Rimini Protokoll: Staat 1–4. Phänomene der Postdemokratie

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Rimini Protokoll: Staat 1–4

Phänomene der Postdemokratie


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Die Publikation ist Teil von Staat 1–4, einer Kooperation zwischen Haus der Kulturen der Welt, Münchner Kammerspiele, Düsseldorfer Schauspielhaus, Staatsschauspiel Dresden, Schauspielhaus Zürich und Rimini Protokoll im Rahmen des HKW-Langzeitprojektes 100 Jahre Gegenwart. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Staat 1 wurde vom Goethe-Institut mitinitiiert und koproduziert.

Rimini Protokoll

Rimini Protokoll: Staat 1–4 Phänomene der Postdemokratie Herausgegeben von Imanuel Schipper © 2018 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Gestaltung: Sibyll Wahrig Umschlagabbildungen: Fotografien von Benno Tobler und Martin Schwemin (U2) Druck und Bindung: Kollin Medien GmbH ISBN 978-3-95749-133-6 ePDF ISBN 978-3-95749-150-3


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Staat 1–4 Phänomene der Postdemokratie

Rimini Protokoll Herausgegeben von Imanuel Schipper


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Staging Postdemocracy Imanuel Schipper

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Der Begriff „Postdemokratie“ ist untauglich und gefährlich Lukas Bärfuss

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Top Secret International

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Logbuch Anna Königshofer, Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi, Imanuel Schipper, Daniel Wetzel

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Stückauszug (Düsseldorfer Fassung)

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Geheimnistheater Timon Beyes

Staat 2

Gesellschaftsmodell Großbaustelle

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Logbuch Wilma Renfordt, Stefan Kaegi

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Stückauszug

100 Bauen bis an den Himmel Dieter Läpple 106 Architektur – ein partizipatives Stück Theater Gabriela Muri


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Staat 3

Träumende Kollektive. Tastende Schafe

120 Logbuch Daniel Wetzel, Julia Weinreich 130 Stückauszug (Dresdner Fassung) 146 Intelligenz-Comtoirs Mathias Fuchs

Staat 4

Weltzustand Davos

158 Logbuch Karolin Trachte, Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi, Anna Königshofer, Imanuel Schipper 170 Stückauszug (Zürcher Fassung) 184 Wenn aus Unternehmen politische Akteure werden Hannah Trittin 190 Das WEF: die Hydra der Globalisierung Ganga Jey Aratnam 198 Anhang Autoren und Fotografen Rimini Protokoll Mitwirkende der Produktionen Bildnachweis


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Wie werden Geheimdienste zu Machtapparaten mit eigener Agenda? Was offenbaren Großbaustellen über unsere Gesellschaft? Welche Bedeutung hat der digitale Raum für demokratische Prozesse? Und wie beeinflussen ökonomische Eliten die Weltpolitik? Initiiert und eingeladen vom Haus der Kulturen der Welt (HKW) im Rahmen des Langzeitprojektes 100 Jahre Gegenwart begab sich Rimini Protokoll von 2016 bis 2018 auf eine Recherche in die Felder außerhalb dessen, was heute vom Nationalstaat organisiert und kontrolliert werden kann. Globalisierung, Digitalisierung, Angst vor Terrorismus und Staatsfeinden, Lobbyismus und viele andere Faktoren überlagerten sich in der Spurensuche in den politischen Sphären, in denen der staatliche Einfluss zu verschwimmen scheint. Vier beispielhafte Felder bilden die Ausgangspunkte für vier Theaterabende, die in München, Düsseldorf, Dresden und Zürich uraufgeführt wurden und als Gastspiele gezeigt werden. Alle vier Teile der einzigartigen Koproduktion des HKW mit den Münchner Kammerspielen, dem Düsseldorfer Schauspielhaus, dem Staatschauspiel Dresden und dem Schauspielhaus Zürich wurden im März 2018 im Haus der Kulturen der Welt und im Neuen Museum gezeigt. Schützen Geheimdienste ihre Bürger oder sind es die Bürger, die sich vor dem Staat schützen sollten? Das internationale Netz der Geheimdienste wird in Top Secret International (Staat 1) in einem interaktiven Museumsbesuch erlebbar. Wie wird die Vergabe von millionenschweren Infrastrukturprojekten an Baufirmen beeinflusst und wer profitiert davon? Aus acht verschiedenen Perspektiven schaut der theatrale Baustellenrundgang von Staat 2 auf das Gesellschaftsmodell Großbaustelle. Sind Wahlen, wie sie gegenwärtig stattfinden, noch zeitgemäß? Träumende Kollektive. Tastende Schafe (Staat 3) zieht zusammen mit den Zuschauern einen Bogen von Losverfahren in der antiken Demokratie bis hin zu Visionen zukünftiger technologisierter Volksbefragungen. Weltzustand Davos (Staat 4) untersucht die Verschränkungen von politischen und wirtschaftlichen Kräften, die sich jedes Jahr beim „World Economic Forum“ (WEF) in Davos versammeln mit dem selbsterklärten Ziel, die Welt zu verbessern. In wessen Namen wird da gehandelt und wer hat Zugang zu diesen Treffen?


