jetzt so!“ – und

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Johan hat gesagt, „Wer Lust hat, geht auf die Bühne.“ Ich hatte natürlich nie Lust. Ich habe mich total versteckt, die ganze Zeit. Und die anderen waren so lali, lala, lalü. Es gab sechs Episoden in diesem Stück und dann war ich die letzte, die noch nicht auf der Bühne gewesen war. Also, ich musste. Da waren wir schon im Saal, ich glaube, zwei Wochen vor der Premiere. Ich hatte noch nichts gemacht, nur geguckt, war bang und ängstlich. Und dann musste ich. Ich musste doch was machen, natürlich. Und dann habe ich, ich war vor Angst gelähmt. Weil alles so frei war. „Mach mal, mach mal.“ Aber ich hatte nichts! Und dann waren die Ängste hier in der Kehle – zu, total zu. Hier war der Text, hier war, was ich machen könnte… und ich fand überhaupt keine Verbindung. Dann sagte er, „Tritt ein, mach mal. Mach einfach mal.“ Und dann hat er drei Stunden lang nur mit mir gearbeitet: „Nee! Noch mal! Was glaubst Du. Was machst Du. Ich bin mir sicher, dass Du das kannst. Mach mal.“ Und all die anderen haben an der Seite gekichert. Aber er war eigentlich der einzige Lehrer, der das mit mir gemacht hat, davor konnte ich mich so immer rausnehmen, still sein. SW: Hat das etwas mit Freiheit zu tun? Alles, was ich bisher

von Johan gesehen habe, ist eine Form von Freiheit. Sei das im Spielen, im Reden, im Laufen, als Haltung, als Hindernis. Immer geht’s irgendwie auch um Freiheit. Ist das auch die Freiheit, mit seiner Schüchternheit umzu­ gehen, sie zu bewahren, ohne dass man sie in Worte fassen muss? EdB: Ja. Und es ist auch die Freiheit, darüber nachzu-

denken, was gebe ich? Ich muss selber entscheiden, wann und was ich öffne. SW: Genau. Und ist das auch eine gute Möglichkeit, sich in

eine innere Beobachterposition zurück zu ziehen? EdB: Ja.

SW: So wie „Wer ist denn das, der da jetzt auf jemanden zu­

geht? Ich beobachte, dass …“? EdB: Ja.

SW: … sozusagen als Beobachter, im Inneren da drin zu

­bleiben… als jemand, der sich selbst beim Tun zuschaut?

SW: Hat er das bemerkt? EdB: Ja, hat er.

SW: Das war euer Abschlussstück. Und dann?

EdB: Und dann bin ich nach Rotterdam gegangen, für so vier, fünf Stücke, weiß ich nicht mehr so gut. Und dann bin ich zwei Jahre später zu Hollandia gegangen.

SW: War es schwierig, nach deinem Abschluss in den Nieder­ landen Engagements zu finden als Schauspielerin? EdB: Nee, war nicht schwierig.

SW: Ist das überhaupt nicht schwierig in den Niederlanden? EdB: Damals war es viel weniger schwierig als jetzt. SW: Wieso ist es jetzt schwieriger?

EdB: Es gibt jetzt viel weniger kleine Gruppen. Sie bekommen einfach kein Geld mehr. Also, es gibt keine Ensembles mehr, nur noch eins, Toneelgroep Amsterdam und dort sind alle fest engagiert und bleiben auch. Also, es gibt wenig Platz. Es ist für junge Schauspieler:innen jetzt fast unmöglich. Sie müssen einen anderen Job dazu haben, um leben zu können. Ich kenne niemanden mehr, der nur davon lebt. SW: Was hat sich verändert?

EdB: Feste Engagements gibt’s nicht mehr. Und auch

sogenannte Werkplätze, wo man Dinge entwickeln kann, also für Regisseure – noch zwei in den Niederlanden. Das ist echt unvergleichbar mit Deutschland. SW: Was ist passiert?

EdB: Der Minister für Kunst und Kultur, Halbe Zijlstra, kam mit einer Axt. Kunst, wofür?! Und Subventionen? Man kann auch einfach das machen, was die Leute sehen wollen, und nicht experimentieren… „das Getue um die Kunst“ und so… Und er hat noch gesagt: „Zum Glück habe ich keine Ahnung von Kunst und kann das einfach machen.“ Und dann hat er einfach alles abgeholzt, aber echt alles und das Geld halbiert.

EdB: Ja. Oder, wo man erstmal guckt, bist Du es wert,

SW: Die Initiative müsste es immer noch geben. Es müsste

um mich zu öffnen? Oder, ist dieser Text es wert, um mich zu öffnen? Oder, ist dieses Land es wert, um mich zu öffnen? Das weiß man eigentlich nicht so schnell.

immer noch Leute geben, die es unbedingt machen wollen.

SW: Und ist es gut aufgehoben, wenn ich das tue? EdB: Ja, genau.

SW: Oder schlägt es auf mich zurück …? EdB: Ja, genau.

SW: Und das ist sicher eine gute Reserve, aber gut, dann

hast Du Dich drei Stunden verweigert. Und dann? EdB: Und dann hat er mich irgendwohin gebracht, wo

ich noch nie war im Spiel. Und mit einer Form und all dem. Und plötzlich dachte ich: „Aaaah! Mein Körper, er machte die Verbindung zwischen Kopf und Körper und, dass es körperlich sein konnte.“ Und dann waren diese drei Stunden vorbei … und dann war er wieder eine Woche weg. In dieser Woche habe ich mir das dann völlig zu Eigen gemacht, ich

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habe viel geübt, zu Hause. Und dann kam er zurück und da war es plötzlich fließend geworden. Und dann war alles da und ich konnte plötzlich spielen. Also das war für mich sehr wichtig; eine wichtige Begegnung.

Du unterrichtest selbst auch, oder? Also gibt es sie noch, die Menschen, die Theater machen möchten. EdB: Ja.

SW: Was unterrichtest Du?

EdB: Ich unterrichte Text in Amsterdam. Maastricht ist zu weit weg für mich. SW: Stimmt. Auch die falsche Richtung.

EdB: Ja, genau. Die Sprachcoachée aus Maastricht ist nach Amsterdam gegangen und ist dort die Leiterin der Schauspielschule geworden und ich bin einfach mitgegangen. Ich habe auch in Maastricht Unterricht gegeben, und in Arnheim… SW: Immer Text? EdB: Ja.

SW: Was bedeutet das?


EdB: Das bedeutet, dass wir erstmal gut, genau lesen. Am liebsten nehme ich einen Text, der kaum zu verstehen ist. Und dann müssen die Studierenden echt so verstehen, was dasteht. Und dann in die Wörter kriechen und eine Verbindung eingehen mit den Wörtern, eine Verbindung zustande bringen, um das, was dasteht, lebendig zu machen. Das ist körperlich! SW: Ich habe selbst schon festgestellt, dass Du sehr peni­

bel sein kannst. „Was? Was steht da? Das stimmt nicht. Was heißt das genau?“ EdB: Oh Gott (lacht)

SW: „Und wenn das dasteht, und das da auch steht… ent­

schuldige mal!“ EdB: Dann mach ich’s nicht.

SW: „Nein, dann versteh ich’s nicht, ich möchte es aber ver­

stehen und ich möchte, dass Du es mir jetzt erklärst. Und zwar so, dass ich’s … Nee, das versteh ich auch noch nicht! Und dann ist ja da noch das hier. Nee, das versteh ich nicht, und das glaub ich nicht, und das versteh ich wieder nicht. Also, bitte!“ (beide lachen)

Wenn ich Texte habe, kann ich kein Wort sagen, das ich nicht verstehe. Das geht einfach nicht, dann bleib ich immer daran hängen. Warum sag ich das?

EdB: Schrecklich!

SW: Nein! Überhaupt nicht! Warum? EdB: Ja, ich bin pingelig, ja.

SW: „Ich möchte doch hier nochmal drauf bestehen ...“

EdB: Aber es geht mir – das weißt du auch – dabei echt nicht um, so oder so, ich will nicht pedantisch klingen, aber ich will dann echt genau wissen, warum das und das dann da… ja… das geht einfach nicht, für mich. SW: Ich meine auch nicht rechthaberisch, sondern wirklich

genau. EdB: Verstehen!

SW: So ganz genau. Und dabei kannst Du auch wirklich

einen Fokus auf etwas richten und nicht mehr loslassen. EdB: Ja.

EdB: Wahrscheinlich. Was Du jetzt gesagt hast, hat mir

noch niemand gesagt. SW: Aber, Du weißt, dass es stimmt.

EdB: (lacht) Ja, ich weiß, dass es stimmt, aber ich wusste nicht, dass andere das nicht so machen. SW: Nein?

EdB: Nee, echt nicht!

SW: Das machen andere nicht so. Es ist sehr herausfordernd

und deshalb treibt es einen weiter und weiter… manchmal kann

SW: Das ist total nervig, und es kommen oft unfassbar tolle

man denken, jetzt hör endlich auf! Aber dann, was meint sie

Sachen dabei raus.

denn? Was stimmt denn nicht? Oh, sie hat Recht. Und, was

EdB: Ja.

muss denn da noch sein… was fehlt denn hier? Aber was machst

SW: Wo kommt das her? Ich erlebe so etwas nicht oft.

Du zum Beispiel, wenn Du eine Operette probst …. neulich hast

Vielleicht bei Theoretiker:innen, die auch so sein können, für

Du mal etwas vorgesungen, etwas, das sehr witzig klang …

eine Schauspielerin oder einen Schauspieler ist das unge­

EdB: Da war ich verloren! Weil niemand mir zugehört hat. Und so eine Operette, die ist manchmal nicht so genau. Und na ja, dann habe ich da mal losgelassen, weil es dort um Kostüme geht, um Dekor, um Zucker, weißt Du? Zucker, Zucker, Zucker, die ganze Zeit. Aber in dieser Operette war ich mit Benny und wir konnten da sagen, dieser Satz ist völlig blöd, aber ich muss ihn trotzdem sagen, oder so, weißt Du…

wöhnlich EdB: Ja?

SW: Dass sie, wie Du, sagen: „So, diesen kleinen Fetzen

muss ich auch noch verstehen. Und wenn wir da jetzt die nächsten Stunden mit verbringen, es ist wichtig …“ EdB: Weil ich einfach weiß, wenn ich das sage, weiß

­ enau, was ich sage. Ich sage nie etwas, das ich nicht verg stehe. Weil ich ich bin. Das ist so. Wenn ich Texte habe, kann ich kein Wort sagen, das ich nicht verstehe. Das geht einfach nicht, dann bleib ich immer daran hängen. Warum sag ich das? Warum sage ich das eigentlich? Und dann kann ich es nicht auf der Bühne verkörpern, wenn ich das nicht von jeder möglichen Seite verstehe. SW: Ist es nicht für viele Regisseur:innen auch eine Schwie­

rigkeit, dass Du so genau bist?

Elsie de Brauw

„Die Freiheit, die ich meine …“

SW: Benny Claessens?

EdB: Ja. Oder, Ich trinke hier Wein – und es ist Apfelsaft. Also, weißt Du, die ganze Zeit kommt mir alles so lachhaft vor … Und das war der einzige Weg für mich, das zu tun; zu erkennen, dass das hier nicht stimmt und das auch zu sagen. Aber das macht nichts. Weil wir hier in der Operette sind. In der Operette macht das nichts aus, weil man da ist für die Kostüme und die Musik.

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SW: Verstehe. Und warum machst Du das dann?

EdB: Weil ich so gerne mit Benny Claessens arbeite.

Weil er etwas hat, was ich überhaupt nicht habe. SW: Was ist das?

EdB: Totale Schamlosigkeit und eine freche Freude daran.

Er hat vielleicht auch Angst, ich kenne ihn echt gut, und er hat bestimmt Angst. Aber er ist eine Diva. Er ist eine Diva, und das bin ich nicht. Und ich gucke, und er ist sehr intelligent und hochpoetisch und ich lerne von ihm. Also, ich bin gerne dabei. Und ich liebe ihn auch. SW: Oh, das spiel ich ihm vor.

EdB: Das weiß er, das weiß er.

SW: Vielleicht bist Du keine Diva, aber Du kannst etwas

kannst Du’s auch nicht finden, und es einfach nachzu­ machen, hilft nichts. Ich habe das Gefühl, dass du, wenn Du an einer Rolle arbei­ test, immer, ständig, ohne Pause damit beschäftigt bist … EdB: Vierundzwanzig Stunden am Tag, ja.

SW: Als würdest Du einen Vorrat anlegen, überall Aspekte

sammeln, wo immer Du dich bewegst und wem Du auch be­ gegnest. EdB: Oder welche Wörter ich höre … oder Situationen,

die ich erlebe… oder Dinge, die ich lese, oder sehe, … alles, alles geht dann nur um diese Rolle … SW: Ja, wie Du hier reinkommst, wie Du nach Essen fragst,

„Hoheitliches“ haben auf der Bühne, etwas, das man wahr­

wie Du Essen ablehnst, wie Du …

scheinlich wirklich nicht lernen kann, Zum Beispiel als Jokaste

EdB: isst…

im „Ödipus“ … Kreon versucht, deine Aufmerksamkeit zu er­

SW: Wie Du isst, wie Du Hilfe ablehnst, oder danach fragst…

ringen, Du gehst in die Tiefe der Bühne, er versucht, quer zu

Da hat man dauernd das Gefühl, man spricht nicht nur mit

Dir durchzudringen und Du fegst ihn mit einer ganz kleinen

Elsie de Brauw, sondern, da ist immer noch …

Handbewegung einfach weg. Ich bin nicht sicher, ob man die­ se Art von Hochstatus wirklich lernen kann, oder ob man nicht hinein geboren sein muss, um zu wissen, dass solche Gesten, etwas bewirken. Bist Du in so was hinein geboren? EdB: Ja, aber nicht so öffentlich.

SW: Was ich meine, ist noch was anderes. Gibt es irgendwas

bei dieser Art von Spiel, was man nicht lernen kann? EdB: Ja, ja, ich könnte sagen, in solch einem Milieu bin

ich geboren. Aber mein Milieu war … „Wir sind eigentlich die Höchsten. Aber das zeigen wir natürlich nicht.“ SW: Also calvinistisch „Wir tragen unsere Diamanten in­

nen.“? EdB: Ja, auch. Ja, ich weiß … Wahrscheinlich sind wir eine katholische adelige Familie. Wir wissen es, aber wir zeigen es nicht. So vielleicht, das, ja. Aber ich habe immer das Gefühl, von mir selbst aus bin ich… Fühle ich mich immer eher… eher… klein; ich spiele am liebsten missglückte, ängstliche Menschen … Da fühle ich mich am wohlsten Ich fühle Jokaste und solche Leute… und hab’ ich das Gefühl, ich muss, ich muss mir so… Mühe machen. Ich hab’ das wahrscheinlich auch in mir, aber ich muss dafür kämpfen. Das andere ist mir viel zu leicht. SW: Wenn Du dafür kämpfst, wie tust du das?

EdB: Also, ich gucke… Ich gucke Leute an, die das haben…

Zum Beispiel bei Jokaste denke ich … Das ist eine Königin … eine Königin. Also, die denkt nicht, oh, geh mal vor, geh mal vor, bitte, ich lasse dir den Vortritt, sie ist gewohnt, einfach zu gehen und die anderen folgen ihr nach und dann übe ich das. Wenn ich ins Schauspielhaus komme, wenn ich das dann entdecke, dann gehe ich ohne nachzudenken, und oups! gehen die anderen tatsächlich so zur Seite. Aber das muss ich üben. Ich mein, ich hab’s irgendwo, bestimmt. Aber es ist nicht meine Art. SW: Ich glaub’, Du könntest es üben, so lange Du wolltest,

wenn Du’s nicht … EdB: Wenn Du’s nicht kennst, dann kommt’s auch nicht

raus.

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SW: Nein. Also, wenn’s nicht irgendwo in Dir drin ist, dann

EdB: Ja. Aber ich probe jetzt nicht … also guter Moment! Aber, dann bin ich auch verloren, echt … vogelfrei in dem Sinne … kann man gleich abschießen SW: Also besonders verletzbar?

EdB: Ja. Wen so eine Rolle kommt, dann habe ich ein Rätsel… Wie steckt die Frau ineinander? Und was bedeutet das? Und… woran liegt das? Und so hab’ ich dauernd eine Frage. Und sonst bin ich mit mir allein beschäftigt und ich ­kenne so mittlerweile immer dieselben Sachen, denen ich begegne: Oh, meine Kinder, was muss ich da … ich muss ­unbedingt noch zum Zahnarzt… dann muss ich noch … Ich finde die alltäglichen Sachen des Lebens … das bringt mir keine Freude. SW: Tust Du sie denn? Ich habe manchmal das Gefühl, dass

für dich eine große Freiheit darin besteht, solche Sachen ­einfach nicht zu machen. EdB: So wie kochen, und so …

SW: So wie kochen, ein Auto aufzuräumen, Sachen zu

­bügeln… zu gucken, dass die Wäsche nicht im ganzen Haus rumfliegt. Hinter den Büchern, neben den Büchern, vor den Büchern, unter der Couch, über der Couch, über dem Feuer … leider vergessen, deshalb ganz schwarz … (lacht) EdB: Ja. Ja, ist auch ein bisschen so. Ja, ist so.

SW: Viele Menschen würden vielleicht gerne so leben, ge­

statten sich das aber nicht. EdB: Als unsere Kinder klein waren, war ich natürlich viel öfter zu Hause. Viel mehr. Also, da habe ich auch gekocht. Sie wissen immer noch, was ich damals gekocht habe. Immer dasselbe. Wenn sie nach Hause kamen, sagten sie: Pasta mit Spinat??? Das war meine Spezialität … Nein, es ist wahr. Ich habe keine gute Antenne für das Alltägliche. Es bringt mir auch keine Freude. SW: Ist das Anarchie oder Luxus?

EdB: (überlegt) Ich habe den Luxus, die Anarchie bestehen lassen zu können. Das eine hat mit dem anderen zu


tun. Wenn ich keinen Luxus hätte, dann hätte ich mir keine Anarchie leisten können. Wir streiten viel darüber, es ist trotzdem wirklich so, dass, wenn Johan zu Hause ist, dann räumt er auf. Aber, er ist chaotisch. Und er verliert alles, überall. Ich verliere nie was. Aber es sieht chaotisch aus. Aber ich weiß genau, was in dieser Tasche – die jetzt leider – SW: Voller Creme ist ...

EdB: Voller Creme ist – weiß ich genau, was drin ist. ich

denke nie, wo ist mein …? Und wo ist mein …? Und Johan ist … Er verliert Sachen. Aber … Zwei Vagabunden sind wir wirklich auch, ja. SW: Man will auch Johan nie was schenken. Weil man ganz

genau weiß…

Ich spiele am liebsten missglückte, ängstliche Menschen … Da fühle ich mich am wohlsten.

EdB: … dass er es doch verliert…

SW: Dann guckt er einmal, „Was ist das denn?“ und dann

findet man das nach drei Wochen, oder ein halbes Jahr spä­ ter, verstaubt, unter irgendeinem abgebrochenen Tischbein … EdB: Ja, genau.

SW: Was hast Du im Lockdown gemacht? Als nichts ging?

Es hat auch was sehr Schönes, dass er sich nicht verbindet mit materialiellen Dingen. SW: Genau. Ich glaube, das hat nichts mit Überfluss zu tun,

sondern mit Kompromisslosigkeit, mit einer Haltung. Es gibt einfach lauter Sachen, die niemanden etwas angehen. Das gehört zu meiner Frage vom Anfang nach der Freiheit. Über diese Dinge diskutierst Du nicht, die machst Du so, und wem das nicht gefällt … egal. Und das hat Johan auch. Und das ist vielleicht eine Art, etwas zu behaupten, was dem allem einen Grund gibt. Oder einen Sinn, nämlich den, dass man nicht ausbuchstabiert werden, nicht komplett verstanden werden kann. So, wie man auch eine Rolle nicht komplett verstehen kann, sie muss körperlich werden und „ist“ dann. EdB: Ja, Jokaste zum Beispiel hatte ich eine Weile nicht gemacht. Dann fühle ich, mein Körper geht dann schon ein bisschen weg davon. Das klingt vielleicht pathetisch jetzt, aber, es arbeitet wirklich so, dass ich denke, „Warum fühle ich mich jetzt so?“ So, als ob das Grundgefühl von der Rolle irgendwo hineinkriecht, weil mein Körper schon weiß, in einer Woche muss ich das schon wieder machen, und dann fühl ich mich schon ein bisschen so. Und das kommt dann schon rein, das tut immer weh, und das sammelt sich dann so, hier in meinem Solar Plexus. Und dann, wenn ich das dann spielen kann, dann hat es eine Form und eine Bedeutung … Und danach bin ich so glücklich wie nie. Ist mein glücklichster Moment. Echt. Und wenn das gut war, mit allem zusammen, und alle Wörter auch wirklich eine Bedeutung hatten und eine Kraft und ich wusste, was ich damit sagen wollte und ich war dabei, dann bin ich, danach, das ist mein, mein glücklichster Moment. Wenn ich das, so wie diesen Monat, nicht so habe, dann wird es ... das ist schwierig, weil alles so, so formlos ist. SW: Weil das tägliche Leben so ein bisschen formlos ist? EdB: Ja. Für mich ja.

Elsie de Brauw

Dieses ganze Jahr? EdB: Na ja, da waren Johan und ich zum ersten Mal in

unserem Leben zusammen sechs Wochen lang; hatten wir noch nie gemacht. Noch nie. Auch zu Beginn unserer Ehe, noch nie. Plötzlich: in unserem Haus; zusammen, zu zweit. Ja, das war schön, aber er hat dann echt wirklich gesagt: Du gehst drei Mal pro Tag durch die Decke, Du gehst mal wandern jetzt. Ich war so glücklich, wandern tue ich gern. Es klingt pathetisch, aber ist echt so. Also, das ist, das ist hart. Auch für ihn, weil … mein Gott! Weil, weil ich keine Form dafür habe . Um, um das zu … zu kanalisieren, also viel gewandert. Das war echt schön; war echt auch eine gute Zeit. SW: Wie ist es dann damals eigentlich gekommen, dass Du

doch zu Hollandia gegangen bist? EdB: Weil ich fand, dass sie so schöne Sachen machten. SW: Kanntest Du Jeroen und Betty und die anderen?

EdB: Ja. Betty war bei mir in der Klasse in Maastricht. In unserer Frauenklasse war Betty. Jeroen war ein Jahr höher. Also, die beiden kannte ich gut. SW: Was war dein erstes Stück? EdB: Prometheus. Io war ich.

SW: Und Fall der Götter, das war…

EdB: Viel später. Das war hundert Jahre später.

Das war mein Gefühl. Weil das ja schon in Eindhoven war. Da war es schon ZT-Hollandia, also schon fusioniert mit ­Zuidelijk Toneel. Aber davor, da hatten wir all diese Griechen gemacht. „Die Phönizierinnen“, „Die Perser“, „Prometheus“… SW: Und was wart ihr für Kollegen, Jeroen und Du? Ihr seid

ja wirklich die allerunterschiedlichsten Schauspielfiguren, die man sich denken kann, jedenfalls auf der Wahrnehmungs­ ebene. Ich habe nie mehr einen Schauspieler gesehen, der so viel Angst hatte vorm Spielen wie Jeroen. Der vier Stunden vorher schon an seinen Nägeln knabbert und eine Zigarette

„Die Freiheit, die ich meine …“

75


nach der anderen raucht und im Ernst erklärt, dass er auf gar

EdB: Ich war da noch nicht fähig, das zu tun. Weil, ich

Und der der dann die Bühne betritt, als würde er Selbstmord

war gebrochen bis null. Also ich habe das dann, nicht ganz … aber ich hab’ das dann teilweise, ein bisschen gemacht. Aber, ich fand’s auch schön. Ich hab’ so bei den anderen gesehen, „Oh, die sieht schön aus“ … Ja, und dann hat er das gesagt, und dann dachte ich: „Oh, vielleicht bin ich doch eine Schauspielerin, weil die anderen waren immer wirklich gut.“ Ich war so ein bisschen versteckt immer. Johan sagt, es war nicht so, er sagt: „Als ich herein kam in Deine Klasse, hatten andere mir schon gesagt, dass Du wirklich gut seist.“ Aber mir hat es niemand gesagt.

begehen. Jedes Mal, bevor er auf die Bühne musste, dachte man, wie fängt man denn jetzt eine verzweifelte Katze ein? Und dann springt er auf die Bühne als würde er von einer ­Brücke springen. Und es war aber immer genau der eine rich­ tige Moment und, als ob das alles von ihm abfällt, steht er da. EdB: Ja.

SW: Ist das bei Dir auch so? EdB: Ja

SW: Du springst auch immer wie in den Tod, wenn Du auf die

Bühne gehst? EdB: Die… die Stunde davor find ich schrecklich… echt,

schrecklich. SW: Jedes Mal?

EdB: Jedes Mal, ja.

SW: Was für ein Leben.

SW: Hätte das was genützt? EdB: Ja.

SW: Echt?

EdB: Ja. Echt.

SW: War das Teil des Abbrechens auf null dann, es dir nicht

zu sagen?

EdB: Ja. Es ist die Angst, dass es nicht geht. Dass es misslingt. Versagensangst. Das habe ich echt … viel … ich schäme mich dafür. Ich tue immer so entspannt, das ist ein kleiner Schutz, weil ich gelernt habe, dass ich nicht lästig sein darf. Zu Hause habe ich das gelernt. Man behält das für sich und löst es selber, man breitet das nicht vor anderen aus. Wir alle aber haben diese Angst in irgendeiner Form. Pierre sagt es auch immer. Und Benny auch: „Oh, Gott!So, wie vor einem Weltkrieg“… Man geht in eine Welt herein, wo man denkt, „Ich muss diese Welt machen Ich muss diese Welt machen. Wenn ich es nicht mache, wer macht’s sonst? Sie besteht sonst nicht, wenn ich sie nicht mache“ … So eine schwere Aufgabe …

EdB: Vielleicht. Könnte sein, nein, weil Anne Rietmeijer hat das auch und sie kommt aus Arnheim. Das hat damit wahrscheinlich nicht zu tun, mit Maastricht.

SW: Hat es damit etwas zu tun, wie ihr das Handwerk ge­

ist ja eine Qualität, die Du auch sonst hast. Wo andere mit

lernt habt, in Maastricht? Diese Verzweiflung bei Jeroen, die­

Widerstand reagieren oder mit Ablehnung, denkst Du erst­

ses Gefühl, in den Krieg zu gehen bei Pierre und dieses kom­

mal darüber nach. Ganz egal, wie absurd ein Satz ist. Und das

plett Abgeschlossene bei Dir? Womit hat es zu tun, dass ihr

öffnet ja ganz andere Türen, als sofort zu reagieren und da­

das alle habt, ihr Niederländer?

gegen an zu gehen. Da immer noch zuzuhören, wenn jemand

EdB: Haben Deutsche das weniger?

sowas sagt und nicht den Zynismus zu verstehen, sondern

SW: Viel weniger, jedenfalls ist das mein Eindruck.

Kann das an der anderen Art der Ausbildung liegen, die viel weniger abgesichert ist als in Deutschland? EdB: Ah, wahrscheinlich. Ich kann mich selbst als Schauspielerin echt schlecht wahrnehmen. Die Schauspielschule in Maastricht, wenn ich das jetzt so beobachte, von heute aus … damals war das … eigentlich kamen wir alle herein und dann wurden wir alle gebrochen bis Null, so wie im Lager, wie beim Militär, und dann wieder aufgebaut, folgend dem Maastrichter Maß. Aber vielleicht macht das die Verletzbarkeit auch. Als ich in der Klasse war mit all diesen Frauen, hat mich der Studienleiter zu sich bestellt, und hat wirklich gesagt, ‚„Wenn es Dir ernst damit ist, Schauspielerin zu werden, musst Du jetzt wirklich anfangen, kurze Röcke zu tragen und hochhackige Schuhe.“ Ja, das war damals so. Wir waren nur Frauen in meiner ­Klasse und nur männliche Lehrer. Und eine Sängerin… aber die war auch eigentlich wie ein Mann.

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SW: Und hast Du ihm irgendwas geantwortet?

keinen Fall auf diese Bühne gehen wird und das auch meint.

SW: Für mich hat das mit einer sehr altmodischen Art des

Schauspielunterrichts zu tun, mit einer Zeit, in der es auf Schauspielschulen männlich dominiert und auch so chauvi­ nistisch zugegangen ist. Stell dir mal vor, heute würde ein Schauspiellehrer zu einer Frau sagen, jetzt müsstest Du mal hohe Hacken und kurze Röcke tragen … da kannst Du gar nicht bis Zehn zählen, da wäre er schon weg. Aber ich finde deine Reaktion so interessant, dass Du Dir überlegt hast, ob er nicht vielleicht Recht hat, die anderen sind ja alle irgend­ wie gut, und die haben alle diese kurzen Röcke an. Aber das

die Frage, oder dass, was jemand sagt, so ganz ohne Schild und Abwehr reinzulassen und zu denken, „Oh! … Vielleicht ist das ja wirklich so.“ Das ist ja eine Qualität, die sehr schutzlos macht und von da aus kann man viel verstehen von dem, was Du meinst, dass Du gar keine Form hast, wenn Du nicht spielst. Oder wenn dir jemand sagt, „na ja, wenn Du Dich im­ mer nackt ausziehen würdest, dann hättest Du auch mehr Erfolg im Theater.“ Und Du dann nicht denkst, oder sagst, „Du gehörst ins Gefängnis“, sondern, „Hmmm …?“ EdB: Ja, vielleicht ist das so… Aber ich würde am liebsten… ich würde lieber so eine Reaktion haben: „Bist Du verrückt!?“ SW: Warum?

EdB: Dann hat man viel mehr … Schutz.

SW: Na ja … also, als ich jung war und in der Ausbildung, und

mir Leute so gekommen sind, da hat man es aber qualmen hören, nur, was hab’ ich eigentlich gelernt? Außer … meine Position zu zementieren, von der ich auch nicht genau wuss­ te, was das für eine ist, nur, dass es das nicht ist. Das war klar.


Aber das ewige Qualmen lässt die Verletzung nicht zu, das

stirbt, umkommt geradezu, wenn er nicht bis zum Anschlag,

lässt das Wirkliche der Frage nicht zu, da gibt es überhaupt

wenn er nicht bis zur Ohnmacht arbeitet – immer.

keine Möglichkeit, daraus irgendwas zu lernen.

Vielleicht seid ihr auch gar nicht unterschiedlich, Johan und

EdB: Ich finde es sehr besonders, dass Du das so auf-

Du, sondern Geschwister; im Geiste, und nur auf zwei ver­

nimmst. Nein, wirklich. Das habe ich noch nie so bedacht… ich habe das immer, wie einen Fehler von mir gedacht. ­ Warum habe ich da nicht gesagt: „Mach das nicht!“ Ich habe das natürlich noch immer, dass ich eher denke: „Ach ja, vielleicht hat er Recht …‘“ Also, geht bei mir sehr schnell zum Nullpunkt. Bei mir, verstehst Du? Null. Nichts. SW: Das ist viel schmerzhafter als alles andere. Aber es ist

auch viel wahrer. Vom Nullpunkt aus kannst Du immer navi­ gieren. Von so einem Punkt der Erregtheit wie, „Sind Sie

schiedenen Seiten … EdB: Ja, das Gefühl habe ich immer.

SW: Auf zwei verschiedenen Seiten, ganz unterschiedlichen

Landschaften, die sich nur manchmal treffen.

Du hast die Möglichkeit, alle Fragen zuzulassen, die irgendjemand Dir stellen kann, ohne Dich zu wehren. Das ist eine große Fähigkeit zur Hingabe. Und Johan macht ja viel durch diese Wut, die ihn da immer antreibt. Und Du schützt dich auch nicht mit so mondänen Attitüden. EdB: Nee.

eigentlich wahnsinnig geworden! Was bilden Sie sich eigent­

SW: Und Du wüsstest schon, wie’s geht. Du könntest das

lich ein“, passiert überhaupt nichts.

schon. Tust Du aber nicht. Vielleicht seid ihr die zwei Seiten

EdB: Das ist wahr. Das find ich echt. Weil es bei mir auch

von „Ich bin nichts“, ausgeht. Ich existiere nicht. Verstehst Du? Und das ist dann ein bisschen, als ob es hier in mir leer ist. Was es nicht ist. Da muss man gut daran arbeiten. Ich bin schon was. Ich bin schon was. Ich habe schon was erlebt. Ich bin nicht nichts. Das ist … da muss man so kämpfen, um das nicht herein zu lassen, dass es Null ist. Null. SW: Kannst Du aber auch tun, weil es einerseits ein Rück­

grat gibt, was Du hast, ohne dass Du das dauernd reflektie­

einer Medaille. EdB: Ja, ein bisschen so. Ich weiß noch, das erste Mal,

als Johan gehört hatte, wie ich hieß, weil mein Vater ein großes Anwaltsbüro in Den Haag hatte und sein Bruder war, glaub’ ich… SW: Ein Krimineller. EdB: Genau.

Und mit seinem Bruder war er im Anwaltsbüro de Brauw, und da hat er gedacht, „Oh, de Brauw. Das ist interessant.“ Das war sein erstes Interesse. SW: Drecksack.

ren musst. EdB: Ja, ich weiß.

SW: Du weißt es, aber Du musst es Dir nicht dauernd wieder

bestätigen. Und das ist wahrscheinlich Deine unfassbare ­Fähigkeit zur Hingabe. EdB: Ja, das ist vielleicht, wie Du sagst, D ist ein schö-

ner Blick. SW: Ja. Das ist so. Das sehe ich immer wieder. Und da

brauchst Du ja so einen Punkt. Das kann ja auch ein Halte­ punkt sein. „Ist es wirklich so? Aah! Soll ich das …? Meinst Du?“ Das ist ja in sich schon eine ganz andere Haltung als diese Erregung. Erregung ist komplette Abwehr, kommt man nicht herein. „Ist es wirklich so? Ach, wäre das eine Idee?“ ist neutral, schließt nichts aus, weil es keine Bedingungen gibt, keine Voreinstellungen. Sondern ist bedingungslos. Und das ist eine Fähigkeit. EdB: Aber, man kann es auch als feige sehen. SW: Ja, warum soll man das?

EdB: Ja, Drecksack. Ja, genau. das sag’ ich noch immer, wenn wir kämpfen, „Du hast mich nur wegen meines Geldes geheiratet“. Aber das ist nicht so. Das weiß ich. Sonst hält man das nicht so lange aus. Aber das war die erste Anziehung für ihn; da bin ich mir sicher. Also, diese unterschiedlichen Milieus haben ihn sowieso angezogen. Und mich hat … er hat mich angezogen, weil er so … ja, warum eigentlich? Weil ich was erkannt habe. Also ich, von meiner Familie aus, ich bin ein unerwünschtes Kind. Und das behält man auch immer bei. Das sind so Abdrücke, die bekommt man nicht los. Irgendwas von dieser Unerwünschtheit, und bei ihm auch diese Unerwünschtheit vielleicht, in seinem Milieu, oder so was, ich bin hier der Schwächste, ich kann nicht lernen, ich kann nicht dies, ich kann nicht das – und dann doch. Was kann ich? Irgendwo hat sich das ergänzt und das tut es immer noch. Immer wieder. Das ist einfach. Und schön.

EdB: Da haben Johan und ich oft Krach darüber. Er sagt, Du musst einen Standpunkt einnehmen. SW: Du hast doch einen Standpunkt. Du bestehst nur nicht

drauf. Du bist doch an der Stelle überhaupt nicht unsicher. Du brauchst das nicht zu tun, Möglichkeiten sind doch inte­ ressanter als Standpunkte EdB: Ja, eigentlich schon. So kann man es denken.

SW: Mir scheint, es gibt zwischen dir und Johan da einen

großen Unterschied. Johan hat einen Instinkt, und wenn der anspringt, dann kann er wunderbare, mutige, gewagte Dinge schaffen. Er hat aber gleichzeitig dauernd das Gefühl, dass er

Elsie de Brauw

„Die Freiheit, die ich meine …“

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„Die Befristeten“ von Elias Canetti in einer Bearbeitung von Angela Obst, Regie Johan Simons, Schauspielhaus Bochum, Premiere Juni 2020

Foto Birgit Hupfeld

STEFAN HUNSTEIN

Alles auf Anfang. Jedes Mal. Fragen, die man nie gestellt hat, zu fragen wagen

A

ls ich im Jahr 2010 zu Johan Simons an die Münchner Kammerspiele ging, hatte ich den Eindruck, ich hätte nicht das Theater oder die Stadt gewechselt, sondern den Kontinent. Nach immerhin vierzig Jahren erfolgreicher Theaterarbeit erschien plötzlich alles anders. Weil das Theater, das Johan Simons macht, ganz anders ist. Aber der Reihe nach: Ich hatte mich bei Johan Simons in aller Form beworben, mit Vita und Foto, denn ich war ihm ihn bislang nicht persönlich begegnet. Auch wusste ich nicht, ob er mich kannte oder bisher auf der Bühne gesehen hatte. Ich spielte damals in unterschiedlichen Rollen am Bayerischen Staatsschauspiel, dem Theater direkt gegenüber den Münchner Kammerspielen. Es gab keinerlei Anknüpfungspunkt zwischen uns – und mein erster Versuch, den Kontakt herzustellen, blieb unbeantwortet. Daraufhin riet mir mein Agent, ich solle doch die damalige künstlerische Leiterin der Kammerspiele Christiane Schneider nach einem möglichen weiteren Vorgehen befragen. Ich traf mich mit ihr und erläuterte ihr den Umstand, dass ich mich zwar beworben hatte, aber nichts dazu hörte, und erkundigte mich nach ihrer Einschätzung. „Wohin haben Sie denn den Brief geschickt?“ „Nach Varik zu ihm nach Hause.“ „Oh, es kann sein, dass der Brief vom Schreibtisch gerutscht ist und dort ungeöffnet irgendwo liegt. Das bedeutet aber nichts. Schreiben Sie doch den Brief nochmal und geben ihn mir. Dann werde ich ihn ihm direkt geben“. Zwei Tage später rief er mich an. Drei Mal haben wir uns in der Folge getroffen, gesprochen und ausgetauscht. Wobei ich irrsinnig viel redete und

S t e fa n H u n s t e i n

er eher zuhörte. Einige Zeit später rief er mich an und sagte: „Steeefan, ich glaube, wir sollten miteinander arbeiten.“ Kein einziges Mal hatte er mich bislang im Theater ge­sehen, daher rutschte mir die Frage raus: „Soll ich Dir nicht irgendetwas vorspielen, damit Du mich etwas besser als Schauspieler kennenlernst?“ „Nein“, sagte er ,„das brauche ich nicht, ich vertraue immer nur meiner Intuition“. Das war der Beginn einer intensiven, mittlerweile elf Jahre an­ haltenden Zusammenarbeit. Viel wichtiger ist aber, dass diese Geschichte etwas über Johan und seine besondere Art zu arbeiten erzählt. Deshalb möchte ich noch einige Ein­drücke aus unserer gemeinsamen Zeit schildern: Als Nächstes fuhr ich in die Niederlande, um „Kasimir und Karoline“ von Horváth in der Regie von Johan anzuschauen. Das Stück spielte im Freien außerhalb einer kleinen Stadt auf einem stillgelegten Flugzeughangar. Die Zuschauer:innen saßen auf Podesten, die Schauspieler:innen agierten auf Gerüsten, es war wunderschönes Wetter, und während des Spiels senkte sich der Tag. Zwei Menschen sah ich vor dem Beginn von weiter Ferne über das Feld auf die Spielfläche zulaufen. Mein erster Gedanke war: „Sehen die denn nicht, dass hier gleich gespielt wird? Was geschieht wohl, wenn die beiden in die Szene hineinlaufen?“ Und nach sieben langen, aber spannungsvollen Minuten eröffneten die beiden vermeintlichen Spaziergänger den Abend. Es war eine Inszenierung voller Bewegung, voller Musik, voller Spannung und mit einem hohem Unterhaltungswert. Theater nicht im gewohnten Guckkasten eines Stadttheaters, sondern als offene Versuchsanordnung, eingebettet in den Ablauf der Natur.

A l l e s a u f A n fa n g . J e d e s M a l .

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Als ich Teil seines Ensembles wurde, erlebte ich die nächste Überraschung: Alles, was ich bis dahin gelernt hatte, woran ich mich orientieren konnte, alle erarbeiteten Theater-­ Gewohnheiten, jede künstlerische Herangehensweise an den Beruf, an Texte, an Umsetzungen schienen im ersten Augenblick eine andere Bedeutung und Wichtigkeit zu haben. Der mir vertraute Stapel an Sekundärliteratur, der den Beginn einer Probenarbeit flankiert und der eng am Textverständnis festhielt, wich einer eher intuitiven Herangehensweise, die alle Beteiligten schauspielerisch-reflexiv herausforderte. Es ist ein Gruppenprozess, der oft um so interessanter ist, je unterschiedlicher die einzelnen Schauspieler:innen in Alter und Herkunft sind. Individuelle und kollektive Erfahrungen der Beteiligten bestimmen die schauspielerischen Erkundungen. Da Johan Simons ursprünglich vom Tanztheater kommt, haben Sprache und Körper eine andere Bedeutung, als ich es gewohnt war. Für mich ist die Sprache ein Gesetz, der unverwechselbare Ausdruck einer Gedankenwelt, das Resultat meiner Wahrnehmung (die, der Figur). Für Johan Simons ist sie in erster Linie Musik, Musikalität, Rhythmus. Und der Körper als eigene, von der Sprache unabhängige Ausdrucksform ist für ihn mindestens ebenso wichtig. Körper und Sprache müssen bei ihm nicht zwangsläufig eine Einheit bilden, sondern sie existieren mitunter eigenständig, ergänzen sich oder stoßen sich gegenseitig ab. Auf jeden Fall gibt es für ihn nicht die Hierarchie der Texte.

unserer Vernichtung, es vernichtet uns auch. Auch einem Menschen hängen wir ja nur deshalb ganz besonders an, weil er hilflos ist und kein ganzer, weil er chaotisch ist und nicht vollkommen“, wie Thomas Bernhard in „Alte Meister“ schreibt. Theater ist für ihn der Versuch, in einen Bereich vorzudringen, der jenseits unserer gängigen Vorstellungen liegt. Das Fragmentarische, Kaputte und Unvollkommene befördert die Erkenntnisfähigkeit. Es sucht die Differenz von Anschauungen und Begriffen, von Logik und Ideologie, von Form und Gestaltung. Hierfür braucht er Schauspieler:innen, die unvoreingenommen eine eigene Realität schaffen, um sie später wieder zu verlassen. Überhaupt ist das Entstehen von realer Gegenwart im Theater für Johan ein zentraler Punkt. In nahezu jedem Stück gibt es einen Einschnitt in den Stückablauf, der jede Seh- oder Hörgewohnheit, jede Dramaturgie sprengt. Es liegt auch in Johans Mentalität, bestehende Ordnungen zu zerstören. Mal ist es ein Musikstück, das in seiner Gänze durchläuft, mal sind es Handlungen, wie z. B. eine Kugel, die in der Totengräberszene in Hamlet in „Echtzeit“ ewig lang über die Bühne rollt, mal ist es ein Tanz, mal eine Stille, immer wieder gibt es Szenen, die den Handlungsablauf unterbrechen und auf die Realzeit im Hier und Jetzt, zwischen Akteur:innen und Publikum verweisen. Es ist das Herunterbrechen der Zeiten in die Jetzt-Zeit, in die unmittelbare Gegenwart. Es ist ein spiritueller Moment, der normalerweise im Theater selten vorkommt.