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STAGING POSTDEMOCRACY Imanuel Schipper

Wir lebten in postdemokratischen Zeiten, die gewählten Strukturen hätten ihre Macht abgegeben, private Firmen und superreiche Plutokraten erledigten in geheimen Zirkeln die wichtigen Entscheidungen für die Weltgemeinschaft. Die Entscheidungen würden nur noch von Lobbygruppen herbeigeführt und hälfen hauptsächlich den Wirtschaftsverbänden statt der Bevölkerung. Was sich liest wie ein Pamphlet auf einer Pegida-Demonstration oder aus dem AfD-Wahlkampfprogramm, entstammt der Feder eines Politikwissenschaftlers, der 2004 das vielbeachtete Essay Postdemokratie veröffentlichte und dabei eine kritische Analyse der Nach-Thatcher-Situation in Großbritannien abrechnete. Obwohl der Band nicht der Auslöser für die Produktionsserie Staat 1–4 war, diente er doch als Folie, um Fragen zu generieren, mit denen gewisse Erscheinungen unserer Zeit angesehen werden können. Knapp drei Jahre hat sich Rimini Protokoll mehr oder weniger ständig mit diesem Begriff beschäftigt. Drei Jahre mögen in Anbetracht von einhundert Jahren kurz erscheinen, jedoch sind einhundert Jahre eine Zeitspanne, die nicht mehr wirklich einer Tiefbohrung entspricht – denn so lange kann man gar nicht ausschließlich in die Tiefe dringen. Die Bewegung gleicht eher einer Spurensuche entlang von Grenzen dessen, was staatliche Institutionen eben noch regulieren. Hat das noch mit Demokratie zu tun? Und welchen Demokratiebegriff bemühen wir da eigentlich? In diesen drei Jahren ist wiederum viel passiert: Vor drei Jahren gab es noch keinen amerikanischen Präsidenten Trump, keinen Brexit, die AfD war noch nicht im Bundestag, Merkel sagte im August 2015 „Wir schaffen das“ und wurde im Dezember vom Times-Magazin als Person of the Year ausgezeichnet. Die Türkei wählte vorgezogen das Parlament, Griechenland sogar zweimal. In Israel, Ägypten, Nigeria, weltweit fanden über hundert Parlaments- oder Präsidentenwahlen statt. Noch nie gab es so viele demokratische Aktivitäten in so vielen demokratischen Ländern. Nach den Terroranschlägen in Paris auf Charlie Hebdo im Januar und den Attentaten vom 13. November wurden Forderungen nach einem Ausbau der Geheimdienste laut, während in Berlin der NSA-Untersuchungsausschuss und investigative Journalisten immer neues Wissen über Selektoren und die Zusammenarbeit zwischen BND und NSA veröffentlichten. 2015 wurden in den USA die groß angelegten Manipulationen der Automobilbranche im Dieselskandal öffentlich. Das „World Economic Forum“ traf sich im Januar zum Motto „The New Global Context“ und im Juli eröffnete der Großflughafen BER wieder einmal nicht. Und während in Westafrika über 11 000 Menschen dem Ebola-Fieber erlagen, trafen sich im Dezember in Paris im Rahmen der UN-Weltklima-