Ich kann zu den verschiedenen Theaterarbeiten, die wir zusammen gemacht haben – es sind mittlerweile elf Stücke, vielfältige Eindrücke beschreiben. Mit jeder Arbeit haben wir Neuland betreten, sind wir volles Risiko eingegangen, haben Grenzen überschritten, Sehgewohnheiten verlassen. Als wir z.B. „Gesäubert“ von Sarah Kane gearbeitet hatten, wollte Johan in der Generalprobe den einzigen Haltepunkt im Spiel, nämlich vier Stühle, auf denen wir abwechselnd saßen, wegnehmen. Es gab Spannungen. Ich hatte das ­Gefühl, ohne diese Stühle würde das Spiel sein Zentrum und sich im Chaos verlieren. Und als Spieler verlor ich meine Sicherheit. Und so konnten wir die Stühle behalten. Heute würde ich es wahrscheinlich anders machen, mich auf ein Spiel ohne den Halt einlassen. Denn ich verstehe heute besser, was sich hinter Johans Gedanken verbirgt: Er sucht ein Theater jenseits der gewohnten Verabredungen, jenseits von erlangter Sicherheit. Er möchte neben aller Kunstform so viel spielerische Realität wie nur möglich. Er sucht die reale Gegenwart im Spiel, in Raum und Zeit. Zusammengefasst und etwas überspitzt kann man sagen: Johan sucht das unverstellte Leben im Theater. Dies ist paradox, da das Theaterspiel an sich ja eine Kunstform ist. Leben heißt für ihn Kreativität, weniger Arrangement, mehr Überraschung, mehr Unbewusstes. Nie interessiert ihn die perfekt gestaltete Szene oder die erarbeite Figur, sondern immer nur der Mensch in seiner Unvollkommenheit. „Das Vollkommene droht uns nicht nur ununterbrochen mit

Und noch etwas war anders: War ich es bisher gewohnt, dass die Probenarbeit in konzentrierter Ruhe ablief, so bevölkern bei Johan Simons Studierende, Assistent:innen, Interessierte von Anfang an den Probenraum. Jede:r, der Interesse hat, ist in Johans Proben willkommen. Er kennt nicht die Abgrenzung zu anderen in der Arbeit. Im Gegenteil, er sucht die permanente Auseinandersetzung, findet die Intimität in der Öffentlichkeit. Deshalb gehört es für ihn dazu, alle Interessierten, Anwesenden und Beteiligten während der Proben zu befragen, ob sie dies oder jenes nachvollziehen können, akustisch und/oder inhaltlich. Meine anfängliche Scham, mich beim Ausprobieren neuer Texte beobachten zu lassen, meine Unsicherheit, eine Figur in Facetten zu erfinden, indem ich sie nach und nach in aller Stille entdecke, hatte hier keinen Platz. Mit und dank Johan hieß es für mich damals: Raus aus dem geschützten Raum, hinein in einen permanenten öffentlichen Arbeitsprozess. Jeder und jede ist gefragt. Jeder und jede ist gemeint, alle Türen stehen offen. Über zwei Arbeiten, die mir besonders erwähnenswert erscheinen, möchte ich noch schreiben. Ein Theaterabend, bestehend aus zwei Romanen von Michel Houellebecq, nämlich „Plattform“ und „Unter­ werfung“. Ich bekomme die Texte im Oktober zum Lernen, die Proben beginnen Anfang Januar, die Premiere ist am 19. Januar. Zweieinhalb Wochen Arbeitszeit für ein Stück,


das vier Stunden dauert. Es ist eine Zumutung, „mission impossible 1 und 2“. Aber nach so vielen geglückten gemeinsamen Erlebnissen lasse ich mich sportiv gestimmt und abenteuerlustig darauf ein. Glücklicherweise bin ich ja nicht allein, ich habe zwar ein komplett neues, aber fantastisches Ensemble um mich herum, mit denen ich mich auf Anhieb verstehe. Ohne gemeinsamen Willen und Kraftanstrengung hätten wir es nicht geschafft. Das Stück beginnt mit einer Explosion, d. h. aus dem Bühnenhimmel fällt das gesamte Bühnenbild und zerbricht auf dem Boden. Alles, was im Spiel gebraucht wird, müssen wir zusammensuchen, Kostüme, Requisiten, Möbel. Es liegt in der Natur der Sache, dass nach dem Zerbersten der Teile alles verstreut herumliegt. Der Tisch, der zum Spiel gebraucht wird, hat möglicherweise nur drei Beine. Manchmal sogar nur eines, weil sie beim Sturz abgebrochen sind. Neben all der zu bewältigenden Textmenge ist das die größte Herausforderung: Immer wieder beschwört Johan Simons die Wirklichkeit herauf, das Authentische im Spiel. Mit allem Risiko. Auch dies war eine Arbeit, die mich an meine Grenzen führte. Aber auch das Provokationspotential des Textes von Michel Houellebecq war nicht zu unterschätzen. Ganz abgesehen von den zahlreichen pornografischen Beschreibungen im Text, die ich anfangs auch nicht so selbstverständlich leicht über die Lippen gebracht habe. Aus der Summe all dieser Unabwägbarkeiten und Unsicherheiten wurde es ein besonderes Theaterereignis, das uns Schauspieler:innen und das Publikum zusammengeführt hat. Nach jeder Vorstellung gab es lebhafte Publikumsdiskussionen, in der das Theater inhaltlich und formal auf dem Höhepunkt der Zeit war. Nie tauchte die übliche Frage auf, „Wie haben Sie denn den Text gelernt“, sondern wir sprachen gemeinsam über die Ängste des Einzelnen in der Gesellschaft und die Möglichkeiten und die besondere ­ Wichtigkeit des Theaters für die Auseinandersetzung zeitgenössischer politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Irgendwann kam es während der kurzen Probezeit zu Spannungen. Johan hatte beide Stücke schon früher in Gent gemacht und wusste, worauf es ihm ankommt. Ich hatte den Eindruck, ich komme überhaupt nicht hinterher und den in mir stündlich anwachsenden Druck müsste ich ablassen. Und somit explodierte die Emotionsfabrik. Johan sagte angegriffen: „Steeefan, ich glaube, mit Dir arbeite ich nicht mehr.“ Ich sagte: „Ja, das ist in Ordnung, aber dieses Stück müssen wir noch zu Ende machen.“ Und wir probten weiter. Am Ende des Tages sagte er: „Wie wäre es, wenn Du den Claudius in Hamlet spielst?“ Acht Wochen später gehen wir also wieder auf Abenteuerreise. Warum? Ich gehe davon aus, dass Johan genauso wie ich, sieht, was den anderen ausmacht und wie man ihn dabei unterstützt, das Möglichste aus sich herauszuholen – auch und trotz Reibungen, solange die Basis gegenseitiger Wertschätzung nicht verlassen wird.

S t e fa n H u n s t e i n

Nach einiger Zeit wird der Eindruck des gesprochenen Wortes immer dichter, die Welt hinter dem Text scheint auf, die Spielsituationen werden zwingender, wir haben das Gefühl, jetzt hält es uns nicht mehr am Stuhl, jetzt müssen wir auf die Bühne.

Wir probten dann also „Hamlet“ zusammen. Das Stück kennt jede:r irgendwie, mal besser, mal schlechter, und jede:r hat eine Meinung dazu. Das macht eine der Schwierigkeiten aus, wenn man es neu inszenieren will. Als ich auf die erste Probe komme, freue ich mich auf die Kolleg:innen. Es ist ein fantastisches Ensemble in jeder Rolle. Ich sehe ein vollkommen abstraktes Bühnenbild von Johannes Schütz: Es ist ein leerer weißer Raum mit einer frei schwingenden Skulptur, die an die Mobiles des amerikanischen Bildhauers Alexander Calder erinnern. In der Textfassung fehlen jede Menge Figuren, z. B. Horatio, Osric, die Schauspielertruppe, der Geist von Hamlets Vater. Der wiederum soll von Sandra Hüller, die den Hamlet spielt, selbst verkörpert werden. Vieles ist gekürzt. Außerdem ist der Shakespearetext mit der „Hamletmaschine“ von Heiner Müller verwoben. Fragen über Fragen tauchen auf. Auch ist die Probenzeit nicht übermäßig lang. Aber wir beginnen,

A l l e s a u f A n fa n g . J e d e s M a l .

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den Text zu lesen, immer wieder lauschen wir ihm zu, ändern, verändern, proben am Tisch, um uns und dem Autor in Ruhe zuzuhören. Hier liegt Johan Simons Kraft, in dem er immer wieder viel Raum und Stille zulässt. Es ist aber eine kreative Stille, kein Schweigen. Nach einiger Zeit wird der Eindruck des gesprochenen Wortes immer dichter, die Welt hinter dem Text scheint auf, die Spielsituationen werden zwingender, wir haben das Gefühl, jetzt hält es uns nicht mehr am Stuhl, jetzt müssen wir auf die Bühne. Es ist ein logischer, entscheidender Schritt. Er kommt nicht von außen, sondern aus den Schauspieler:innen selbst. Das gibt uns die Kraft zum Spiel. Näher und näher rückt die Premiere und es passiert, dass einige der Kollegen, ich auch, neben den Hamletproben noch einige andere Termine haben, die ein kontinuierliches Proben am Stück eigentlich unmöglich machen, denn ­immer fehlt jemand. Zwei Wochen vor der Premiere sagt ­Johan Simons plötzlich: „Ich bin mal gespannt, wer hier als erster die Nerven verliert. Ich bin’s nicht.“ Und von Stund‘ an probt er barfuß in seinem Oranje T-Shirt mit jedem, der ­gerade da ist. Eine Woche vor der Premiere gibt es eine ­öffentliche Probe, zu der meistens die Freunde und Förderer des Theaters eingeladen werden. Das ist eine Veranstaltung, die von Regisseur:innen oft benutzt wird, um zu prüfen, ob die Inszenierung schon einigermaßen funktioniert, oder dem Publikum wird irgendetwas gezeigt, denn so ein ­Besuch kurz vor der Premiere ist häufig unpassend. Am Morgen fragt mich Johan, was wir am Abend vor den Freunden zeigen sollen: „Wir proben einfach das nochmal, was wir am Morgen gemacht haben. Glaubst Du, das ist ok?“ „Ja“, sage ich spaßhaft, „wir könnten obendrein auch einen Streit zwischen uns vortäuschen, dann haben die Menschen etwas zu erzählen“. Der Abend kommt, die Freunde und Förderer sitzen im Theater und zu meiner Überraschung macht Johan an genau der Stelle weiter, wo wir am Morgen aufgehört hatten, also an einer bisher nahezu ungeübten Stelle. Und er probt tatsächlich. Er lässt sich durch die Anwesenheit des neugierigen Publikums keine Sekunde lang irritieren. Und so tritt in diesem Falle Laertes auf, es ist immer die gleiche Stelle, nahezu zwanzigmal M ohne offensichtlich erkennbaren Unterschied. Ich drehe mich verstohlen um und sehe zu meinem Erstaunen voll konzentrierte Zuschauer, die akustisch kaum etwas von dem, was Johan oder einer der Schauspieler sagt, verstehen können. Am Schluss dieser langen Abendprobe gibt es Applaus, niemand ist gegangen, ich sehe nur beglückte Gesichter. Einige haben nachher Briefe geschrieben und sich herzlich dafür bedankt, dass sie seit nunmehr Jahren hier zum ersten Mal erleben durften, was auf einer Probe wirklich geschieht. Die Premiere rückt näher. Zur Generalprobe wirbt Johan für die Idee, dass wir doch alle aus dem Zuschauerraum auftreten sollen, so als seien wir Spieler:innen ein Teil des Publi­kums und das Publikum ein Teil des Spiels. Die Premiere

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läuft gut, alle spielen miteinander, wir stützen uns, sind auf der Höhe dessen, was im Stück im Moment verhandelt wird. Aber wie wird es ankommen, das Stück, das jeder irgendwie kennt? Wie kommt unsere Reise an, kommen wir mit unserer Reise bei unserem Publikum an? Es liegt offensichtlich ein Zauber über der Aufführung, denn der Zuspruch ist überwältigend. Standing Ovations, jeden Abend. Für das Ensemble, für Sandra Hüller, für Johan Simons, für „Hamlet“, für Shakespeare, für das Theater. Der Weg führte ins Ziel, aber niemand konnte es vorher ausrechnen. Habe ich noch etwas vergessen? Ja, vieles. Das meiste davon wird noch erzählt werden über die gemeinsamen Arbeiten und Abende, die wir noch vor uns haben. Johan ist trotz seiner großen Erfolge getrieben von der Vorstellung, dass er seine beste Arbeit vielleicht noch nicht gemacht hat. Mit „Ödipus“ von Sophokles im Jahr 2021 sind wir seiner Meinung nach weit gekommen. Es war eine ideale Zusammenarbeit, voller Respekt vor dem Autor und seinem Text, voller Konzentration auf uns und die Sprache, eine Reibung zwischen einem zeitgenössischen Installationsraum und einer archaischen, zeitlosen Geschichte, zwischen einer musikalischen Neukomposition und einem dichterischen Werk der Antike, getragen von Schauspieler:innen, die sich mit aller Kraft ihrer Profession und Persönlichkeit jedem Momentum der Erzählung überlassen. Zwischen all diesen Elementen taucht plötzlich spürbar eine Gedankenwelt auf, die alle wie ein Sog erfasst, Spieler:innen und Zuschauer:innen. Es ist eine Welt in der Welt. Liegt in der Geisteskraft eine Form von Gottesnähe? Befindet sich hinter diesem spirituellen Moment, wie ihn nur die Kunst, hier das Theater, zustande bringen kann, die Sehnsucht von Johan Simons? Ist er vielleicht ein Gottsucher?

S. 83 „Ödipus, Herrscher“ in einer Fassung von Elsie de Brauw, Mieke Koenen und Susanne Winnacker. Regie Johan Simons, Bühne Nadja Sofie Eller, Kostüm Greta Goiris. Premiere Okto­ ber 2021 am Schauspielhaus Bochum Foto Nadja Sofie Eller S. 84–85 „Ödipus, Herrscher“ am Schauspielhaus Bochum Fotos Michael Saup

S. 86–89 „Dämonen“ von Fjodor M. Dostojewskij am Wiener Burgtheater, in der Übersetzung „Böse Geister“ von Swetlana Geier. Regie Johan Simons, Bühne Nadja Sofie Eller, Kostüm Fotos Flóra Kruppa Greta Goiris S. 90 Sarah Moeschler in „Ödipus, Herrscher“ am Schauspielhaus Bochum Foto Flóra Kruppa










KOEN TACHELET

„Sehen heißt, die Bilder töten“

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Über Gewalt in den Inszenierungen von Johan Simons

I

1 Heiner Müller: „Anatomie Titus Fall of Rome, n Rezensionen wird der Regiestil von Johan Simons regelmäßig als Ein Shakespearekommentar“, Texte. 9. Shake„protestantisch” bezeichnet. Das mag mit Simons’ Einstellung zum speare Factory 2. Stücke, Berlin: Rotbuch 1.–4. Tsd.1989, (= Rotbuch 291) S. 151. Theater als Raum der Imagination zu tun haben. Seine Aufführungen haben eindeutig eine visuelle Qualität, die alle theatralischen Mittel mobilisiert. Dabei bedient er sich abstrakter Strategien, die seinen Hintergrund als Tänzer verraten: Ein theatralisches Bild ist bei Simons immer Teil einer größeren Konstellation, die die individuelle Darstellung zugunsten einer kollektiven Darstellung in den Hintergrund drängt. So wichtig Licht, Bühnenbild oder Musik auch sein mögen, es sind immer die Schauspieler, die, wie im modernen Tanz, ihre Körper zu Bildern machen. Deshalb steht bei Simons ein Bild niemals still; das Bild atmet, bewegt sich, denkt, reagiert. Simons ist äußerst misstrauisch gegenüber jeder Form von Illustration. Für ihn ist ein theatralisches Bild „bebildert”, wenn es sich vom Schauspieler und dem gesprochenen Text löst. Solche Illustrationen machen das Bild tot, die Tiefe des Textes flach, die Kommunikation banal. Hinter diesem Misstrauen verbirgt sich natürlich eine positive Wertzuweisung, insbesondere der Glaube an die Ausdrucksfähigkeit des Textes. Für Simons ist ein Text (im Prinzip gibt es Ausnahmen) besser geeignet, die Komplexität der Wirklichkeit zu erfassen als ein Bild. Denn ein Text ist nicht nur eine Mitteilung, sondern auch ein Gedanke. Simons deutet dies mit der Metapher des Eisbergs an. Die sichtbare Spitze, die sich über das Wasser erhebt, ist der Text als Kommunikation, gebunden an die Glaubwürdigkeitsanforderungen der Spielsituation, den Dialog zwischen den Figuren, die dramaturgische Ober­ flächenstruktur. Doch darunter befindet sich eine riesige Eismasse, die in ihrer Tiefe und Ausdehnung unergründlich ist. Das ist die Welt der Gedanken, und diese Welt umfasst nicht nur die Ideen, auf denen ein Stück beruht, sondern auch alle möglichen Gedanken des:r Schauspielers:in im Moment des Spiels selbst. „Habe ich diesen Satz jetzt nicht zu leise gesprochen?”, „Wie wäre es mit meinem kranken Kind?”, „Ich sollte diesen Satz näher an mein Gegenüber herantragen”, „Die Reaktion des Publikums ist heute Abend sehr gering”, und so weiter. Simons schult seine Schauspieler:innen darin, für Reize und Informationen empfäng­lich zu sein, die scheinbar nichts mit der Rolle und dem Stück zu tun haben. Auf diese Weise will er die potenzielle Gefahr eines rein repetitiven Bühnenspiels ausschalten und einen allzu psychologisierenden Ansatz verhindern. Vor allem aber möchte er erreichen, dass der:die Schauspieler:in den Text aus einer Sensibilität heraus spricht, was dieser Text hier und jetzt bedeuten kann: aus der Eismasse unter der Oberfläche. Das Ideal ist ein:e Schauspieler:in, dem:r es gelingt, den Text gleichzeitig zu sprechen und zu denken, und der:die gleichzeitig in der Lage ist, auf die einzigartigen, nicht wiederholbaren Reize zu reagieren, die auf ihn:sie einwirken. Das erklärt Simons’ Vorliebe für ­Romanadaptionen auf der Bühne: In einem Roman sind die Dialoge nur die Spitze des Eisbergs,

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darunter befindet sich eine riesige Textmasse aus Gedanken, Reflexionen, Erinnerungen. Simons’ Ehrgeiz bei einer Romanadaption konzentriert sich daher darauf, das, was in einem Roman unausgesprochen bleibt, „sprechbar“ zu machen. Das thematische Feld, in dem die Spannung zwischen Zeigen und Sprechen, Illustration und Reflexion, Darstellung und Repräsentation in Simons’ Werk am deutlichsten zutage tritt, ist das der Gewalt. Da ist zum einen die große Faszination für Gewalt als etwas, das den Menschen zum Menschen macht, das also in seiner DNA verankert ist. Für Simons ist das Theater der Ort, um­ diese tief im Menschen verwurzelte Gewalt zu erforschen, ohne soziale Filter oder moralische ­Tabus. Andererseits hat sich Simons immer gegen die unreflektierte Darstellung von Gewalt auf der Bühne ausgesprochen. Dies ist ein interessantes Paradoxon. Denn die Darstellung von Gewalt ist in hohem Maße von einer Realität jenseits der Sprache abhängig. „Nichts will sie davon wissen und sucht nichts anderes zu sein als diese vorsätzliche Ignoranz oder Blindheit, ein jedem Zusammenhang entzogener stumpfer Wille, der von seinem zerstörerischen Eindringen ganz eingenommen ist. [...] Darum ist Gewalt auch grundlegend dumm“, sagt Jean Luc 2 Jean-Luc Nancy: „Am Grund der Bilder“. Nancy über die Beziehung zwischen Gewalt und Bild.2 Mit anderen ­Zürich 2005, S. 33. Worten: Gewalt spricht ihre eigene phantasielose, zerstörerische Sprache. Genau aus diesem Grund lehnt Simons die wörtliche Darstellung von Gewalt auf der Bühne ab: weil sie Gewalt zwar zeigen, aber niemals verstehen kann. Die Einszu-eins-Darstellung von Gewalt blockiert den Moment des Verstehens, weil sie beim Publikum eine instinktive Fluchtreaktion auslöst, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und das Denken lähmt. Aus diesem Grund erwartet, ja verlangt Simons von seinen Schauspieler:innen, dass jede Form von Gewalt auf der Bühne (verbal oder nonverbal) „erwidert“ wird. Keine impulsive, sondern eine bewusste, gewählte Reaktion, die deutlich macht, dass beide Akteur:innen – derjenige, der den Schlag ausführt, und derjenige, der ihn empfängt – sich der moralischen und ideologischen Strukturen bewusst sind, innerhalb derer sich Gewalt immer abspielt. Gewalt ist also niemals nur Gewalt. Sie ist Ausdruck eines Denkens über Macht, über Geschlecht, über Identität. Vom Publikum zu erwarten, dass es eine kritische Haltung gegenüber etwas einnimmt, das unreflektiert auf der Bühne gezeigt wird, hält Simons für eine Form von intellektueller Faulheit. Simons’ Werk hat also einerseits eine substanzielle Faszination für gewalttätige Strukturen in Mensch und Gesellschaft, andererseits eine radikale „Bildverweigerung“ in Bezug auf die Darstellung von Gewalt. Dieses Spannungsfeld ist also von Anfang an vorhanden, zeigt aber eine deut­ liche Entwicklung, parallel zu wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen, aber auch zu Simons’ immer größer werdender Präsenz im deutschsprachigen Theater des ersten Jahrtausends des 21. Jahrhunderts. In Deutschland fand Simons sowohl den Raum als auch die Ermutigung, diese Spannung zwischen Zeigen und Diskutieren in der Darstellung von Gewalt zunehmend zu verschärfen. Um diese Entwicklung konkret zu interpretieren, müssen wir für einen Moment zum Beginn des 21. Jahrhunderts zurückkehren, zu dem Ereignis, das sich als Sammlung von Bildern in das kollektive Bewusstsein des neuen Jahrhunderts eingeprägt hat. Die Anschläge vom 11. September 2001 lösten nicht nur eine beispiellose (militärische und ideologische) Selbstbehauptung im „freien“ Westen aus, sondern brachten auch einen grundlegenden Zweifel an die Oberfläche. Ein Zweifel an der Legitimität unserer Kultur selbst, an ihren Grund­ sätzen, an den Vorstellungen von Freiheit und Fortschritt. Man könnte argumentieren, dass die selbstbewusste Haltung, mit der der Westen den Übergang zum neuen Jahrtausend vollzog, diesen grundlegenden Zweifel lautstark überdeckte. Der Preis, den die westlichen Gesellschaften dafür zahlen, dass sie diesen Zweifel ignorieren, ist Angst. Angst, weil wir mit dem ständigen Gefühl leben, dass wir bestraft werden und diese Bestrafung verdienen, dass wir am Vorabend einer endgültigen Abrechnung stehen, einer Hyperkonfrontation mit großen demografischen Veränderungen, sich verändernden klimatischen Bedingungen, durchsetzungsfähigen und kämpferischen ideologischen Rahmen wie dem Islamismus oder der Alt-Right, großen globalen politisch-ökonomischen Veränderungen. Man könnte sagen, dass der westliche Mensch nach dem 11. September zwei Gesichter zeigt: einerseits das des knurrenden Hundes, der seine Zähne zeigt, und andererseits das des verwundeten Tieres, das seine Wunden leckt. Das verwundete Tier, das wir sind, zu zeigen und zu analysieren, war in den letzten zwei Jahrzehnten eine entscheidende Triebkraft im Repertoire von Johan Simons. Nicht zufällig verlief dies

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parallel zu Simons’ Übergang vom Theater am Ort des Geschehens zum großen Theatersaal und zu einem Wechsel von einem monumentalen, skulpturalen Spielstil zu einem eher introspektiven, narrativen, „denkenden“ Schauspiel. Auch die Art der Figuren, die auf die Bühne gebracht wurden, entwickelte sich. Während sich Simons’ ortsspezifisches Theater in der Niederlandeauf vergessene oder verdrängte Figuren am Rande der Gesellschaft konzentrierte – verarmte Bauern, Anarchisten, entlassene Arbeiter –, brachte er im Theater Figuren auf die Bühne, die aus derselben sozialen und wirtschaftlichen (Mittel-)Klasse stammten wie das Publikum im Saal: Figuren, die in vergrößerter Form das Paradox des westlichen Menschen verkörperten. Die Produktion, die diesen Übergang markierte, war ein kleines Forschungsprojekt, das Simons 2001 mit einer Reihe alter Bekannter der Theatergroep Hollandia inszenierte: den Schauspieler:innen Elsie de Brauw, Betty Schuurman und Jeroen Willems, den Dramaturgen Tom Blokdijk und Koen Tachelet und dem Bühnenbildner Leo de Nys. Das Projekt hieß „GEN (What dare I think?)“ – welches Simons später am Schauspielhaus Zürich weiter entwickelte unter dem Titel „Elementarteilchen“. PARENTHESE 1

Mit Johan Simons teile ich die Überzeugung, dass eine Rolle immer größer sein muss als der:die Schauspieler:in, der:die sie spielt. In der Rolle stellt der:die Schauspieler:in eine Welt vor, die umfassender ist als die Welt, in der er:sie lebt. Anders gesagt: die Rolle umfasst nicht nur die Figur, sondern auch die physische und mentale Wirklichkeit rund um die Figur, nicht nur ihr Verhalten, sondern die möglichen Interpretationen von und Standpunkte gegenüber diesem Verhalten. ­Diese „Erweiterung des Bewusstseins“ ist ein wichtiger Schlüssel, wenn man versucht, das Theater von Johan Simons zu deuten. Nur dann ist das Spielen für ihn relevant, wenn dieser „Bewusstseinsbonus“ deutlich präsent im Aufbau der Rollen verarbeitet ist. Ein Faktor ist immer auch das Verarbeiten eines Menschenbildes. In Simons’ Fall geht dieses Menschenbild von der Feststellung aus, dass die Persönlichkeitsstruktur des modernen westlichen Menschen ein schizophrenes Bild zeigt. Der westliche Mensch ist im Lauf der Geschichte dem Ideal der Machbarkeit nie näher gewesen als heute, aber er war auch noch nie über das Resultat dieser Machbarkeit so verzweifelt. Er ist gleichzeitig Subjekt und Objekt der Zivilisation, Schöpfer und Zerstörer. Er laviert zwischen Handeln und Reflexion, zwischen Euphorie und Scham, zwischen Explosion und Implosion. Er ist der Mensch, der lernen muss, in einer Welt zu leben, die er selbst „gemacht“ hat, aber er begreift, dass sie ihn langsam kaputt macht. Er fühlt sich wie die sprichwörtliche Kuh, die dem vorbeirasenden Zug hinterher starrt: Er ist noch immer fasziniert von der Maschine, die er selbst erschaffen hat, aber diese Maschine kümmert sich immer weniger um seine Anwesenheit. Das einzige, was ihm in dieser Situation noch bleibt, ist eine radikale Selbstbefragung: Wie kommt es, dass ich an der Welt leide, die ich selbst kreiert habe? Die Ausgangspunkte von „GEN (What dare I think?)“: einerseits das durch die Gentechnologie kreierte Menschenbild analysieren, andererseits eine neue Art des Schauspielens untersuchen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts hatte die Gentechnologie, genau wie der internationale Terrorismus, eine Welle von irrationalen Ängsten durch den Westen geschickt. Unser Projekt sollte sich nicht auf eine moralische Ebene am Thema reiben, es sollte eine Produktion werden, die sich die gentechnologische Realität als Wirklichkeit akzeptierte. Aber wie, mit welchem Material, in welcher Form? Wie konnten wir die abgegriffenen Metaphern von Leben und Tod vermeiden? Unser Ziel war es, eine Produktion zu machen, die durch ihr Thema „zersetzt“ wurde. Aber nochmals, wie sollte sie aussehen? Und welchen Text konnte man benutzen? Geholfen hat uns die Lektüre von Denis Diderot, Wissenschaftsphilosoph aus dem 18. Jahrhundert, und seinen Essays „D’Alemberts Traum“ und „Paradox über den Schauspieler“. Darin wendet Diderot seine wissenschaftliche Theorie über die Entstehung des Lebens auf die menschliche Seele an. Typisch für das Leben sei ein hohes Maß an Veränderlichkeit, und diese Eigenschaft der Veränderlichkeit zeige sich am deutlichsten im Schauspieler. Was Diderot auf der Ebene von Atomen vermutete, sah er in der Praxis des Schauspielens bestätigt: „Die Seele eines großen Schauspielers ist aus der ätherischen Substanz gemacht, die unsere Wissenschaftler im Raum antreffen, und die nicht warm ist, nicht leicht und nicht schwer, die keine einzige bestimmte Form hat und keine einzige Form behält, aber doch in der Lage ist, allerlei Formen anzunehmen. Dadurch, dass er nichts ist, ist er gerade alles, dadurch, dass seine eigene

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3 Im Original: „SECOND INTERLOCUTEUR L‘âme Form nicht im Gegensatz steht zu den fremden Formen, die er annehd‘un grand comédien a été formée de l‘élément men muss.“3 subtil dont notre philosophe remplissait l‘espace qui n‘est ni froid, ni chaud, ni pesant, Die Seele des großen Schauspielers besteht aus jenem feinen stoff, ni léger, qui n‘affecte aucune forme détermimit dem unser Philosoph (Epikur), den unendlichen Raum erfüllte, der née, et qui, également susceptible de toutes, n‘en conserve aucune. PREMIER INTERLOCUweder kalt noch warm, weder schwer noch leicht ist, der keine feste Form TEUR. Un grand comédien n‘est ni un pianoannimmt, der jede Gestalt annehmen kann, aber keine behält.“ forte, ni une harpe, ni un clavecin, ni un violon, ni un violoncelle ; il n‘a point d‘accord qui lui Dieses Modell wollten wir selbst auch verfolgen: unser „Gespräch“ mit soit propre ; mais il prend l‘accord et le ton qui conviennent à sa partie, et il sait se prêter à der Gentechnologie durfte nicht nur im Text stattfinden, sondern sollte toutes.“ In: Denis Diderot: Paradoxe sur le auch im Spiel der Schauspieler sichtbar werden. Wir landeten schließlich Comédien. 1830. chrome-extension://efaidn­ bmnnnibpcajpcglclefindmkaj. S. 34. Zuletzt bei drei Quellentexten: die Essays „Regeln für den Menschenpark“ und aufgerufen am 23.05.2023. Hier in Übersetzung „Eurotaoismus“ von Peter Sloterdijk und der Roman „Elementarteilchen“ und Bearbeitung vom Autor. von Michel Houellebecq. Houellebecqs Stil ist nüchtern, beinah wissenschaftlich beobachtend und seine Figuren sind fast schematisch gestaltet. Sie sind fleischgewordene Ideen, verkörperte Menschenbilder. Sie bewegen sich an der Grenze vom einzigartigen Menschen zum Prototyp, von abstrakter Theorie zu konkreter Erfahrung. Bei der Bearbeitung merkten wir, dass ein organischer Übergang vom Dramatischen zum ­Philosophischen und umgekehrt möglich war. In seinem Roman lässt Houellebecq den neuen Menschen vom Jahr 2079 aus zurückschauen auf die Lebensläufe von zwei Männern und zwei Frauen. Schnell war uns klar, dass wir den Text von „GEN“ aus dieser Perspektive heraus strukturieren mussten, auch von der Zukunft zur Gegenwart. Zu Beginn sehen wir drei namenlose, geschlechtslose, perfekt glückliche, neue Menschen. ­Souverän nehmen sie die Texte von Sloterdijk und Platon in den Mund und erzählen, wie sie sich für ein Leben ohne Gewalt, und damit auch ohne Begierde, die die Ursache aller Gewalt darstellte, entschieden haben. Gleichzeitig schimmert durch ihren hochintellektuellen Diskurs immer stärker die Neugierde nach dem Leben des früheren Menschen hindurch. Sie stellen sich den „alten“ Menschen vor und versuchen, sich in ihre Vorväter zu verwandeln. Vor allem die Erfahrungen rund um Krankheit und Tod, Liebe und Sex interessieren sie. Für diese Zeitreise in die Vergangenheit benutzen sie die Erzählungen der beiden Paare aus „Elementarteilchen“. Wir wollten auf keinen Fall, dass die Schauspieler:innen einmal den „neuen“ und dann wieder den „alten“ Menschen spielten, sie sollten auch in ihrer Transformation ein neuer Mensch bleiben. Simons suchte mit seinen Schauspieler:innen nach einer völlig transparenten Art zu spielen. Wichtig dabei war, dass die drei Schauspieler:innen von „GEN“ schon oft miteinander und mit Simons zusammengearbeitet haben. Die Herausforderung bestand deshalb darin, alle Selbstverständlichkeiten, alle Tricks, alle Formeln über Bord zu werfen und ohne Masken oder Widerstände, mit größtmöglicher Verletzlichkeit zu spielen. Ein Schauspielstil ohne Reibung. Dieser Gedanke wurde konsequent im Bühnenbild übersetzt, das nur aus einigen Sesseln bestand, ohne gesonderte Spielfläche für die Schauspieler:innen, die dadurch gezwungen waren, dem Publikum „auf die Pelle“ zu rücken. Alles war sichtbar. Eine weitere Konsequenz war die Entkopplung des Konflikts vom Erleben des Konflikts. Die neuen Menschen erinnern sich zwar noch an die Tragik des alten Menschen, aber sie wissen nicht mehr genau, wie diese Tragik aussieht. Das Ergebnis ist eine Art „Playback“ von Gefühlen und Konflikten. Auf der Bühne sind Menschen zu sehen, die zwar überragende Denker:innen sind, aber einen unbeholfenen Körper haben, der die hervorgerufenen Erfahrungen nicht ausdrücken kann. Das passte sehr gut zu unserer thematischen Faszination für den neuen Menschen, der mental perfekt in der Lage ist, Erinnerungen in all ihrer Komplexität wachzurufen, aber dessen Körper diesen Erinnerungen keine Form geben kann.

PARENTHESE 2

Die Kombination einer dramatischen und einer introspektiv-erzählenden Form, die Johan Simons seit „GEN (What dare I think?)“ immer weiterentwickelt hat, zeugt von dieser radikalen Introspektion. Figuren leiden an der Welt, die sie selbst erschaffen haben. Und sie sind sich dessen bewusst. Sie stehen zwar „mitten in der Welt“, aber sie haben gleichzeitig das Gefühl, dass diese Position sie fundamental unglücklich macht. Ihre Tragik hängt mit ihrem Selbstbewusstsein zusammen. ­Johan Simons sieht es als seinen Auftrag an, diese Tragik des modernen Selbstbewusstseins in Figuren zu zeigen, die handeln und denken, erfahren und analysieren.

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Wir springen von 2001 auf 2004. Die Anschläge von 9/11 in New York waren der unmittelbare ­Anlass für die Münchner Kammerspiele, Simons einzuladen, ein Stück von Heiner Müller zu inszenieren: „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespeare Kommentar“ (1984). Es war die erste von vielen Kooperationen zwischen Simons und dem Bühnenbildner Bert Neumann. Das von Neumann vorgeschlagene Bühnenbild war eine direkte Anspielung, nicht auf die Anschläge in New York, sondern auf das Geiseldrama in einem Moskauer Theater im Jahr 2002. Das Bühnenbild ist eine exakte Kopie des Zuschauerraums der Münchner Kammerspiele: eine riesige Tribüne mit Theatersitzen, die die Bewegungsfreiheit der Schauspieler:innen einschränken und die Grenze zwischen Bühne und Saal aufheben. Verstärkt wird dies durch ein Beleuchtungssystem, das den Saal und die B ­ ühne in dasselbe weiße Licht taucht. Simons und Neumann interessierten sich weniger für die Gewalttätigkeit eines solchen Geiseldramas als vielmehr für die arche­ typische Situation: die Müdigkeit, das Verstreichen der Zeit, das in der Luft hängende Gewaltpotenzial, die sich aufbauende emotionale Spannung, die zuschauende und untätige Außenwelt. Es ist die Stille vor und nach der Gewalt, die zum Nachdenken anregt. Das Theater ist ein solcher Ort „vor und nach“ der Gewalt. Neumann und Simons dachten diesen Gedanken radikal zu Ende: Im gewalttätigen Stück schlechthin ist kein Platz für die Gewalt, auch das Bühnenbild drückt nur Reflexion aus. In „Anatomie Titus“ beschreibt Heiner Müller die Sackgasse der Politik durch die Metaphern des Theaters. Im Theater beklagt die politische Elite ihren eigenen Verlust an Vitalität. Um diesen Verlust zu kompensieren, schwelgt er in Szenen wahlloser Gewalt. ­Simons nutzt die Kette der Gewalttaten in Müllers Stück nicht, um die Gewalt glaubwürdig auf die ­Bühne zu bringen, sondern um den Blick radikal nach innen zu richten. Die Welt sitzt, redet, schaut zu, aber tut nichts. PARENTHESE 3

„Titus Andronicus“ ist Shakespeares gewalttätigstes Stück, eines der blutigsten im elisabethanischen Theater. Mord, Massenmord, Vergewaltigung, Verstümmelung, Folter, Kannibalismus: all das ist da drin. Heiner Müller folgt in seiner Übersetzung/Bearbeitung Shakespeares Geschichte des blutigen Machtkampfes zwischen den Andronikern und dem Clan von Tamora, der Gotenkönigin. Der römische General Titus Andronicus hat Tamora und ihre Familie als Kriegsgefangene nach Rom gebracht. Dort weigert er sich, ihren Sohn zu verschonen, der als Friedensangebot für die römischen Opfer getötet wird. Von da an schwört Tamora, sich zu rächen, und das tut sie auch, unterstützt von dem „assimilierten“ Mohren Aaron. Am Ende ist die Bühne, wie so oft bei Shakespeare, mit Leichen übersät. In „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar“ fügt Heiner Müller eine weitere Textebene hinzu: einen Kommentar zur Geschichte als einer Kraft, die den Menschen sowohl erdrückt als auch aufrüttelt. Müller schreibt das Stück im Jahr 1984: Der Kalte Krieg steuert auf eine Antiklimax zu – der Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus löst sich allmählich in der universellen Antiideologie des Konsumismus auf. Im ideologischen Niemandsland nach dem Mauerfall wächst der Unmut: In der Heilslehre des Konsumismus gibt es keine Chef:innen und Arbeiter:innen mehr, sondern nur noch Gewinner:innen und Verlierer:innen, Habende und Habenichtse. Bei den Verlierern wird sich immer mehr Unmut aufbauen, ein Unmut, der, wenn er lange genug genährt wird, zu Gewalt führen wird. In der „Anatomie Titus“ steht das Römische Reich für die erste Welt, die durch Arroganz und Selbsthass gelähmt ist, während die dritte Welt auf die (Selbst-)Zerstörung wartet, um den freien Platz einzunehmen. „Anatomie ­­Titus“ ist Müllers dunkelstes Werk, ein von Kulturpessimismus getränktes Stück. Eine Vision des Untergangs. Heiner Müller begibt sich auf eine Reise durch die Geschichte und verbindet das Ende des Römischen Reiches mit dem zunehmenden Verfall der westlichen Welt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Müllers Kommentartexte sind nicht subtil, sondern (auch buchstäblich) in Großbuchstaben geschrieben. Die Gewalt der Shakespeare-Handlung wird in einen ideologischen Rahmen gestellt – oder besser gesagt, in den Rahmen des Verfalls der Ideologie. Wenn das Töten keine utopische Dimension mehr hat, ist das, was von der Gewalt übrigbleibt, der bloße Akt. Das Verletzen oder Zerstören eines Menschen durch einen anderen. Johan Simons inszenierte dieses Stück 2004 als einen langen, wütenden Traum von Titus ­Andronicus (gespielt von André Jung), in dem Titus sich fragt, ob all die Kriege, die er im Namen der Zivilisation geführt hat, überhaupt einen Sinn hatten. Titus kann die Vergangenheit nicht rückgängig machen, aber in seinem Traum kann er sich seiner Vergangenheit stellen.