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konferenz zum ersten Mal alle Staatsoberhäupter der Welt und vereinbarten ein gemeinsames Vorgehen im Kampf gegen den Klimawandel. In diesem Spannungsfeld von Hoffnung in globale demokratische Prozesse und bedrohlichen Angriffen auf die öffentliche Sicherheit, zwischen dem Aufdecken von Betrugsnetzwerken internationaler Konzerne und dem stetigen Wachsen neonationaler Bewegungen in Europa und den USA begannen die Recherchen zu Phänomenen der Postdemokratie. Es ist außerordentlich selten und ein riesiges Privileg, dass eine frei organisierte Theatertruppe den Auftrag bekommt, vier Produktionen innerhalb einer thematischen Klammer zu entwickeln. Dass diese Produktionen von einer Nicht-Theater-Institution ins Leben gerufen wurden, zeugt von einer gesunden Ignoranz vor der Menge der zu bewältigenden Probleme oder aber von einer starken utopischen Idee: Können die Stadt- und Staatstheater, die in ihrer historischen Struktur höfisch oder höchstens städtisch begründet sind, überhaupt eine Konstruktion stemmen, die über Landes- und Währungsgrenzen hinausführt? Schon die Konstruktion dieses Unternehmens wäre ein geeignetes Feld für eine Forschungsarbeit in Sachen Organisation und die vielen Verhandlungen von Intendanten und Betriebsdirektoren, tausende von Mails wegen Absprachen, Reisekosten, technischen Details – ein weites Feld für Theaterhistoriker der Zukunft. Es wurde wieder einmal erlebbar, dass das deutsche Theatersystem hauptsächlich darauf eingerichtet ist, Produktionen im Haus und für das Haus zu produzieren – und gleichzeitig wurde genau das Gegenteil gegen alle Schwierigkeiten realisiert. Dass dieses komplizierte Unterfangen tatsächlich stattfand, ist allen Beteiligten – und der substantiellen, notwendigen Förderung – hoch anzurechnen und könnte als ein Pilot angesehen werden, ähnliche Cluster zu veranstalten. Wer die Arbeit von Rimini Protokoll kennt, weiß, dass auch bei dem Thema Postdemokratie kein politisch agitatorisches Werk entsteht, keine anklagenden Enthüllungsstorys im Mittelpunkt stehen und ebenso wenig Konflikte so weit getrieben werden, dass es schmerzt. Rimini Protokoll befasst sich phänomenologisch mit Themen. Der Probenarbeit geht ein langer Rechercheprozess voraus. Das Besondere bei diesem Prozess liegt darin, dass das Zentrum der Spirale erst mit der Bewegung selbst geklärt werden kann. Erst wenn der Rechercheprozess beendet ist, wird klar, wonach gesucht worden ist. Für jedes Projekt sieht dieser Weg etwas anders aus, bedingt durch die Örtlichkeiten, die Thematik, aber auch die Personen, die diese Suche vorantreiben. Prozesse bei Rimini Protokoll bedeuten – nach vorheriger Klärung des Weges – fast immer kollektive Prozesse, was nicht bedeutet, dass andauernd nur gemeinsam gearbeitet werden kann, sondern dass gleichzeitig verschiedene Stränge von verschiedenen Akteuren aufgespannt werden, je nach der eigenen Interessenlage, die aber immer wieder mit den anderen abgeglichen wird. So gleicht die Suche – um in dem Bild des Weges zu bleiben – weniger einer Expeditionstruppe mit einem Guide als vielmehr einer Gruppe Flaneure, die einzeln losziehen und ihre Welt erkunden, um dann bei einem Kaffee gegenseitig die Entdeckungen mitzuteilen. Dadurch wächst ein gemeinsamer Erfahrungsraum, der zum Zentrum der Arbeit wird und zu einem Profilraster für das Casting von Performern entwickelt werden kann.