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„Sehen heißt, die Bilder töten“

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Im Einklang mit dem, was Simons bei „GEN“ entdeckt hat, liest er das Stück als eine Möglichkeit, in das Innere unserer Kultur hinabzusteigen, und zwar auf eine sehr spezifische Weise. Es wird zu einer Darstellung, die nicht die Gewalt an sich zeigt, sondern die Auswirkung der Gewalt: die ­Müdigkeit, die eintritt, wenn das Adrenalin der Gewalt nachlässt – Lethargie ist ein geschickt ­verstecktes, aber allgegenwärtiges Merkmal einer gewalttätigen Gesellschaft. „Anatomie Titus“ versucht, etwas über diese Lethargie zu sagen und ihr doch etwas entgegenzusetzen: Der positive Moment der Aufführung liegt in der Vitalität, mit der die Lethargie reflektiert wird. Diese Vitalität zeigt sich im Lachen der vergewaltigten Lavinia (Titus’ Tochter), welches sich gegen die poetische Beschreibung ihrer Vergewaltigung durch ihren eigenen Onkel richtet. Lavinias Lachen ist kein Zeichen von Zynismus, es ist eine Anklage gegen den Zynismus einer Theatertradition, die Vergewaltigung und Mord zu schöner Poesie sublimiert hat. Ihr Lachen ist ein notwendiger Akt, der durch einen notwendigen Gedanken hervorgerufen wird. Simons wollte eine Lavinia, die Verse vernichtet, die Verse und die Bilder. Nicht aggressiv, denn dann wäre es nur eine sich wiederholende Form der Gewalt, sondern leichtfüßig, lächelnd, mit offenem Blick und in dem Bewusstsein, dass sie ihre Geschichte nicht selbst erzählen kann (ihre Zunge wurde herausgerissen), dass ihre Geschichte von Shakespeare und Müller erzählt wird und es eine männliche Textkonstruktion ist, in der sie, die textlose, vergewaltigte Frau, sich als Figur und als Schauspielerin wiederfindet. In seiner Inszenierung wählt Simons die Darstellung des Geschehens durch die Augen von Titus und nicht von Aaron de Moor zu zeigen, wie Heiner Müller in seinen Kommentartexten vorschlägt. Für Müller ist Aaron der „Regisseur der Gewalt“; er repräsentiert die „Dritte Welt“, die sich an der „Ersten Welt“ rächt und dabei die Waffen der Ersten Welt benutzt. Simons verlagert die Perspektive von Aaron auf Titus. Auch Titus war einst als Feldherr für Rom ein Regisseur der Gewalt. Aber zu Beginn des Stücks ist er müde: müde von seiner blinden Unterwerfung unter die Autorität, müde von all dem Töten, müde von dem, was er verpasst hat, müde von dem Leben, das er nicht leben konnte, von dem Vater, der er nicht war... Wir sehen einen Feldkommandanten, der den Film seines Lebens noch einmal abspielen lässt und zunehmend von seiner Aufgabe erdrückt wird, eine – wider besseres Wissen – „überlegene“ Kultur zu verteidigen. Die Augen „mästeten sich mit Gewalt“, schreibt Müller über Titus im Kommentar. In Simons’ Regie ist Titus gezwungen, trotzdem weiter zu schauen, und in diesem Blick auf seine eigene Gewalttätigkeit findet Titus eine andere Art von Vitalität. Immer wieder neu erwachen und sich weiter mit dem beschäftigen, was man ­zerstört hat. Bei jedem Verbrechen zu verweilen und die eigene Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Gewaltkette zu hinterfragen. Ist diese Sichtweise nicht genau das, was das Publikum im Theater tut? André Jung spielt während der gesamten Aufführung im Bereich zwischen Bühne und Zuschauerraum. Vor ihm das „echte“ Publikum, hinter ihm seine Schauspielerkolleg:innen, die seine Geschichte als Publikum verfolgen. Da es keinen Platz für die eigentliche Handlung gibt, bekommt man keinen einzigen Mord zu sehen. Für Simons gibt es keine Bilder, die das Grauen in diesem Stück einfangen können. Sie können das Grauen nur veranschaulichen und damit die Bestie nähren, die dieses Grauen verursacht. Wir sind der Kern dessen, was Simons dem illustrativen Theater vorwirft: Es füttert den Hund, der beißt. Simons weigert sich, die Bestie zu füttern. Sie ist bereits übersättigt. In „Anatomie Titus“ lädt Simons das Publikum daher ein, in Titus’ Kopf zu kriechen, das Geschehen auf der Bühne mit seinen Augen zu betrachten und sich Titus’ Fragen zu eigen zu machen. Umgeben vom Publikum erkennt Titus, dass auch er nicht der Architekt von Roms Wohlstand ist, sondern nur ein Zuschauer von Roms Untergang. Sein Drama spielt nicht in Shakespeares elisabethanischem Rom, aber auch nicht in Heiner Müllers Untergangsvision der 1980er Jahre. André Jungs Titus blickt auf das Rad der Geschichte so erstaunt, so ohnmächtig, so müde und so klar wie wir alle. Darin zeigt er sich so lebendig wie die Vitalität unserer Gedanken. PARENTHESE 4

So abstrakt die Art des Schauspiels auch sein mag, als Regisseur ist Simons äußerst sensibel für „Blutleere“. Sein Theater beginnt und endet mit dem:r Schauspieler:in. Die Themen, die er behandelt, sind oft schwer, die Botschaft manchmal komplex, die Weltsicht nicht immer schön. Dagegen steht das Streben nach äußerster Leichtigkeit und Entspannung im Stück, eine offene Erzählform und ein großer Respekt (ich würde fast sagen: Scheu) vor dem Publikum. Simons’ Inszenierungen sind oft Denkübungen, weshalb sie sowohl seinen Schauspieler:innen als auch

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dem Publikum inhaltlich viel abverlangen, aber auch, weil er in der Regie so sensibel für Leichtigkeit und Humor ist, Humor, der oft durch den ständig wechselnden Abstand zwischen Zeigen und Erzählen und durch den permanenten Zustand der „Luzidität“ entsteht, in dem sich der:die „ideale“ Simons-Schauspieler:in befindet. Leichtigkeit in der Schauspielerei entsteht, wenn ein:e Schauspieler:in weiß, welche Last er:sie zu tragen hat, und diese Last dann dort lässt, wo sie hingehört: bei der Rolle, nicht bei der der Person. So sehr Simons’ Darbietungen von Kulturpessimismus zeugen, so gibt es doch eine utopische Dimension im Schauspiel. Die beabsichtigte Leichtigkeit ist nicht nur dazu da, einen „schweren“ Inhalt verdaulich zu machen, sondern wirkt sich auf den Inhalt selbst aus, setzt ihm etwas entgegen. So wie es die Aufgabe der drei Schauspieler:innen in „GEN“ war, transparente, durchscheinende Charaktere zu spielen, gibt es auch in „Anatomie Titus“ Charaktere, die buchstäblich auf die „utopische Leichtigkeit“ verweisen, die Simons anstrebt. Dies zeigt sich insbesondere in der Art und Weise, wie Simons die Goten inszeniert, die unter der Führung von Lucius Andronicus in Rom einfallen und die Stadt zerstören. Das Volk der Goten wird von zwei Schauspielern gespielt, die während des gesamten Stücks auf zwei Videoleinwänden zu sehen sind, während sie die Maximilianstraße vor dem Theater entlanglaufen und am Ende die Bühne aus dem Zuschauerraum betreten. Sie machen sich keine großen Gedanken darüber, sie sehen nur nicht den Sinn einer zweigeteilten Theaterbühne versus Publikum. Die Goten sind Steppennomaden, bei denen es darauf ankommt, sich ständig zu bewegen, denn Stillstand bedeutet, sich zwei großen ­Gefahren auszusetzen: die der Natur und vor allem die des imperialistischen Roms. Sie sind an eine urbane Kultur gebunden und können jederzeit alles zurücklassen, was sie über Jahre oder Jahrhunderte aufgebaut haben. Ihre Klarheit, ihre Freundlichkeit, die Leichtigkeit, mit der sie alles auf sich zukommen lassen und verarbeiten, ihre fast wehrlose Art, mit der Welt umzu­ gehen, ist den „neuen Menschen“ aus „GEN“ sehr ähnlich. Die Goten haben keine großen Theorien zu verkünden, aber in ihrem Spiel zeigen sie eine verführerische Alternative zur Melancholie und bleiernen Müdigkeit des alten Rom. Sie boten uns einen Ausweg aus der unheilvollen Zweiteilung, die Shakespeare und Müller mit diesem Stück geschaffen haben: totale Assimilation oder totale Zerstörung. Für ein nomadisches Volk ist der Bau eines Theaters sinnlos: zu schwer, zu endgültig, zu unbeweglich. Schließlich noch etwas zum Schluss des Stücks. Müller lässt sein Stück mit der totalen Zerstörung Roms durch die Goten enden. Wir fanden Müller in diesem Punkt zu negativ. Bei Shakespeare ein scheinbar positiveres Ende: Aus den Trümmern der Familienfehde zwischen der kaiserlichen Familie und den Andronici erhebt sich Lucius, der neue Kaiser. Wie so oft bei Shakespeare muss dieser junge Herrscher für eine neue Periode des Friedens und der Einigkeit sorgen. Eine Rückkehr zu Shakespeare kam für uns nicht in Frage, da Lucius einfach zur alten Ordnung zurückkehrt. Diese Rückkehr kann wörtlich genommen werden: Lucius schickt die Goten nach getaner Arbeit einfach zurück in ihre Steppe: kein Platz für Migrantion in Rom. Johan Simons entscheidet sich in seiner Inszenierung für ein anderes Ende. Wir wollten nicht wie bei Müller mit der totalen Zerstörung Roms enden, andererseits gefiel uns auch Shakespeares fremdenfeindlicher Reflex nicht. War eine andere politische Wahl als die totale Zerstörung (Müller) oder die totale Wiederherstellung (Shakespeare) denkbar? Interessanterweise repräsentieren die Überlebenden am Ende zwei Kulturen: zum einen Lucius, den jüngsten Sohn von Titus und zukünftigen Kaiser, zum anderen die Goten, die unter Lucius’ Kommando in Rom einmarschierten. Erste und dritte Welt, bereit für einen „Kampf der Kulturen“? Aber nehmen wir an, die beiden Seiten beschließen, diesen Kampf zu ­ignorieren. Angenommen, die Überlebenden beschließen, anders zu handeln. Alles ist vorhanden: ein einheimischer Kaiser, der des Kämpfens müde ist, und eine eingewanderte Armee, die ihre Zelte sowieso irgendwo aufschlagen muss, warum also nicht in Rom? Ich nehme an, dass es den Migrant:innen in diesem halb zerstörten Rom gefällt. Sie gehen durch die Stadt und betrachten die leeren Museen, Kirchen und Supermärkte –Symbole der ersten Welt. Durch ihren „anderen“ Blick beginnt sich die versteinerte Kultur des dekadenten Roms zu verwandeln: Natur und Kultur werden ununterscheidbar: Aus den Steinen in den Museen wächst Gras, die Kirchen werden als Pferdeställe genutzt, „alles wird Ufer und wartet auf das Meer“. Und Lucius? Der sich nicht wehrt, sondern die neue Chance ergreift, die diese andere Sichtweise auch der müden römischen Kultur bieten kann. „Wir Goten“, beginnt Lucius seine erste Rede als Kaiser von Rom. Wie utopisch sollten wir noch sein?

K o e n Ta c h e l e t

„Sehen heißt, die Bilder töten“

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PARENTHESE 5

4

In einem berühmt gewordenen Brief aus dem Jahr 1941 beschreibt der 19-jährige Pasolini einem Freund ein nächtliches Treffen junger Männer in einem Obstgarten, wo sie, in Decken gehüllt, die ganze Nacht hindurch Wein trinken, einander Geschichten erzählen und lachen. Währenddessen sind am Himmel die bedrohlichen Suchscheinwerfer der italienischen Flakgeschütze zu sehen. Als der Morgen dämmert, entkleiden sie sich und tanzen die Sonne zu Ehren „nackt wie ein Glühwürmchen“. Das gewalttätige Licht der faschistischen Scheinwerfer gegenüber dem nicht zu greifenden Glühen von Feuerfliegen: Es ist ein Bild, das Pasolini sein ganzes Leben mit sich herumtragen wird. Während das große Licht der Scheinwerfer den Tod in sich trägt, trägt der kleine Glanz der Glühwürmchen Leben in sich. Das Glänzen ist ein Lockmittel, um im Dunkeln kopulieren zu können. In den glänzenden, tanzenden Körpern der jungen Männer, erkannte Pasolini das gleiche Potenzial: den Ausdruck eines unberührten, unschuldigen, ungezügelten Begehrens, ohne irgendein anderes Ziel als zu verführen und Lust zu verschaffen. Dieses Potenzial sah er auch in der Kunst. Einige Monate vor seinem Tod 1975 schreibt Pasolini einen Artikel mit dem Titel „Das Verschwinden der Glühwürmchen“. Darin beschreibt er, wie das Glühwürmchen aus der italienischen Natur verschwunden ist. Jetzt spiegeln sich in diesem Bild Pasolinis eigene Zweifel an der Möglichkeit unberührter Lebensfreude. Und tatsächlich: In „Die 120 Tage von Sodom“ („Salò o le 120 giornate di Sodoma“), seinem letzten Film, ist von dem unschuldigen Glänzen begehrender Körper keine Spur mehr übrig, nur noch eine endlose Inbesitznahme von Körpern. In „Accattone“, Pasolinis erstem Film, zwanzig Jahre nach seinem nackten Sonnentanz und zwanzig Jahre vor der vollstän­ digen Desillusionierung von „Salò“, ist das ungreifbare Leuchten des Glühwürmchens noch zu finden: das Verlangen von Körpern, nur um Körper zu sein, die Feier des Nichtstuns als Verweigerung jeder Form der Instrumentalisierung, der ungezügelte Wunsch, die Alltagstristesse des Lebens in ein Heldenepos zu transformieren. Ruhrtriennale, 2015. Während das Collegium Vocale die Arie „Wir zittern und wanken“ aus der Bach-Kantate „Herr, gehe nicht ins Gericht“ vorträgt, tanzen die Schauspieler:innen Benny Claessens und Sandra Hüller ein bewegendes Duett über das Finden, Loslassen, Anziehen und Abstoßen. In dem Stück ist dies jedoch eine der gewalttätigsten Szenen. Die Prostituierte Maddalena (Hüller) wird von der Bande des Neapolitaners (Claessens) gegen ihren Willen vergewaltigt und verprügelt - eine Gewalttat, die im zerstörten und verarmten Rom der Nachkriegszeit ungestraft bleibt. Um etwas von diesem größeren Zusammenhang zu zeigen, in dem sich die große soziale und die kleine menschliche Gewalt gegenseitig widerspiegeln, schlugen die Schauspieler:innen vor, die Gewaltszene in einen Tanz zu verwandeln. Das Ergebnis: eine seltsame, beunruhigende Mischung aus irdischem Schmerz und himmlischer Schönheit. Mein erster Gedanke bei der Probe war: Wie kann man eine Szene, in der eine Frau von einem Mann missbraucht wird, als Tanz zwischen gleichberechtigten Partnern zu den Klängen eines gefühlvollen Liedes inszenieren? Die Antwort liegt in der Stimme der Sopranistin Dorothee Mields. Als Interpretin von „Wir zittern und schwanken“ vertritt sie die weibliche Perspektive. Plötzlich sind es zwei Frauen – eine Schauspielerin und eine Sängerin –, die die Rolle der Maddalena spielen. Wenn Johan Simons dann Sandra Hüller als einzige Schauspielerin der Aufführung bittet, die Melodie der Kantate auch selbst zu singen, ist diese weibliche Perspektive so stark, dass der ganze Schmerz und die Ungerechtigkeit der Szene spürbar werden, ohne dass Maddalena auch nur einen Moment lang als Opfer gezeigt werden muss. In Simons’ Werk ist dieser Tanz vorerst die Szene, in der die Entscheidung, nicht die Gewalt selbst, sondern die Reflexion über sie zu zeigen, vollendet ist. „Bei den ersten Zeichen von Licht haben wir die letzten Tropfen Wein aus unseren Flaschen getrunken. Die Sonne sah aus wie eine grüne Perle. Ich Pier Paolo Pasolini, Brief an Fanco Farolfi, 1941. In: Georges Didi-Huberman: „Überleben habe mich nackt ausgezogen und zu Ehren des Lichts getanzt. Ich war ganz der Glühwürmchen. Eine Politik des Nach­ weiß, während die anderen, in die Decken gewickelt wie Peones, im Wind lebens“. München 2012. S. 18–21, hier S. 20f. zitterten.“ 4

Konsultierte Literatur: Georges Didi-Huberman: „Überleben der Glühwürmchen. Eine Politik des Nachlebens“. München, 2012. Jean-Luc Nancy: „Am Grund der Bilder“. Zürich 2005.

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SAISON 2023/24

Spielzeit 23 | 24 DREIER STEHT KOPF CARSTEN BRANDAU RISHI (DSE) KEES ROORDA WOYZECK ROBERT WILSON, TOM WAITS, KATHLEEN BRENNAN NACH GEORG BÜCHNER DIE NIERE STEFAN VÖGEL GESPENSTERJÄGER AUF EISIGER SPUR CORNELIA FUNKE AUSNAHMEZUSTAND CHRISTINA KETTERING SCHÖNE BESCHERUNGEN ALAN AYCKBOURN TRANSIT ANNA SEGHERS DAS LEBEN IST EIN WUNSCHKONZERT ESTHER BECKER DAS ENDE DES REGENS ANDREW BOVELL DER REICHSBÜRGER ANNALENA & KONSTANTIN KÜSPERT DER MANN DES RECHTS: LUDWIG MARUM (UA) HAJO KURZENBERGER DER KLEINE RITTER TRENK KIRSTEN BOIE MIRANDOLINA CARLO GOLDONI

Premieren: 01.09.2023 STILLER Nach dem Roman von Max Frisch Regie: Deborah Epstein 21.09.2023 CHOC! LA FRIANDISE DES DIEUX DIE SÜSSIGKEIT DER GÖTTER Dominique Ziegler Auftragswerk | Uraufführung Regie: Dominique Ziegler 26.10.2023 SCHWANENGESANG Grimm | Schoch | Rupp | Mayer Uraufführung Regie: Katharina Rupp 24.11.2023

DAS KURZE LEBEN DER FAKTEN The Lifespan of a Fact Jeremy Kareken & David Murrell und Gordon Farrell Schweizer Erstaufführung Regie: Angelika Zacek

18.01.2024 CYRANO Edmond Rostand Regie: Katharina Rupp 01.02.2024 FABIAN Nach Erich Kästner Regie: Max Merker 19.04.2024 THE NEXT GENERATION Bühne frei für den Nachwuchs Uraufführung Regie: Sophie Bischoff, Basil Zecchinel 19.06.2024 CIAO SOLOTHURN – BYE BYE BIEL! Eine Revue zum Abschied von Katharina Rupp und ihrem Team

Badische Landesbühne Am Alten Schloss 24 76646 Bruchsal badische-landesbuehne.de

Änderungen vorbehalten www.tobs.ch


Kennen wir uns?

Spielzeit 23/24 SCHAUSPIEL PREMIEREN Nina Segal

Big Guns

Juli Zeh

DES PUDELS KERN. Spielzeit 2023/24 Ausnahmezustand

Klassenzimmerstück von Christina Kettering 14. September 2023 | in einem Klassenzimmer der Region

Faust

Eine Tragödie I Erster Teil von Johann Wolfgang Goethe 30. September 2023 I Große Bühne

Rotkäppchen

Kinderstück von Ann-Kathrin Hanss nach Grimms Märchen 16. November 2023 I Große Bühne

Über Menschen

Dan Aykroyd / John Landis

Blues Brothers

Daniil Charms

Jelisaweta Bam

Loriots dramatische Werke

Sophokles

Antigone

Von heiter bis bissig Eine Gratulation zum 100. Geburtstag 25. November 2023 I Foyerbühne

Henrik Ibsen

No Planet B

Ein Volksfeind Monodramen 4 + 5 Édouard Louis

Das Ende von Eddy

Ingrid Lausund

Sammeltassen/Grundstück

von Nick Wood Deutsch von Anja Tuckermann und Guntram Weber 17. Februar 2024 I Foyerbühne

Schick mir keine Blumen (Send Me No Flowers)

Ulrike Draesner

Komödie von Norman Barasch und Carroll Moore Neu übersetzt und bearbeitet von Florian Battermann 2. März 2024 I Große Bühne

Bonn Park

Gepfiffen auf Durchschnitt

Doggerland (UA)

Traurigkeit & Melancholie oder Der aller aller einsamste George aller aller Zeiten JUPZ! PREMIEREN Friedrich Schiller

Kabale und Liebe [12+]

Szenische Lesung mit Witz 7. März 2024 I Foyerbühne

Haufen Uffruhr Fortschritt 2

Koproduktion vom Theater Eisleben, cobratheater.cobra und dem Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. Kultur der Hochschule Merseburg im Rahmen des Projektes „Bauernkriegspanorama“. 22. März 2024 I Große Bühne

Max Kruse

Urmel aus dem Eis [5+]

Stückentwicklung

WIR [12+]

Marc Becker

Die Glücksforscher [8+]

Der kleine Prinz

SOMMERTHEATER

Kinderstück von Gunnar Kunz nach Antoine de Saint-Exupéry 16. Mai 2024 I Große Bühne

Carlo Goldoni

Wir sind keine Barbaren!

Der Diener zweier Herren

LaZebnik/Kruschak/Cleary

Snow White and me (DSE) [8+]

theater-plauenzwickau.de

Komödie von Philipp Löhle 1. Juni 2024 | Foyerbühne

Heul doch nicht, du lebst ja noch Szenische Lesung aus dem Jugendbuch von Kirsten Boie 5. Juni 2024 | Große Bühne Änderungen vorbehalten! www.theater-eisleben.de


Premieren Spielzeit 2023/24

22. September 2023

im FestSpiel„woher – wohin“

Blick zurück nach vorn oder Ich bin in einem Land geboren, das es nicht mehr gibt Biografisches Recherchestück von Ulrike Müller Uraufführung → Regie Ulrike Müller 22. September 2023

im FestSpiel„woher – wohin“

Die Kinder

von Lucy Kirkwood → Regie Catharina Fillers 22. September 2023

im FestSpiel„woher – wohin“

2073 – Hundert Jahre See

Eine interaktive Entdeckungstour durch das Leben in der Zukunft Uraufführung → Regie David Czesienski (PRINZIP GONZO)

19. Januar 2024

Nullerjahre – Jugend in blühenden Landschaften

nach dem Roman von Hendrik Bolz → Regie Karin Herrmann 20. Januar 2024

Die Comedian Harmonists

Schauspiel mit Musik von Gottfried Greiffenhagen & Franz Wittenbrink → Regie Dirk Girschik 2. Februar 2024

Eine Sommernacht

Ein Stück mit Musik von David Greig & Gordon McIntyre → Regie Daniel Ris

9. März & 9. April 2024 14. Oktober 2023

Woyzeck von Georg Büchner → Regie Elina Finkel 11. November 2023

Wo soll ich landen ...

Musikalische Erinnerung an Gundermann → von und mit Matthias Manz, Jan Schönberg & Mirko Warnatz

DDR-Kinderbuchklassikern auf der Spur V+VI Lesung mit Schnitzeljagd durchs Theater 23. März 2024

Marie-Antoinette oder Kuchen für alle! Komödie von Peter Jordan → Regie Mario Holetzeck

18. November 2023

Die kleine Hexe Familienstück nach Otfried Preußler → Regie Inda Buschmann

6. April 2024

Weltwärts von Noah Haidle → Regie Elina Finkel

21. November 2023

Die zweite Prinzessin

Kinderstück von Gertrud Pigor → Regie Andy Kubiak 25. November 2023

Ich bedaure nichts

Die Tagebücher der Brigitte Reimann 1955-1970 Uraufführung → Regie Elina Finkel

1. Juni 2024

Hair

The American Tribal Love-Rock Musical von Galt MacDermot → Regie Daniel Ris 16. Juni 2024

Der gestiefelte Kater nach den Brüdern Grimm von Joachim Henn → Regie Alexander Flache

www.theater-senftenberg.de



WILL-JAN PIELAGE

Geschafft! Wie ich lernte, Johan Simons zu hören

Johan Simons im Schauspielhaus Bochum

Foto Susanne Winnacker

E

s war mein zweites Projekt als Tontechniker für die Theatergroep Hollandia. „Iphigenie in Aulis“ wurde im Rathaus von Den Haag aufgeführt. Das Den Haager Rathaus ist ein riesiges, modernes ­Gebäude mit dem Namen Atrium, am Spui inmitten des Stadtzentrums, in dem die Einwohner der Stadt ihre Angelegenheiten mit der Stadtverwaltung regeln können. In diesem riesigen Raum, der hauptsächlich aus Glas und darüber hinaus aus weißen Konstruktionen und Wänden besteht, die zweifellos die Transparenz der Stadtpolitik symbolisieren sollen, wurde die Aufführung im April und Mai 1998 geprobt und gespielt. Das Publikum hatte von einer Tribüne aus, den Blick auf das Bühnenbild, mit den Schaltern der Gemeinde als Hintergrund. Zur Verstärkung der Stimmen wurden Sendermikrofone verwendet. Wegen der weiten Anordnung des Bühnenbilds und des danebenstehenden Musikensembles stellte die Platzierung der Lautsprecher ein Problem dar. Daher wurde in Absprache mit der Produktionsleitung eine sogenannte L-C-R-­ Anordnung (left-center-right) erdacht, die es ermöglichte, den Ton auch aus der Mitte kommen zu lassen. Mit dem Pan-Potentiometer (Panoramapotentiometer) war es dann möglich, den Schauspielern in alle Richtungen zu folgen und eine Verbindung zwischen den Stimmen der Schauspieler und dem verstärkten Ton herzustellen, was für die Verständlichkeit unerlässlich ist.

Will-Jan Pielage

Geschafft!

Ich saß in der Mitte in der hinteren Reihe der Tribüne, vor mir ein Mischpult, damals noch analog und daher recht groß, in einer Transportbox, die dafür sorgte, dass die vielen Kabel gut versteckt waren und von dieser Position aus konnte ich den Gesamtklang und die Verständlichkeit der Schauspieler sehr gut beurteilen. Die Proben fanden nur abends statt, denn tagsüber war das Rathaus für die Einwohner von Den Haag geöffnet und die Gespräche an den Schaltern und in den vielen Büros, die an den riesigen Innenraum angrenzen, sollten nicht gestört werden. Außerdem war es für die Beleuchtungskollegen aufgrund des vielen Tageslichts unmöglich, ihre Arbeit zu erledigen. Damals glaubten wir Tontechniker noch, dass Mobil­ telefone bei der Verwendung von Sendermikrofonen (weil drahtlos) Störungen verursachen würden. Auf meine Bitte hin wurden daher entlang des Weges, den das Publikum zur Tribüne gehen würde, mehrere große Schilder aufgestellt, auf denen ein Text stand, der die Leute daran erinnerte, ihre Mobiltelefone unbedingt auszuschalten. Der 6. Mai 1998 war der Tag der Premiere. Da der Beginn um 21:00 Uhr sein würde, damit es ruhig und dunkel ist im Gebäude wäre; hatten wir ab 18 Uhr Zeit, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Es handelte sich um einen öffent­ lichen Raum, also mussten Mikrofone und Kabel jeden Tag neu aufgestellt und gezogen werden, das war aber getan. Es war inzwischen weit nach 19:00 Uhr, also würde ich wahrscheinlich keine Anrufe mehr bekommen, meine Ruhe haben, um mich zu konzentrieren, also legte ich mein H ­ andy an einen vermeintlich sicheren Ort in die Kiste mit den Kabeln vom Mischpult.

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Am Abend, kurz vor der Premiere, war ich nervös. Es war mein zweites Projekt mit einer wirklich professionellen Theatergruppe und einer der ersten Momente, in denen mir klar wurde, dass ich mit meiner Arbeit als Tontechniker und mit meiner damaligen Verleihfirma Peak Audio, die das gesamte Tonequipment lieferte, mein Geld verdienen und mir auf professionelle Weise ein Einkommen verschaffen kann. Die Aufführung lief gut und klang gut, und da ich sie noch über ein analoges Mischpult laufen ließ (die digitalen Mischpulte, sofern es sie damals gab, klangen einfach noch nicht gut), musste ich während der Aufführung viele Handgriffe tun, was meine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Etwa in der Mitte der Vorstellung, während eines Monologs der Klytaimnestra (Betty Schuurman), ging ein Telefon los – und es war meines. Größter anzunehmender Super-GAU. Ich hatte es völlig vergessen und von meiner Position hinter dem großen Mischpult aus konnte ich es nicht erreichen. Der Dramaturg von Hollandia, Tom Blokdijk, saß links neben dem Mischpult und griff gereizt irgendwie in die ­Kiste mit den Kabeln, in der es lag. Abgesehen davon, dass ich mich in Grund und Boden geschämt habe, war ich sehr besorgt, dass das planlose Suchen des Mannes eine Störung in der Verkabelung verursachen würde. Nach einiger Zeit gelang es ihm, das Telefon herauszu­fi­ schen. In der Zwischenzeit klingelte es einfach weiter. Er versuchte, das Gerät auszuschalten, aber es gelang ihm nicht. Also gab er mir das Ding. Ich war so nervös, dass ich schließlich den Akku herausgenommen habe. – Dann war es still. An den Rest der Aufführung kann ich mich kaum noch erinnern. Während des Applauses, war ich tief hinter dem Mischpult versteckt und zur Premierenfeier bin ich nicht gegangen. Ich habe ganz leise aufgeräumt und bin direkt nach Hause gefahren. Während der Autofahrt war ich überzeugt, dass dies das Ende der Geschäftsbeziehung mit der Theatergroep Hollandia sein würde und war am Boden zerstört. Der Kontakt zur Theatergroep Hollandia war im August 1996 zustande gekommen, als Hollandia die Vorstellung „Varkensstal“ („Schweinestall“) spielte. Für dieses Projekt lieferte mein Unternehmen die Tontechnik. „Varkensstal“ wurde unter einem alten Viadukt an einer Kreuzung zweier stark befahrener Straßen mitten in Antwerpen gespielt. Bei dem Viadukt handelte es sich um ein mobiles System, das wahrscheinlich militärischen Ursprungs war und lose Schwellen enthielt. Jedes Auto, das darüberfuhr, machte einen höllischen Lärm. Das war der Grund für die Arbeit mit Sendermikrofonen für diese Aufführung. Ich bekam einen Anruf, durch den ich gebeten wurde, für einen Tag während einer Probe vorbeizukommen. Ich weiß noch, dass ich sehr erstaunt war. Eine völlig neue Welt. Und was für ein lächerlicher Ort, um eine Aufführung zu spielen, dachte ich damals.

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Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Schauspielerin Betty Schuurman, die mir erzählte, dass sie die Arbeit mit den Sendern sehr schwierig fand, weil sie die Verantwortung für die Sprachverständlichkeit dadurch abgeben musste. Ich muss damals Dinge gesagt haben, die sie beruhigen konnten. Und es liefen einige etwas ältere Männer herum, denen man ansah, dass sie wichtig waren, aber von Johan Simons hatte ich einfach noch nie gehört. Ein Jahr später erhielt ich einen Anruf, die Theatergroep Hollandia suchte einen Tontechniker und sie fragten sich, ob ich das sein könnte. Ich hatte daraufhin im Hollandia-Gebäude – einem alten Gebäude an der Oostzijde in Zaandam – ein Gespräch mit Paul Koek, dem damaligen Partner von Johan Simons, und dem Musiker Ton van der Meer und beim nächsten Projekt mit Sendermikrofonen sollte ich meinen ersten Einsatz haben. Ich war sehr glücklich über diesen Schritt nach vorn. Mehr Zeit und Möglichkeiten, die Qualität meiner Arbeit zu verbessern. Das nächste Projekt der Theatergroep Hollandia, also mein erstes, kam ziemlich schnell: „Industrieprojekt 1, KLM-­ Cargo“. Die Vorstellung wurde an zwei Orten in einem großen Lagerhaus am Flughafen Schiphol aufgeführt, wo die KLM ihre Frachtabteilung unterhielt und wo die eingehende Fracht bearbeitet wurde. Hier wurden die Pakete in speziellen Behältern gestapelt oder auf Paletten gestellt, die dann mit großen Netzen zusammengehalten wurden. Es wurden drei Teile aufgeführt, der erste und der dritte in derselben großen, leeren Halle, der zweite in einer anderen, angrenzenden Halle, das Publikum musste also während der Aufführung wandern. Dieser erste Teil war eine Art Choreografie zur Musik von Louis Andriessen: „Workers Union“, live gespielt von Tatiana Koleva (Schlagzeug) und Ton van der Meer (Keyboard). Ich erinnere mich, dass ich sehr beeindruckt war. Erst im Nachhinein wird mir klar, dass dort eine Starbesetzung spielte, darunter Jeroen Willems, Bert Luppes, Elsie de Brauw, Peter Paul Muller, Ariane Schluter, Betty Schuurman, Henriëtte Koch und Jacqueline Blom Es wurde mit Sendermikrofonen gespielt. Es gab auch keine andere Möglichkeit bei all dem Lärm im Hintergrund. Das erforderte von mir große Konzentration beim Proben und Spielen. Wieder diese etwas älteren, wichtig wirkenden Männer. Von Johan Simons hatte ich inzwischen gehört, aber ich kannte ihn nicht. Die Erstaufführung fand am 26. Januar 1998 statt, und die Aufführungen wurden noch mehrere Wochen lang fortgesetzt.


Am Tag nach der Premiere von „Iphigenie“ haben wir das Stück weiter geprobt. Da wusste ich noch nicht, dass das sehr ungewöhnlich ist. Zunächst wurden Notizen – Kommentare und Bemerkungen des Regisseurs – durchgenommen und ich saß hinter meinem Mischpult und wartete zerknirscht auf diesen Moment, der schon bald kam – Kommentare von Schauspielern, Musikern, Dramaturgen – zu diesem verdammten Handy, das während der Premiere geklingelt hatte. Und so lang. Zum Glück war das Mischpult damals noch so ein großes, analoges Ungetüm, hinter dem man sich leicht ver­ stecken konnte. Und zum Glück wussten die Beschwerdeführer nicht, dass ich derjenige war, der diese Schilder mit dem Warntext, vor allem die Mobiltelefone während der Aufführung auszuschalten, hatte anbringen lassen. Aber wahrscheinlich waren es genau diese Schilder, die Johan Simons – inzwischen wusste ich, wer er war – dazu veranlassten, die Beschwerden mit der Bemerkung zu beenden, dass er darüber gelacht habe und die Situation ziemlich komisch fand. Ich bin vor Freude aufgesprungen. Ich wusste, dass ich „dabei“ war, akzeptiert wurde und meinen Job überhaupt nicht verloren hatte. Ich habe mich ihm nie vorgestellt – und er sich mir übrigens auch nicht – aber ich gehörte dazu und gehöre immer noch dazu. Seit nunmehr 28 Jahren

Künstler*innenhaus Mousonturm Preview Season 2023 / 24 Cipher Dojo Random Circles (31.8. bis 3.9.)

Gob Squad Super Night Shot ( 7. bis 8. 9. )

Mobile Akademie Berlin Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen (16. 9.)

Pussy Riot (19. bis 20. 9.) LIGNA Zukunft der Stadt (21. bis 24. 9.)

Cade & MacAskill The Making of Pinocchio (27. bis 28. 9.)

Oliver Augst Liga gegen Imperialismus und koloniale Unter-

Neulich, während der öffentlichen Generalprobe von „Der Würgeengel. Psalmen und Popsongs“ im Schauspielhaus Bochum klingelte ein Mobiltelefon. Laut und lange. Es war das Telefon von Johan Simons.

drückung (5. bis 7. 10.)

Swoosh Lieu *Reset* (12. bis 14. 10.) Tanzfestival (2. bis 19. 11.) Wen Hui New Report on Giving Birth (3. bis 5. 11.)

Verena Billinger & Sebastian Schulz Geteilter Abend (16. bis 18. 11.)

Caroline Creutzburg Muskeln mit drei Frauen (1. bis 3. 12.)

Back to Back Theatre The Shadow Whose Prey The Hunter Becomes (1. bis 2. 12.)

zaungäste Kinderstar von 6 bis 8 (8. bis 10. 12. )

She She Pop Mauern (25. bis 27. 1. )

mousonturm.de Will-Jan Pielage

Geschafft!


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MIEKE KOENEN

Zwei Maestros, „Zwei Stimmen“: Johan Simons und Jeroen Willems

H

„Zwei Stimmen“ der Theatergroep Hollandia 1997

Foto Phile Deprez

istorisches Urteil im Klimafall: Shell muss CO2-Emissionen drastisch reduzieren“, titelte de Volkskrant am 27. Mai 2021. Ein von Umweltorganisationen angestrengtes Verfahren vor dem Gericht in Den Haag hatte dazu geführt, dass Royal Dutch Shell verpflichtet wurde, die CO2-Emissionen des Shell-Konzerns, seiner Zulieferer und Kunden bis Ende 2030 auf 45 % unter das Niveau von 2019 zu senken. Begründet wurde dies damit, dass der erheb­ liche Beitrag von Shell zur globalen Erwärmung und dem damit verbundenen Klimawandel „die Menschenrechte wie das Recht auf Leben und ein ungestörtes Familienleben ernsthaft ­gefährdet“. „Jetzt will ich ‚Zwei Stimmen‘ “ wieder sehen“, dachte ich, als ich das las. Ein unerfüllbarer Wunsch, leider. „Zwei Stimmen“ (1997) war eine Solo-Performance, die das Publikum durch eine Reihe von Monologen dazu aufforderte, über Macht und Korruption in nuancierter Weise nachzudenken. Einer dieser Monologe bestand aus einer Adaption von Texten des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Royal Dutch Shell Group. Dieser Topmanager fragte sich, welche soziale Verantwortung ein multinationales Unternehmen übernehmen sollte. Glücklicherweise sind der Text der Aufführung noch vorhanden, genauso wie der Regisseur: Johan Simons. Doch ­Jeroen Willems, der Schauspieler, der „Zwei Stimmen“ spielte, erlag Anfang Dezember 2012, kurz nach seinem fünzigsten. Geburtstag, bei den Proben auf der Bühne des Königlichen ­Theaters Carré in Amsterdam einem Herzinfarkt. Einer der Kollegen und Freunde, die bei seiner Beerdigung sprachen, war Johan Simons. Welche Geschichte haben diese beiden Männer des Theaters gemeinsam? Das erste Mal arbeiteten Johan Simons und Jeroen Willems bei einer Schulaufführung im Herbst 1986 zusammen. Jeroen war in der Abschlussklasse der Theaterhochschule in Maastricht. Johan, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr die Theatergroep Hollandia lei­ tete, unterrichtete nun Jeroens Klasse. Er arbeitete mit ihnen „Die Fuchsjagd“ , eine Adaption von Ben Jonsons „Volpone“ durch Hugo Claus. In dieser Komödie über das ungezügelte Verlangen nach Geld, Macht und Vergnügen, spielte Jeroen den Volpone, einen reichen Kaufmann in Venedig, der mit der Habgier seiner Mitbürger ein boshaftes Spiel treibt. Die Studierenden haben die Arbeit mit Johan geliebt, so sagten sie mir. Gleich in der ersten Stunde übte der Regisseur mit ihnen Akrobatik. Sie mussten sich auf Schultern und Knien zu ihm und zueinandergesellen. Durch diese sehr körperliche Herangehensweise lernten sie, ihm und einander zu vertrauen und wagten es, an ihre Grenzen zu gehen. Sie schätzten auch sehr, dass Spiel und Kreativität im Vordergrund standen und nicht, wie so oft, die Frage, wer am besten schauspielert. Sie waren der Meinung, dass Johan gut erkennen konnte, wo ihre Stärken lagen und dass er es verstand, die Gruppendynamik zu stärken: „Wir haben uns gegenseitig geholfen und uns gegenseitig hochgehoben“.

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Jeroen beschrieb seine Begegnung mit Johans Ansatz wie folgt: „Es war das erste Mal, dass mich jemand [...] dazu brachte, Dinge zu tun, die meinen ersten Impulsen widersprachen. Wir spielten [...] sehr commedia dell‘arte-artig und ich war der Einzige, der nicht lustig sein durfte, der nicht gefallen durfte. Ich empfand das als sehr unangenehm, bis ich sah, wie gut es funktionierte. Ich habe es auch verstanden: Johan suchte nach Stärke, 1 Zitat aus „Schweigen ist Gold“. Interview mit nach einer Gegenkraft, die die andere Seite des Spiels zeigte“.1 Jeroen Jeroen von Maartje Somers, Het Parool empfand es als Erleichterung, dass Johan seine Augen nicht vor den 12.11.1994. Ängsten der Schauspieler verschloss und über sie sprach. Er profitierte 2 Dieses Zitat stammt aus einem Gespräch zwischen Simons und Wilfried de Jong in der auch von der Tatsache, dass Johan keinen stark psychologisierenden VPRO-Fernsehsendung Zomergasten vom 18.9.2013. Rollenansatz bevorzugt, sondern „von außen nach innen“ arbeitet. Er schafft Bilder im Raum und modelliert verschiedene Spielweisen. Ein Blick, eine Körperhaltung, eine Geste, der Klang einer Stimme sind wesentlich. Er fängt oft mit kleinen Dingen an. So erschien beispielsweise einer der Schauspielschüler zu einer Probe mit einem Paar zu kleinen Stiefeln. Als er sie für seine Rolle als Feldwebel anlegte, stand er schief und musste seine Bewegungen entsprechend anpassen. „Ja, das ist es“, rief Johan, „ein Feldwebel mit zu kleinen Stiefeln“, und integrierte dies in die Vorstellung. JeroensVolpone musste das Gesicht einer Kurtisane vollständig ablecken: So wurde dargestellt, wie der reiche Mann jeden besaß. Und über alle Macht ausüben konnte. Johan sagte über seine erste Zusammenarbeit mit Jeroen: „Er wurde mit einer alten Seele geboren, als ob er schon zwanzig Leben gelebt hätte. Darin steckte bereits ein enormes Potenzial.“.2 Obwohl Jeroen bei den großen niederländischen Theatern sofort gefragt war, begann er seine Schauspielkarriere bei kleineren Ensembles, darunter Hollandia. Er blieb sechzehn Jahre lang bei dieser Gruppe, die unter der inspirierenden Leitung des Schauspielers und Tänzers Johan Simons und des Schlagzeugers und Komponisten Paul Koek stand. Hollandia (nach der Fusion mit Zuidelijk Toneel Anfang 2001 in ZT-Hollandia umbenannt) wollte auf innovative Weise gesellschaftspolitisches Engagement mit experimentellem Design vor Ort verbinden. Diese Schauplätze sollten vorzugsweise nicht eins zu eins mit den Stücken übereinstimmen, die sie dort aufführten, sondern eine zusätzliche Ebene oder Dimension hinzufügen. Das Motto der künstlerischen Leiter, die beide aus einfachen Verhältnissen stammen, lautete: Spielen für Menschen, die kaum mit Theater in Berührung kommen, an Orten, an denen es kein Theater gibt. Sie wollten sich dadurch auszeichnen, dass sie ihre Aufführungen nicht für Theaterbühnen, sondern für und in Gebäuden machten, die vorübergehend in Theaterräume umgewandelt werden konnten, vorzugsweise, wie Johan immer betonte, mit weitem Blick nach draußen. Ihre Arbeit musste mitten in der Realität stehen und musste diese Realität auch zulassen. Auf diese Weise hofften sie, das Publikum besser zu erreichen und gleichzeitig mehr Freiraum für die Entwicklung ihrer eigenen künstlerischen Richtung zu schaffen. Natürlich arbeitete Jeroen auch mit anderen Regisseuren zusammen und wirkte bei Filmund Fernsehproduktionen mit. Aber Hollandia war für ihn zwischen 1988 und 2004 der beständige Faktor, „eine wichtige Familie“ und ein „Nährboden“.3 In dieser 3 Er verwendete diese Eigenschaften während Theaterfamilie, zu der auch Schauspieler:innen wie Elsie de Brauw, Bert des VPRO-Marathon-Radiointerviews von Luppes und Betty Schuurman gehörten, bekamen sie Raum und Zeit, Stephan Sanders, das am 25.12.2011 gesendet wurde. viele Facetten ihres künstlerischen Talents zu entwickeln, sowohl im Proberaum in Zaandam als auch an den verschiedenen Spielorten. Unter der Leitung von Johan arbeitete Jeroen unter anderem an folgenden Schauplätzen: dem Gewächshaus eines Gärtners („Bauer sterben“ von Franz Xaver Kroetz), einer Kirche („La Musica II“ von Marguerite Duras), einem Autofriedhof (Aischylos‘ „Perser“), einer Malzfabrik („Kuschwarda City“ von Herbert Achternbusch), einer Verpackungshalle einer Fluggesellschaft („KLMCargo“ war der Name dieser Kompilation-Vorstellung) und einer Werft („Der Fall der Götter“, nach einem Film von Visconti). Die künstlerische Arbeitsweise von Hollandia war genau das Richtige für Jeroen. Johan, Paul und der/die Dramaturg(en) saßen wochenlang mit den Schauspieler:innen am Tisch und diskutierten über den Inhalt des Stücks und die Entscheidungen, die sie treffen wollten. Außerdem sahen sie gemeinsam Filme, lasen andere Texte und besuchten Aufführungen und Museen. Dadurch wurde das künstlerische Arsenal, auf das sie bei den Proben und Aufführungen zurückgreifen konnten, erweitert und vertieft. Die Stücke, die sie gemeinsam schufen, waren musikalisch, sozial und politisch und hatten den Ehrgeiz, das auf

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den Punkt zu bringen, was Menschen im Leben und in der Liebe bewegt. Bei den Proben durften die Schauspieler:innen hässlich sein, scheitern und wieder von vorne anfangen. „Was mir damals an Johan so gefiel“, so Jeroen, „war, dass er ganz aufrichtig sagte: ‚Nun, jetzt weiß ich es nicht. Setz du dich und schau zu, ich stelle mich da drüben hin. Sag mal etwas dazu.‘“4 4 Zitat aus dem in Anmerkung 3 erwähnten Interview. Während der Arbeit hatten Johan und Jeroen regelmäßig Streit. 5 Gespräch von Johan Simons mit Marijke ­Johan erinnert sich lebhaft daran: „Es war immer ein künstlerischer Reijnders in Vorbereitung auf ihren in Anmerkung 18 erwähnten Dokumentarfilm. Kampf um Ideen. Entweder dachte ich, er sei zu brav oder er meinte, ich 6 Gespräch von Johan Simons mit Marijke sei zu brav. Einander immer wieder reizen. [...] Oder es passierte, dass er Reijnders für die in Anmerkung 18 erwähnte Dokumentation. sich für andere Schauspieler einsetzte, weil ich über andere Schauspieler hergezogen bin, und das konnte er überhaupt nicht leiden. Er hat dann sofort angefangen, mich zu beschimpfen oder zu sagen, dass das absolut nicht akzeptabel ist oder dass er das nicht akzeptiert.“5 Jeroens Herrschermentalität erstreckte sich auch auf das gemeinsame Spiel auf der Bühne. Er gab seinen Mitspielern jede Gelegenheit sich zu entfalten, korrigierte sie aber auch, wo er es für richtig hielt. Er nahm auch Änderungen an ­Johans Mise en Scène vor. Das funktionierte gut für Johan: Weil Jeroen ein enorm gutes Gefühl für den Raum und ein feines Gespür für die Reaktionen des Publikums hatte, war er, wie Johan selbst sagte, „eine Verlängerung“ von ihm auf der Bühne.6 Unvergessliche und erfolgreiche Hollandia-Aufführungen unter der Regie von Johan, an denen Jeroen mitgewirkt hat, waren: „Stallerhof“ (1991), „Leonce und Lena“ (1993), „Perser“ (1994), „Zwei Stimmen“ (1997), „Der Fall der Götter“ (1999) und „Sentimenti“ (2003). In diesem Artikel nehme ich „Zwei Stimmen“ genauer unter die Lupe, denn es ist aus einem einzigartigen Gemeinschaftsprojekt von Johan und Jeroen entstanden und wurde nicht weniger als 15 Jahre lang gespielt, auch nachdem Jeroen Hollandia Ende 2003 verlassen und nachdem sich die Gruppe (Ende 2004) aufgelöst hatte. Was ist nach wie vor das Faszinierende an „Zwei Stimmen“? 1996 teilte Jeroen Johan mit, dass er gerne Pasolini spielen würde.7 Kürzlich hatten er und Johan bei einer Aufführung von Pasolinis „Orgie“ durch Schauspielschüler, Regie geführt. Aber er hatte noch nicht als Schauspieler an Hollandias Pasolini-Projekten teilgenommen, wie z. B. an „Der Schweinestall“, das unter einer Brücke in Antwerpen aufgeführt wurde. Während eines Gesprächs legte er „Petrolio“ auf den Tisch, einen sperrigen Roman von Pasolini, der 1992 ins Niederländische übersetzt worden war. Dieses Buch, an dem der italienische Filmemacher, Schriftsteller und Kommunist noch arbeitete, als er brutal ermordet wurde, ist eine Sammlung von Notizen, Fragmenten, politischen Texten, Poesie, Dokumenten und Träumen. Im Großen und Ganzen geht es um Carlo, einen Ölmagnaten mit einer gespaltenen Persönlichkeit. Carlo 1 ist ein machiavellistischer Herrscher, Carlo 2 ist von seinen perversen, unersättlichen sexuellen Wünschen besessen und macht eine Metamorphose zur Frau durch. Zusammen mit dem Dramaturgen hatte Jeroen etwa zwanzig Texte aus „Petrolio“ ausgewählt. Das waren viel zu viele, und Johan wies ihn an, den Text auszuwählen, der ihn am meisten faszinierte. Die anderen Passagen wurden dann nach ihrem Potenzial für Kombinationen mit dem Ausgangstext ausgewählt. Am Ende blieben vier Texte übrig. Im ersten hält ein verunsicherter Intellektueller eine komplizierte Abhandlung über das „soziale Nichts“. Er behauptet, dass diejenigen, die „erkennen, dass die Welt nichts ist, und sie dennoch in der Praxis mit einer aufgeklärten Art von Geduld akzeptieren“, alles mit einem Blick voller Spott betrachten.8 Im zweiten Teil geht es um einen hinterhältigen Herrscher, der ein öffentliches Amt bekleidet und zahlreiche Machtpositionen und Besitztümer wie Land, Ressourcen und Fabriken innehat. Er malt ein Porträt seines eigenen Äußeren und Inneren. Dann werden das Wesen und das erschütternde Ausmaß seines Machtimperiums von Figur drei, die offenbar ein Komplize von Nummer zwei und in der Unterwelt aktiv ist, genauestens enthüllt. In der vierten Folge wird eine wundersame Geschichte von einer Trans*person erzählt. Diese Figur Dieser Absatz basiert auf undatierten Tonbandaufnahmen von Susanne Winnackers stammt nicht direkt von Paso­lini, sondern lehnt sich an die männlichGespräch mit Jeroen Willems. weibliche Metamorphose an, die der Protagonist von „Petrolio“ durchDie Zitate aus den Pasolini-Texten stammen aus Skripten, die sich im Nachlass von Jeroen macht.9 Die Geschichte, die die Trans*person mitbringt, handelt von Willems befinden. einem Intellektuellen, der einen Balanceakt zwischen dem Vatikan und Das in Anmerkung 7 erwähnte Interview mit der links-progressiven Strömung innerhalb der katholischen Kirche Susanne Winnacker.

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ausführt. Dieser Mann wirft seine Prinzipien sofort über Bord, als der Teufel ihm die Machtposition eines Heiligen verspricht. Als er erkennt, dass der Teufel und Gott ein und dasselbe sind, und er trotz des Verbots auf diese doppelte Verkleidung zurückblickt, erstarrt er. Die beiden Nebencharaktere werden auch sprechend dargestellt. 10 Ursprünglich war die Leistung größer. Jeroen Der fünfte Text, den ich oben kurz angesprochen habe, basiert auf Willems spielte auch einen Auszug aus „Affazwei Dokumenten.10 Der erste, die Rede, die Cor Herkströter, der Vorbulazione“, einem Stück von Pasolini über einen Großindustriellen, der seinen Sohn gestandsvorsitzende von Shell, im Oktober 1996 vor der Niederländischen tötet hat. Darüber hinaus leistete auch Betty Gesellschaft für Internationale Angelegenheiten gehalten hatte, war Schuurman einen Beitrag. Ihr Monolog basiert auf einer Novelle von Marguerite Duras. Nach von Johan zur Verfügung gestellt worden. Herkströter merkt darin an, der Aufführung wurde aus den Reaktionen dass die Gesellschaft immer mehr Anforderungen an die Wirtschaft des Publikums und der Kritiken deutlich, dass das Ganze, vor allem wegen der Länge und der stellt, Anforderungen, die sich oft widersprechen. Auf sehr raffinierte Schwierigkeit der Texte, das Publikum überWeise hat er verbale Nebelwände geschaffen. So bezeichnete er Kritiforderte. Gestrichen wurden der Vater-SohnText und der Teil von Betty Schuurman, der ker multinationaler Unternehmen als „moralische Imperialisten“, die weniger gut angekommen war. versuchen, multinationale Unternehmen in ihrem Streben nach Wohlstandswachstum für zahllose Menschen weltweit zu behindern. Der zweite Text war ein Folgeartikel desselben Topmanagers, der am 28.12.1996 im NRC Handelsblad veröffentlicht wurde. Dazu gehörte auch der folgende Appell an die Kunstwelt: „Bei der Bestandsaufnahme [...] stelle ich ein kaltes Schweigen im Reich der Fantasie, in der Ideenkammer der sozialen, künstlerischen und kulturellen Avantgarde fest. Im Global Village hingegen scheint sich jeder hinter der Dorfpumpe zu verkriechen. Jeder kommuniziert mit jedem, aber was hat die Gesellschaft uns internationalen Unternehmern eigentlich zu sagen? Herkströters Verteidigung des Gewinnstrebens seines multinationalen Unternehmens, das, wie er einräumt, Fehler gemacht hat, schmerzt sehr, denn sie enthält auch vertretbare Aussagen, wie diese: „Der westliche Mensch will alles auf einmal. Mit einem Ölboykott Diktaturen bekämpfen, aber auch weiter Auto fahren“. Hier liegt für mich die Verbindung zum aktuellen Urteil von 2021, das Shell verpflichtet, auch die Emissionen seiner Kunden zu reduzieren. Dieses aktuelle Urteil bezieht sich jedoch nicht direkt auf die Verantwortung der Kunden selbst. Die fünf Texte wurden zu einer Vorstellung zusammengeschmiedet, die nicht einseitig mit dem Finger auf die Mächtigen zeigt, sondern die Ohnmacht des Menschen angesichts des Machtmissbrauchs durch Politiker, Industrielle, Intellektuelle, Kirche, Manager und Spitzen­ beamte problematisiert. Diese Schichtung wurde größtenteils durch Johans Inszenierung und Jeroens Schauspiel erzeugt. Johan hatte sich schon früh Gedanken über die Inszenierung gemacht. Jeroen, wie er in Interviews oft betonte, fand das Design brillant. Auf der Bühne steht ein langer Tisch. Dieser zeigt Spuren eines reichhaltigen Abendessens: auf dem weißen Tischtuch, welches mit Flecken und Kreisen übersät ist, sind schmutzige Teller, Gläser, Besteck, leere und halbvolle Flaschen verteilt. Einige Stühle stehen in der Nähe des Tisches, andere wurden umgestoßen. Eine abgenutzte Strumpfhose deutet darauf hin, dass bei dem Abendessen eine Prostituierte anwesend war. Jeroen spielte alle Dinnergäste und sprach das Publikum direkt an. Er begann an einem Kopfende des Tisches, rückte einen Stuhl weiter und landete schließlich am anderen Kopfende, um die letzte Figur zu formen. Während oder unmittelbar nach einer solchen Bewegung verwandelte er sich in die nächste Figur: Er unterhielt sich (auf Italienisch) mit seinen imaginären Tischnachbarn und nahm kleine Änderungen an seiner Grundausstattung vor: Brille auf oder ab, Jackett an oder aus, Krawatte offen oder gebunden, andere Schuhe an (glänzende rote Lackschuhe für die dritte Figur und hochhackige Pumps für die Trans*person), die Hosen bis unter die Achseln oder bis zu den Hüften oder Knien heruntergelassen. Er variierte auch in Körperhaltung, Mimik, Stimmfarbe, Stimmlage und Sprechtempo. Da Johan beschlossen hatte, dass Jeroen jede Figur von einem anderen Stuhl aus spielen sollte, waren die Zuschauer und auch der Schauspieler selbst aufgefordert, sich in die verschiedenen Herrscher hineinzuversetzen, nicht vorschnell zu urteilen, sondern sich zu fragen, wie man selbst handeln würde, wenn man auf diesem Stuhl säße. Um das Ganze nicht zu schwer zu machen, wurden nach der Hälfte der Aufführung heitere Szenen eingebaut: Die Trans*person führt, bevor sie zu sprechen beginnt, einen slapstickartigen Nachtclubtanz auf. Und wenn sie sagt, dass der Intellektuelle ein „Fersenlecker“ ist, folgt ein kleines akrobatisches Spektakel: Ihre herausgestreckte Zunge macht minutenlang die verrücktesten Drehbewegungen.

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Vergleicht man die Originaltexte des Topmanagers mit der Fassung, so fällt auf, dass die Theatermacher alle Verweisung zu Shell gestrichen haben, wie etwa die Passagen über das Debakel mit der Bohrinsel Brent Spar und die Zusammenarbeit mit dem diktatorischen Regime in ­Nigeria. Der Grund dafür war, dass Johan und Jeroen nach einer Aufführung, an die sich eine Diskussion zwischen Aktivisten und Managern anschloss, feststellten, dass die Debatte stagnierte: Radikale Aktivisten beschuldigten die Vertreter der multinationalen Unternehmen, die sich geschickt aus der Affäre zogen, weil die Argumente ihrer Gegner inzwischen zu bekannt waren.11 Die beiden wollten einen solchen ein­ 11 Gespräch von Luk van den Dries mit Johan Simons und Jeroen Willems während des ­ dimensionalen Ansatz um jeden Preis vermeiden. Theaterfestivals 1998. Die erste Auszeichnung von „Zwei Stimmen“ (viele weitere sollten 12 Marijn van der Jagt: „Jeroen Willems zet reeks glasheldere Pasolini-portretten op“ („Jeroen folgen) war der Preis des Großen Theaterfestivals 1997. Aus einer der Willems stellt eine Serie von kristallklaren 12 zahlreichen Rezensionen hier ein markantes Zitat: „Es sieht aus wie ­Pasolini-Porträts zusammen“) de Volkskrant 16.4.1999. eine Brecht‘sche Lehre, eine Assoziation, die der langsame, emphatische Schauspielstil des holländischen Regisseurs Johan Simons häufiger hervorruft. Aber die Verwandlungen, die Willems vor den Augen des Betrachters durchmacht, lassen dieses Solo auch zu einem postmodernen Spiel mit den verschiedenen Identitäten einer Figur werden. Im Laufe des Jahres 1997 wurde Hollandia eingeladen, das Stück im Rahmen des Kleinen Niederländischen Theaterfestes in Jena aufzuführen. Jeroen wollte dies nur tun, wenn die Texte ins Deutsche übersetzt würden: Das Publikum sollte nicht durch die Übertitel abgelenkt werden. Johan gab Jeroen den nötigen Freiraum, um mit einem Sprachcoach zu arbeiten und zu polieren, bis er die deutsche Version perfekt beherrschte. Der Auftritt in Jena war der ­Startschuss für eine Europa- und sogar Welttournee. Als „Zwei Stimmen“ für das International Theatre Meeting in Rotterdam ins Programm genommen wurde, gelang es Jeroen, Johan davon zu überzeugen, dass es eine englische 13 vgl. C. Kattenbelt, P. de Kort, F. Mineur & L. Swinkels (Hrsg.), Zoekboek 1. Lectorat Nieuwe Übersetzung geben sollte.13 Das „Absatzgebiet“ der Aufführung hat Theatralieit Maastricht 2004, S. 58. sich also wieder erweitert. Johan sah aber auch, dass die Übersetzun14 Aussage von Jeroen Willems, zitiert in der in Fußnote 12 zitierten Veröffentlichung. gen dem Schauspieler, der das Hollandia-Prinzip „Spiele nie die Vor15 Zitat von: Mark Duursma, „Het dorp op zijn stellung vom Vortag“ hochhielt, zahlreiche neue Möglichkeiten boten. ergst“. („Das Dorf in seiner schlimmsten Form“) Interview mit Johan Simons im NRC Man versteht auf eine neue Weise, was man als Schauspieler tut. Man Handelsblad, 24.8.2001. beginnt auf eine neue Art und Weise darüber nachzudenken, wie man spielt. Der Doppelschlag: Als Schauspieler übersetzt man Gedanken auf die Bühne, jetzt muss man sie auch noch in eine andere Sprache übertragen, das vertieft die Arbeit ganz schön.14 Johans Ensemble war die erste niederländische Theatergruppe, die beim Festival von Avignon auftrat. Im Sommer 2004, kurz bevor die Theatergroep Hollandia sich auflöste, traten sie dort zweimal auf: „Der Fall der Götter“, mit Übertiteln, und „Zwei Stimmen“ auf Französisch. „Zwei Stimmen“ wurde hunderte Male in zahlreichen europäischen Städten, in den USA (New York, Minneapolis, Los Angeles), Kanada (Toronto), Australien (Adelaide) und Syrien ­(Damaskus) aufgeführt. Infolgedessen brachte Jeroen nicht nur relativ viel Geld für Hollandia ein – Johan nannte ihn manchmal „unser Goldkehlchen“15 –, sondern trug auch wesentlich zum glorreichen Ruf von Hollandia als Gruppe und von Johan Simons als Regisseur im Ausland bei. Als Jeroen Hollandia verlassen hatte und als freischaffender Schauspieler arbeitete, lockerte sich seine Bindung zu Johan. Er wollte seine eigenen Flügel ausbreiten.16 Sechs Jahre später, kurz bevor Johan Intendant der Münchner Kammerspiele wurde, spielte Jeroen mit diesem ­Ensemble eine relativ kleine Rolle in „Drei Farben“, einer Produktion, die Johan nach Kieslowskis und Piesiewiczs Film „Trois Couleurs“ inszenierte (2009). Ein Jahr später war „Zwei Stimmen“ über einen Monat lang in Paris.17 Während dieser Zeit wurden in derselben Stadt Aufnahmen für „Sag, dass alles gut wird“, einen Dokumentarfilm von Ireen van Ditshuyzen über Johan, gemacht. Johan besuchte dort nach so vielen Jahren eine Aufführung von „Zwei Stimmen“ und traf Jeroen danach in der Garderobe. Er zückte ein Notizbuch und be16 „Jeroen Willems singt Louis Andriessen. „Ik mängelte unter anderem, dass der Tisch zu ordentlich gedeckt war: Er ben soms best goed“ („Ich bin manchmal ziemlich gut“), Interview von Ingrid Harms, Vrij wirkte wie ein „Schaufenster“. Jeroen reagierte eher zynisch. Man Nederland, 7.6.2008. konnte ihm ansehen, wie er dachte: Das ist jetzt seit Jahren meine 17 Vom 6. Januar bis zum 10. Februar, im Théâtre Nanterre Amandiers. Show, misch dich nicht ein. Doch am nächsten Tag, so zeigt der Doku-

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18 Marijke Reijnders drehte dort für ihren Dokumentarfilm, saßen beide brüderlich in einem französischen Café und mentarfilm Jeroen Willems „Over Grenzen“, unterhielten sich über Kapitalismus und Kommunismus. der am 3. Dezember 2013 erstmals ausgestrahlt wurde. Das letzte Mal wurde „Zwei Stimmen“ im Mai 2012 aufgeführt. Jeroen spielte zwei Abende in der Haarlemer Toneelschuur, wo das Stück 15 Jahre zuvor uraufgeführt worden war. Von diesen Aufführungen und den dazugehörigen Vorbereitungen wurden Videoaufnahmen gemacht.18 Als ich das Filmmaterial sah, glaubte ich einen Moment lang, die Stimme von Regisseur Johan zu hören: Jeroen wies den Techniker ­kritisch darauf hin, dass der Tisch viel zu sauber sei, und begann fanatisch, das Tischtuch zu verschmieren. Es scheint mir offensichtlich, dass die Zusammenarbeit von Johan und Jeroen für ihre beiden Karrieren von entscheidender Bedeutung war. Dass Jeroen haarscharf erkannte, wo Johans große Stärken und Talente lagen, geht aus dem hervor, was er in der Broschüre schrieb, die erschien, als der Regisseur für seine innovativen Ideen mit dem Van-Praag-Preis (2007) geehrt wurde: Das Wesentliche an Johans Theaterarbeit ist, dass er bis zum Ende weitersuchen will. So gerne er auch manchmal oberflächlich sein möchte, es wird ihm nicht gelingen. Er kann nicht anders, als zu sehen, was gerade in der Welt passiert, und muss darüber berichten [...] Und dabei findet er immer wieder Menschen, die ihn inspirieren und mit ihm nach dem besseren, konfrontativeren Weg suchen wollen.

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Oben: Die Garderobe, ausgestattet mit einer Videokamera, die sich um 360 Grad dreht und das Bild live auf die Wand vorn überträgt, in „Lear“ von William Shakespeare. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Kostüm Greta Goiris, Premiere September 2020, Schauspielhaus Bochum. Unten Die Bühne von „Lear“ Fotos Elmar Vestner


BÜHNEN VON JOHANNES SCHÜTZ

für Johan Simons

Jens Harzer als „Iwanow“ in der gleichnamigen Inszenierung nach Anton Tschechow. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Premiere Januar 2020, Schauspielhaus Bochum Foto Bernd Felder


Oben : Der Umbau vom ersten auf den zweiten Akt in „Iwanow“, Unten: Der Umbau vom dritten auf den vierten Akt in „Iwanow“ Fotos Bernd Felder


Fotoarbeit zum Modell für „Die Jüdin von Toledo“. Foto Johannes Schütz Mitte: „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwanger in einer Bearbeitung von Koen Tachelet. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Kostüm Greta Goiris, Premiere November 2018, Schauspielhaus Bochum. Foto Arwed Messmer Links: Das Ensemble von „Die Jüdin von Toledo“ Foto Jörg Brüggemann/Ostkreuz






Jens Harzer, Marina Galic und Felix Knopp in „Der Idiot“ von F.M. Dostojewskij in der Übersetzung von Swetlana Geier, Bühnenfassung von Angla Obst. Regie Johan Simons, Bühne Johanes Schütz,. Premiere September 2021, Thalia Theater Hamburg Foto Elmar Vestner


Rechts: Bühnenmodell von Johannes Schütz zu „Geschichten aus dem Wiener Wald“ Mitte: „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horváth. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Kostüm Greta Goiris, Premiere November 2020, Burgtheater Wien Foto Elmar Vestner



Das Bühnenmodell zu „Hamlet“

Fotoarbeit Johannes Schütz




Mitte: Sandra Hüller in der Titelrolle von „Hamlet“ von William Shakespeare mit Auszügen aus „Die Hamletmaschine“ von Heiner Müller in der Bearbeitung von Jeroen Versteele. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Premiere Juni 2019, Schauspielhaus Bochum Rechts: Das Bühnenmodell zu „Richard II.“ von William Shakespeare, Deutsch von Thomas Brasch. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Premiere September 2021, Burgtheater Wien Foto Mitte Bernd Felder, rechts Johannes Schütz


JENS HARZER

Johans Schweigen Wachsein und Warten

S

itzen mit Johan Simons am Tisch auf einer Probe. Er lässt den Kopf hängen. Er sagt nichts. Er lässt lange nichts von sich hören. Sitzt einfach da, mit geradem Rücken und der große Schädel ist nach unten gerichtet. Oder die Hände sind aufgestützt und darunter vergraben die Haare. Während der andere große Schweiger, den ich kennenlernen durfte, Dimiter Gotscheff, schon zu Beginn einer Probe nichts sagte, und er alle zwang, gemeinsam auf das Schweigen zu warten, damit auch bestimmt wirklich nichts los ging und man sozusagen auf das Warten (und das Schweigen) wartete, versteckt Johan sein Nicht-SprechenWollen oder -Können anders. Die Probe beginnt meist offen und zugewandt, heiter und gelassen, man tauscht sich aus und plaudert sogar, aber wenn man ihn kennt, ahnt man schon die ersten Schatten des Zurückziehens in seinem Gesicht, in seinem ganzem Körper. Man sitzt dann am Tisch und fängt an zu lesen (man liest viel bei ihm und lange), um dann nach dem Lesen ein wenig zu reden und sich vorsichtig und fast schüchtern auszutauschen, um dann wieder zu lesen, und zu lesen, um dann erstmal nichts zu sagen, und dann liest man wieder, – und währenddessen versinkt Johan oft in diese Abgewandtheit, Abgeschlossenheit, der Kopf sinkt auf die Brust. Über was grübelt er, an was denkt er, wo träumt er hin? Man schaut zu ihm hin und man weiß es nicht, da ist nichts zu lesen. Etwas Sprödes entsteht um ihm herum, etwas Abweisendes. Ist er überhaupt beteiligt an der ganzen Lese- und ­Gesprächssituation? In solchen Momenten muss man immer sehr wach sein und sich zwingen, die Merkwürdigkeit seines Schweigens und wo-anders-Seins nicht zu unterbrechen oder mit etwas Geistreichem zu überspielen. Man muss sich zwingen, jetzt am besten nichts zu sagen, nichts mehr beizutragen, und man sollte auf keinen Fall versuchen, Johan vermeintlich auf die Sprünge zu helfen. Im Gegenteil, man muss es eher schaffen, in seinen Rhythmus zu kommen, welcher das auch immer ist, man weiß es ja nicht so genau, er hat ja

Jens Harzer

Johans Schweigen

manchmal über eine Stunde nichts, oder sehr wenig gesagt. Denn jetzt, in diesem Zustand, fallen meist die wichtigsten Sätze und Worte von ihm, die er dann auch ziemlich deutlich formuliert. Und meine Beobachtung in all den Jahren ist, je weniger konkret seine Formulierungen in diesem Moment sind, also je weiter sie vom eigentlichen Sujet entfernt sind, desto wichtiger sind sie. Je ferner, desto tiefer. Und man sollte versuchen, sich seine Gedankensplitter zu merken, sie sich einzuprägen, ihnen nachzuspüren, unbedingt, sie werden später noch wichtig werden. Auch wenn sich die Arbeit – was ja oft geschieht – in eine völlig andere Richtung entwickelt. Seine Formulierungen bleiben übrig, als Kontrapunkt, als Gegenzeichen, als vertikaler Rest sozusagen; sie stimmen, vom Ende der Arbeit aus gesehen, immer noch, und mit ihnen ist man dem Eigent-­ lichen von Johans Theater-Idee vielleicht am nächsten. Während der „Penthesilea“-Proben sagte er einmal unvermittelt: „Das Drama ist um die Ecke, das Schwarze Loch gehört Gott“. Dabei ging es bei der Probe an diesem Tag eher darum, wie man am Anfang unserer Fassung mit den fremden Botenberichten umgehen sollte. Oder einige Tage später, „denkt an die Frage: Macht der Körper weiter oder nicht?“ Bei unserer Arbeit an „Fountainhead“ fiel ein Satz aus dem Nichts heraus: „Ich glaube, ein bisschen Hollywood und Miles Davis mit dem Rücken“. Bei „Der Schimmelreiter“ hieß es schon nach zwei Tagen Proben, „nach dem Tod, nackt, Jimmy Hendrix, Voodoo Child“. Am Anfang von „Iwanov“, „spielt nur dann, wenn es vorbeikommt, so wie Bauern klagen.“ Bei „Der Idiot“ in den langen Sitzungen am Tisch plötzlich: „Gott, Bindestrich, dazwischen Tod, Bindestrich, Nicht-Gott“. Bei unserem schweren Weg zu „Macbeth“, „ohne Gewalt vielleicht, Adam und Eva. Suche nach Glück, nicht nach Mord.“ Wichtig ist, dass man auf seine Assoziationen nicht gleich und sofort reagiert, oder etwas hinzufügt; denn sehr oft kommt sein nächster Gedanke erst eine und zwei Minuten später. Man muss ihm diese Zeit lassen; es scheint,

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dass er selbst dieser Eruption Zeit lassen muss, um sie dann in seinem eigenen Tempo zu ergänzen, sie weiter zu entwickeln, eine richtige Formulierung daraus werden zu lassen. Er ist sehr empfindlich, wenn man ihn zu früh unterbricht. Das passiert immer denjenigen, die ihn noch nicht gut kennen. Wird er zweimal, dreimal zu früh unterbrochen, oder ­seine Gedanken werden beurteilt oder besprochen, zieht er sich wieder zurück, oder er wird müde (oder täuscht eine Müdigkeit vor), oder nachdenklich, oder zeigt sich irritiert, und dann ist es mit der Probe eigentlich schon gelaufen. Wie alle besonderen Regisseure ist er äußerst störbar, man merkt es nicht immer so genau, da er durch seine Offenheit und seine Bereitschaft, viele Dinge zu teilen, vermeintlich nicht so sehr im Mittelpunkt steht. Aber eigentlich ist er extrem angewiesen auf den Raum und das Umfeld, in dem sich seine Welt ungestört entwickeln darf. Und da er sich dafür seine eigene Zeit nimmt, scheint das Tempo der Arbeit oftmals nicht so hoch. Aber auch da darf man sich ja nicht täuschen lassen. Aufgaben und Wünsche und Forderungen an die Schauspieler:innen entwickeln sich deutlich, man muss eben sehr genau hören, was er wie sagt. Denn darin versteckt sich oft etwas, was Johans Theater in meinen Augen so besonders macht: Es ist die Verbindung von Maß und Maßhalten und Form einerseits und der inneren Hitze und der Freiheit des Spiels andererseits. Und meist sind seine Augen in dieser Form der Paradoxie so gut wie immer offen und frisch und neu. Wenn Michel Piccolis wunderbarer Satz stimmt, er habe als erstes bei den Regisseuren, mit denen er zu tun hatte, immer auf und in die Augen geschaut, wie offen sie sind und wie sie ­schauen, dies sei für ihn sogar entscheidender gewesen als Inhalt des Stoffes und Art der Rolle, dann nehme ich mal für unsere glücklichsten Zusammenarbeiten so etwas in der Art in Anspruch, da sie sich nämlich in ihrer Spannweite sehr voneinander unterscheiden. Von unserem fast exerzitienhaft strengen „Schimmelreiter“, über die ganz weite, fast monochrome Fläche von „Fountainhead“ (mit der für mich immer noch unerreichten Utopie des freien Tanzes zusammen mit Marina Galic am Plattenspieler am Ende des Stückes), oder der unentrinnbaren Engführung von Sandra Hüller und mir in „Penthesilea“; in „Iwanov“ der große fühl- und begehbare Raum zwischen den Menschen und ihren Gedanken, in „Der Idiot“ das nicht Lösbare des Kampfes zwischen göttlicher Einfalt und der Hölle der Welt. Man muss, wie gesagt, genau aufpassen, dass man während Johans Schweigen und Abwarten die wichtigen Dinge nicht verpasst, oder sogar seine Mittel unterschätzt. Da seine konkrete Arbeit an Szenen und Vorgängen und Lösungen von Schwierigkeiten oft eher spät beginnt, muss man auch auf diesem Gebiet geduldig sein. Er misstraut ja den ersten Spiel-Wünschen und Ideen; auf diese Weise ­zögert er den Gang auf die Bühne oft hinaus, er verhindert

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diese Impulse absichtsvoll, so scheint es fast; er reduziert den Drang nach oben zu gehen und loszulegen. Das ist manchmal als Schauspieler nicht ganz einfach, da man nicht sicher weiß, warum er eigentlich diese längere Zeit braucht. Mir scheint es aber, als vertiefe sich auf diese ­Weise sein Blick auf das Material, als könne er sich buchstäblich nur auf diesem Weg auskennen, um in die Dinge und Gegebenheiten des Stückes zu finden; und das gelingt ihm eben nicht allein, er braucht dazu die Anwesenheit der anderen, durch die sein Blick sich fokussiert. Diese Zweifel bzw. das nicht-genau-Wissen schliesst vieles andere aus, und doch entstehen große Momente des gelösten Spiels und der Freiheit; nur sind diese Momente eben durch andere Abwägungen gegangen. Und wenn es gelingt, unterscheiden sie sich dann im besten Fall von einer beliebigen, allgemeinen Theaterspielerei. Am glücklichsten meines Erachtens dann, wenn den Bühnen von ­Johannes Schütz so viel Klarheit und Raum und aufgehobene Zeit mitgegeben ist und in diesen Welten alles möglich sein kann, sie aber gerahmt sind von einer Wirklichkeit und einer Begrenzung. Und so gelingen mit Johan zusammen, wenn es glückt, diese wunderbaren Momente, wenn man im Spiel die Zeit anhalten kann, oder zumindest der Zeit etwas abtrotzt. Und liegt darin nicht Johans eigentliches Thema, das Ringen mit der Zeit, dem Tod, mit dem, was wir nicht wissen? Ja, vielleicht ist das seine eigentliche Untersuchung, auch jetzt im Älterwerden: Was kommt? Was wird kommen? Was ist, was wird sein? So ließ er den Zerfleischungs-Bericht in „Penthesilea“ von Sandra und mir zweimal wiederholen, da war er sich von Anfang an sicher, jeweils aus der Perspektive des anderen. Wir stießen mit voller Wucht aufeinander, mit den Körpern und mit den Wörtern, aneinandergefesselt, ineinander geraten, im anderen verloren. Für Johan war von Beginn an klar, dass diese Sequenz wiederholt werden müsse; formal gedacht, ja, auch, aber vor allem von den Seelen der Figuren her. Vor der zweiten Wiederholung ging ich ganz nach hinten, zwanzig Meter, Sandra blieb vorne stehen, jeder für sich und getrennt vom anderen, es vergingen zehn oder fünfzehn oder zwanzig Sekunden, so hielt die Zeit an, bevor Achill wieder auf Penthesilea zuraste und von ihr zerfleischt wurde. Es gab also eine Zeit, die auszuhalten war. Es gab für Sekunden die Möglichkeit, das Unsagbare anzuhalten. Ich denke, dies ist ein enigmatischer Moment von Johans Theater gewesen, ein Moment, der vieles vereint, was seine Kunst ausmacht: der Raum, die Weite und viel Platz für die Gedanken, und darin die Menschen, Körper, Stimme und Seele, und dann die Möglichkeit, das Ganze zu spren-gen und alles hinter sich zu lassen. Und für so einen Moment lohnt es sich, weiß Gott, die langen Pausen seines Schweigens auszuhalten. Denn dieses Schweigen führt ja direkt hinein in das Schweigen danach, auf der Bühne, im Raum, dort, wo das Leben und der Tod einander die Hand reichen, vielleicht.


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Sandra Hüller und Jens Harzer in „Penthesilea“ von Heinrich von Kleist, Bearbeitung von Vasco Boenisch in der Regie von Johan Simons

Foto Monika Rittershaus

VASCO BOENISCH

Bisse, Küsse Wie Johan Simons mit „Penthesilea“ einen innigen Zweikampf auf Tod und Leben inszenierte

U

nd dann hält er die tote Penthesilea in den Armen, niedergesunken auf dem Schlachtfeld, und er zieht ihr den Helm vom Kopf – und ist geblendet von ihrer ungeahnten Schönheit. Unter Tränen bereut er die Tat, seinen Mord. Immer wieder erzählt Johan Simons dieses Ende der Geschichte, wie sie der antike Mythos eigentlich vorgesehen hat. Wir proben Kleists „Penthesilea“ in Salzburg, in einer besonderen Bearbeitung, von der noch die Rede sein wird, und wer immer den niederländischen Regisseur fragt, warum er sich just für diesen deutsch-klassisch-romantischen Stoff interessiert, dem erzählt er mit nicht enden wollender Faszination von jenem schicksalhaften Augenblick: der Kriegsherr Achill, wie er die bis dahin ungekannte Amazonenkönigin Penthesilea auf dem Schlachtfeld tötet und sich über ihrem Leichnam prompt in sie verliebt. Die Liebe ist’s, die Johan Simons interessiert. Besser: der Umsprungpunkt von Tod in Liebe. Wie sich die Liebe hier erst im monströs-blutrünstigen Affektmord erfüllt, ist die große Tragik auch in Kleists Umkehrung der ursprünglichen Rollenverteilung. Bei Kleist ist es Penthesilea, die Achilles tötet. Und zu spät erkennt, was sie getan hat. Was wäre, wenn beide eine zweite Chance hätten? Eine Inszenierung, geboren aus diesem Gedanken. Eine Untersuchung: Wo, an welchem Punkt, ist es schiefgegangen? Und was wäre, wenn Penthesilea und Achilles noch mal neu anfangen könnten. Könnten sie das, wenn sich der Tod rückgängig machen ließe, wenn sie noch mal zurückspulen könnten? Oder zumindest noch einmal zurück­ blicken, gemeinsam, in Liebe, im Tod. Johan Simons’ Inszenierung beginnt im Elysium, im dunklen Gedankenraum

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zweier sich umtanzender Stimmen und Körper, und sie kehrt am Ende dorthin zurück. Als ewiger, kosmologischer Kreislauf von Eros und Thanatos. Für die Salzburger Festspiele entsteht im Sommer 2018 in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum eine Neuinszenierung von Heinrich von Kleists Trauerspiel „Penthesilea“, die später mit hymnischen Rezensionen überschüttet werden wird, die Sandra Hüller den Titel „Schauspielerin des Jahres“ einbringt und die ein namhafter Kritiker gar zur „Inszenierung des Jahrzehnts“ kürt. Woran im Sommer 2018 natürlich nicht zu denken ist. Im Sommer 2018 gibt es vor allem Zweifel (wie bei jedem guten künstlerischen Prozess), zwar eine Grundidee, von der alle Beteiligten überzeugt sind, aber eben auch Ungewissheit, worauf wir uns da eigentlich eingelassen haben. Mir fällt bei diesem Unterfangen die Dramaturgie und Stückbearbeitung zu. Hat man sich mit Johan Simons – nach durchaus gründlicher Überlegung – auf eine künstlerische Reise begeben, fangen die Fragen erst an. Viele Fragen, was dieses und jenes denn im Einzelnen, im Konkreten bedeutet. Denn ­ ­Johan Simons ist ein Regisseur des Konkreten. Einer, der stets wissen will: Warum ist das jetzt so? Warum sagt sie das, warum macht er das? Wochenlang dreht und wendet er diese Punkte. Und wenn Johan Simons denkt, dass alle vom Gleichen ausgehen, folgen die inszenatorischen Fragen: Wenn er das also macht, weil … – müsste er dann nicht zum Beispiel dort sitzen statt hier!? Und wenn sie denkt, dass … – müsste sie dann nicht vielleicht so etwas tun wie …!? Mit Johan Simons zu proben, ist immer eine Ent­ deckungs- und Ergründungsreise. Eigentlich zutiefst psychologisch. Nur, dass ihn als Künstler psychologischer Rea-

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lismus nicht interessiert. Das ist seine Kunst: aus klaren Gedanken und Haltungen eigene Bilder, Konstellationen von Menschen, von Körpern und Bewegungen zu kreieren. Im Nachhinein wirken sie manchmal verblüffend einfach. Aber eben auch verdammt gut. Scheinbar intuitiv. Nein, wirklich intuitiv. Weil Johan Simons es schafft, all das, was am Ende eine Inszenierung „ausmacht“, aus den Spieler:innen heraus zu motivieren, in ihnen zu motivieren. Dafür muss er auch manipulieren. Darin ist er ein alter, weiser Lausbub (ein besseres Wort fällt mir tatsächlich nicht ein). Einer, der sich hinter Naivität auch versteckt. Manchmal wirklich nicht weiß, was gerade Sache ist. Und es manchmal nur vorgibt. Und die, die mit ihm spielen, wissen das letztlich alle insgeheim. Aber sie wissen eben auch, dass sie ihm vertrauen können. Seinem Geschmack (einer von Johan Simons‘ oft zitierten Grundsätzen lautet: „Über Geschmack kann man nicht nur streiten, man muss es!“). Sie können ihm vertrauen, dass seine rhetorischen Fragen auf der Probe letztlich Einladungen sind. Ein Repertoire von Möglichkeiten. Liebevoll und kritisch zugleich. Von außen betrachtet, begleitet, geleitet. Johan Simons vertraut auch. Seinem Instinkt. Und ausgewählten anderen Personen. Sandra Hüller ist eine seiner wichtigsten künstlerischen Vertrauenspersonen. Jens Harzer trat einiger Jahre später in den Simons’schen Kosmos ein, aber auch ihm vertraut Johan Simons – auf ganz andere Weise als Sandra Hüller. Das gehört auch zu Johan Simons’ Stärken. Nicht festgelegt zu sein auf einen Stil, auf eine künstlerische Ideologie. Nur so hat er sich bis hierhin, in dieses Alter, an diesen Punkt seiner „Karriere“, innerlich jung – und damit künstlerisch immer zeitgenössisch – halten können. Aus diesem Vertrauen war auch die Idee geboren, das überbordende Kleist’sche Trauerspiel „Penthesilea“ mit all seinen ausbuchstabierten Schlachtengemälden, mit den gewaltigen Truppenbewegungen in den Armeelagern von Griechen und Amazonen, mit seinen Elefanten und Pferden und Hunden, die der Autor auf den Plan ruft, und schließlich mit dem unvorstellbaren Rauschmord Penthesileas an Achilles, den sie mit eigenen Zähnen zerfleischt, all das mit nur zwei Schauspieler:innen aufführen zu wollen. Es hatte schon Inszenierungen gegeben, die das handelnde Personal auf drei Figuren runtergekürzt hatten. Sodass Penthesilea und Achilles immerhin noch jeweils einen anderen Menschen als Dialogpartner:in zur Seite hatten für die Gespräche, die die andere Partei eigentlich nicht hört, von denen sie nichts weiß. Aber wir suchten einen Stoff für nur zwei Spieler:innen: Sandra Hüller und Jens Harzer. So war es mein Part zu prüfen, ob das wirklich machbar war mit diesem Stück. Und tatsächlich taten sich bereits in einer ersten Skizze, in wenigen Tagen schnell am Computer gebaut, ganz neue, aber sinnfällige Konstellationen, Bezüge, Bedeutungen auf. Ich berichtete Johan Simons davon, und aus dem Vertrauen in sein Team und seine zwei Schauspieler:innen entstand das

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gemeinsame Konzept. Ein Vorhaben, so verlockend wie fordernd. Tatsächlich hat Heinrich von Kleist 1808 ja trotz des „ganzen Schreckenspomp des Kriegs“ kein Stück über den Trojanischen Krieg verfasst. Er verfasste ein Drama um zwei Menschen, die mit sich und miteinander einen Kampf ausfechten. Die kriegerische Rahmung ist dabei die Spiegelung ihrer inneren Verfasstheit. Das Schlachtfeld sei laut Kleist die „Scene“, aber das Schlachtfeld ist vor allem in den Sehnen und Muskeln, in allen Fasern dieser beiden Menschen spürbar. Angriff, Verteidigung. Tricks und Täuschung. Glorie und Hybris. Verzweiflung, Verhandlung, Impuls und Strategie. Rache und Frieden. Liebe und Kampf: Sie prallen in diesem Stück „prasselnd“ aufeinander. Sie werden verkörpert durch zwei exzeptionelle Krieger:innen – und wenig bis gar nicht erfahrene Liebende. Achilles ist der berühmte Feldherr und Griechenkönig. Wenn das Stück einsetzt, ist er schon eine lebende Legende. Penthesilea wiederum, die Königin der Amazonen, kennt ihrerseits nichts als die Welt des Kriegs, der ganze Frauenstaat der Amazonen beruht auf Waffenrecht und Kriegsgesetz und pflanzt sich nur durch der Männer Samen fort, die die Amazonen sich in der Schlacht gewinnen. Und diese beiden erfahren nun plötzlich eine neue Welt für sich. Ein neues Gefühl, das sie nicht recht begreifen (oder meinen, es zu begreifen, und sich darin aber tragisch täuschen). Achilles rühmt sich zwar, in einem Anflug von Machismo, „im Leben keiner Schönen“ spröd, sondern „zu Willen jeder“ gern gewesen zu sein. Aber selbst wenn er dieser Weiberheld und Schürzenjäger ist (und er sich nicht bloß der Rhetorik eines konventionellen Männlichkeitsbildes bedient) – ist das dann Liebe? Und Penthesilea: Sie ist jünger, Jungfrau im wahrsten Sinn des Wortes, hat das Hochzeitsrosenfest der Amazonen mit den besiegten Samenspendern bislang nie aus eigener Erfahrung miterlebt und wird in die Schlacht geschickt von ihrer eigenen Mutter, um jenen sagenhaften Peleïden zu gewinnen – in den sie sich tatsächlich verliebt, als sie ihm leibhaftig begegnet: „Geblendet stand ich von der Erscheinung da –“. Ganz so wie er: „Was für ein Blick traf mich!“ Später werden sie beschrieben wie „zwei Sterne“, die aufeinander einschmettern, zwei Kometen, zwei Welten – immer: zwei. Doch wer sind sie? Was denken und fühlen sie? Was tun sie, wenn rings um sie die Welt verschwindet – wie es im Kampf und in der Liebe nun mal ist? „Für den Verliebten hört die Welt auf zu existieren“, z­ itiert der ungarische Essayist und Kleist-Kenner László F. Földényi den spanischen Philosophen José Ortega y Gasset und fügt selbst hinzu, „das können wir aber damit ergänzen, dass auch für die Welt der Verliebte nicht existiert.“ Das heißt: Achilles und Penthesilea lösen sich heraus aus dem Weltzusammenhang. Darum geht es Kleist. Natürlich gibt es sie noch, die Außenwelt: das Griechenheer, das Amazonenheer. Aber sie sind Stellvertreter:innen einer gesellschaftlichen Ordnung, die Achilles und Penthesilea überwinden wollen. Die sie überwinden sollen – im Auf-


trag ihres Autors. Jene Regeln und Normen werden von Achilles und Penthesilea gesprengt. Sie suchen eine neue (Lebens-)Form für sich. Sie sind dabei auch ganz bei sich. Sie gehen von sich aus. Blenden – wenn alle Ratschläge, Warnungen, Nachfragen ausdiskutiert sind – die Anderen aus. Was für sie zählt, ist: ich. Das Ich, das wünscht, ein neues Ich zu formen. Und ein neues Wir. Ein „ich und du“. Das ist das Radikale an diesem seit Goethe als unspielbar verrufenen Stück: die radikale Individualität, die radikale Subjektivität. In unserer Inszenierungskonzeption, die die Texte umverteilt, die Kommentare, Fragen, Antworten fremder Figuren Penthesilea und Achilles in den Mund legt, hallen die Argumente der Außenwelt in den Stimmen nach wie Echos einer fremden Welt. Sie sind nicht mehr physisch präsent, die Griechen Odysseus, Diomedes, Antilochus, die Amazonen Prothoe, Meroe und die Oberpriesterin, diese zentralen Figuren des Außen: Von ihnen finden sich noch Gedanken in den beiden Protagonist:innen; aber diese streben weiter. Denn jeder Dialog mit einem Anderen führt im Leben letztlich zu einem Dialog mit einem selbst, dem Zwiegespräch mit Ich und Über-Ich. Äußere Konflikte hinterlassen Spuren im Inneren. Dieses Innere ist das Schlachtfeld, das sich in unserer Inszenierung zeigen sollte. Zu den gesellschaftlichen Normen und Rollen, mit denen Achilles und Penthesilea in Konflikt geraten, zählen auch Geschlechterrollen. Identitäten – die sie in diesem Stück aufzulösen versuchen. Immer wieder diskutieren wir auf den Proben darüber, welchen Role Models Achilles und Penthesilea entsprechen? Ein Mann, der darauf trainiert ist, sich die Frau im Leben, mehr oder weniger, zu unterwerfen. Dagegen eine Frau, die nach dem Gesetz der Amazonen einen Mann nur für sich gewinnen kann, wenn sie auf dem Schlachtfeld gegen ihn gewonnen hat. Wenn es in der deutschen Sprache die Doppeldeutigkeit des Worts „Eroberung“ nicht gäbe, allein für dieses Drama „Penthesilea“ müsste man sie erfinden. Was Kleist aber interessiert, ist, wie dehnbar diese Rollenbilder sind. Und ebensolche Fra-

gen sollen in unserer Zweier-Konzeption hervortreten. In einer Inszenierung der zwei. Wer ist hier Mann, Macho, Frau, Freibeuterin? Klare Antworten gibt es von Kleist nicht. Stattdessen Paradoxien, ein Kaleidoskop von Möglichkeiten. In ihrer Konzentration auf die zwei entscheidenden Figuren will Johan Simons ­diese Denkarten durchspielen. „Inszenierung der zwei“ bedeutet auch, dass Achilles und Penthesilea immer wieder damit konfrontiert sind, ihr Ich gegenüber der/dem Anderen zu formulieren und zu repräsentieren. Mal gesellschaftskonform, dann wieder nicht, mal im Einklang mit sich, dann sich selbst unbegreiflich. Ein Wechselspiel und Spiel der Wechsel. Johan Simons fasst es während der Proben einmal zusammen: „Das Spiel und die Inszenierung dürfen nicht berechenbar sein, etwa durch eine bestimmte, festgelegte Atmosphäre. Das ist nicht Kleist. Das ist nicht ,Penthesilea‘. Hier herrscht eben noch Harmonie und plötzlich größter Streit. Es gibt keine Sicherheiten.“ Darin spiegelt sich die Moderne. Und ganz sicher auch die Erkenntnis eines erfahrenen Theaterregisseurs und Menschen. Auch das lernt man schnell, wenn man mit Johan Simons zusammenarbeitet: Ist man sich noch so sicher, weil man vielleicht schon tage-, manchmal wochenlang eine Szene gelesen, besprochen, geprobt hat – kann es doch sein, dass er am nächsten Tag mit einem „Ja, aber, darf ich noch mal: Warum ist das eigentlich so? Ich frage nur …“ alles aufs Neue in Bewegung bringt. Keine Sicherheiten. Das bedeutet auch: keine falschen Verabredungen. Im Zweifelsfall die Frage „Warum ist das eigentlich so?“ mit auf die Bühne nehmen, mit in den Moment des Spiels. Wach bleiben. Durchlässig. Fragil. Ich persönlich habe weder vorher noch nachher Proben miterlebt, die ähnlich fragil waren wie dieser Prozess bei „Penthesilea“. Intensiv fragil. Als bewegten sich die Spieler:innen und wir ständig auf Messers Schneide. Zwischen „Tod und Leben“, wie es im Stück heißt. Ein falscher Tritt,

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eine unbedachte Haltung, schon kann die Situation in bloße Rhetorik abrutschen. Der Tod des Theaters. Was natürlich niemand von uns will. Unsere Konzeption verstärkt die Gefahr, aber auch die Chancen, indem sie den Fokus auf Sprache als Konstruktion von Wirklichkeit legt. Vom großen Moment scheinbarer Liebe und scheinbaren Friedens, wenn Achilles Penthesilea fälschlich glauben lässt, von ihr besiegt worden zu sein, bis hin zur Teichoskopie des tragischen Todeskampfes. „Penthesilea“ ist, wie kein anderes Stück, ein Drama der Sprache. Jedes Wort kann schon wieder etwas völlig Neues bedeuten – und bewirken. Alles Gedachte und Gesprochene ist Material in den Händen von Menschen. Indem sich Penthesilea und Achilles bei uns Textpassagen anderer leihen, um ihr Leben zu beleuchten, entsteht daraus ein besonders großer Dialog. Und das ist nicht nur eine formale Anmerkung, sondern auch ein politischer Vorgang. Dialog als der Versuch von Verständigung. Schon in den Monaten der Vorbereitung kokettiert ­Johan Simons damit, dass Kleists Sprache für ihn letztlich wie Chinesisch sei. Tage verbringen wir damit, Zeile für Zeile durchzugehen, zu analysieren, zu erklären. Eben: Warum ist das so? Warum sagt sie das, warum macht er das? Soweit sich das bei Kleist wirklich (er)klären lässt. Wir treffen uns zu zweit in Johan Simons‘ Garten im niederländischen Varik, die Sonne scheint, während wir uns die Truppenbewegungen auf dem trojanischen Schlachtfeld vergegenwärtigen. Wir treffen uns zu viert mit den beiden Schauspieler:innen auf einer Probebühne in Hamburg für eine erste Testlesung. Der Bühnenbildner Johannes Schütz, die Kostümbildnerin Nina von Mechow kommen dazu. Wir sitzen zusammen und lesen, fragen, suchen. Ich gehe zurück an den Schreibtisch im winterlichen Bochum, ändere, überdenke, finde neue Fährten. Und wieder treffen wir uns für eine weitere Leserunde. Wir gönnen uns eine geradezu luxuriös lange Vorbereitungszeit. Deshalb glaube ich auch irrtümlich, die Wege durch unser selbst gewähltes Zweier-Konstrukt wären weitestgehend klar, als wir im Juni 2018 schließlich mit den Proben beginnen. Doch dann sitzen wir weiterhin wochenlang am Tisch. Wie das bei Johan Simons eben so ist. Lesen die „finale“ Fassung. Vergleichen weiter mit dem Original. Hinter jedem Vers habe ich notiert, an welcher Stelle welche Figur den Satz bei Kleist spricht. Wir ändern, öffnen Striche, streiten um einzelne Worte, um Mansplaining und Women’s Rights. Wir sprechen über Frauen- und Männerrollen. Über gesellschaftliche Normen und Erwartungshaltungen. Über Beziehungen. Sehr persönliche Erfahrungen. Über Liebe. Und Tod. Verlust. Angst. Angst vor Verletzung. Auch in der Liebe. Insbesondere in der Liebe. Wir debattieren letztlich bis zur Premiere. Johan Simons lässt es zu. Weil er weiß, dass anders sowieso kein tragfähiges Fundament entsteht. Die Tage und Wochen auf der Bühne, in denen alles Szenische zusammengefügt, überprüft, mit den technischen Gewerken zusammen ein­

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studiert wird – sie sind bis zuletzt offen für grundsätzliche Fragen, für Zweifel, auch Unwille. „Ist das gut? Ist das gut?“ Die typischen Selbstvergewisserungsfragen, die Johan ­Simons während einer Probe einem halb flüsternd, halb fauchend entgegenschmettert, kennen vermutlich alle Dramaturg:in­nen, die mal mit ihm zusammengearbeitet haben. Und wehe, du hebst oder senkst dann nicht binnen Sekunden den Daumen, sondern beanspruchst selbst ­etwas Bedenkzeit für dich. Aber der Rauch ist schnell verflogen. Viel wichtiger ist es zu spüren, was es den beiden Schauspieler:innen abverlangt, zwei Stunden als Penthesilea und Achilles all das miteinander zu verhandeln, was Kleist ihnen, was wir ihnen in unserer Inszenierung aufge­ laden haben. Das geht an Sandra Hüller und Jens Harzer keineswegs spurlos vorüber. Immer wieder laufen Johan Simons und ich aus den Zuschauerreihen im Salzburger Landestheater nach vorn zur Bühne, streifen uns die Schuhe ab, weil die mit Samt ausgelegte Bühne nur mit Strümpfen betreten werden darf, und setzen uns zu Sandra Hüller und Jens Harzer, um im vertrauensvollen Gespräch zu Lösungen zu kommen – oder das Hadern ins Spiel zu integrieren. Als wir die Inszenierung Jahre später absetzen, wird Sandra Hüller mir schreiben: „Ganz viele Bilder aus Salzburg sind bei mir gespeichert. Auch, wie ihr immer in Socken auf die Bühne kamt ...“ Auf leisen Sohlen umschleicht der Tod Johan Simons. ­Darauf weist er selbst oft hin. In dieser Inszenierung soll der Tod nicht gewinnen. Wir entscheiden uns, den finalen Kampf von Achilles und Penthesilea zweimal hintereinander zu spielen. Bei Kleist wird der Mord als Mauerschau beschrieben. Bei uns ist er lustvolle, leidvolle Erinnerung zweier Liebender. Erst führt Penthesilea die Szene, den treibenden Bericht vom Schlachtfeld, spricht sie die letzten Worte: „Verzeihst du mir?“ Dann rennen beide zurück in die Tiefe des Bühnenweltraums, nehmen erneut Anlauf, versuchen es erneut, mit getauschtem Text, sodass schließlich sie ihm auf jene Frage antworten kann: „Von ganzem Herzen.“ Niemand trägt hier „Schuld“, beide sind Täter und Opfer. Sie halten sich eng umschlungen, klammern sich aneinander. Bisse? Küsse! Und kein Tod, der sie scheidet. Zumindest für einen kurzen Moment der Stille. Der Hoffnung. Die natürlich stirbt. Penthesileas Wahn wird zu markerschütternder Wut wider Achilles: „Wie kam es denn, dass er sich nicht gewehrt?“ – „Er liebte dich!“ – „Er liebte dich!“ Pah. Erschöpft, aber nicht geschlagen, schleichen beide zum Schluss zurück in die dunkle Nacht. Sie küssen sich, heißt: Sie küsst ihn, der hier kein Leichnam ist. „Jetzt sag ich dir deutlich, wie ich’s meinte: Dies, du Geliebter, war’s und weiter nichts.“ Und schon springt sie weg wie ein Kind. Flirt und Fanal. Ein feiner Lichtstreif am Boden von Johannes Schütz‘ schwarzer Bühnenbox glimmt auf, als Penthesilea und Achilles einander wie zu Beginn umschwärmen: „Wer bist du, wundersames Weib?“ „Du wirst es schon erfahren –“


Johan Simons gönnt ihnen in dieser Inszenierung die ­Chance auf einen Neuanfang. Jeden Abend, jede Nacht. Bei ihm finden sich Penthesilea und Achilles in einem ewigen Kreislauf wieder, einem Kreislauf der Worte. Ob nun im Limbus oder Elysium, in Unterwelt oder Paradies, diese zwei beginnen stetig von vorn, durchleben alles immer wieder. „Es ruft die Schlacht noch einmal mich ins Feld“, sagt Penthesilea einmal. „Doch weiter“, verlangt von ihr Achilles. Ewiger Krieg – oder ewiger Frieden? Das wäre was, wenn es zwischen Liebenden irgendwann ohne Kampf abgehen könnte. „Man kann schon hinterfragen“, bemerkt Sandra Hüller bei den Proben, „ob man als Zuschauer:in auch in das Stück geht, um diese ganze Gewalt zu erleben. Wäre man dann enttäuscht, wenn es gar keinen Krieg gäbe zwischen Penthesilea und Achilles? Und wenn ja: Warum wäre man darüber enttäuscht?“ Sandra Hüller, Jens Harzer und Johan Simons weigern den Krieg. Aber sie scheuen nicht den Konflikt. „Es ist ein Stück“, sagt Johan Simons, „das nicht nur unspielbar – sondern das auch nicht zu leben ist. Dieser Konflikt zwischen Achilles und Penthesilea, er ist letztlich nie ganz zu lösen. Und das macht das Stück so modern.“ Indem Johan Simons Penthesilea und Achilles den Tod verweigert, verweigert er ihnen die Endlichkeit. Er löst die starren Grenzen des Lebens auf – weil die Kunst es kann. Er löst seine Figuren auch aus den starren Grenzen der sozialen Geschlechtlichkeit – weil es vielleicht ein Modell für das Leben ist. Penthesileas maskuline Seite, Achilles‘ feminine Sehnsucht: Sie fließen ineinander, sie verschmelzen wie die vermeintlichen Grenzen von Ich und Du. Ein Aspekt, der Jens Harzer im Prozess immer wieder interessiert hat: „Können wir nur lieben, indem wir unsere eigenen inneren Vorzeichen so umkehren, dass sie zu dem Anderen passen? Der Andere beschreibt uns bis zur eigenen Unkenntlichkeit?“ Und wer wäre dazu bereit? Und was brächte es, wenn wir meist nicht nur den Anderen, sondern offensichtlich schon uns selbst nicht richtig kennen? „Wer bist du?“, fragt Achilles. „Bist das du?“, erkundigt sich Penthesilea. Das Leitmotiv des Stücks. Und dazwischen immer die Frage: Wer bin ich? Und wer will ich wirklich sein? Im Verlauf der Proben wird mir klar, wie viel von Johan Simons in diesem existenziellen Kampf „auf Tod und Leben“ und Liebe steckt, den er hier mit Kleist ausfechten lässt. Am Vormittag der Premiere sitzen wir alle ein letztes Mal auf dem weichen Samtboden der Bühne, in Socken oder barfuß, der Regisseur, die Spieler:innen, die Regieassistentin, der Hospitant, der Dramaturg. Das helle Arbeitslicht ist ­wenig schmeichelhaft, aber ehrlich. Letzte Worte werden gesprochen, resümierende Worte, offenherzig berührende Worte, motivierende Worte. Ich finde, es fühlt sich nach diesen innigen, seelenentblößenden, wunden und wunderbaren Wochen selbst wie ein kleiner Tod an, dieser unvergleichliche Moment, wenn das Eine, die Proben, endet und das Andere, die Vorstellungen, noch nicht begonnen hat. Probenzeit, Theaterzeit ist Lebenszeit. Bei kaum einem ­Regisseur wird einem das so unmittelbar deutlich wie bei Johan Simons.

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schauspiel essen Neues Deutsches Theater – under construction premieren

09. 09. 2023

Doktormutter Faust (UA)

25. 11. 2023

Nessun Dorma

von Fatma Aydemir Regie Selen Kara Auftragswerk

Ein musikalischer Liebesdiskurs für zwei Roboter von Elsa-Sophie Jach, Thea Hoffmann-Axthelm, Markus Schubert und Sebastian Arnd

16. 09. 2023

21. 01. 2024

Der gute Mensch von Sezuan – Die Ware Liebe von Bertolt Brecht Regie Sapir Heller

23. 09. 2023

Rausch (DSE)

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non-existent (UA)

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nach dem Film von Thomas Vinterberg Regie Armin Petras

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30. 09. 2023

Showtime

Eine Performance von Trio ACE Regie Alia Luque

(ein enttäuschender Abend) von Felix Krakau

13. 04. 2024

Regie Felix Krakau

Star-Crossed Lovers

21.10. 2023

Die große Wörterfabrik

nach Agnès de Lestrade Regie Sanja Frühwald

04. 11. 2023

(Making) Woyzeck nach Georg Büchner Regie Caner Akdeniz

12. 11. 2023

Die rote Zora und ihre Bande von John von Düffel nach Kurt Held Regie Selen Kara

Romeo und Julia in Katernberg mit Texten von Essener Jugendlichen, Akın E. Şipal und William Shakespeare Regie Frank Abt

24. 05. 2024

Stadtmusikanten

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Juni 2024

Mein Blutbuch

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Bisse, Küsse

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Jens Harzer und Sandra Hüller in „Penthesilea“ von Heinrich von Kleist am Schauspielhaus Bochum, Bearbeitung von Vasco Boenisch, Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Premiere November 2018, Ko-Produktion mit den Salzburger Festspielen Fotos Monika Rittershaus

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Polyphonie oder Esperanto Das europäische Theater der Umbildung des Johan Simons

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in Theater der Umbildung. Mit diesem von Brecht für sein Berliner En1 Vgl. Bertolt Brecht: [Ausführungen vor der Sektion Dramatik zum IV. Deutschen Schriftsemble geprägten Begriff1 könnte man auch das Theater des Johann stellerkongress], in: Werner Hecht / Jan Knopf / Werner Mittenzwei / Klaus-Detlef Müller (Hrsg.) Simons bezeichnen. Es kann beispielhaft stehen für ein Theater, das sich in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentieraus der Tradition des in Stadt, Staat oder Nation verankerten Theaters te Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23, Berlin / Frankfurt a. M. 1993, S. 365–374, hier herauslöst, ohne dieses einfach hinter sich zu lassen. Als dezidiert euroS. 374; (im Folgenden mit Sigle GBFA plus päisches Theater entwickelt es sich parallel zu einem Nachdenken der Band und Seitenzahl angegeben) vgl. ders.: [Zum Deutschen Schriftstellerkongress, JaPhilosophen über Europa, das seinen Ausgang nimmt vom Enden der Genuar 1956], GBFA 23, 376 f., hier S. 377. 2 schichte – zumindest jener Geschichtsphilosophie, die Europa als In2 Vgl. Verf.: „Theater der Potentialität. Zum ­Enden der Geschichte im Theater der 90erbegriff einer archeoteleologischen Erfolgsgeschichte begriffen hat.3 GeJahre“, in: Joachim Fiebach (Hrsg.): Theater nau deshalb aber kann es nach der Zukunft des mit dem Namen „Europa“ der Welt. Theater der Zeit. Arbeitsbuch Theater der Zeit. Berlin 1999, S. 69–74. gegebenen Versprechens anders neu fragen. Simons wiederholtes Be3 Vgl. Francis Fukuyama: „Das Ende der Gekenntnis zu Europa bzw. zum europäischen „Versprechen“, so die Hyposchichte. Wo stehen wir?“ München 1992; these dieses Aufsatzes, prägt unübersehbar den Stil der Inszenierungen, Lutz Niethammer: „Posthistoire“. Hamburg 1989; Francois Lyotard: „Das postmoderne die er zunächst mit seiner eigenen Gruppe Hollandia, später vor allem im Wissen“. Graz und Wien 1986; Hayden White: „Meta­history. Die historische Einbildungskraft Rahmen deutschsprachiger großer Stadt- und Staatstheater auf die im 19. Jahrhundert in Europa“. Frankfurt Bühne bringt. Das soll im zweiten Teil exemplarisch an vier Arbeiten a. M.1994; Paul de Man: „Blindness and Insight“. Minneapolis, London 1983; ders.: ­gezeigt werden, die auf der Bühne an der Dekonstruktion der seit dem „Aesthetic Ideology “. Minneapolis, London 18. Jahrhundert in Deutschland dominanten Theaterform arbeiten – und 1996 dies unter dem Vorzeichen von dessen Öffnung. Doch das Bekenntnis zu Europa prägt auch die Neuausrichtung der von ihm geleiteten Häuser in München und Bochum. Theater der Umbildung: In Brechts Fall betraf dies eine Institution und ihre Spiel- und Organisationsweisen, die von zwölf Jahren des Nationalsozialismus ruiniert worVgl. Bertolt Brecht: [Einige Bemerkungen den war;4 in Simons Fall betrifft es ein Theater, das heute vielerorts als über mein Fach], GBFA 23, S. 150–152; am Fabrik und Museum eine überkommene Auffassung der Institution wie Rande sei vermerkt, dass Brechts explizite Kritik der „Göringtheater“, wie man aus seider Kunst konserviert.5 Hier wie da wurde und wird die alte Institution nerzeit unveröffentlichten parallel verfassnicht einfach aufgegeben, aber sie wird einer Um- und Neubildung ten Texten zur sogenannten „Formalismus“Debatte schließen kann, implizit auch eine unterzogen, Stück für Stück ab- und umgebaut. Was der Blick auf der von Moskau bestimmten Theaterpolitik ­Simons Umgang mit Sprache und Spiel auf der Bühne dabei zutage beder DDR und ihrer Privilegierung eines von Stanislawski her definierten „Realismus“ war. fördert, ist nicht weniger als eine Revolution, die den Kern der Institution Vgl.Verf.:. „Wie denkt Theater? Zur Politik der des Sprechtheaters betrifft, zumindest des deutschsprachigen, das Darstellung nach dem Fall.“ In: Artur Pelka u. Stefan Tigges (Hrsg.): Das Drama nach dem Sprechen selbst. Dem korrespondierend werden unter dem Vorzeichen Drama. Verwandlungen dramatischer Formen der Europäisierung der Institution wie ihrer Kunst Theaterformen neu in Deutschland seit 1945, Bielefeld 2011, S. 357–372; ders.: „Deutsche Theaterlandaufgewertet, die ihr vorausgingen, und mit Darstellungsformen verbunschaft. Welterbe und Zankapfel.“ Goethe-­ Institut-Homepage, https://www.goethe.de/ den, die, historisch betrachtet, auf sie folgten. Simons kann so einerseits de/kul/tut/gen/tup/20971371.html, abgrufen beispielhaft stehen für eine Generation, welche die eigene Sprache in im Mai 2017.

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radikaler Absetzung vom bestehenden Theater und dessen System entwickelte, und dies in seinem Fall, wie in dem vieler ihm verwandter Zeitgenossen von den Rändern her, mit der Kraft der Dörfer und Provinzen. Andererseits unterscheidet er sich aber von dieser Generation durch seinen Gang durch die Institutionen in den Zentren. Dieser Gang hat am Ende die Theaterinstitutionen im gleichen Maß verändert wie die künstlerische Arbeit, die sich in sie hineinbegeben hat.

I. Theater der Umbildung - Genealogie eines europäischen Theaterschaffens (1) Ein Europäer aus Heerjansdam Der Regisseur Johan Simons ist eine Ausnahmeerscheinung in der Theaterszene Europas und vielleicht gerade deshalb europäischer als die meisten anderen Künstler:innen seiner Zeit: Ein Künstler, der aus einem kleinen Land kommt, aus den Niederlanden, den man deshalb jedoch nicht wirklich einen niederländischen Künstler wird nennen dürfen, denn er ist mehr und weniger als das. Er kommt aus der Provinz Süd-Holland dieses kleinen Landes, aus einem Dorf, aus Heerjansdam. Und er arbeitet als Künstler zugleich in einer Tradition, die sich so wenig auf die Niederlande, Belgien und Deutschland reduzieren lässt, die Länder, in denen er über längere Zeit gearbeitet hat, wie sie einfach als europäisch gelabelt werden kann. Sein Theater ist, darf man denen glauben, die es von früh an verfolgen konnten, zu keinem Zeitpunkt repräsentativ gewesen für eine Stadt, ein Land oder eine Nation. Doch es war, wie er selbst es formuliert, stets geprägt 6 Johan Simons: „Hinterm Horizont geht’s weidadurch, dass er „ein Dorfmensch und gleichzeitig immer auf der Suche“6 ter“, in: Reden für die Ruhrtirennale 2015 + 2016 war. In einer Rede für die von ihm drei Jahre lang geleitete Ruhrtriennale + 2017, hrsg. von Ruhrtriiiennale. Festival der Künste, o. O. 2017, S. 49–61, hier S. 49. sagte er: „Ich verstehe mich als europäischer Theaterregisseur. Ich 7 Ebd. S. 56. möchte grenzüberschreitend arbeiten, nicht nur ästhetisch in der Kom8 Vgl. den Text, den Johan Simons auf dem bination unterschiedlicher Kunstgattungen wie Schauspiel, Musik oder Programmflyer der Ruhrtriennale 2016 veröffentlicht, die unter dem Motto der „BrüderBildender Kunst, sondern auch kulturell.“7 Immer wieder ist Europa für ihn lichkeit“ stand. ein Thema: in seinen Reden, Briefen und Geleitworten: „Europa ist ein 9 Vgl. Premio Europa per il teatro. Taormina Versprechen, ein großartiges“8, liest man da etwa. Seiner Truppe HollanArte. 6.–9. April 2000. 10 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Johan_Simons dia wird im Jahr 2000 der Europa-Preis verliehen.9 Ein europäisches #cite_ref-11, zuletzt abgerufen am 1. Mai Stadttheater ist es, was er in München, in der Zeit seiner Intendanz an 2021. den Kammerspielen, vor Augen hat. 2014 wird ihm für seine „herausragenden Verdienste um das europäische Theater“, für „ein Theater, das über Grenzen – Sprachgrenzen, Landesgrenzen, Genregrenzen – springt“, wie es in der Laudatio heißt, der Berliner Theaterpreis verliehen.10 Und mit der als „szenischer Essay“ angekündigten, programmatisch zu nennenden Arbeit „Fort Europa. Hohelied der Zersplitterung“, der letzten Produktion des aus Hollandia und Het Zuidelijk Toneel hervorgegangenen Ensembles ZT Hollandia, endet im Sommer 2005 seine Zeit als unabhängig mit einer eigenen Gruppe produzierender Theatermacher. Es beginnt sein Gang durch die städtischen und staatlichen Institutionen, der ihn nach Gent, München, zur Ruhrtriennale und nach Bochum führen wird. Auch wenn Simons sich immer wieder als Europäer bezeichnet, seine Karriere schon ganz oberflächlich betrachtet eine europäische ist und er, wie wenige andere, dafür mit Preisen bedacht und geehrt wurde, bedarf die Bezeichnung seines Theaters als eines europäischen gleichwohl weiterer Erläuterung: Denn weder ist klar und eindeutig, was heute unter „Europa“ zu verstehen ist, noch gibt es für das, was ein europäisches Theater wäre, eine Definition, die derjenigen vergleichbar wäre, die sich für die traditionsreichen bürgerlichen und feudalen Stadt-, Staatsund Nationaltheater geben ließe – ganz abgesehen davon, dass eine solche Definition vermutlich für die unterschiedlichen Länder Europas ganz unterschiedlich aussehen würde – und noch unterschiedlicher, bezöge man regionale Differenzen innerhalb von 11 Eine Ausnahme stellt in diesem Zusammendiesen in den Bestimmungsversuch mit ein.11 Es bedarf hier also einer hang das Odeon. Théâtre de l’Europe in Paris doppelten Anstrengung des Begriffs: Es gilt zu erklären, was als Spezidar, das in seinem Namen den Bezug auf Europa trägt, allerdings ein französisches fikum Europas verstanden werden soll. Das wird im folgenden AbNationaltheater ist. schnitt versucht. Zunächst aber muss mit Blick auf das Besondere und vielleicht Singuläre der Arbeit von Simons an einem europäischen Theater mit in Betracht gezogen werden, worauf er verweist, wenn er sich, wie zitiert, als „Dorfmensch (…) auf der Suche“ bezeichnet.

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Die Hypothese, die Simons mit dieser Selbstcharakterisierung nahelegt, könnte lauten, dass etwas wie ein europäisches Theater vielleicht ganz allgemein nicht das Theater der Metropolen sein kann, nicht dasjenige also, das in Berlin, München, London, Paris, Kopenhagen, Oslo, Helsinki oder selbst der europäischsten der europäischen Großstädte, im vielsprachigen multikulturellen Brüssel, erfunden und gespielt worden ist, sondern viel eher dasjenige, das aus den Dörfern und Provinzstädten kommt: Aus Augsburg, Eppendorf, Anklam oder Sangerhausen in Deutschland, aus Quartiere Santo Stefano in Italien, aus Caens in Frankreich, aus Sheffield in Großbritannien, aus Bergen in Norwegen und aus unzählig vielen anderen Orten auf der Landkarte Europas, von wo es, vermittelt über einen Gang durch die Dörfer, Provinzen oder Vorstädte, irgendwann in die Zentren gelangt, wo es ‚entdeckt‘ wird, wie es dann in der Sprache der Scouts, Kurator:innen, Dramaturg:innen und Intendant:innen heißt, ohne doch jemals ganz in deren Definitionen, geprägt vom Jargon der Verkäuflichkeit, aufzugehen. Denn es ist Theater, das in seiner Spezifik, seiner Lokalität zu verstehen schon den Angehörigen des – mit Kafka gesprochen – Vgl. Franz Kafka: „Das nächste Dorf“, in: ders.: nächsten Dorfes12 kaum möglich ist, so lokal ist es in jedem Fall, so sinEin Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. gulär in der Spezifik seiner Verbundenheiten, seiner produktiven HinderFrankfurt a. M. 1994, S. 220 f. Die extrem komplexe kurze Parabel war Gegenstand einer nisse und lokalen Möglichkeiten, und es kann andererseits genau deshalb Deutungsdiskussion zwischen Walter Benjaüber das städtische, das staatliche und das Nationaltheater hinaus ein min und Bertolt Brecht in Svendborg. Theater Europas genannt werden. Es lässt Europa so als Namen für einen Vgl. zu einem Versuch, ein dieser Europa-­ Vorstellung korrespondierendes TheaterverPlural der Singularitäten erkennen, Singularität andererseits als Namen ständnis mit Blick auf das Theater von Jan Lauwers zu entwickeln: Verf.: „Singular plural für einen Plural schon im Dorf, in jeder einzelnen Gruppe, jedem Stil oder theatre“. In: European Journal of Theatre and jeder Spielart.13 Europa, das wäre für dieses von den Dörfern (aber auch Performance. Vol. 1, 2019. den Provinzen, Vorstädten und Stadtbezirken) her verstandene Theater Vgl. zu diesem Wortspiel mit Blick auf die Sprache: Jacques Derrida: „Mémoires pour nicht weniger und nicht mehr als der Name für das Kommen aus mehr als Paul de Man.“ Paris 1988, S. 38. einem Ort und von keinem Ort mehr (plus d’un village könnte man in einem idiomatischen Wortspiel im Französischen formulieren).14 Insofern stünde Europa dann aber auch für ein Versprechen der unauflösbaren Vielsprachigkeit und Dekolonisierung. - Und gleichwohl und davon untrennbar steht Europa, jedes Mal, wenn der Name fällt, auch für die Möglichkeit, dieses Versprechen zu brechen, es im Rückblick als bloßen Versprecher erkennbar werden zu lassen, als pure Sprachmaske oder leere Rede. Von daher dürfte heute jedes europäische Theater ein Theater zwischen den zwei Polen sein, die mit diesem Namen zugleich bezeichnet werden: Zwischen der irreduziblen Vielgestaltigkeit, vergleichbar den unzähligen Dialekten und Idiolekten, auf der einen Seite und der Drohung einer Vereinheitlichung auf kleinstem Nenner, zwischen Polyphonie und Esperanto. Das gilt es, in einem Exkurs zum Europa der Philosophen, weiter auszuführen. (2) Exkurs: Ein alter Name – das Europa der Philosophen Europa, das sei nichts als eine „paleonymische Bezeichnung“15, schreibt 1990, im Jahr nach dem Mauerfall, dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Kalten Kriegs, der französische Philosoph Jacques Derrida. Paleonymie: Ein alter Name oder Begriff wird übernommen, er wird ernst genommen, analysiert, untersucht, interpretiert, doch das, was mit ihm bezeichnet wurde, das, wofür er stand, der Referent, wie einige Linguisten sagen würden, wird demarkiert, anders neu geprägt: verschoben, redefiniert, modifiziert. Mit dem Vortrag „Das andere Kap. Erinnerungen, Antworten und Verantwortungen“ versucht Derrida eine Antwort auf die Frage zu geben, die ein Kolloquium unter dem Titel „Die Kulturelle Identität Europas“16 stellt. Der alte Name „Europa“, so Derrida, erinnere noch an ein Versprechen, doch müsse er heute in Anführungszeichen gesetzt werden. Das Versprechen selbst analysiert er dabei als ein paradoxes: Europa stand immer für die Ausrichtung auf ein Anderes hin und deshalb zugleich für eine Spaltung der mit diesem Namen vermeintlich behaupteten Identität, eine Spaltung in sich: „Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist.“17, brachte 15 Jacques Derrida: „Das andere Kap. Erinneer dies auf den Punkt. Europa kultiviere sich „in seiner eigenen Differungen, Antworten und Verantwortungen“, renz, die ein Mit-sich-Differieren ist, ein Von-sich-selber-sich–Unterin: ders.: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt a. M. scheiden, das bei sich selber bleibt, in der Nähe seiner selbst“18. Es habe 1992, S. 9–80, hier S. 26. sich immer „als eine Art ‚Kapitale‘ verstanden“, wobei er dabei mit der 16 Vgl. dazu ausführlich den Hinweis ebd. S. 9. Wortfamilie des lateinischen caput (Haupt) spielt, aus dem sich das 17 Ebd. S. 12. französische „cap“, die „vorgeschobene Spitze“ (Kap) oder auch die 18 Ebd. S. 23.

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„Kapitale“, das Zentrum, ableiten lässt.19 Das Eigene Europas liege im „faire cap“ – im Kurs nehmen auf 20– das heißt: im über sich Hinausgehen, Theodor W. Adorno, u. Max Horkheimer: „Diadarin, sich ein Ziel zu setzen. Mit dieser Zielsetzung unmittelbar verbunlektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.“ Frankfurt a. M. 1971. den sei die Ausrichtung auf ein anderes als das, was Europa ist. Damit Am Rande erwähnt sei hier speziell Heiner bezeichnet Derrida in nuce das Prinzip einer jeden Archeoteleologie, einer Müllers Bestrebung als Präsident der AkadeOrdnung also, die auf ein Ziel hin angelegt wird, das sie bereits von Anmie der Künste, eine europäische Künstlersozietät ins Leben zu rufen. fang an voraussetzt, d. h. ganz buchstäblich im Voraus setzt – und exakt Jean-Christophe Bailly: „Avant-propos“. In: dadurch potentiell vernichtet und verhindert. Er wirft also die Frage auf, Ders. u. Jean-Luc Nancy: „La comparution.“ Paris 2007, S. 11–25, hier S. 12. Der Text wurde wie dieses „Andere“ im Verhältnis zu Europa zu denken ist: Als Unterim April 1991 abgeschlossen, d. h. kurz nach drücktes, Beherrschtes unterm Vorzeichen von Kolonialisierung, Globa­ dem Erscheinen von Derridas Text „Das andere Kap“. lisierung und Vereinheitlichung, die mit seiner Ausbeutung und Aus­ Ebd. löschung einhergeht, oder aber vielmehr als alles Bestehende immer neu infragestellender Antrieb europäischer Aufklärung, als Frage nach universaler Gerechtigkeit, als Kritik an Patriarchat und Paternalismus, an Kolonialisierung und Eurozentrismus. Europa, so verdeutlicht Derrida, dabei aus einer deutschen Sicht dem sehr nahe kommend, was Adorno und Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“21 in den 1940er-Jahren formuliert haben, steht für beide Traditionen, für das „Kap“, doch zugleich auch für das „andere Kap“, das andere des Kaps oder das Kap des Anderen. Derridas Denken von Europa stand 1990 im Kontext einer größeren Zahl von Bestrebungen, der Gefahr eines Wiedererstarkens der Nationalismen zu begegnen und sich mit dem Vakuum, welches das allgemein proklamierte Ende des Kommunismus auf dem Gebiet des Politischen hinterlassen hatte, zu beschäftigen.22 Das Ziel alles politischen Denkens, so formulierte Jean-Christophe Bailly im gemeinsam mit Jean-Luc Nancy vorgelegten Buch „La Comparution“ („Das gemeinsame Erscheinen“) im Jahr 1991, war für die Generation Jean-Paul Sartres noch der Kommunismus als der „unüberschreitbare Horizont (seiner) Zeit“23. An diesem Ziel richtete sich mehr oder weniger alles politische Denken aus. Unter dessen Vorzeichen wurde die Gegenwart kritisiert. Allerdings wurde dieses Ziel, das „Kap“ (cap), auf das man zuhielt, wie Bailly sich ausdrückt, immer weiter hinausgeschoben, niemals erreicht. Nun aber, nach dem vielerorts konstatierten Ende oder „Tod des Kommunismus“ bzw. des „Marxismus“ stellte sich die Frage, was nach dem Wegfall dieses Kaps an dessen Stelle treten könnte.24 Zunächst einmal, so Bailly, gelte es das Gemeinsame des Gemeinwe25 Ebd. S. 16 ff. 26 Ebd. S. 21. sens als den Kern des Politischen neu zu denken.25 Dafür schlug er als ein 27 Ebd. Vgl. Ferdinand de Saussure: „Cours de Modell, das dem Menschen ohne sein Wissen primordial zur Verfügung linguistique générale.“ Paris, 5. Auflage, 1962, steht, dessen Langage vor, sein Sprachvermögen bzw. seine Sprech­ S. 25 f. und 112. 28 Bailly, S. 21 f. 29 Vgl. Jean-Luc Nancy: „La comparution.“, in: fähigkeit im allgemeinen.26 Mit diesem Begriff greift er einen von Bailly / Nancy: La comparution, S. 51–105, hier ­Ferdinand de Saussure in die französische Sprachwissenschaft aus dem S. 59. ders.: „Le partage des voix.“ Paris 1982. Deutschen eingeführte Unterscheidung auf: Saussure setzte der Spra30 Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: ders.: che als Langue (Struktur, System) und Parole (Sprechen, Akt, ArtikulaGesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1980, 27 tion) die Langage entgegengesetzt. Sie ist allen Sprachen gemein, also Band II, 1, S. 140–157, hier S. 145 u. S. 154. gleichsam deren geteilte Voraussetzung, jedoch in jeder anders. In dieser - gleichzeitig geteilten wie auch immer anderen - Differenz sieht Bailly ein Modell des Gemeinsamen ausgestellt. Die Langage artikuliert sich in jedem Sprechvorgang als dasjenige, was nicht vollkommen im Verständnis, in Sinn und Bedeutung, aufgeht. Sie ist das, so führt er aus, was sich verliert, wo von einer Sprache in die andere übersetzt wird. Von daher bleibt sie denen, die seit je in ihrer Sprache gesprochen haben und sprechen, unbekannt: Ihnen wird nicht bewusst, dass eben das, was jeden einzelnen von allen trennt, die je andere Differenz eines Sprechens in seiner Singularität, der Rest auf allen Ebenen, der den Sprechenden in seiner Eigenart erkennbar werden lässt, zugleich dasjenige ist, was ihn oder ihr mit allen verbindet.28 Das Sprachvermögen könnte man mit dem von Jean-Luc Nancy vorgeschlagenen Begriff als Teilbarkeit oder Mit-Teilung (Partage)29 bezeichnen und mit einem Begriff Walter Benjamins auch als die Mitteilbarkeit einer Sprache.30 Es artikuliert sich in jeder Sprache anders, konstituiert jede einzelne Sprache und jedes Sprechen und ist von daher allen Sprachen gemein, doch es ist zugleich in jeder Sprache und in jedem Sprechen immer auf singuläre Weise unterschieden von Sprache und Sprechakt. Es zeigt sich erst im Gespräch und Austausch. Und dort genau darin, dass jeder einzelne von dem, was der andere sagt, immer nur einen Teil mitbekommt. Es bleibt ein Vgl. ebd. S. 15

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bedeutungserzeugender Rest, der nicht in der Bedeutung aufgeht. Wenn man dieses Gemein­ same der Langage in die Sphäre des Politischen übersetzt, so erscheint es dort anders darin, dass jeder Einzelne genau in seiner je anderen Differenz Teil des Gemeinsamen wird, eben im Erscheinen - mit anderen, getrennt von ihnen, in der Mit-Teilung (Comparution). Bailly führte nun weiter aus, dass es der Fehler des Kommunismus – im Deutschen könnte man sagen: des real existierenden Sozialismus – war, den Reichtum der Polyphonie des Sprachvermögens, auf dem das gesamte Spiel der Sprache basiert, nicht zu begreifen. Vielmehr habe er diesen Reichtum der Polyphonie, der in der Gleichursprünglichkeit von je singulärer Differenz und Gemeinschaft lag, durch die zwanghafte Behauptung einer Einheitssprache ersetzt. An die Stelle der in der Langage veranschaulichten irreduziblen Polyphonie trat eine Art von Esperanto. „Doch ist Esperanto – zugleich armselig gedacht und ein entfernter Verwandter des archi-kommunitären Mythos von Babel – eine falsche Sprache, eine Pseudo-Sprache, keine Bailly: „Avant-propos“, S. 22 f. (meine ÜberSprache und kann auch keine sein.“31 Liest man Bailly und Derrida zusamsetzung, NMS). men, so wird deutlich, dass diese Entgegensetzung – Polyphonie oder Ireen van Ditshuyzen: „Johan Simons. Zeg dat Esperanto – nicht lediglich die Alternativen eines Denkens des Gemeinhet goed komt. Say it’ll be alright.“ De Toedracht / HUMAN 2011. samen, des Politischen nach dem Horizont des Kommunismus und der mit ihm verbundenen Archeoteleologie, sondern zugleich auch das dem Kommunismus in gewisser Hinsicht Richtung und Ziel gebende Denken Europas betrifft. Im Theater hat dies wie wenige andere der gebürtige Niederländer und überzeugte Europäer Johan ­Simons vor Augen geführt. (3) Theater aus dem Kern der Dorfgemeinschaft – von Heerjansdam nach München Wie alle Angehörigen einer kleinen Sprache - oder doch die meisten – scheint Simons das Wirken in vielen Sprachen gleichsam in die Wiege gelegt. Was Simons aus der Enge des Dorfes, in dem der durchfahrende Zug nach Paris das Träumen lehrt, hinausführen wird, so lernt man aus dem Film „Say it’ll be alright“32 von Ireen van Ditshuyzen, das ist das Theater. Zunächst das, welches er spielerisch vor Ort mit dem Bruder zusammen als Jugendclub „Montmartre“ entwickelt, dann der Tanz, für den er sich bei einer Peter Pan-Produktion begeistert, um ihn dann zu studieren. Als er das Tanzstudium beschließt, schreibt man das Jahr 1968. Er kommt ins Paris derer, welche Theater als Orte der Bourgeoisie besetzen und bekämpfen. Nach einer kurzen Phase des Schauspielens in vielen kleinen Rollen, als Darsteller in „Hair“ und im Stadttheater von Den Haag, dessen Garderobe er frustriert verwüstet, beginnt er Regie zu führen. Es ist die Zeit jener Künstler:innen, die in der Folge der legendären Actie Tomaat des Jahres 1969 - als Dramaturgiestudenten der Amsterdam Theatre School Tomaten auf Schauspieler der Nederlands Comédie warfen, um gegen deren Produktionsweisen, gegen die Gerontokratie verkrusteter Theaterstrukturen, eine fehlgeleitete Subventionspolitik und veraltete Formen und Stoffe zu protestieren - die Bühnen des Landes betraten.33 Sie gründe33 Vgl. Nicole Colin: „Theater und Tomaten?“ In: ten die „kleinen, wendigen Truppen und Trüpplein“, die Brecht ungefähr Die Deutsche Bühne, Heft 6, 2007, S. 28–31. zwanzig Jahre früher gefordert hatte, um die schwerfälligen großen „Bil34 Vgl. Bertolt Brecht: [Ausführungen], S. 369–371. 34 dungstheater“ in „Umbildungstheater“ zu verwandeln , ihrem Anspruch 35 Zit. nach Nicole Colin: „Theater und Tomanach weniger hierarchisch organisierte Gruppen, die schnell neue Spielten“, S. 28. 36 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: „Kafka. Für weisen entwickelten, andere Orte erkundeten und neue Räume besetzeine kleine Literatur.“ Aus dem Französischen ten. Sie versuchten, wie Arthur Sonnen es im Rückblick formulierte, ihr übersetzt von Burkhart Kroeber. Frankfurt a. M. 1976. Vgl. auch die Übertragung dieser Theater im Bewußtsein zu begründen, „dass wir Zustände haben wie bei Begrifflichkeit des „mineur“ (klein, aber auch 35 Lessing im 18. Jahrhundert.“ Es war zum Guten wie zum Schlechten minderwertig) auf das Theater von Carmelo Bene in: Gilles Deleuze: „Ein Manifest weniTheater ohne eine ‚große‘ eigene Literatur im Hintergrund, ohne eine langer.“ In: Karlheinz Barck / Peter Gente / Heide Paris / Stefan Richter (Hrsg.): Aisthesis. Wahrge, feudale Tradition der Häuser, Formen, Stoffe und ohne eine in diesen nehmung heute oder Perspektiven einer andeformierte Kunst der Betrachtung. Frei nach der Bezeichnung von Kafkas ren Ästhetik. Essais. Leipzig 1991, S. 379–405, insb. 391 f., 398 und 401 ff. Literatur durch Gilles Deleuze und Félix Guattari als einer kleinen36 könnte man von einer „kleinen“ Theaterkultur sprechen, deren Potential, deren Originalität, Variabilität und Entwicklungsfähigkeit, ungleich größer war als dasjenige der ­großen, vergleichsweise reichen deutschen Theaterlandschaft. Schneller und besser von öffent­ licher Hand gefördert als vergleichbare freie Gruppen in Deutschland, konnten damals später mehr oder weniger legendär werdende Gruppen und Künstler wie De Appel, Jan Joris Lamers ­(Discordia), Theu Boermans (Trust), Gerhardjan Rijnders (Globe), Ivo van Hove, Alex von Armerdam

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(Orkater) oder, etwas später: Paardenkathedraal, Dood Paard und Bambie,37 ihre eigene Sprache und Handschrift entwickeln. Grundlage war ein 38 An anderer Stelle wäre ausführlicher die System von Subventionen, die an Truppen und Häuser getrennt gingen. Macht der vermeintlich der künstlerischen Arbeit dienenden Gewerke in den Stadt- und Es ermöglichte den ersten, ihr je singuläres Idiom zu entfalten ohne Staatstheatern zu analysieren und zu beschreiben. Dabei könnte ein Ausgangspunkt Rücksicht auf Intendanten, Chefdramaturgen und Regeln, die beachtet, das Scheitern des Kuratoren Chris Dercon als ohne Gewerke, die beschäftigt sein wollten.38 Den zweiten erlaubte es, Theaterleiter an der Berliner Volksbühne dienen. das Lokale mit dem Europäischen und Internationalen zu verbinden, bei39 Vgl. Johan Simons: „Hinterm Horizont“, S. 52. de in einen Austausch mit einander zu bringen, wie er in Deutschland 40 Tineke van Manen: „Summary. Theatergroep erst in jüngerer und jüngster Zeit, mit dem Erstarken der internationalen Hollandia“. Aus dem Niederländischen von Pat Shak. In: Theatergroep Hollandia. PublikaFestivals und Produktionshäuser in ähnlicher Weise ermöglicht wird, und tion zur Ausstellung Scenografie en Beeldende wie er, auf der Ebene der Künstlerförderung, hierzulande weiterhin unKunst, Museum Paleis Lange Voorhout. Den Haag 1993, S. 39. denkbar bleibt. Als „Identitätskern“ der 1985 gegründeten und zusammen von ihm mit dem Musiker Paul Koek geleiteten Gruppe Hollandia, als Kern, „von dem ausgehend man sich dann gemeinsam vorwagt“, bezeichnet Simons im Rückblick des Jahres 2016 „im übertragenen Sinn, die Dorfgemeinschaft“39. Die Gruppe verknüpft von Anfang an aufs Engste Musik und Theater, entwickelt in dem, was man bald überall site-spezifische Arbeiten nennen wird, einen ganz eigenen Stil, eine Art des Spielens, in die viele Kunstströmungen Eingang finden, ohne dass man sie doch darauf reduzieren könnte. Über 20 Jahre spielt Hollandia in Fabriken, Friedhöfen, Kirchen, Bauernhöfen, Gewächshäusern und Hühnerställen. Die Künstler:innengruppe lässt diese Orte ihre eigene Geschichte erzählen, ist darin, wie Tineke van Manen erklärt, der Arte Povera nahe.40 Die singulären Orte werden Teil der Struktur des Spiels, gleichen darin als Zwielichtzonen, zwischen real und künstlich, dem, was die Schauspieler:innen parallel entwickelten, auf der Grenze zwischen Spiel und Sein: mehrere spielen zuweilen einen Charakter, Wiederholungen lenken den Blick vom Gesagten auf das Sagen, paralleles Sprechen und ein Abnehmen der Rede im Lauf lassen Sprache als etwas begreifen, das man niemals ganz besitzt, das nicht einem gehört, sondern allen, aber keinem ganz, eben als langage. Die Elemente dieses Spiels, darin ist das Theater von Hollandia Teil einer Generationenerfahrung, dürfen ihre Eigenlogik bewahren, einzigartig darin bleiben, dass sie ins Spiel als dessen Teil eingehen, aber darüber hinaus auch mehr und anderes als nur diesen im Spiel relevanten Teil behalten. Van Manen nennt als Ahnen solchen Theaters Artaud, dessen Programm es bekanntlich war, dass Text, um nur von ihm zu sprechen, nicht mimetisch abbildend, sondern eher als Material, in seiner Eigengesetzlichkeit, als Sound oder Klang, musikalisch begriffen werden sollte, dass Theater zwischen den Körpern der Spielenden und der körperlichen Reaktion der Zuschauenden sich abspielen sollte, dabei die Widersprüche betonend, niemals sich reduzierend auf guten Geschmack und Moral.41 Ein Theater, das sich als Grenzüberschreitung begreift, doch nicht im Verständnis der klassischen Tragödien, denn, so von Manen, im Kontrast zu diesen „wird das Publikum von Hollandia niemals von der Gewalt befreit sein, noch wird ihm die Grausamkeit durch den schönen Schein aufgehoben.“42 Als Simons aus diesem Theater in ein großes Haus geholt wird, in das von ihm als NTGent ­(Nederlands Toneel Gent) umbenannte Stadttheater Gent, bringt er die ganze Erfahrung des Arbeitens in der Vielsprachigkeit, des Gangs über die Dörfer, der unzähligen Improvisationen, mit. Sein Theater bleibt so eines der vielen kleinen Gesten und Zeichen (Renate Klett)43, sein Ensemble, wie es Kristina Prause schildert, eines, dessen erster Eindruck die Vielsprachigkeit ist: Niederländisch, Flämisch, Englisch, Deutsch, Französisch sind die sogenannten „Muttersprachen“ derer, die dort spielen.44 Das gleiche Prinzip, anders, bestimmt auch seine Politik, als ihn die bayerische Staatsregierung an die Münchner Kammerspiele holt, ihn zum ersten Mal zu einem jener mächtigen Intendanten macht, die über deutsche Stadt- und Staatstheater in 41 Vgl. insb. Antonin Artaud: „Le théâtre et son double.“ In: ders.: Oeuvres. Édition établie, absolutistischer Manier herrschen können wie Duodezfürsten. Er nimmt présentée et annotée par Évelyne Grossman. die Einladung an, wissend, wohin er sich begibt: Der Film von Ireen van Paris 2004, S. 505–593. Ditshuyzen zeigt ihn, wie er den Taxifahrer auf der Fahrt zum Theater auf 42 Vgl. van Manen: Summary, S. 39. 43 Zit. nach: Sabine Leucht: „Einer mit Stallgeden Platz hinweist, an dem die Bücherverbrennung stattgefunden hat, ruch.“ In: die tageszeitung, 26. 11. 2003, S. 18. er lädt Koen Tachelet, einen Autor aus einer jüdischen Familie, der für ihn 44 Vgl. Kristina Prause: „Johann Simons Vieleram NTGent als Dramaturg gearbeitet hat, dazu ein, auch hier mit ihm zu ORTs Gedanken erzählen“, in: kiss. Kultur in Schule und Studium. Theater und Neue Draarbeiten, und lässt sich von ihm Joseph Roths „Hotel Savoy“ szenisch matik in der Schule. Hg. V. Siemens Arts Proeinrichten, als Metapher für eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, gram. München 2007, S. 118–137, hier S. 121. 37 Vgl. zu dieser Auflistung Nicole Colin: „Theater und Tomaten“, S. 28 f.

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45 Johan Simons: „Mitten in der Stadt – Mitten und in ihr für ein „zeitgenössisches Stadttheater in der Mitte Europas“.45 in Europa“, in: Münchner Kammerspiele 2010 / 11. München, das ist für ihn so von Beginn an mehr, als die reiche saturierte München 2010, S. 9. Stadt der Gegenwart von „Laptop und Lederhose“, es bleibt die Stadt 46 Ebd. 47 Vgl. zum Verständnis des „Zeitgemäßen“ mit Hitlers und seiner ganz Europa zerreißenden „Bewegung“, aber auch die Bezug auf Nietzsche und Benjamin: Giorgio Stadt Carl Valentins und Bertolt Brechts, die Stadt der fortdauernden Agamben: „Was ist Zeitgenossenschaft?“, in: 46 ders.: Nacktheiten. Frankfurt a. M. 2010, S. 21–35. Katastrophe, doch zugleich auch der „Übung in Widerspenstigkeit“ . 48 Vgl. Jacques Derrida: „Das andere Kap“, S. 26. Sein Projekt des zeitgenössischen Stadttheaters ist so zugleich das eines 49 Johan Simons: „Mitten in der Stadt“, S. 7. unzeitgemäßen Stadttheaters47, sein „Stadttheater“ zugleich eine Pa50 Ebd. leonymie48 des Stadttheaters. „Künstler halten in ihren Werken die Ver51 Ebd. gangenheit fest.“49, formuliert er in seinem Editorial des Programmbuchs 52 Ebd. S. 8. der ersten Spielzeit. Er vergleicht sie jenen Maurern aus der Zeit „vor dem 53 Ebd. 54 Ebd. großen Kriege“, über die Joseph Roth in seinem „Radetzkymarsch“ schreibt: „Wenn einer aus der Schar der Irdischen ausgelöscht wurde, trat nicht sofort ein anderer an seine Stelle, um den Toten vergessen zu machen, sondern eine Lücke blieb, wo er fehlte, und die nahen wie die fernen Zeugen des Untergangs verstummten, sooft sie diese Lücke sahen. Wenn das Feuer ein Haus aus der Häuserzeile der Straße hinweggerafft hatte, blieb die Brandstätte noch lange leer. Denn die Maurer arbeiteten langsam und bedächtig, und die nächsten Nachbarn wie die zufällig Vorbeikommenden erinnerten sich, wenn sie den leeren Platz erblickten, an die Gestalt und an die Mauern des verschwundenen Hauses.“50 Sie, die Künstler, so Simons, „sind die Maurer, von denen Roth spricht, jene Maurer, die so langsam arbeiten, dass die leeren Plätze in der Straße noch eben von dem zeugen können, was dort früher einmal war.“51 Doch bei dieser allgemeinen Beschreibung seines Idioms der Paleonymie, seines Prinzips der Überschreibung und seines Konzepts der gleichzeitigen Erinnerung, bleibt Simons nicht stehen. Er schildert nun das Gastspiel seiner Produktion von Joseph Roths „Hiob“ in Amsterdam, „eine(r) jüdischen Geschichte, die von nichtjüdischen, ausgerechnet deutschen Schauspielern gespielt wird – überdies noch in Amsterdam, einer seit je her jüdischen Stadt, vor einem Publikum, das sich mit ­Sicherheit, ob des eigenen Familienhintergrunds, noch immer der Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert.“52 Und er beschreibt dabei die Erfahrung, dass sich unter der einen, gezeigten Geschichte, eine zweite verbirgt, „die Geschichte von Menschen auf der Suche nach Verständnis und Versöhnung, auf der Suche nach Trost vor den grausamen Schattenseiten der Geschichte“.53 Doch dann fügt er hier, wo man befürchten könnte, dass Trost gespendet, Verständnis signalisiert, Versöhnung angeboten werden könnte, hinzu: „Gerade darum konnte die Vorstellung über sich selbst hinauswachsen. Der Wechsel von Spielen und Zuschauen war erfüllt vom Bewusstsein des leeren Platzes, den die Geschichte hinterlassen hatte.“54 Das Theater des Johan Simons, zumindest seinem hier formulierten Selbstverständnis nach, ist ein Theater der geteilten Abwesenheit. Das Gespräch zwischen den Schauspielern und den Zuschauern, das Simons als dessen Stärke und Ziel sieht, ist ein Dialog in der geteilten Verantwortung gegenüber denen, die nicht an ihm teilhaben, den Toten. Das Europa von Simons ist nicht zuletzt deshalb mehr und anderes, als dasjenige des ‚Esperanto‘, weil es, über die irreduzible Vielheit der Sprachen hinaus und in ihr, auf immer andere Weise auch an die Millionen Menschen erinnert, die Europa zum Opfer fielen: An die Toten der zwei Weltkriege, die ­ermordeten europäischen Jüdinnen und Juden und nicht zuletzt an die Toten der Kolonisierung. Europa, das ist von daher Versprechen und Drohung zugleich, Polyphonie und Esperanto.

(4) Die Arbeit am Ensemble Johan Simons als Intendant zu betrachten, das heißt auch, ein Dispositiv im Sinne Foucaults55 beschreiben zu müssen, das über die Köpfe derer hinweg, die in ihm arbeiten, diese (mit-)bestimmt: Wie gehen sie mit den Möglichkeiten zur Veränderung um, die in jedem Dispositiv angelegt sind, mit der ihnen je eigenen Kraft, das Dispositiv 55 Vgl. Michel Foucault: „Dits et Ecrits“, in: auf das hin zu öffnen, was in ihm gelöst wurde? Die Probleme, das – mit Schriften, Band 3, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2003, S. 392–395. Verf.: „Das Dispositiv Agambens etwas zu pathetischen Worten gesprochen – Unregierbare in und das Unregierbare. Vom Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik“, in: Lorenz Aggerihrem Grund?56 Wollte man dieses mit Blick auf ein heutiges Stadttheamann / Georg Döcker / Gerald Siegmund (Hrsg.): ter näher fassen, so wäre es mit der nicht ein für alle Mal beantwortbaren Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung. Frage verbunden, wie sich künstlerische Produktivität mit einem AppaFrankfurt a. M. 2017, S. 67–88. rat vereinbaren lässt, der nicht am Singulären, sondern an dessen Re56 Giorgio Agamben: „Was ist ein Dispositiv?“ produzierbarkeit, an der Serie, am zuverlässigen Produkt interessiert ist. Zürich / Berlin 2008, S. 41.

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Wie kann die Freiheit, die Voraussetzung von Theater als einer Kunst ist, in Einklang gebracht werden mit den Zwängen eines Theaterbetriebs. Was Simons im Stadttheater entwickelt, knüpft einerseits an die in Teilen veränderte Institution seit dem Millennium an, etwa an die um den Prater und zahlreiche Diskursforen, Salons, Stadt- und Aktionsprojekte erweiterte Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz unter Frank­ Castorf, an das Hamburger Schauspielhaus unter Tom Stromberg, an Elisabeth Schweegers schauspielfrankfurt oder die von Frank Baumbauer geleiteten Theater, doch es unterscheidet sich andererseits durch die Arbeit an einer Form des Ensembles, wie sie so in Deutschland nur in wenigen Momenten und an wenigen Orten des Nachkriegstheaters seit 1945 versucht wurde, am prägendsten in den produktivsten Jahren von Brecht / Weigels „Berliner Ensemble“, zwischen 1949 und 1956 und dann wieder in der Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz in den frühen 1990er-­ Jahren unter Frank Castorf und Matthias Lilienthal. Zu dieser Arbeit am Ensemble, die in seinen großen Arbeiten das Bühnenspiel in jedem Detail prägt, gibt er in seinen Briefen an das Publikum der Münchner Kammerspiele mehrfach Hinweise, die erkennen lassen, dass er spürt, wie sehr dieses wie alle Stadttheater des Muts zur Zertrümmerung bedürfte, zugleich aber, auch darin dem älteren Brecht nicht unähnlich, dass er die eigenen Grenzen kennen­ 57 Vgl. mit Blick auf Brecht: Verf.: „Theaterarbeit gelernt hat:57 Der älter gewordene Johan Simons, um das Bild noch einunter Fremden. Brechts Arbeit als Dramamal zu bemühen, weiß, dass man die Garderobe, die man gestern zerturg“, in: The Brecht Yearbook 45, Rochester, New York, 2020, S. 23–36, insb. S. 30 f. schlagen hat, mühsam wird wieder aufbauen müssen. 58 Vgl. Silvia Stammen: „Zerbrechlich bleiben. An den Kammerspielen führt Simons die Arbeit fort, die dort mit dem Wie Johan Simons die Münchner KammerAufbruch begonnen hatte, den die Berufung Baumbauers an das über spiele in ein internationels Stadttheater verwandelt und damit Theater des Jahres wird.“ Jahrzehnte unter Dieter Dorn sehr konservative Haus eingeleitet hatte, In: Theater heute, Jahrbuch 2013, S. 120–126. mit Regisseuren wie Sebastian Nübling, Armin Petras, Stefan Pucher oder René Pollesch. Seine vier Spielstätten umfassen neben der großen Bühne in den Kammerspielen die Spielhalle, den Werkraum und Stadtprojekte, er europäisiert und internationalisiert das Theater wie das Ensemble mit nicht-deutschen Schauspieler:innen wie ­Elsie de Brauw, Benny Claessens, Katja Herbers, Kristof Van Boven oder Jeroen Willems58 und ­Regisseur:innen wie Alvis Hermanis, Dries Verhoeven, der Gruppe Wunderbaum oder Ivo van Hove, er holt neue Akteur:innen wie Meg Stuart ans Haus und weitet dessen Focus über die etablierte Gattung des Sprechtheaters hinaus auf Choreographie. Und er spürt und formuliert die Fragen, die in den kommenden Jahren zusehends die Theater, jedoch noch einige Zeit kaum die Stadtund Staatstheater beschäftigen werden: Er erwähnt den Rechtsruck, die Demokratie unter Druck. Und er schreibt: „Wie soll ein Ensemble heutzutage aussehen? Wie soll es morgen aussehen? Wir sind alle weiß. Auf der Straße sieht man allerlei Farbe durcheinander laufen. Chinesen, Araber, ­Afrikaner. Ein Ensemble ist schon längst kein Abbild der Gesellschaft 59 Johan Simons: „Brief für unser Publikum“, in: mehr, in der wir leben. Ist das beunruhigend?“59 Münchner Kammerspiele 2011 / 12, München Simons unterscheidet sich grundlegend von den deutschsprachigen 2011, S. 5 f., hier S. 5. Regisseuren der Generation von 68ern, die geflissentlich darauf achte60 Johan Simons: „Brief für unser Publikum“, in: 100 Jahre Münchner Kammerspiele, München ten, dass niemand in ihre Fußstapfen wird treten können, vor allem kei2012, S. 4f., hier S. 5. ner, der ihnen auf Augenhöhe wird begegnen können. Er holt im Jahr 2013 eine damals in Deutschland noch gänzlich unbekannte Regisseurin ans Haus, die in Holland studiert und dort mit ersten Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht hatte, Susanne Kennedy, die mit ihrem „Fegefeuer in Ingolstadt“ einen großen Erfolg hat, der ihre Karriere in Deutschland begründet, die sie, mehrfach erneut von Simons eingeladen, an den Kammerspielen und, unter seiner Intendanz, bei der Ruhrtriennale fortsetzt. Im Spielzeitheft des Jahrs 2012 / 13 formuliert er sein Credo in Sachen Kunst, an Brecht erinnernd, wonach der „Probenprozess (…) das Wichtigste“ sei, und hält fest, dass „große Kunst (…) eine Seltenheit“ sei, denn, wie er mit einem Gerhard Richter-Zitat postuliert: „Das sogenannte Handwerkliche, das ist ja eine Selbstverständlichkeit. Und als bloße Virtuosität hat sie gar nichts mit Kunst zu tun.“60 Er lässt unterschiedlicher Stile des Spielens einander begegnen, räumt längere Probenzeiten ein, etwa für ­Kristian Smeds, Meg Stuart oder Alain Platel, ermöglicht das Kooperieren mit unabhängigen ­Truppen und freien Theaterschaffenden und öffnet die Kammerspiele so bis zu jenem Punkt, an dem Matthias Lilienthal das Haus übernimmt. Ohne Simons‘ Arbeit wäre dessen Intendanz wohl auch möglich gewesen, aber niemals so weit über das hinaus gelangt, was bis dahin ein Stadttheater in Deutschland charakterisierte.

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(5) Sprechen Wirkt Simons‘ Intendanz in München aus dem Rückblick, zumal im Vergleich mit Matthias Lilienthals Jahren, die auf sie folgen, moderat in ihren Reformen des Hauses, und wirken seine Jahre bei der Ruhrtriennale im Vergleich zu den ihnen vorausgehenden Jahren unter dem Intendanten Heiner Goebbels wie den nachfolgenden Jahren unter Stefanie Carp in ihren institutionspolitischen Entscheidungen sogar eher konservativ, so gibt es doch auf der künstlerischen Ebene der Arbeit von Simons im Stadttheater eine Entscheidung, die, so geräuschlos sie sich auch vollzogen hat, tatsächlich als radikale Umbildung der Institution des deutschsprachigen Stadt- und Staatstheater, als Veränderung in ihrem Kern begriffen werden kann: Die Erfindung einer neuen Art des Sprechens und des Zusammenspiels. Vielleicht ist sie dem Credo, Europäer zu sein, geschuldet, vielleicht hat sie mit Simons‘ Interesse am Klang der Sprache zu tun: „Deutsch ist für mich eine Klangsprache. Ich höre zuerst immer auf den Klang der Stimme. Deshalb ist es für mich auch unerträglich, wenn die Stimme eines Schauspielers oder einer Schauspielerin nicht organisch klingt. Beim Niederländischen vermittelt sich mir sofort die Bedeutung der Wörter. Beim Deutschen aber muss ich mich bemühen zu hören, was gesagt wird. Und deshalb höre ich dann manchmal zuerst nur den Klang an. So entsteht für mich unweigerlich eine musikalische Johan Simons: „Hinterm Horizont geht’s weiEbene, und die ist für meine Inszenierungen sehr wichtig.“61 In jedem Fall ter“, S. 51. wird bei Simons in ein und derselben Inszenierung von unterschiedlichen Vgl. zum Thema des „Linkischen“: Verf.: „LinSpielenden unterschiedlich gesprochen. Leute mit einem Dialekt oder kisches Theater. Über die Arbeit des Regisseurs Boris Nikitin.“ In: Agnes Hoffman / ­ Akzent, der hören lässt, dass ein anderer als der bedeutungstragende Annette Kappeler (Hrsg.): Theatrale Revolten. Basel 2018, S. 191–202. deutschsprachige Hintergrund die Worte färbt, stehen neben Muttersprachlern. Doch selbst bei diesen wird häufig das Sprechen mit einer zweiten Sinn- und Bedeutungsebene belegt, die fast immer mithörbar ist, manchmal störend, oft einen zusätzlichen Reiz übermittelt, gewollt oder unvermeidbar. Es ist die hörbare Form jener zweiten Geschichte, die uns viele gute Schauspieler mit derjenigen darstellen, die sie uns offensichtlich zu schauen geben. Wir verstehen, dass da noch etwas anderes ist, was sich nur in den Worten mitteilen kann, aber nicht dort, wo diese Sinn machen - nicht nur auf jeden Fall, sondern eher zwischen ihnen, an ihrem Rand, in ihren unsinnlichen Nuancen, ihrer idiosynkratischen Wahl, beiläufig, linkisch, zusätzlich.62 Mit Saussure und Bailly könnte man sagen, dass wir in ihrem Sprechen etwas von der Langage hören oder eher noch, dass dieser immer hörbare Rest hier nicht länger schamvoll verborgen, sondern präsentiert wird. So hören wir in der Sprache des Bochumer Lears dass der Schauspieler (Pierre Bokma) einen holländischen Hintergrund (wie man so sagt) hat, vielleicht auch einen französischen und wohl einen jüdischen, eine Kultur- und Sprachenvielfalt, die ihn von Anfang an Abstand halten lässt zu der unsinnigen und doch so verbreiteten Ansicht, die Sprache könne nur auf eine Weise und unmittelbar irgendetwas ausdrücken oder mitteilen. Er weiß um ihre Spielräume, dass sie wie ein etwas zu großer Schuh ist, angenehm manchmal, aber unter Umständen auch drückend, Blasen am Fuß verursachend, weil er Spiel hat. Spiel der Sprache, das nicht zuletzt im Sprachspiel seinen Ort hat, das, jedem anders, permanent mitspielt, die Sprache umgibt. Was bei Simons so beiläufig daherkommt, als sei es gar nicht wichtig oder lediglich so, weil er eben mit diesen und nicht mit anderen Schauspielern seine Inszenierungen macht, machen will (und vielleicht muss), kann als Revolution bezeichnet werden, führt man sich vor Augen, wie zentral das normierte Sprechen für die Herausbildung der deutschsprachigen Theaterlandschaft in ihrer Eigenheit und den mit ihr verknüpften Bildungsauftrag war. Wolfgang Hagen hat eindrücklich nachgezeichnet, wie vor dem Hintergrund des ideologischen Ideals einer normierten Hochsprache und der „normativen Anmaßung“ einer nach den Vorgaben einer ontologischen Naturwissenschaft postulierten „natürliche(n) Idealstimme“ Ende des 19. Jahrhunderts sich eine „illustre Runde (…) zum Stimmenkabinett des Deutschen“ erklärt und die „Regelung der deutschen Bühnenaussprache“ erstellt hat. Das daraus hervorgegangene Buch „Deutsche Bühnenaussprache“, so Hagen, „galt bis in die Mitte der sechziger Jahre hinein als das absolute Norm63 Vgl. Wolfgang Hagen: „,Wenn alles gesagt ist, buch der deutschen Hochsprache“.63 Auf der Grundlage sich als wissenwerden die Stimmen süss‘. Über Heiner Müller und die Unstimmigkeit der Stimme“, in: Verf. schaftlich erachtender „Bühnenaussprache-Regeln“ wird eine Stimmu. Heiner Goebbels (Hrsg.): Heiner Müller politik begründet, deren Ziel es ist „Dialekte auszumerzen“64. „Theater sprechen. Berlin 2009, S. 30–48, hier S. 38. 65 und deutsche Bühnen werden in die nationale Aufgabe eingebunden“. 64 Ebd. S. 39. Verloren geht dabei, was erst im Verlauf der Avantgarden der 20er- und 65 Ebd. S. 38.

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30er-Jahre in den Künsten und parallel von Karl Bühler und der Prager Linguistenschule in der Sprachwissenschaft sowie von Jacques Lacan in der Psychoanalyse wieder erinnert und ausgearbeitet wird, das Verständnis von Stimme als „Objekt eines sozialen und psychischen Ausdrucks, als Objekt und Sujet eines Begehrens nach Ausdruck und Darstellung“66. 66 Ebd. S. 39. Beispielhaft für diese Stimm- und Sprachpolitik kann hier mit Hagen ein 67 Zit nach ebd. S. 40 u. 47. Das Zitat stammt Auszug aus einer Rede des Autors der „Deutsche(n) Bühnenaussprache“ aus: Siebs, Vortrag vom 4. Dezember 1925 Theodor Siebs stehen: mit dem Titel „Die Laute der deutschen Hochsprache“. Ein hohes Verdienst hat seit Jahrhunderten die deutsche Bühne durch 68 Vgl. Evelyn Deutsch-Schreiner: „Theater­drama­ die Pflege der deutschen Aussprache erworben. Man mag die Mundarten turgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart.“ Weimar / Wien 2016, S. 158. noch so sehr schätzen, aber man darf nie vergessen, daß alle Völker 69 Bertolt Brecht: Einige Bemerkungen über ­höherer Bildung eine über den Mundarten stehende Hochsprache entmein Fach, S. 151. wickelt und gepflegt haben. Und das ist in Deutschland nicht etwa die Sprache der Gebildeten einer bestimmten Gegend, sondern die Sprache des ernsten Schauspiels an guten Bühnen. Wo immer die Aussprache über die Mundarten sich erhebt, sei es in der Umgangssprache der Gebildeten, in der Sprache der Redner oder des deklamatorischen Vortrags, stets geschieht es in der Richtung auf die Sprache der Kunst der deutschen Bühne. [...] So hat die Bühne das Verdienst und die ehrenvolle Aufgabe, in dieser Sache die Lehrmeisterin Deutschlands zu sein. Damit aber hat sie auch die Pflicht, streng auf die Pflege der Hochsprache, dieses gemeinsamen deutschen Gutes, zu halten.67 Zum Organon der Nationenbildung auf dem Weg des Vorbildes einer von aller Langage gereinigten Hochsprache zu werden, das ist der Zweck, mit dem die aus dem höfischen Repräsentationsdenken übernommene Theaterlandschaft im deutschen Reich übernommen und neu definiert wird. Von bürgerlicher Großmanns-Sucht geprägt und privatwirtschaftlich geführt, geht ein Großteil der im 19. Jahrhundert gegründeten Theater in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, spätestens in der Theaterkrise der 30er-Jahre bankrott. Viele Häuser werden nach 1933 von den Nationalsozialisten verstaatlicht und einer zentralen Reichsdramaturgie unterstellt, die in Goebbels Ministerium angesiedelt ist.68 Ob sich die weltweit einzigartige öffentliche Förderung des deutschsprachigen Stadttheatersystems der Nachkriegszeit, wie der Soziologe Dirk Baecker glaubt, einer „Reeducation-Blase“ verdankt, sei dahingestellt. Sicher ist, dass unterm Vorzeichen der Reeducation schon kurz nach 1945 der Wiederaufbau der zerstörten Häuser unterm Vorzeichen der Restauration beginnt. Brecht kommentierte 1951: „Daß die Beschädigung an den Theater­ gebäuden soviel sichtbarer war als die an der Spielweise, hängt wohl damit zusammen, daß die erster beim Zusammenbruch des Naziregimes, die letztere aber bei seinem Aufbau erfolgte. So wird tatsächlich noch heute von der „glänzenden Technik“ der Göringtheater gesprochen, als wäre solch eine Technik übernehmbar, gleichgültig, auf was da ihr Glanz nun gefallen war.“69 Was Brecht damit einforderte, hat bis heute noch kaum in den Stadt- und Staatstheatern stattgefunden: Eine radikale Untersuchung gerade der vermeintlich „handwerklichen“, bloß „technischen“ Voraussetzungen des Spielens und Sprechens, ihre Befragung daraufhin, ob nicht gerade hier am hartnäckigsten die Ideologien vergangener Theaterepochen überleben, eben deshalb, weil man historisch Gewordenes als zeitlose Norm begreift. In jedem Fall lässt sich die Sprachpolitik des 19. Jahrhunderts noch heute dort wiederfinden, wo das reine und korrekte Sprechen zum Ausschlusskriterium wird, das die Bühnen säubert und dabei verarmen lässt, weil es nicht wenige gibt, die, weil sie einen Dialekt, einen sogenannten Sprech- oder Sprachfehler haben oder aber schlicht nicht dazu in der Lage sind, sich an diese Art des Sprechens zu gewöhnen, von der Bühne verbannt werden. Diese normierte Sprache ist es, die bei Simons wie zeitgleich an vielen anderen Orten ihre normierende Macht verliert. Sie ist dabei nicht länger die alltägliche Form der theatralen Subjektivierung, doch wird sie auch nicht einfach ‚überwunden‘. Sie bleibt vielmehr als eine von vielen anwesend und wird so schlicht zu dem, was sie immer war: zu einer epochalen Angelegenheit, wenngleich nun zu einer, deren Epoche an ein Ende gekommen ist. Heterogen wie das Sprechen ist auch das Spiel in den Inszenierungen von Simons. Ist auch allen Spielenden gemein, dass sie niemals ganz von der Situation abstrahieren, die auf der Bühne gegeben ist, im Bewusstsein ihr Spiel anlegen, dass sie in einem Raum mit den Zuschauenden sind, von jenen nicht ganz getrennt, doch auch nicht ganz mit ihnen verbunden, so fällt doch auf, dass die Spieler:innen ihre je eigene Art behalten dürfen, auf einer Bühne zu sein. Als wären sie Musiker:innen einer Band, deren Zusammenspiel nicht zuletzt von der Differenz der Spielenden lebt,

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oder Tänzer:innen eines Ensembles, das mit den Voraussetzungen der je anderen Spieler:innen arbeitet – und nicht gegen sie, unterm Diktat einer klassischen Regel oder eines einheitlichen Stils. Wenn er mit den Schauspieler:innen vom Lesen und Diskutieren am Tisch auf die Bühne gehe, so erläutert Simons, dann „will ich, dass meine Schauspieler selbst auf die Ideen kommen; ich möchte, dass sie denken: Das haben wir selbst erfunden (auch wenn ich sie auf diesen Weg führe). (…) Ich brauche starke geistige Autonomie, damit wir auf Augenhöhe mitJohan Simons,: „Hinterm Horizont geht’s einander arbeiten, miteinander Dinge ausprobieren können.“70 Im Bochuweiter“, S. 59. mer „Lear“, einem Stück, das man kaum anders denn zunächst einmal als Vgl. Novalis: „Monolog.“, in: ders.: Werke. Studienausgabe, hg. v. Gerhard Schulz, München, öffentliches Nachdenken über das eigene Abdanken sehen kann, nicht zu3. Auflage, 1987, S. 426 f., hier S. 426. letzt über den in Zitaten wie diesem angelegten versteckten oder offenen Konflikt zwischen der Autonomie der Schauspieler:innen und der Manipulation durch den Regisseur, denkt Simons Ensemble auf der Bühne nicht zuletzt über die Kluft zwischen den Worten und ihrer Bedeutung, zwischen Rhetorik und Semantik, Referenz und Signifikanz nach. Cordelia, die jüngste Tochter, die nicht reden kann und auch nicht das Schweigen wortstark ins Feld zu führen weiß, wird verstoßen. Das Reich, auf der Bühne durch einen Haufen Sand symbolisiert, wird zwischen den beiden älteren Frauen aufgeteilt. Damit beginnt anders neu die bekannte Tragödie des Mannes, der die Liebe bewiesen bekommen will und lernen muss, dass alles, was mit Worten bewiesen wird, auch mit anderen Worten widerlegt werden kann, dass Sprache beständig referiert, doch immer auf mehr als das, was jemand zu sagen scheint. Mit Novalis könnte man konstatieren, dass es in dieser Inszenierung eine „närrische Sache“ um sie ist.71 So könnte man zumindest deuten, dass an diesem Abend Cordelia von der gleichen Schauspielerin wie der Narr gespielt wird. Doch das Thema der närrischen, ein Eigenleben führenden Sprache reicht weiter. Es bestimmt die ganze Anlage der Inszenierung. Kein Schauspieler und keine Schauspielerin an diesem Abend spielt wie die anderen. Man hört hier verschiedene Akzente, die davon zeugen, dass ihre Sprecher das Deutsche als Zweit- oder Drittsprache sprechen, man kann verschiedene Stile des Spielens ausmachen, verschiedene Arten, die Distanz zwischen Spiel und Spielenden herzustellen. Die dem Spielen im Theater inhärente Mit-Teilung auf allen Ebenen bestimmt dabei von Beginn an die vor unseren Augen zweigeteilte Bühne (Bühne: ­Johannes Schütz). Hinten, in einer durch unterschiedlich große Türöffnungen von der Bühne abgeteilten und geöffneten weißen Schachtel, die im Raum steht, sitzen die Schauspielerinnen und Schauspieler wie in einer Wartehalle, mit Wasserspender, Bildschirm und Stühlen an der Wand, sie werden von dort über eine sich beständig drehende Kamera, die mit einem Projektor verbunden ist, auf die weiße Box projiziert. Wir sehen so in der Teilung von Bühne und Hinter­ bühne beständig die Teilung der Repräsentation in Repräsentation und Repräsentierende, merken, dass sich zweite im on und off aufhalten, von hier nach da spielen können. Und wenn die beiden „Frauen“, von Männern gespielt, am Anfang ihre verlogenen Reden halten, dann treten sie wie Spielfiguren aus einer Schachtel, in der sie aufbewahrt worden sind, aus den Türöffnungen der Hinterbühne heraus und fangen an zu reden. Der Abend ist dabei in einer Dramaturgie der Parataxe aufgebaut. Szene reiht sich an Szene, in der erspielt wird, wie sich die jeweils Spielenden mit ihrer Imagination vorstellen, was dabei passiert. Man kann mit Sicherheit herausfinden, welcher Dramaturgie dabei die Anordnung gehorcht, doch das ist nicht notwendig, um die ganz eigene Qualität der Arbeit von Simons zu verstehen: Es ist die Arbeit an der Differenz. Die Schauspieler:innen dürfen hier ihre Sprachen, ihre Stile ausüben, sie werden nicht vereinheitlicht, nicht unter eine Regiedirektive gebracht. Das ermöglicht es, dass am Ende dieses Abends ohne Bruch der Schauspieler des Lear seine Vermutung äußern kann, dass seine Figur nun stirbt. Cordelia: „Lear stirbt.“ Lear: „Ja, das glaub‘ ich auch.“

II. Die Grenzen des europäischen Theaters Die Umbildung des Theaters von außen folgt der künstlerischen Praxis von Simons, sie ist in gewisser Hinsicht deren institutionelles Echo. Gleichzeitig wirkt jedoch das Dispositiv, in das sich Simons begibt, auch zurück auf seine Arbeiten. Das kann beispielhaft an einigen Arbeiten nachvollzogen werden, in denen explizit oder implizit das Versprechen wie die Drohung Europas thematisch werden. Simons Inszenierung von Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar“ (1) setzt sich mit Europa als einer Festung auseinander, die sich bedroht glaubt

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und überführt diese Metapher auf das Theater, in dem sich Schauspieler:innen der Münchner ­Kammerspiele unter seiner Regie mit der ‚Globalisierung‘ und den von ihr ausgegrenzten anderen Welten auseinandersetzt. In „Woyzeck“ reflektiert Simons im größten und repräsentativsten deutschsprachigen Sprechtheater die folgenschwere Ausgrenzung des vermeintlich ‚niederen‘, ­jedoch zugleich europäischen Wander- und Jahrmarktstheater in der frühen Neuzeit und dessen Wiederkehr in der Spätmoderne. (2) In seinem „Ödipus“ geht er zurück auf die Gründungszeit des abendländischen europäischen Theaters und untersucht, was dort der auf Protagonisten und ­Genealogie gestützten Tradition von Drama und Tragödie vorausgeht und inwiefern dieses voranfängliche Andere des Theaters heute wiederkehrt, als Öffnung des europäischen Theaters des Menschen hin auf eines des Post-Anthropozäns. (3) (1) Die Globalatinisierung und ihr Außen – „Anatomie Titus Fall of Rom. Ein Shakespearekommentar“; „Fort Europa. Hohelied der Zersplitterung“ Als die Berliner Mauer im Jahr 1989 fiel, prognostizierte Heiner Müller, dass Europa die Mauern bald neu errichten werde, dieses Mal als Abschottung gen Süden. Er griff damit ein Motiv auf, das er zuvor im Zentrum seiner Adaption von Shakespeares „Titus Andronicus“ bereits anders beleuchtet hatte: das Verständnis der Gegenwart Europas auf der Folie des siegreichen Roms, einer Festung, die von den Besiegten, den nach Rom verschleppten Sklaven, untergraben wird. Mit seiner Inszenierung dieses von vielen als schwer spielbares Stück beschriebenen Textes von Müller an den Münchner Kammerspielen unter der Intendanz von Frank Baumbauer im Jahr 2003 wurde Simons erstmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Es dürfte kein Zufall sein, dass ihn diese Arbeit Müllers interessierte: Wie alle Arbeiten Müllers kann sie gelesen werden als Dialog mit den Toten, als Dekonstruktion der abendländischen Politik, wie sie zu Müllers Lebzeit in zwei Formen der ­Diktatur kulminiert, doch darüber hinaus auch als solche des bürgerlichen Theaters, wie es sich im französischen 17. und deutschen 18. Jahrhundert herausgebildet hat. In ihrem Zentrum steht mit „Titus Andronicus“ ein auf einem Stoff Senecas aufbauendes Stück Shakespeares, das zur Zeit des Dichters ein großer Erfolg war, dann jedoch im Zug der Theaterreformen von der Bühne verschwand, um erst nach dem zweiten Weltkrieg wiederentdeckt zu werden.72 Seine Unform, seine Grausamkeit, die Vergewaltigungs-Szene und die Figur der Lavinia, das machiavellistische Verständnis von Politik und der nüchterne Blick auf die Dialektik der Unterwerfung dürften dazu geführt haben, dass sich das Zeitalter der Aufklä72 William Shakespeare: „The Tragedy of Titus Andronicus.“ In: Ders.: Sämtliche Werke 2. rung und das in ihm herausgebildete Dispositiv des Theaters mit diesem Frankfurt a. M.2010, S. 1903-1962. Werner Stück nicht länger befassten. Nicht von ungefähr wurde es deshalb unter Koppenfels: „Titus Andronicus.“ In: Ina Schabert (Hrsg.): Shakespeare Handbuch. Stuttdem Eindruck der Katastrophen des 20. Jahrhunderts wiederholt als Ausgart, 4. Auf­lage, 2000, S. 492–498. Anregungen zur Einschätzung des Stückes verdanke einandersetzung mit den „Abgründen der eigenen Zivilisation‘“ gelesen. ich auch seiner umfangreichen Diskussion in Im 20. Jahrhundert ließen gerade die mit der Aufklärung des 17. Jahrhunder M ­ asterarbeit von Jan-Philipp Stange. derts unvereinbare Brutalität und die Differenz des Stückes zum moder73 Vgl. Michel Foucault: „Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte.“ hg v. Walter Seitnen Theater, dessen kalter Blick, es aktuell erscheinen. In der Figur der ter. Berlin 1986, S. 48–54; die hier unter dem zum Schweigen gebrachten Lavinia, einem Negativ der symbolischen vom Herausgeber veröffentlichten Vorlesungen erschienen nach Foucaults und Müllers Ordnung referiert es auf die Voraussetzung der im doppelten Sinne repräTod in Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France sentativen Darstellung selbst und lässt sie fragwürdig mit Blick auf das (1975–1976). Frankfurt / M. 1999, S. 52-98. von ihr ein – wie ausgeschlossene Schweigen der anderen, Subalternen 74 Vgl. zum Begriff der Globalatinisierung erscheinen. Im szenischen Kommentar Heiner Müllers wird das Stück Jacques Derrida: „Le siècle et le pardon.“ In: Le Monde des Débats, 12/1999, S. 10–17; ders.: nicht zuletzt zu einer Auseinandersetzung mit der von Foucault heraus„Foi et savoir. Les deux sources de la „religion“ gearbeiteten Genealogie jener Logik des Politischen, in der sich das römiaux limites de la simple raison.“ In: Ders. / Gianni Vattimo: „La religion.“ Paris: Seuil 1996. Vgl. sche Prinzips der Souveränität und Staatlichkeit mit dem jüdischdazu ausführlicher: Verf.: „Global(atin)isation (Mondialisation – Latinisation).“ In: Théâtre / christlichen Prinzip der Revolution und des „Rassenkriegs“ zu einem Public 160–161 (2001), S. 37–41. „Staatsrassimus“ verbindet, der unter dem Vorzeichen der Reinheit die knechtische Gegenerzählung in einen „Staatsrassismus“ wendet, den Foucault im 20. Jahrhundert in den zwei Transformationen des „Nazismus“ und des sowjetischen Polizeistaats zu erkennen glaubt.73 Zugleich wird in Müllers Stück deutlich, dass für ihn die zwei Diktaturen des 20. Jahrhunderts als zwei Formen eines über sie hinaus fortdauernden westlichen Kolonialismus gelesen werden können, als Formen dessen, was man mit Derridas Begriffsprägung für die häufig „Globalisierung“ genannte Entwicklung als „Globalatinisierung“ bezeichnen könnte.74

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Alle diese Aspekte spielen in die Inszenierung hinein, die Simons erarbeitet, doch seine Inszenierung entfernt sich zugleich auch von Müllers Text: Niemals hört man in ihr den pathetischen Sound, der in den 1980er- und 90er-Jahren häufig in Müller-Inszenierungen zu hören ist, die die Brutalität des in dessen Texten Dargestellten in ihrer Darstellung verdoppeln. Vielmehr ist der prägende Eindruck des Abends die geradezu unheimliche Leichtigkeit, mit der auf Simons Bühne gesprochen wird. „Anatomie Titus“ ist hier ein Stück über eine Gesellschaft, in der, was einst einmal Anlass für Tragödien war, nur noch der Stoff einer geselligen Abendunterhaltung ist. Ohne platte Aktualisierung wird von Beginn an klar, dass es hier nicht um Römer und um Vergangenes geht, sondern um uns, hier und heute. Dies wird am deutlichsten in dem von Bert Neumann gestalteten Bühnenraum: Aus billig wirkendem Sperrholz ist ein in Treppen auslaufender Überbau auf die Bühne gestellt, aus dem schräg eine Zuschauertribüne in die Höhe steigt: Stuhlreihen, wie sie im Theater und eher noch im Kino zu finden sind. Auf ihnen platziert einige Zuschauer, die sich in kleinen Grüppchen oder allein auf die Sessel gesetzt haben. Über ihnen, im Hintergrund, sieht man, umrahmt von einer schwarzen Wandkonstruktion in deren zwei großen Fenstern, zwei Leinwände aufgespannt, auf denen eine Live-Kamera Bilder von draußen einfängt: Passanten auf der Straße vor dem Theater. Die Straßenbahn, die in regelmäßigen Abständen anhält und wieder weiterfährt, Straßenmusikanten, Passanten, die kleine Händel miteinander treiben, Blaulichtwagen. Man hört auch den Sound der Szenerie. Das Theater ist an diesem Abend, so Meine Schilderung bezieht sich auf ein Gast­suggeriert dieser Hintergrund, mit einem Fenster nach draußen aus­ spiel der Arbeit in Amsterdam. In München gestattet. Rom ist hier, vor Ort.75 dürfte die dadurch in den Raum projizierte Maximilianstraße noch verdeutlicht haben, Zugleich ist Rom aber eine distanziert bleibende, ferne Geschichte, die dass es exakt dieses Außen ist, der Alltag erzählt wird. Während des ganzen Abends bleiben die Spieler auf den einer der teuersten Geschäftstraßen der Stadt, auf den sich Müllers Stück wie seine Rängen auf der Bühne sitzen. Hier gruppieren sie sich dann manchmal zu Inszenierung beziehen ließ. kleinen Gruppen, die etwas bereden oder – in subtilen Andeutungen dargestellt – eine Grausamkeit begehen. Nur einige Auftritte aus den Rängen oder aus dem Zuschauerraum unterbrechen das Spiel. Wenn der Abend beginnt, sehen wir vorn in der Mitte einen leise murmelnden Mann, der etwas vor sich hinredet, das sich nicht recht zuordnen lässt. Auch später wird er niemals wirklich in voller Lautstärke sprechen, sondern eher leichthin. Überhaupt wird hier geflüstert und unangestrengt, alltäglich gesprochen, nicht deklamiert oder rezititert. Understatement ist das durchgängige Merkmal des Abends. Die Schauspieler werden uns vorgestellt, stehen dabei kurz auf, geben sich so zu erkennen und setzen sich dann wieder hin. Sie sitzen auf den Rängen in Straßenkleidung, zum Teil etwas schicker, als der durchschnittliche alltägliche Passant vielleicht gekleidet sein mag, so, wie man sich für die Oper kleidet. Alle - oder doch zumindest die meisten - bleiben den gesamten Abend über anwesend, später dämmern sie zeitweilig auf ihren Plätzen vor sich hin. Was gespielt wird, was kommentiert, was zitiert wird, geht sie nichts mehr an, berührt sie nicht, treibt sie nicht um. Eher ist es für sie wie die Nachrichten am Abend. Es wird an diesem Abend klar, dass Müllers Titel verschieden lesbar ist: Ein Kommentar Shakespeares zu unserer Zeit oder auch ein Kommentar des Shakespeare-Textes aus unserer Zeit. Simons gelingt es, diese Doppelung sichtbar zu machen, umzusetzen. Irgendwo wird geschlachtet. Was in dieser Inszenierung gewissermaßen der unausgesprochene Subtext bleibt, wird zum Thema einer Serie von Monologen, mit denen sich das Ensemble der Gruppe ZT Hollandia in Fort Europa. Hohelied der Zersplitterung, dabei Texte von Tom Lanoye aufgreifend, in einer Koproduktion der Wiener Festwochen, der Stadtschouwburg Utrecht und der Ruhrtriennale im Jahr 2005 verabschiedet: Was außer den geteilten ökonomischen Interessen soll die Basis europäischer „Gemeinschaft“ sein? Welche Instanz wird in einem zukünftigen Europa den Raum des Gedächtnisses und der Erinnerung organisieren? Wer füllt das durch die Entmachtung der Nationalstaaten entstandene Vakuum auf dem Gebiet kritischer Öffentlichkeit? Wer vertritt die Rechte der zunehmenden Zahl von Globalisierungsopfern? Wer vertritt jene der Toten, die unter dem Boden ruhen, auf dem sich die neuen europäischen Institutionen erheben? Der als „szenischer Essay“ angekündigter Versuch über Europa zeigt ein letztes Mal die große Souveränität des ZT Hollandia-Ensembles im Umgang mit vorgefundenen Räumen, einer sich im Lauf des Abends unvorhergesehen verändernden Spielsituation und mit Stoffen, die auf die meisten Krücken traditioneller Dramaturgie verzichten: Hier gibt es keinen dramatischen Konflikt, keine landläufig beschreibbare Handlung und keinen Spannungsbogen. Stattdessen werden eine Reihe von mehr oder minder konturierten Monologen vorgeführt, die sich zu einem flüchtigen Bild eines Europas verdichteten, das an der

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Schwelle steht – zum Verschwinden oder zur Neugeburt. So haben im Verlauf des Abends ihren Auftritt: Eine Stammzellenbiologin, die die Utopie des neuen Menschen beschwört; ein Belgier, der an die Vergangenheit Europas in den Kriegen erinnert; ein chassidischer Jude, der über Mystik, Vaterland und das Ghetto erzählt, wobei zum Vorschein kommt, dass er selbst im Ghetto eine zwielichtige Rolle gespielt hat, kein edles Opfer, sondern eher inmitten der Geschundenen ein Profiteur des Elends war; ein Unternehmer, der ein Loblied auf die Ökonomie als dasjenige singt, was Nationalismus und Kriege zu besiegen vermochte; drei alte Sexarbeiterinnen, die in langen Monologen von Krankheit, Todessehnsucht und Kinderwunsch erzählen und dabei von drei schweig­ samen jungen Sexarbeiterinnen flankiert werden. Wenn die sterbewillige alte Prostituierte schließlich sich als ebenso verbraucht wie der verbrauchte Kontinent Europa bezeichnet, und angesichts von hundert Millionen Toten, die in den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts auf das Konto Europas gingen, diesem Bescheidenheit verordnet, dann wird sie selbst, die alte, verbrauchte und entehrte Halbweltgestalt, als Allegorie des alten Europas erkennbar. – Doch im Grunde scheint es weniger um die Details der jeweiligen Erzählungen und Reden zu gehen, als vielmehr um ein Gefühl der Sehnsucht, das unterschiedliche Ausprägungen hat, in jedem Fall aber dem Wunsch entspringt, Europa zu verlassen, fort zu gehen, und das dabei in jedem Fall auf das „Fort Europa“ trifft, die Festung, die am Weggehen noch hindert. Dabei liegt die große Leistung der Schauspieler:innen wie der Regie in der Art und Weise, wie die Räumlichkeiten bearbeitet werden: Hier wird eine Struktur hergestellt, die nicht von Handlung, Konflikt, Charakteren und Situationen lebt, sondern aus einer Art von Bewegung im Raum. Sie ist näher bei Choreografien von Tanztheaterabenden als bei dem, was Sprechtheater sonst ausmacht. Die Schauspieler treten zwischen einem über den gesamten Raum verteilten Publikum auf, in den Gängen der nach Art einer Wartehalle aufgestellten Plastiksitze. Einfach sind dabei die Mittel und Requisiten, derer sie sich bedienen: Die Materialkisten der Hollandia-Gruppe dienen zugleich als Podest und improvisierte Bühne, die sich zwischen den Zuschauerreihen im Handumdrehen aufbauen lässt. Mikroports erlauben es den Spielern von jeder Stelle des Raumes aus, zwischen den Zuschauern und neben ihnen zu spielen. Stehen die Schauspieler vor Zuschauern, so wissen sie mit diesen nach Art von Performern umzugehen – sie sehen ihnen in die Augen, erlauben den Blickkontakt oder eine die Distanz zwischen Spieler und Zuschauer überspringende Reaktion, teilen mit ihnen ihr Wasser oder ihre Wurst. Vor allem aber führt Hollandia vor, wie man einen Innenraum herstellen kann, der ein konzentriertes Spiel erlaubt und doch zugleich ein Außen kennt. Das Licht der Abendsonne wirkt an der Beleuchtung der Anfangsszene ebenso mit wie die vorhandenen Türen und Fenster des Saales an der Gestaltung der Auf- und Abgänge. „Fort Europa“ ist so eine in das Gebäude mit seinen Stärken wie seinen möglichen Ablenkungen eingebaute Produktion, eine choreographische Sprechtheaterinstallation, die ein Ende markiert, und einen Anfang.

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(2) Theaterrebellion: Frühe Neuzeit in der Spätmoderne – „Woyzeck“ Was mit dieser Arbeit endet, ist Simons‘ Marsch, nein eher Gang durch die Institutionen, was anfängt, sind die Jahre seiner Intendanzen. Sie lassen aus dem angry young man der Rebellion gegen das überkommene holländische, das städtische Theater der Zentren und das saturierte Stadttheater einen Brecht vergleichbaren Ensemble-Bilder werden, einen, der die politischen Dramaturgien seines Aufstands gegen die Institution(en), jene Neudefinitionen des Spiels, des Raums, der Zeit, der Orte, der Stoffe und ihrer Bearbeitung nicht vergisst, der aber auch weiß, dass das Theater als Institution in jedem Fall auch an eine Kunst des Regierens gebunden ist, an Polizey im Sinne des 18. Jahrhunderts. Eindringlich werden beide Aspekte von ihm in seiner zunächst am ­Wiener Burgtheater zur Aufführung gelangten Inszenierung von Büchners „Woyzeck“ erkennbar. Wenn der Abend beginnt, ist die Bühne von einem das ganze Portal ausfüllenden, rot-weißen Vorhang verdeckt, der an ein Zirkuszelt oder an den Einlass in eine ManeVgl. Michel Foucault: „Das Leben der infamen ge erinnert. Ein Projektor wirft darauf aus der Tiefe des Zuschauerraums Menschen.“ Berlin 2001; Arlette Farge, Michel Foucault: „Familiäre Konflikte: Die „Lettre de die Aufnahmen von Zirkusszenen aller Art: Raubtierschau, Kunststücke, cachet“.“ Frankfurt a. M. 1989. Foucault beSpektakuläres. Dieser Anfang ist Sinnbild des Folgenden, er erzählt uns schreibt Literatur als „Diskurs der ‚Infamie‘“ (Foucault, S. 47) und fasst dabei unter den vom Gegenstand des Abends, bevor wir ihm in der Erzählung begegnet Begriff der „Infamen“ diejenigen, die „nur sind, von Büchners Öffnung der Hochliteratur und des Theaters hin auf noch kraft der etlichen schrecklichen Worte, die dazu bestimmt waren, sie für immer des jene, die in ihr allenfalls als Diener oder Knechte auftauchen, auf das „inGedächtnisses der Menschen unwürdig zu machen“, existieren (ebd., S. 23). fame Leben“76 derer, die in den Zeitungen zu Georg Büchners Lebzeiten

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als fait divers auftauchten, Soldaten, Mörder, armes Volk. Simons Inszenierung, deren Premiere im Wiener Burgtheater stattfindet, lässt uns erahnen, dass uns von diesen, den Anderen seines und unseres Theaters nicht weniger als dieses Theater selbst trennt, seine Bürgerlichkeit, sein Repräsentationsdenken, seine Hochsprache, sein Klassismus77 des So tun als ob: Als ob wir wüssten, was es heißt, arm zu sein, Opfer des Militärs wie 77 Vgl. zum Begriff des Klassismus: Francis Seeck u. Brigitte Theiß (Hrsg.): „Solidarisch der Medizin, sprachlos, subaltern.78 Im Zirkus, dem Vergnügen der Andegegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen.“ Münster 2021. ren, und zugleich in den bewegten Bildern der Filmprojektion begegnet 78 Vgl. zum Begriff des Subalternen: Gayatri uns diese Öffnung, für die Büchners Text exemplarisch steht, auf der Chakravorty Spivak: „Can the Subaltern Ebene der Darstellung, der räumlichen Anordnung des Abends. (Bühne: Speak?”, in: Cary Nelson u. Lawrence Grosberg (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of CulStephane Laimé) Wenn nach wenigen Szenen der Vorhang zerrissen wird ture. Urbana and Chicago 1998, S. 271–213. und fällt, erscheint dahinter eine halbrunde Arena, eine Manege, die in 79 Vgl. zur Randale gegen das Spektakel auch die Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorder Mitte zerschnitten wurde, runde Sitzbänke, um eine rote Spielfläche würde der Universität Amsterdam an Johan herum angeordnet. Wir sehen darüber Traversen, Gerüste, aufgebaut, Simons: Kati Röttger: „Kritiek van het spektakel.“ Amsterdam 2008. doch der Moment, in dem wir sie sehen, ist der ihres Abbaus, ihrer De80 Vgl. Heiner Müller: „Die Wunde Woyzeck“, in: konstruktion. Durch einen Bühnenarbeiter, der sichtlich unzufrieden ist ders.: Material. Leipzig 1989, S. 114 f. mit dem, was er hier macht, werden sie zerlegt. Später werden wir ihn, den mit schweren Traversen, Sitzblöcken und Mobiliar werfenden Proleten als Woyzeck kennenlernen. Doch zunächst einmal ist er vor allem das Ärgernis und der ­Alptraum der Mitspielenden, die auf dem Sitzrund Platz genommen haben und ihn fürchten müssen. Ein Bühnenarbeiter, der verrücktspielt, ein Techniker, der mehr und anderes als bloß Techniker sein möchte. Einer, der – wie der junge Johan Simons in der Garderobe des Stadttheaters von den Haag – randaliert, mit seiner Revolte hier und jetzt beginnt, im Zirkus im Theater.79 In 27 Szenen präsentiert uns Simons das Spiel auf der Bühne als eine Art von szenischer Reflektion über die Fragmente, die von Büchners „Woyzeck“, einer der großen „Wunde(n)“80 in der deutschen Literatur, überliefert sind. Nummer für Nummer arbeiten sich die Spielenden an Büchners Stoffen ab, zeigen uns das Buhlen der zwei Liebhaber, denen Marie sich hingibt, um deren Gunst, lassen uns – alleine durch die andauernde Gegenwart aller auf der Bühne – etwas erahnen vom ­offenen Geheimnis jener klassischen dramatischen Literatur, in die sich Büchner einschreibt, um sie aufzubrechen, vergleichbar dem Künstler, wie Simons ihn mit Joseph Roth definiert: Es ist das Theater der politischen, der toxischen Männlichkeit.81 Die Frau ist hier kaum mehr als der Pokal, die Trophäe, um die man sich streitet. Zugleich ist sie das Objekt der männlichen Blicke. Und eben deshalb, weil sie aus dieser Männerwelt ausgeschlossen wird, kann sie in ihr nur erhöht oder erniedrigt auftreten, als Heilige, Hure oder Frauenopfer, doch nicht unter Gleichen. Unaufdringlich und doch eindringlich lässt uns Simons so etwas über die Rebellion Büchners bzw. dieses Stückes gegen das im 18. Jahrhundert errichtete Dispositiv des modernen Theaters und sei81 Vgl. zum Begriff der politischen Männlichkeit: ner polizeilichen Dramaturgie erst erahnen, dann erfahren.82 Zugleich legt Susanne Kaiser: „Politische Männlichkeit: Wie er frei, dass dieses neue Dispositiv im frühen 19. Jahrhundert Büchners Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen.“ Berlin 2020. wie nun auf Laimés Bühne vor und hinter den Kulissen noch die andere 82 Vgl. zur Unterscheidung politischer und poliOrdnung des Theaters erahnen lässt, die es ersetzt: Das nun als minderzeilicher Dramaturgie: Verf.: „Politische und Polizeiliche Dramaturgie.“ In: Jan Deck u. wertig oder vormodern angesehene früh-neuzeitliche Dispositiv des Sandra Umathum (Hrsg.): Postdramaturgien. ­Harlekins und der Commedia dell’arte, des Straßen- und JahrmarkttheaBerlin, S. 209–230. 83 Vgl. zur hier nur andeutbaren Ablösung eines ters, an dem sich der „Pöbel“ erfreut.83 Simons Woyzeck ist Farce in jenem durch ein anderes Dispositiv im 18. JahrhunSinn, wie Marmontel sie in seinem Eintrag für d’Alemberts und Diderots dert und der Wiederkehr der damals abgelösten anderen Ordnung: Verf.: „‘Der Chor der Enzyklopädie definiert: „Die Farce ist das Schauspiel für den Pöbel, & man Komödie“. Zur Wiederkehr des Harlekin in muß ihm dieses Vergnügen lassen, doch in der Form, die ihm gebührt, das Theater und Performance der Gegenwart.‘“, in: Verf. / André Schallenberg / Mayte Zimheißt auf Gerüstbühnen statt in Theatern, & auf Umschlagplätzen statt mermann(Hrsg.): Performing Politics. Poliin Sälen. Dort gehört diese Vergnügung hin, dort bekommt die Farce die tisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert. Berlin 2012, S. 189-201. Ders.: „Das Zuschauer, für die sie geschrieben ist. Ihr richtige Säle & einen geordneten Dispositiv und das Unregierbare. Vom Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik.“ In: Lorenz AgRahmen zu geben, sie mit Musik, Tanz, einer hübschen Dekoration auszugermann / Georg Döcker / Gerald Siegmund statten heißt, den Rand des Bechers zu vergolden, aus dem das Publikum (Hrsg.): Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Auffüh›das Gift des schlechten Geschmacks trinken wird.“84 rung. Frankfurt am Main, S. 67–88. Es zeichnet Simons Inszenierung aus, dass sie, wie auf der Bühne 84 Jean-François Marmontel: „Farce“, in: Anette ­Zirkus, Kintopp und Jahrmarkttheater, das vermeintlich niedrige, vormoSelg,e u. Rainer Wieland: „Die Welt der Encyclopédie“, aus dem Franz.von Holger Fock / derne Theater in den Tempel des gehobenen Sprechtheaters, die Wiener Theodor Lücke / Eva Moldenhauer / Sabine Müller, Frankfurt a. M. 2001, S. 102f. Burg integriert. Sein „Woyzeck“ ist Literaturtheater, gewiss, doch eines,

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das man kaum in den klassischen Kategorien des Dramas und seiner Inszenierung zu fassen bekäme, denn die Literatur liefert hier zwar den „Stoff“, sie ist jedoch nur einer unter verschiedenen, gleichberechtigten Stoffen. Denn da ist auch der immer wieder in kurzen Zäsuren aus Projektionen, Klavier und Schlagzeugklängen eingeflochtene Zirkus, da sind die Szenen, die wie zu zweit oder dritt erarbeitete Improvisationen wirken, etwa zwischen Marie und ihren beiden Männern oder um den auf dem Kopf stehenden Hauptmann herum. Da sind die Interaktionen mit dem ­Publikum, an das sich mal Marie, mal Woyzeck wendet, da ist der Regen, der die Bühne unter Wasser setzt. Will man fassen, was Simons dem großen Theater der Stadt und Staatstheater, der ihn beherbergenden Burg oder dem kaum weniger monumental pathetischen Bochumer Schauspielhaus mit dieser Zirkus-Nummernshow entgegensetzt, so bietet sich eben jener Begriff an, den Brecht gegen Ende seines Lebens als Gegenbegriff zum Bildungstheater prägte: Es ist ein „Umbildungstheater“85. Hier hat es die Form kleiner, schneller Nummern, unaufwändig jede für sich, ausgelassen wie Kinderspiel, etwa dann, wenn 85 Vgl. Bertolt Brecht: [Zum deutschen Schriftstellerkongress, Januar 1956], in: GBFA 23, die Schauspieler erkunden, was sich mit der schräg über der Bühne hänS. 376 f., hier S. 377. genden Traverse anfangen lässt – Sport oder Sex. Mitten im größten der 86 Vgl. Verf.: „Skript-basiertes Theater.“ In: Karin Nissen-Rizvani u. Martin Schäfer (Hrsg.): Togroßen Häuser des Sprechtheaters wird so das implantiert, was den grogetherText. Prozessual erzeugte Texte im ßen Häusern vorausgeht und sie überdauert, die Kunst der „Trüpplein“. Gegenwartstheater. Berlin 2021, S. 77–98. 87 Vgl. zum Spielprinzip der „Kiste“: Bertolt Woyzeck ist in dieser Inszenierung vielleicht als „kript-basiertes“ Brecht: „,Kisten‘“. In: Helene Weigel u. Berliner Theater begreifbar86, Übertragung des Stückes in eine ihm korresponEnsemble: Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Dresden 1952, S. 102 f. dierende Bühne, die Zirkus und Theater ineinanderblendet, buchstäblich am Anfang, in der Spielweise später, wenn die uns begrüßende ­Figur, der Hauptmann, seinen Kopfstand macht, mit dem Stuhl hinten über fliegt, ohne sich zu verletzen oder sonstige kleine Kabinetts-Stückchen, „Kisten“87, einfließen lässt. Vor allem aber entspricht dem Zirkus das Prinzip der Abfolge von Nummern, deren jede ihren eigenen Gesetzen folgt, ein eigenes Spiel im Spiel e ­ ntfaltet, nicht ganz losgelöst von den anderen Szenen, doch auch nicht mit ihnen in einer notwendigen Kausalkette verbunden, sondern eher aneinandergereiht, vielleicht am ehesten nach Prinzipien von Rhythmus und Komposition angeordnet, einander wechselseitig erhellend und kommentierend, aber auch unterbrechend und kontrastierend. In ihrem Eigensinn überträgt sich das Prinzip der Langage, das Büchners Text bestimmt, der über jeden Sinn und jede Bedeutung hinausweisenden Gestik in Sprache und Agieren, auf das Spiel im Stadttheater. Dass die Szenen so wirken, verdankt die Inszenierung der Art des Zusammenspiels ihrer Spieler. Sie spielen miteinander und sie spielen einander mit, verlassen niemals die Bühne, sondern bleiben auch dann, wenn sie keine Rolle spielen, im Halbrund sitzen. Es ist ein Theater für die Spielenden, was hier auf die Bühne kommt, ein Theater, in dem die Spielenden einander sehen, vielleicht ihre ersten und sicher ihre wichtigsten Zuschauer sind, als verschachtelte ­Simons nicht nur Zirkus und Guckkastentheater, sondern auch beides 88 Friedrich Hölderlin: „Oedipus der Tyrann.“ In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 16, Frankfurt und mit Brechts Lehrstück. Die Spielenden sind Stars, durchweg, aber solche Basel 1988, S. 77–245. des Zusammenspiels, Sterne in Konstellationen. 89 Heiner Müller: „Sophokles / Ödipus, Tyrann. Nach Hölderlin“, in: Ders.: Die Stücke 4. Bearbeitungen für Theater, Film und Rundfunk. Frankfurt a. M. 2004, S. 7–54, hier S. 50. Vgl. dazu auch Müllers Anmerkung in seiner „Autobiographie“: „In Hölderlins OedipusÜbersetzung ist das so formuliert: ‚Denn süß ist wohnen, wo der Gedanke wohnt / entfernt von Übeln.‘ Ich habe das gefälscht, das Moralische herausgenommen. Bei mir steht: ‚entfernt von allem‘. Das Auslöschen der konkreten Wahrnehmung zugunsten einer Idee, in der man sich jetzt ansiedeln will.“ Zit. nach: Heiner Müller: „Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie“, in: Frank Hörnigk (Hrsg.): Werke. Bd. 9, Frankfurt a. M. 2005, S. 159.

90 Vgl. Aristoteles: „Poetik.“ Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 34 f., 44f., 84f. 91

Vgl. zu einer Darstellung des für Freud zentralen „Ödipuskomplex“ Jean Laplanche. u. Jean-Bertrand Pontali: „Ödipuskomplex“, in: dies.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1989, S. 351–357.

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(3) Ödipus – Theater des Post-Anthropozäns Ein queer-feministisches De-reglement geht dem, was wir auf der Bühne der von Johan Simons gezeichneten Inszenierung des „Ödipus“ sehen werden, voraus. Das Bochumer Ensemble wählt für die Arbeit nicht die das Deutsche griechisch färbende Fassung Hölderlins88, nicht diejenige Heiner Müllers, wenngleich es ihm an einer wichtigen Stelle folgt89, und auch keine andere der existierenden Übersetzungen, entscheidet sich vielmehr für eine eigene Bearbeitung, die ihrerseits von drei Autorinnen verfasst, übersetzt und eingerichtet ist. Diese schreibt in die Übersetzung des Textes von Sophokles eine Relektüre der antiken Tragödie ein (Textfassung: Elsie de Brauw, Mieke Koenen, Susanne Winnacker), welche den Phallogozentrismus des Stückes ausstellt und damit vor Augen führt: Er schlägt sich in der Tragödie zunächst einmal darin nieder, dass diese als die Geschichte von Verkennung und Erkenntnis des Ödipus ­verfasst ist, von einer Figur her, die von Aristoteles90 über Freud91 bis zu

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Deleuze / Guattari92 und Foucault93 und zahlreichen weiteren Autoren in selbst ödipalem Agieren als Beispiel setzend interpretiert wurde: Für die Tragödie, für das familiäre Drama, das jeder Mensch durchlaufen muss, 93 Michel Foucault: „Die Wahrheit und die juristischen Formen.“ Frankfurt a. M. 2002. für einen Helden und seinen Untergang, eine Subjektwerdung und die 94 Vgl. zu diesem letzten Punkt Ulrike Haß: mit ihr einhergehende Blindheit für Strukturen, für die Errichtung einer „Kraftfeld Chor.“ Berlin 2020, insb. S. 37–96. paternalistischen Ordnung, die sich an die Stelle der ihr vorangehenden 95 Vgl. Silvia Bovenschen: „Die imaginierte Weiblichkeit.“ Frankfurt a. M. 1979. maternalistischen setzt, für die Ablösung des im Chor noch anwesenden 96 Vgl. Friedrich Hölderlin: „Antigonae“. In: Ders.: voranfänglichen Mitseins und damit einer den Einzelnen übersteigenden Sämtliche Werke. Bd. 16, S. 261–407, hier S. 267. sozialen Struktur durch das Prinzip des Protagonisten und der mit ihm verbundenen Genealogie.94 Alles dies lässt die Inszenierung wie ein ­Palimpsest noch erkennen. Doch sie nimmt dazu neuerlich jene dem Künstler von Simons mit ­Joseph Roth zugeschriebene Haltung des Mauerns an alten Gebäuden ein: Die alte Ordnung und Struktur ist noch sichtbar, im Stücktext wie in seiner Inszenierung, sie wird gezeigt, doch ist sie nicht länger diejenige, die das Spiel bestimmt. Dessen Regeln werden vielmehr von Elsie de Brauw, Mieke Koenen und Susanne Winnacker auf und hinter der Bühne umgebildet, neu definiert. Der „imaginierten Weiblichkeit“95 des Sophokles und der langen Reihe der Männer, die ihn immer neu lasen, deuteten und umschrieben, tritt hier ein sich emanzipierendes Ensemble entgegen, das Jokaste aus dem Rahmen der Ordnung der Tragödie heraustreten lässt, doch zugleich auch Theiresias und darüber hinaus die häufig zu Nebenfiguren degradierten weiteren Auftretenden, die Priesterin, den Boten, den Hirten sowie den sie umgebenden Kosmos, in dem sie umfangen sind. In dieser umfassenden Verschiebung werden wir am Ende den Protagonisten Ödipus und seinen Antagonisten Kreon aus der mit ihr gesetzten Distanz anders neu zu lesen lernen, und mit ihnen den ­Anfang des europäischen Dramas und seiner Ordnung. Wenn die Inszenierung beginnt, sehen wir, begleitet von einem dunklen, fernöstlich anmutenden Sound (Musik: Mieko Suzuki, Lukas Tobiassen), vor einem unheilvoll roten Morgenhimmel schwarze Vogelschwärme ihre Figuren über den Himmel ziehen, Zeichen, eine unlesbare Schrift hinterlassend, an Hitchcocks Vögel erinnernd. Sie wird von den Spielenden betrachtet, die dabei zunächst wie Scherenschnitte, schwarz vor dem erleuchteten Hintergrund, stehen und vorbeiziehen. Kaum mehr als ihre Haltung prägt sich ein: Eine Frau, selbstbewusst wirkend, weil aufrecht gehend, ein älterer Mann, eine junge Frau, ein junger Mann. Rot ist die Farbe der Bühne (Nadia Sofie Eller), ein Unheil ankündigendes Morgenrot, vielleicht, oder auch jenes Rot, das Hölderlin – zum Befremden seiner Zeitgenossen – aus dem Griechischen ins Deutsche bringt, wenn er in seiner Version der „Antigone“ des Sophokles übersetzt, dass ein „rothes Wort“96 gefärbt worden sei. Auf rotem Boden wird hier gespielt, glänzend wie bei einer Gala, aber, wie sich schnell zeigen wird, auch blutig, vielleicht befleckt von der Pest, die in Theben wütet, vielleicht aber auch von der ­Hamartia, vom Nefas des Ödipus, vom Mord am Vater wie vom Beischlaf mit der Mutter. Rot ist das Kostüm Jokastes, vielleicht ihre Mitschuld andeutend, vielleicht ihr Prinzip der Mütterlichkeit. Mit diesem atmosphärisch dichten Auftakt, der den Bogen zwischen dem griechischen Anfang und einem Ende der Geschichte des abendländischen europäischen Dramas und der aristotelischen Tragödie schlägt und sie auf das zurückführt, was ihnen vorausging und über sie hinausweist, setzt die Inszenierung den Rahmen alles Folgenden oder besser: sprengt sie diesen Rahmen, noch bevor das Spiel begonnen hat. Wenn nach dem ungefähr fünfminütigen Vorspiel, dem sich kaum einer, der ihm im Theater folgt, entziehen können wird, statt dem bei Sophokles mit dem ersten Wort versehenen Ödipus Jokaste hervortritt, um nicht einen Priester, sondern eine Priesterin (Sarah Moeschler) anzusprechen, dann ist dies das nächste Zeichen, das uns diese Arbeit gibt: Die Königin, Mutter und Ehefrau tritt hier aus dem geschichtlich begründeten Schatten des Ödipus hervor. Nicht ohne Witz ist dabei, dass Simons, wenn er, darin an Brecht erinnernd, seiner Ehefrau gewissermaßen die Inszenierung auf den Leib schneidert, und mehr noch, anders als Brecht, Elsie de Brauw sich den Text selbst (mit-)schreiben lässt, die eigene Rolle als Regisseur gewissermaßen mit der verbindet, die an diesem Abend Ödipus auf der Bühne spielen wird. Jokaste beklagt die Unfruchtbarkeit der Frauen und der Tiere. Das Thema ist so von Anfang an gesetzt: Nicht die Misere des Mannes, der erkennen muss, dass er seinen Vater getötet und mit seiner Mutter das Bett geteilt hat, wird hier im Zentrum stehen, sondern die seiner Frau und Mutter. Anschaulich beschreibt de Brauw sie in einem kurzen Text, der im Programmheft abgedruckt ist, einfühlsam als Frau, die in der „Ödipus92 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: „Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1.“ Frankfurt a. M. 1974.

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97 Vgl. Manuskript des Programmheftes der InErzählung … untergepflügt“97 wurde, als eine, die auf den Erstgeborenen szenierung. verzichten muss, ihn jedoch nicht töten kann, als glückliche Gattin des 98 Vgl. dazu neben der schon erwähnten Studie Ödipus, die mit ihm vier Kinder hat und als eine, die sich über die Rückvon Ulrike Haß insbesondere Einar Schleef: „Droge Faust Parsifal.“ Frankfurt a. M. 1997. kehr des vermeintlich ermordeten Kindes so freut, dass mögliche 99 Vgl. Heinrich von Kleist: „Amphitryon. Ein Schamgefühle davon überlagert werden. Jokaste gilt ihr als eine große Lustspiel nach Molière“, in ders.: Sämtliche Werke und Briefe I. München, dritte Auflage, Liebende, die ihrer Kinder, ihres Mannes und ihres Volkes, „ihrer Men1964, S. 245–320, hier S. 320. schen“ gedenkt. In der Inszenierung erscheint konsequenterweise das Schicksal des Ödipus als Teil eines größeren Ganzen, das die Menschen mit allen anderen Lebewesen verbindet. Theben, das ist hier nicht der Nabel der Welt, sondern eher eines der vielen europäischen Dörfer, ein kleiner Teil der von hier wie von allen Dörfern aus in ihrer Ganzheit unabsehbaren Welt, Teil eines unlesbaren Kosmos, der Zeichen hinterlässt, die zu deuten sind. Spricht Elsie de Brauws Jokaste in diesem Rahmen, dann hören wir eine stark akzentuierte Sprache. Ein Text wird gesprochen, der uns verständlich machen will, was hier geschieht, transparent, ohne Pathos, aber doch mit so viel Genauigkeit, minimalistisch jedes Detail ernst nehmend, dass wir ihn nicht länger als bloß den Text dieser einen Frau hören, sondern als mehr und weniger. Brauws Jokaste verkehrt die überkommene Geschichte und macht sie dadurch in der Distanz neu sichtbar und hörbar, besetzt sie mit eigenem Begehren und einer eigenen Agenda. Sie markiert einen blinden Fleck im Stück des Sophokles. Ihre Rolle wird im Text durch entscheidende Verschiebungen bis zu dem Punkt neu akzentuiert, dass man das entstandene neue Stück auch mit ihrem Namen versehen könnte. Denn sie ist es nun, die als eine Epoche machende Person ihren Auftritt hat und sich im Kampf mit jener kosmischen und zugleich menschlichen Ordnung subjektivieren wird, aus der sie bei Sophokles ausgeschlossen wurde. Die Umschreibung des überkommenen Textes lässt dessen patriarchalische Struktur vor Augen treten, die Ordnung des Dramas, die, wie es immer wieder beschrieben wurde, auf dem Tod der Frau(en) aufbaut.98 An diesem Abend ist die bei Sophokles zum marginalisierten Opfer degradierte Jokaste nicht länger Teil jenes Grundes, vor dem die Figur des Ödipus erscheint, sondern vielmehr Mutter, Begehrende und zuletzt, mit offenem Ausgang, Aufbegehrende. Auf des Ödipus Aufforderung, sich umzubringen, antwortet sie mit einer Frage: „Ich?“ So lapidar, wie ihr Einspruch gegen das abendländische Theater der Tragödie großer Männer in Text und Inszenierung platziert wird, erscheint sie als Ahnin oder Schwester im Geiste der Alkmene aus Kleists „Amphitryon“, als Figur, die mit ihrem „Ich“ wie jene mit ihrem „Ach!“ die alte, in vielen Varianten und Übersetzungen tradierte Ordnung aufzukündigen vermag und dadurch öffnet.99 Mit Jokastes „Ich?“, mit dem Fragezeichen hinter dem Personal­ pronomen, ist so eine radikale Infragestellung der Ordnung des Stückes und mit ihr derjenigen des abendländischen Dramas und der aristotelischen Tragödie verbunden. Ihre neu akzentuierte Rolle lässt deutlich werden, dass mit diesem Stück zugleich eine andere Geschichte überliefert worden ist, ein anderer Anfang von Geschichte und eine diese voranfänglich aussetzende andere Ordnung, auf die zurückzugehen erlaubte, die Strukturen des europäischen Theaters und mit ihm Europas neu zu begründen, anders, vielleicht besser. Jokaste entgegen tritt mit Ödipus (Steven Scharf) ein Hausherr, eine Figur der bürgerlichen, der ökonomischen Vernunft und des Dramas, ein Herrenmensch, der Boss der Firma Theben, im Anzug, aber darunter nackt, was die Antike mit der Glamour-Welt der Gegenwart kurzschließt, zugleich an Fernsehserienhelden wie Don Johnson und die Soldaten aus Schleefs Chorinszenierungen erinnert. (Kostüme: Greta Goiris) Er erscheint als einer, der sich auf die heutige Form des Managements versteht, spricht leise, verbindlich, rastet nur in Extremfällen, auch dann berechnend wirkend, aus. Der in seine Rede einmontierte weit reichende Eingriff Heiner Müllers in Sophokles Text, wonach Ödipus, statt wie bei Hölderlin zu sagen „süß ist wohnen, wo der Gedanke wohnt / entfernt von Übeln.“100, nun sagt: „entfernt von al100 Friedrich Hölderlin: „Ödipus“, S. 231. 101 Heiner Müller: „Sophokles / Ödipus, Tyrann“, lem“101, schreibt seiner Figur die folgenschwere Trennung von Theorie S. 50. und Praxis ein, die Müllers Deutung zufolge ungefähr zeitgleich mit 102 Vgl. Michael Ostheimer: „Die Tragödie des dem Stück in der griechischen Gesellschaft entsteht. Sie führt, wie absoluten Wissens.“ In: Ödipus Tyrann von sophokles nach Hölderlin von Heiner Müller. Müller, darin Adorno / Horkheimers Denken aufgreifend, entwickelt und Thalia Theater Programmheft Nr. 18, Spielseiner Übersetzung eingeschrieben hat, in ihrer letzten Konsequenz zu zeit 2009/2010, Hamburg 2010, S. 10–17. jener Verselbständigung der abendländischen Vernunft, an deren Ende die Entwicklung von M ­ assenvernichtungswaffen wie der Atombombe von Hiroshima stand.102 In Steven Scharfs Ausgestaltung der Rolle des Ödipus nimmt das Fortleben der Ordnung des Ödipus

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Polyphonie oder Esperanto

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in Wirtschaft wie Gesellschaft und Politik der Gegenwart Gestalt an, ohne dass dabei allzu plumpe Klischees bedient würden. Effektiv in seinem Willen aufzuräumen, spricht und agiert dieser Ödipus, als käme er direkt aus einer Simonschen Houellebecq-Inszenierung oder einer von Netflix produzierten Politik-Serie: Ein Kevin Spacey im „House of Cards“ Griechenlands. Er ist die zeitgemäße Verkörperung einer toxischen, politischen Männlichkeit, allem gewachsen, immer bei sich, selbst dann noch, wenn er außer sich gerät. Scharf ist, nicht zuletzt seit seinem preisgekröntem „Judas“-Monolog unter Simons’ Regie, ein Starschauspieler, der in dieser Inszenierung alle Register seiner Virtuosität ausspielen darf: Die ruhige Überlegenheit, die kalkuliert eingesetzte Entfesselung der eigenen Emotionen, die sich schließlich, im Moment der Anagnorisis, in ein Rasen des geblendeten verwandeln, das ihm noch einmal erlaubt, die ganze Breite der stanislawskischen Einfühlungsästhetik vor Augen zu führen. Doch die Augen, vor die er es führt, sind zunächst einmal diejenigen der mit ihm spielenden Jokaste, die ihn ungerührt betrachtet und während seiner Agonie die lakonische ­lyrische Fabelerzählung Heiner Müllers103 rezitiert. So zur Chronistin der kal103 Heiner Müller: „Ödipuskommentar“. In: Ders.: Werke 1. Die Gedichte. Frankfurt a. M. 1998, S. 157 f. ten Gegenerzählung werdend, kann sie am Ende den letzten Angriff des 104 Vgl. zu einer entsprechend beschriebenen Helden, dessen Appell, sich aufzuhängen, aus der Distanz heraus beantForm, „die Sprache zum Stottern zu bringen“: Gilles Deleuze: „Ein Manifest weniger“, worten, die sie im Verlauf dieses Außenblicks gewonnen hat. Im Angesicht S. 392. Verf.: „Entstaltung der moralischen der inkarnierten beschränkten Vernunft des Ödipus erscheint sie wie die Anstalt. Zur Ausstellung der ‚Sprachbildung‘ im ‚Trailer‘ von Einar Schleefs Inszenierung Erinnerung an eine andere Vernunft, ein Prinzip der Menschlichkeit, das sich Wessis in Weimar.“ in: Felix Ensslin (Hrsg.): nicht in der beflissenen, gelingenden Rede, sondern in deren Aussetzern Spieltrieb. Berlin 2006, S. 252–267. zeigt.104 Elsie de Brauw spricht in jedem Moment mit der Pointierung und Aufmerksamkeit, die nur denen möglich ist, die die Sprache nicht einfach als gegeben begreifen, sondern als eine beständig sich neu zu erschließende, zu erarbeitende, als etwas, das staunen lässt. Der Anklang jener Laute, die man einst als guttural bezeichnet hat, lässt noch hören, dass sie von anderswoher kommt, in einer anderen Sprache und Welt sozialisiert wurde und mit diesem Rest einer anderen Sprache in ihrem Sprechen arbeiten und spielen kann oder genauer, dass sie diesen Rest, diese Erinnerung an die bloße Sprachfähigkeit im Sprechen, zum Vortrag bringen kann. Jokaste und Ödipus sind Teil einer antiken Konstellation, zu der nacheinander weitere Figuren treten werden, etwa der kontrapunktisch besetzte Bote aus Korinth (Marius Huth), der der älteste von allen sein müsste, hier aber vom jüngsten Schauspieler gespielt wird, der Hirte (Risto Kübar) oder der nicht minder toxisch männliche Kreon (Stefan Hunstein). Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie Mitspielende sind, im Zusammenspiel auftreten, in einer Gemeinschaft 105 Vgl. zu den Figuren des Dieners, des Boten der Singularitäten, der Vielen, die alle je ein Leben sind.105 Für sie, die an­ usw. Hass: Kraftfeld Chor, S. 53 ff. dere, voranfängliche Struktur, die Geschichte vor derjenigen, die auf der 106 Vgl. zur Figur des Tiresias bei Sophokles / HölBühne entfaltet wird, steht dabei zunächst einmal Theiresias. Ein Seher derlin: Jörn Etzold: „Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft.“ Paderborn 2019, oder besser: ein:e Seher:in , bei Sophokles gekennzeichnet als drittes GeS. 308–316. schlecht, mit den Vögeln verbunden und darüber mit dem Kosmos, eine 107 Vgl. zu diesem Begriff Friedrich Hölderlin: „Anmerkungen zum Ödipus.“ In: ders.: SämtSprache der Wahrheit sprechend, die in menschliche Sprache übersetzt liche Werke. Band 16, S. 249–258; ders.: „Anwerden muss, und dabei in jedem Fall verhängnisvoll zu mehr und anderem merkungen zur Antigonä.“ Ebd. S. 409–421. wird. Theiresias tritt auf in einem schwarzen Kostüm aus Vogelfedern, er108 Vgl. Sigmund Freud: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“, in: ders.: Schriften zur scheint als ein androgynes oder zweigeschlechtliches Wesen, Mann und Behandlungstechnik. Frankfurt a. M., 3. AuflaFrau oder weder Mann, noch Frau.106 Als blinde:r Seher:in verkörpert diese:r ge, 1989, S. 205–215, hier S. 215. 109 Ebd. Theiresias ein asymmetrisches Gegenprinzip zu Ödipus, die dessen Ordnung des (vermeintlich) seiner selbst bewussten Subjekts voranfänglich bedingende wie aussetzende Gattung vielleicht, eine, in den von Hölderlin inspirierten Begriffen Benjamins formuliert, reine Mittelbarkeit. Wenn diese Figur der Defiguration, nach ungefähr einem Drittel der Vorstellung, ihren Auftritt hat, so setzt sie damit eine Zäsur107, die alles, was sich bis hier etabliert hat, in Frage stellt. Ihr Monolog, den sie, in der Mitte der Bühne stehend, vorträgt, erscheint als musikalische, klingende Rede, nicht reduzierbar auf den bloßen Sinn oder die einfache Bedeutung. Wenn sie ihre Deutung des Unheils gibt, so gleicht sie dabei einem:-r Psychoanalytiker:in, deren „Benennen des Widerstandes nicht das unmittelbare Aufhören desselben zur Folge haben kann“, wie Freud sich ausdrückt.108 Der Kranke brauche noch Zeit, um sich in den Widerstand zu vertiefen, „ihn durchzuarbeiten, ihn zu überwinden“.109 Trommeln und Sphärenklänge lassen Theiresias als buchstäblich unheimliche:n Mitbewohner:in erscheinen, als eine:n, der oder die Teil der Gemeinschaft von Theben ist, aber auch diese überschreitet, von anderswoher kommt, sie auf das zurückführt, was ihr die Regeln gibt und sie zugleich immer neu infragestellt.

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Das Bochumer Ensemble dekonstruiert das Stück in seiner Rückführung auf ein irreduzibel polyphones Spiel der in ein Netzwerk von Abhängigkeiten verflochtenen Akteur:innen mit dem Ziel der Freilegung jener reinen Mittelbarkeit, die Voraussetzung für Freiheit ist, für ein Tun, das nicht länger dasjenige der Erfüllung einer vermeintlich von Göttern gelenkten Menschheit ist, ohne doch andererseits sich der Illusion hinzugeben, jemals von einem Nullpunkt aus neu anfangen zu können. Die Menschen machen hier, wie man mit dem Marx des 18. Brumaire formulieren könnte, „ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein 110 Karl Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Alp“110 auf ihnen. Deutlich wird dabei, dass Simons mit der DekonstrukBonaparte.“ Berlin 1988, S. 19. tion des Ödipus auch an der Auflösung der eigenen Privilegien arbeitet: 111 Vgl. Bertolt Brecht: [Der Messingkauf]. In: Die von seiner Hauptdarstellerin und ihren Co-Autorinnen geschriebeGBFA 22.2, S. 695–869, hier S. 823. Vgl. dazu Verf.: „(Un-)Glauben. Das Spiel mit der Illune Auflösung des Narrativs, das Sophokles eingesetzt hat, stellt eine sion.“ In: Forum Modernes Theater, Bd. 22 / 2 Art von Enteignung auch auf der Ebene des Theaters dar. Es ist eine (2007), S. 141–151. freundliche Übernahme, eine Verwendung der Tradition, die diese als jene des Anthropozäns ausstellt und betrachtet. Die von Menschen gemachte Welt wird als grundlegende Illusion vorgeführt, bei der sich hinter dem Anthropos, dem Menschen, der Europäer verbirgt, und hinter ihm der Mann im Zentrum der Tragödie und der dramatischen Vernunft des Abendlandes, wie sie in der Zeit des „Ödipus“ geschaffen wurden. Die Inszenierung blickt auf sie, sie lässt uns schauen auf die Schichtungen von zweieinhalb Jahrtausenden des europäischen Theaters und führt sie mit „schwacher Einfühlung“, wie Brecht es genannt hätte, vor.111 Es ist ein Blick vom Ende her und vielleicht der Beginn eines anderen Theaters, europäisch darin, dass es mehr und weniger als europäisch wäre, menschlich, insofern es mehr und weniger als menschlich wäre, vielleicht ein Theater des Post-Anthropozäns.

III. Theater der Umbildung Als Brecht nach der Rückkehr aus dem Exil versuchte, Theater neu aufzubauen, war ihm klar, dass dies nur auf dem Weg der Ideologiezertrümmerung würde möglich sein, als Arbeit an dem, was 12 Jahre NS-Zeit, deren lange Vorgeschichte und deren untergründiges Nachwirken in den Köpfen noch der anti-faschistischen Feinde des NS-Staates hinterlas112 Vgl. zur Ideologiezertrümmerung als Prosen hatten.112 Nicht minder gewaltig war, was in den Jahren kurz nach gramm Brechts: Heiner Müller: „Fatzer + KeuMauerfall und Vereinigung weitgehend der Volksbühne am Rosa-­ ner“, in: ders.: Material, S. 30–36, hier S. 32. Luxemburg-Platz vorbehalten war: Sich ohne falschen Stolz und ohne 113 Vgl. mit Blick auf Hollandia in diesem Sinne auch Henk Oosterling: „Over de grens/On the falsche Scham mit der Hinterlassenschaft der DDR auseinanderzusetborder.“ Erasmus University of Rotterdam zen und dabei zunächst und vor allem mit dem, was zu betrauern nirCentre for Philosophy & Arts (CFK), übersetzt v. Claire Weeda. Ohne Jahr. gendwo sonst damals wie heute möglich war. Als Theater der Umbildung arbeiteten beide Ensemble- und Repertoiretheater mit und an dem, was eine mehr oder weniger lange ästhetische Tradition hinterlassen hatte: An den Verhaltensweisen, Praktiken und unhinterfragt hinternommenen Strukturen des Nationalsozialismus Brecht, an denen der DDR und des sowjetischen Erbes Castorf. Umbildung war dabei hier wie da das Resultat einer fortdauernden affirmativen Auflösung überkommener Ideologie. Eine ähnliche Arbeit lässt sich aber auch in Johan Simons‘ heutiger Suche nach einem europäischen Theater beobachten. Denn europäisch an seinen Arbeiten wie seinem Umgang mit den Institutionen scheint die Bewegung des Über-sich-selbst-Hinausgehens zu sein. In den hier ausführlicher besprochenen Arbeiten betrifft dies die europäischen Grenzen in ihren Ein- und Ausschließungen („Anatomie Titus“, „Fort Europa“), die mit dem bürgerlichen Theater verbundene konstitutive Ausgrenzung des Proletariats und seiner den bürgerlichen Rahmen potentiell sprengenden Vergnügungen („Woyzeck“), sowie schließlich die dem europäischen Theater zugrundeliegende Gründungsgeste, mit der im „Ödipus“ des Sophokles der abendländische Phallogozentrismus seinen Anfang nimmt und zugleich, damit verknüpft, die genealogische Ordnung, die heteronormative Familienstruktur und die strukturelle Abwertung und Überhöhung der Frau. Simons Theater ist gerade darin europäisch, dass es immer wieder von neuem Grenzen aufsucht113 und dabei auch noch die

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eigenen Grenzen ausstellt. In seiner zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Aufsatzes letzten Theaterarbeit lässt Simons zugleich in deren Rahmung, die auf die Ordnung der Tiere und damit auf eine Welt verweist, die dem Menschen vorausgeht und ihn vermutlich überleben wird, erahnen, dass es in der Natur eines europäischen Theaters liegen muss, dass es die eigene Endlichkeit anerkennt, ja am eigenen Verschwinden arbeitet. Als radikal europäisch erweist sich diese Arbeit darin, dass sie, um es mit Simons bzw. Roth zu sagen, das Mauern an einem neuen Gebäude Europas vor Augen führt, das vor dem Hintergrund einer abgebauten und weiter abzubauenden Ruine des alten Europas stattfindet. Erkennbar wird so die Geste, die dieses überleben wird: das Versprechen einer irreduziblen Polyphonie. Über die zu hörenden menschlichen Stimmen und die in ihnen mit- und nachklingenden verstummten Stimmen hinaus räumt sie hier anderen als menschlichen Stimmen Platz ein, einer Welt jenseits des Menschen in seinem abendländisch-europäischen Verständnis. Das Theater der Umbildung wie die Umbildung des Theaters, so könnte man vielleicht schließen, öffnet den Vorhang und bereitet das Feld für diese andere Welt.

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GASTSPIELE

FFÜHRUNG

DER HIMMEL ÜBER URAU NAZARETH (HOLY MOLY)

Samuel Finzi und Herbert Knaup

Dagmar Manzel und Band

Henry Purcell & The Beatles | Katschner, Koch

Nach Charles Dickens | Mühleis

Friedrich Hollaender, Hanns Eisler, Kurt Tucholsky u. a.

Berliner Ensemble

Düsseldorfer Schauspielhaus

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WIEDERAUFNAHME

DIE PHYSIKER

Friedrich Dürrenmatt | Gerloff

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DER NABEL DER WELT (WHERE THE EAGLES MEET)

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DIDO & AENEAS/ TIME TRAVEL

DER THEATERMACHER

Thomas Bernhard | Reese Batsheva Dance Company

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KINDER DER SONNE

Maxim Gorki | Koležnik

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EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE

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DIE PRÄSIDENTINNEN

EIN SOMMERNACHTSTRAUM

William Shakespeare | A. R. Nunes Ballets Jazz Montréal

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VANISHING MÉLODIES

Patrick Watson | J. Nunes, Plamondon Theater Bremen | Theater Bielefeld | 2eleven music film

ICH BIN CARMEN UND DAS IST KEIN LIEBESLIED

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Premiere

20 JULI

16 AUG 2023

19 AUG 2023 Helena Adler Uli Brée Calle Fuhr Felix Mitterer Hubert Sauper

17 – 19 AUG 2023

Regie Thomas Gassner in Kooperation mit dem Theater Verband Tirol

David Schalk Johannes Schmidl Gerald Votava Lisa Wentz

Regie Gregor Bloéb

Theaterauflauf Osttirol Theater ohne Pölz Schwaz Tupliak Figurentheater Volksbühne Fritzens diebühne Kirchberg Die theatermacher Fügenberg Theaterforum Humiste Imst Innsbrucker Ritterspiele s‘Theata Niederndorf

Bühnenbild Volker Hintermeier Kostüm Lane Schäfer

7 Todsünden

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SPIELZEIT 2023 ⁄ 24 DIE LETZTEN FÜNF JAHRE M USICAL VON JASON ROBERT BROWN PREMIERE 08 SEP 23

HELDENTAT UND MONSTERTOD KLASSENZIMMERSTÜCK VON MARISA WEN DT

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GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN N AC H C H O D E R L O S D E L ACLOS ⁄ B Ü H N E N FA S S U N G V O N M A R T I N P FA F F

PREMIERE SEP 23

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DER STREIT KO M Ö D I E V O N P I E R R E CARLET CHAMBLAIN DE M A R I VA U X PREMIERE 31 MAI 24

Infos unter: www.theater-naumburg.de

Ein Narrentanz

Theater Naumburg im Alten Schlachthof ab der Spielzeit 2024 ⁄ 25


2023/24 PREMIEREN GROẞES HAUS

William Shakespeare

SPIEL ZEIT 2023/24

PREMIEREN SPIEL Die goldene Stadt Markolf Naujoks I: Leonardo Raab 01.09.23, TAM DREI

Unter der Drachenwand Arno Geiger I: Nils Zapfe 20.01.24, Stadttheater

Uraufführung else (someone) Carina Sophie Eberle nach Arthur Schnitzler I: Nadja Loschky 08.09.23, Theater am Alten Markt

Nicht mein Feuer Laura Naumann I: Jette Büshel 21.01.24, TAM ZWEI

Eine Stunde Ruhe Florian Zeller I: Raphaela Möst 28.10.23, Theater am Alten Markt Familienstück zur Weihnachtszeit Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch Michael Ende I: Michael Heicks 04.11.23, Stadttheater Uraufführung Die Alleinunterhalterin Anne Jelena Schulte I: Dariusch Yazdkhasti 09.11.23, Theater am Alten Markt Die Wiedervereinigung der beiden Koreas Joël Pommerat I: Michael Heicks 13.01.24, Theater am Alten Markt

Was ihr wollt William Shakespeare I: Dariusch Yazdkhasti 09.03.24, Stadttheater Uraufführung Apokalypse, bitte! (AT) Konrad Kästner I: Konrad Kästner 16.03.24, Theater am Alten Markt Spartenübergreifende Produktion Der Sandmann Anna Calvi / Robert Wilson / E.T.A. Hoffmann I: Michael Heicks 11.05.24, Stadttheater Die Optimistinnen Gün Tank I: Murat Yeginer 17.05.24, Theater am Alten Markt

29.9.2023

Kay Pollak

WIE IM HIMMEL 10.11.2023

Amir Gudarzi

QUÄLBARER LEIB EIN KÖRPERGESANG

Uraufführung 19.4.2024 Konstanze Kappenstein

ASTRID LINDGREN

KEIN LEBEN IN BULLERBÜ 7.6.2024

DETMOLDER SOMMERTHEATER

Isobel McArthur

STOLZ UND VORURTEIL* (*ODER SO) 9.2.2024

GRABBE-HAUS

Hannah Frauenrath und Ensemble

TATORT 110

ZWEI KRIMISERIEN AUF DER SPUR 23.9.2023

Florian Zeller

VATER

16.11.2023 Christa Wolf

MEDEA. STIMMEN 17.2.2024

Georg Büchner Intendanz Michael Heicks · Nadja Loschky Schauspieldirektor Dariusch Yazdkhasti

WOYZECK 13.4.2024

HOFTHEATER

Peter Jordan

MARIE-ANTOINETTE oder KUCHEN FÜR ALLE! 10.5.2024

theater-bielefeld.de

Theater Bielefeld

@theaterbielefeld

WWW.LANDESTHEATER-DETMOLD.DE

Foto: Marc Lontzek

Kabale und Liebe Friedrich Schiller I: Dariusch Yazdkhasti 09.09.23, Stadttheater

en woke David Gieselmann 08.03.24, TAM ZWEI

WAS IHR WOLLT


23/24 09.09.23 Jeeps von Nora Abdel-Maksoud 23.09.23 Der nackte Wahnsinn von Michael Frayn 22.10.23 The One Next Door Kooperation mit Futur3 18.11.23 The Addams Family Musical von Marshall Brickmann und Rick Elice 13.01.24 Der Schiffbruch der Fregatte Medusa von Alexander Eisenach 19.01.24 Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing 02.03.24 50 Ways To Leave Your Ehemann von Jacinta Nandi URAUFFÜHRUNG 08.03.24 Sonne von Elfriede Jelinek 11.05.24 Johann Holtrop nach Rainald Goetz 14.06.24 Jedermann von Hugo von Hofmannsthal

www.theater-paderborn.de


Uckermärkische Bühnen Schwedt

Premieren 2023|24 ökonomischem Konsum – abseits von tUM ? reichs wirklich reich

w

t un ach m as

und dann lebendig DIE WELT VON HAGEN TILP

MARILYN

6.10.2023

von Sandra Zabelt

figurensammlung villa p.

TRÄUME, SEX & HOLLYWOOD DarstellBar | Uraufführung BEUTE

20.10.2023

von Joe Orton

Deutsch von René Pollesch Komödie DER KLEINE MUCK / MAŁY MUK

Sonderausstellung

22.11.2023

von Jan Kirsten

***

Märchen nach Wilhelm Hauff in deutscher und polnischer Sprache für Kinder ab 4 Jahren und Familien Uraufführung

8. Juni bis 5. November 2023

SELFIE

28.11.2023

von Christine Quintana

Deutsch von John Birke Jugendstück DAS HUHN AUF DEM RÜCKEN

9.12.2023

von Fred Apke

DarstellBar | Komödie HANF. EIN BERAUSCHENDER ABEND

8.3.2024

von Tom van Hasselt

Musical Uraufführung DER KIRSCHGARTEN

15.3.2024

von Anton Tschechow

Eine tragische Komödie BEI DER FEUERWEHR WIRD DER KAFFEE KALT Nach dem Kinderbuch von Hannes Hüttner

18.5.2024

Familieninszenierung DIE NEUEN ABENTEUER DES BARON MÜNCHHAUSEN

8.6.2023

Jan Kirsten (Libretto), Tilman Hintze, Uli Herrmann-Schroedter, Jan Kirsten, Benjamin Richter, Andreas van den Brandt (Komposition)

Musical | Uraufführung ESCAPE THEATER 2 Erlebnistheater

Sommer 2024

POSITIONEN

���KI�G �O� �UMA�ITY

KUNSTMUSEUM UND PUPPENTHEATER MAGDEBURG

theater-schwedt.de

Tel. +49 3332 / 538 111 | kasse@theater-schwedt.de

puppentheater-magdeburg.de


BIOGRAFIEN Pierre Henri Martin Bokma ist ein niederländischer

Film- und Theaterschauspieler. Er gewann zweimal den wichtigsten Theaterpreis der Niederlande, den Louis d’Or, und war Träger der höchsten niederländischen Theaterauszeichnung, dem Albert van Dalsumring. Vasco Boenisch, geboren in Berlin, absolvierte die Deut-

sche Journalistenschule in München und studierte Journalistik, Politik, Theaterwissenschaft und Soziologie mit anschließender Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität. Als freier Journalist arbeitete er für namhafte Fernseh- und Radiosender, Tageszeitungen und Zeitschriften. Er war Theaterkritiker für die Frankfurter Rundschau sowie neun Jahre lang für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Seit der Spielzeit 2018 / 2019 ist er Chefdramaturg des Schauspielhaus Bochum. Elsie de Brauw ist eine niederländische Schauspielerin.

Sie arbeitet seit 1987 in unterschiedlichen Zusammenhängen mit Johan Simons, außerdem frei in Film und Theater. Sie gewann zwei Mal den Theo d’Or (2006 und 2011) und 2007 das Goldene Kalb als beste Schauspielerin der Niederlande. Sie ist die Lebenspartnerin von Johan Simons. Nadja Sofie Eller studierte Theaterwissenschaft und

Kunstgeschichte in München und Bühnenbild / Szenischer Raum in Berlin. In der Spielzeit 2017 / 2018 war sie als Bühnenbild- und Kostümbildassistentin an der Volksbühne Berlin, von der Spielzeit 2018 / 2019 bis 2019 / 2020 Bühnenbildassistentin am Schauspielhaus Bochum. Seitdem arbeitet sie als freie Bühnenbildnerin an verschiedenen Häusern und immer wieder mit Johan Simons in Wien und in Bochum. Greta Goiris studierte Kostümdesign an der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen sowie Bühnenbild am Institute del Teatre in Barcelona. Erste Zusammenarbeiten fanden mit Jaques Delcuvellerie in Brüssel und Avignon statt. Seit 2001 arbeitete sie kontinuierlich mit Johan Simons, u. a. bei der Ruhrtriennale, an den Münchner Kammerspielen und bei den Wiener Festwochen, am Burgtheater in Wien und am Schauspielhaus Bochum. Außerdem Arbeiten mit Regisseuren wie Ivo Van Hove, Karin Beier oder William Kentridge. Ihre Arbeiten waren weltweit zu sehen, etwa an der Metropolitan Opera, bei der Documenta oder dem Holland Festival.

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Stefan Hunstein ist Schauspieler und Fotokünstler. Seit 2018 ist er Ensemblemitglied am Schauspielhaus ­Bochum. Er ist Träger des Deutschen Photopreises und gestaltete als Fotokünstler zahlreiche Einzelausstellungen in mehreren Ländern Europas. Außerdem ist er Rezitator, er liebt vor allem die Texte von Thomas Bernhard, und seit 2022 zusätzlich Direktor der Abteilung Darstellende ­Künste an der Bayrischen Akademie der Schönen Künste Sandra Hüller ist eine deutsche Film- und Theaterschau-

spielerin, ihre Auszeichnungen und Preise sind Legion. Seit vielen Jahren arbeitet sie regelmäßig mit Johan Simons zusammen, zum Beispiel in „Hamlet“ (eingeladen zum Theatertreffen 2020) und zuletzt in „Würgeengel. Psalmen und Popsongs“, einer Koproduktion des Schauspielhauses Bochum mit dem Schauspiel Leipzig. Mieke Koenen ist eine niederländische Professorin, sie

arbeitet als Latinistin an der Freien Universität Amsterdam in der Faculty of Humanities. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, eine Monographie über den Schauspieler Jeroen Willems unter dem Titel „Je Lied wordt gehoord“ ist gerade erschienen. Sie hat mit Johan Simons an „Ödipus, Herrscher“ und „Alcestis“ gearbeitet. Nikolaus Müller-Schöll ist Professor für Theaterwis-

senschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er leitet die Masterstudiengänge Dramaturgie sowie „Performative Dramaturgy and Performance Research“. Er lehrte u. a. in Hamburg, Paris, Bochum, Gießen, Florianopolis und Rom und arbeitet auch als Wissenschaftsjournalist, freier Dramaturg, Kritiker und Übersetzer.

Will-Jan Pielage ist ein niederländischer Musiker, der seit 1998 am und mit Theater arbeitet; er ist seitdem an allen größeren Produktionen von Johan Simons als Tonmeister beteiligt und seit 2014 technischer Direktor am Schauspielhaus­ Bochum

Steven Prengels ist ein belgischer Komponist und Künstler. Er studierte am Lemmens-Institut, an der Universität von Leuven, am Königlichen Konservatorium von Antwerpen und am Konservatorium von Amsterdam. An den beiden letzteren studierte er Komposition bei Wim Henderickx. Er widmet sich in gleichen Teilen dem Komponieren und der Arbeit als bildender Künstler. Steven Prengels ist außerdem Professor für Komposition am Königlichen Konservatorium von Antwerpen.

Jens Harzer ist ein deutscher Schauspieler und seit März

Johannes Schütz ist Bühnenbildner. Von 1976 bis 1983

2019 Träger des Iffland-Ringes. Nach Stationen an den Münchner Kammerspielen und am Residenztheater München wechselte er ans Thalia Theater Hamburg. Er ist u. a. regelmäßiger Gast bei den Salzburger Festspielen und am Burgtheater Wien. Er arbeitet seit vielen Jahren regelmäßig mit Johan Simons zusammen.

arbeitete er an den Münchner Kammerspielen, unter anderem bei Inszenierungen von Ernst Wendt. Von 1978 bis 1981 war er Ausstattungsleiter am Theater Bremen. Danach wirkte er am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, wo er wieder besonders mit Wendt zusammenarbeitete. Ab 1986 war Schütz


Chefbühnenbildner am Schauspielhaus Bochum. Hier begann die intensive Zusammenarbeit mit Regisseur Jürgen Gosch. An der Oper Düsseldorf debütierte Schütz mit Glucks „Iphigenie in Aulis“ als Regisseur. Von 1992 bis 1998 war er in Karlsruhe Professor am Zentrum für Kunst und Medientechnologie und assoziierter Professor an der Hochschule für Gestaltung. Seit den 2000er Jahren arbeitet er regelmäßig mit Johan Simon zusammen. Als vorerst letzte in der Reihe vieler Auszeichnungen wurde ihm 2022 der Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen zuerkannt. Johan Simons wurde 1946 im niederländischen Heerjansdam geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Tänzer an der Rotterdamer Tanzakademie und eine Schauspielausbildung an der Theaterakademie in Maastricht. Von 1976 bis 1979 war er Schauspieler und Regisseur bei der Haagsche Comedie, wo er seine ersten Aufführungen inszenierte. Seitdem leitete er verschiedene Theatergruppen und Stadttheater: von 1979 bis 1982 das Schauspielkollektiv Wespetheater, von 1982 bis 1985 das Het Regiotheater, von 1985 bis 2005 die Theater­ groep Hollandia (später ZT Hollandia), von 2005 bis 2010 das NTGent, von 2010 bis 2015 die Münchner Kammerspiele, von 2015 bis 2017 die Ruhrtriennale. Darüber hinaus war er 2015 bis 2017 Künstlerischer Leiter des NTGent. Seit 2017 ist Simons am neu gegründeten Theater Rotterdam Berater für europäische Zusammenarbeit. Seit der Spielzeit 2018 / 2019 ist er Intendant des Schauspielhaus Bochum. Jan Philipp Sprick ist ein deutscher Musikwissenschaft-

ler. Er wurde 2013 an der Hochschule für Musik und Theater Rostock zum Professor für Musiktheorie berufen. 2018 folgte er dem Ruf auf eine Professur für Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Im Oktober 2022 trat er das Amt des Präsidenten der Hochschule für Musik und Theater Hamburg an.

Mieko Suzuki wurde in Hiroshima geboren und lebt in Ber-

lin. Als Klangkünstlerin und Komponistin beschäftigt sie sich mit der Materialität von Zeit und Raum. Zu ihren regelmäßigen kreativen Partner:innen gehören die Choreografin Meg Stuart, der Theaterregisseur Johan Simons und das Avantgarde-TechnoLabel Raster. Koen Tachelet (Antwerpen) war unter der Leitung von ­ ohan Simons Dramaturg am Theater NTGent. 2010 folgte er J diesem an die Münchner Kammerspiele bis 2015. Tachelet arbeitet als Gastdramaturg u. a. an der Opéra Bastille Paris, der Nederlandse Opera Amsterdam und dem Internationaal Theater Amsterdam. Zudem verfasste er zahlreiche Adaptionen von Nicht-Theatertexten beispielsweise von Romanen von Michel Houellebecq, Joseph Roth oder Filmskripten von Kieslowski / Piesiewicz. Ab der Spielzeit 23 / 24 wird er fester Dramaturg am Schauspielhaus Bochum. Susanne Winnacker arbeitete als Wissenschaftliche

Mitarbeiterin an der Goethe-Universität in Frankfurt bei HansThies Lehmann, wo sie 1994 promovierte und danach bis 2000 als Hochschulassistentin tätig war. 2001 übernahm sie, zusätzlich zu ihrer Arbeit als Lektorin beim S. Fischer Verlag, die künstlerische Leitung des Festivals Kroonstukjes / Kronjuwelen in Münster. Von 2002 bis 2005 arbeitete sie als Leitungs­ mitglied bei DasArts Amsterdam. 2004 übernahm sie die Gesamtleitung des Theaterfestivals Welt in Basel. Sie war sechs Jahre stellvertretende Intendantin, Chefdramaturgin und ­Kuratorin für Tanz am Deutschen Nationaltheater Weimar. Ab 2012 leitete sie als Rektorin die Hochschule für Musik und Theater Rostock. Seit der Spielzeit 2019 / 2020 ist sie stellvertretende Intendantin am Schauspielhaus Bochum. Isabell Weiland, Souffleuse am Schauspielhaus Bochum

seit 2010.

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© Tomas Castelazo

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IMPRESSUM Johan Simons Dialog mit dem Tod Arbeitsbuch 2023 Herausgegeben von Susanne Winnacker © 2023 Theater der Zeit Redaktionsanschrift Theater der Zeit GmbH, Winsstraße 72, 10405 Berlin T +49 (0) 30.4435285-18 / F +49 (0) 30.4435285-44 Redaktion Nathalie Eckstein Stefanie Schaefer Rodes Karla Maier (Hospitanz) Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel

Abonnements Tel +49 (0)30 4435285-12, per Fax +49 (0)30 4435285-44 abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 24,50 (print) / EUR 19,99 (digital) Jahresabonnement (10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch) Digital: EUR 84,00, Print: EUR 95,00, ermäßigt EUR 76,00 (außerhalb Deutschlands zzgl. EUR 35,00 Porto) Kombi-Abo Digital + Print: EUR 105,00 (außerhalb Deutschlands zzgl. EUR 35,00 Porto) Probe-Abo (3 Ausgaben), Inland EUR 19,00 (außerhalb Deutschlands. zzgl. EUR 10,00 Porto) www.tdz.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und Twitter Facebook theaterderzeit / instagram theaterderzeit / Twitter theaterderzeit / Titelfoto Johan Simons. Foto Ina Schoenenburg/Ostkreuz Die Texte von Mieke Koenen, Will-Jan Pielage und Koen Tachelet sind aus dem Niederländischen übersetzt von Hillegonda Klaver, die Interviewpassagen mit Elsie de Brauw und Pierre Bockma im niederländischen Original sind übersetzt von Susanne Winnacker

Geschäftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller Tel +49 (0)30 4435285-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler Tel +49 (0)30 4435285-21, p.tischler@tdz.de Druck Druckhaus Sportflieger, Berlin

© an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit, © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren und Theater der Zeit. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. © Fotos: Fotografinnen und Fotografen

78. Nr. 7/8 2023 ISBN 978-3-95749-464-1 (Paperback) ISBN 978-3-95749-489-4 (E-PDF)

Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber.

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2023/24

Ein Leben

nach Texten von Annie Ernaux Regie: Stina Werenfels ab 14.09.23, Vidmar 1

Das Augenlid ist ein Muskel

(SEA) von Alexander Stutz Regie: Sabine Harbeke ab 23.09.23, Vidmar 2

Molières Amphitryon nach der französischen Komödie Regie: Bruno Cathomas ab 12.10.23, Vidmar 1

Macbeth

von William Shakespeare Regie: Roger Vontobel ab 21.10.23, Stadttheater

Frederick

(4+) frei nach Leo Lionni von und mit: Fabienne Biever & Isabelle Menke ab 12.11.23, Vidmar 2

Die unendliche Geschichte (8+) von Michael Ende Regie: Roger Vontobel ab 08.12.23, Stadttheater

Eurotrash

Medea

(SEA) von Christian Kracht Regie: Armin Petras ab 16.12.23, Vidmar 1

von Simon Stones nach Euripides Regie: Kamilė Gudmonaitė x-change mit Theater Freiburg ab 22.02.24, Vidmar 1

Blutbuch

Die Dampfnudel

Die Physiker

Metamorphosen

Zeit für Freude

Romeo und Julia

von Kim de l‘Horizon Regie: Sebastian Schug ab 17.01.24, Vidmar 2

von Friedrich Dürrenmatt Regie: Mathias Spaan ab 03.02.24, Stadttheater

(SEA) von Arne Lygre Regie: Mina Salehpour ab 04.02.24, Vidmar 1

(UA) von Dmitrij Gawrisch Regie: Loreta Laha ab 03.04.24, Vidmar 2

nach Ovid Regie: Sara Ostertag ab 20.04.24, Vidmar 1

von William Shakespeare Regie: Ruth Mensa ab 08.06.24, Openair, Villa Morillon


PREMIEREN GROSSES HAUS WAS IHR WOLLT / Komödie von William Shakespeare / 21.10.2023 DER GESTIEFELTE KATER / Weihnachtsmärchen nach den Brüdern Grimm / Ab 5 Jahren / 04.11.2023 DIE 39 STUFEN / Komödie von John Buchan und Alfred Hitchcock / 03.02.2024 DIE SCHMUTZIGEN HÄNDE / Schauspiel von Jean-Paul Sartre / 06.04.2024

ATELIERTHEATER URFAUST / Schauspiel von Johann Wolfgang von Goethe / Ab 14 Jahren / 23.09.2023

NULLERJAHRE / Schauspiel nach dem Roman von Hendrik Bolz / Koproduktion mit der hmt Rostock / 20.10.2023 DER KLEINE PRINZ / Schauspiel nach Antoine de Saint-Exupéry / Ab 6 Jahren / 17.11.2023 [BLANK] / Schauspiel von Alice Birch / 09.12.2023 EINE FRAU / Schauspiel nach dem Roman von Annie Ernaux / 20.01.2024 NOSFERATU / Ein Stummfilm-Theater / April/Mai 2024 KLEINE KOMÖDIE WARNEMÜNDE KEINER HAT GESAGT, DASS DU AUSZIEHEN SOLLST (STATE OF THE UNION) / Komödie von Nick Hornby / 02.02.2024

www.volkstheater-rostock.de

Illustration: Cindy Schmid

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Ab 15/9/2023 / SchauSpielHaus

ANTHROPOLIS Ungeheuer. Stadt. Theben. ANTHROPOLIS I: Prolog/Dionysos ANTHROPOLIS II: Laios ANTHROPOLIS III: Ödipus ANTHROPOLIS IV: Iokaste ANTHROPOLIS V: Antigone

Mehr Infos:

Illustration: rocketandwink.com

Eine Serie in fünf Folgen von Roland Schimmelpfennig Aischylos/Sophokles/Euripides Regie: Karin Beier


2023 / 2024 Saara Turunen, Robert Borgmann, Katharina Birch, Johan Simons, Sue Buckmaster, Liesbeth Coltof, Mateusz Staniak, Imre & Marne van Opstal, Lennard Walter, Guy Clemens, Christopher Rüping, Ulrich Rasche, Manuela Infante, Till Brönner & Nicole Beutler

www.schauspielhausbochum.de


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