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Die Vorsilbe in Postdemokratie weist zwar auf etwas Zurückliegendes, eröffnet aber auch eine andere Blickrichtung, da der andere Wortteil, Demokratie, keine Zeitspanne per se bezeichnet. Von möglichen Bedeutungen des Begriffs und dessen Deutungen schreiben fast alle Autoren in diesem Band, vor allem aber Lukas Bärfuss, Timon Beyes und Ganga Jey Aratnam. Der Begriff hat in der politischen Philosophie eine bestimmte Konjunktur angesichts der heutigen Krise der Demokratie, die darin besteht, dass populistische Politiker mit „undemokratischer“ Agenda innerhalb des vorherrschenden demokratischen Systems zur Macht kommen. Ihr „undemokratisches“ Handeln führt demnach zu einem Sterben der Demokratie, zumindest einer Demokratie, wie sie davor bekannt war oder die (von jemand anderem) als die richtige betrachtet wird. (Siehe Foa u. Mounk 2016; Mounk 2018; Levitsky u. Ziblatt 2018; van Reybrouck 2016, u. a.) Nicht zufällig handeln viele dieser Auseinandersetzungen von der demokratischen Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. In der Tat ist dieser politische Aufstieg schon zeitlich eng mit dem Projekt Staat 1–4 verbunden: Trumps Wahlkampf nahm ich nicht wirklich ernst und verfolgte ihn nur nebenbei in der Presse, in der Wahlnacht 2016 schlief ich tief und fest und glaubte am Morgen danach meinen Ohren nicht. Einige meiner Freunde drängten mich (erfolglos) dazu, unsere Aufführungen von Staat 1 in New York abzusagen. Die Inauguration und die Women Marchs im Januar 2017 erlebte ich live in Stanford und San Francisco und zur Premiere von Staat 4 verwandelte Trump das WEF in die größte Theaterbühne der Welt. Welche unglaublichen Entscheidungen unter Trump auch fallen mögen, das „Konzept Postdemokratie“ geht definitiv nicht auf seine Rechnung, es ist um einiges älter (u. a. Agamben, Badiou, Nancy, Ži žek et al. 2012; Crouch 2004; Blühdorn 2006; Rancière 2002; Wolin 2001; Mouffe 2011; Ritzi 2014) und widerspiegelt die Tatsache, dass Demokratie eben gerade kein fixer Zustand ist, in dem man sich befindet oder eben nicht, sondern ein Bestreben bezeichnet, das etwas mit einem immer neuen Definieren und Aushandeln zu tun hat. „Demokratie gibt es nicht und es hat sie nie gegeben“, sagt Ingolfur Blühdorn (2013: 131). Es gehe nur darum, dass man daran arbeitet, wie Demokratie aussehen sollte. Mit dem postdemokratischen Paradox beschreibt Blühdorn die Bürger, die sich einerseits von vielen „Verpflichtungen und Normen, die mit dem früheren Demokratieideal einhergingen, befreien wollen“ (S. 134) und andererseits mehr Erwartungen an Selbstbestimmung und Partizipation haben. Als Ausweg schlägt er die Simulation als Methode vor und meint damit Rituale wie eine Bundestagswahl, bei der kaum unterscheidbare Parteien antreten. Simulation in diesem Sinne wäre zwar ein Herrschaftsinstrument in den Händen der Mächtigen, die die Regeln der Praktiken dieser Simulation erstellen würden, aber sie würde „von einer breiten Koalition gesellschaftlicher Akteure getragen“ (S. 139). Der Blühdornsche Ansatz ist für Staat 1–4 deshalb sehr interessant, weil er inhaltliche Aspekte (Demokratie per se, Wahlen, politische Entscheide) mit Fragen des Formats (Regeln, Normen) und dem Umgang mit den Bürgern (Partizipation) bespricht. Analog zu dieser Trias des politischen Feldes, so mein Vorschlag, kann eine Dreiteilung in der Analyse der Inszenierungen von den vier Theaterproduktionen erfolgen: Thema, Format und Interaktion. Rimini Protokoll als zeichnende Autoren und Regisseure sind nicht nur Gastgeber der Theatervorstellung, sondern sind ebenso verantwortlich und bestimmend für die Themenwahl und die Entwicklung eines Stücks (dramatischer Text, Skript).

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Die Arbeit auf der inhaltlichen Ebene begann 2015 und dauerte kontinuierlich über die Recherchen, das Casting, die Textarbeit mit den Performern bis in die Probenarbeit hinein an. Die thematische Essenz lässt sich im Theaterbereich am leichtesten kommunizieren, wenn auch nur scheinbar. Es wird vorausgesetzt, dass ein Regieteam schon Monate vor Probenbeginn auf einer Pressekonferenz erklären könnte, worum es denn gehen wird. Kurzinhaltsangaben in Spielplanleporellos gehören zum Theateralltag wie das Parteiprogramm zum Wahlkampf. Oft ist aber nicht der Inhalt das bleibende Element beim Besuch einer Theatervorstellung. Das Theatererlebnis wird – zumindest in einigen zeitgenössischen Produktionen – wesentlich von den beiden anderen Aspekten, Form und Interaktion, geprägt. Der Diskurs über die Form der Produktion läuft bei Rimini Protokoll ständig parallel zu anderen Diskursen ab, manchmal sogar auch komplett isoliert. Ohne dass dies von Beginn an klar definiert wurde, zeichnete sich bald ab, dass die vier Produktionen völlig verschiedene Theaterformen bedienen würden. So treten bei einer Produktion gar keine Darsteller mehr auf (Staat 1), bei zwei Produktionen (Staat 1 und 2) spielen Kopfhörer eine wichtige Rolle, Programmierer von smarten Geräten stoßen zum Kreativteam (Staat 1 und 3), es gibt kein Bühnenbild (Staat 1) und nur in einer Produktion (Staat 4) sitzen die Zuschauer auf Theaterstühlen. Verbindende Gemeinsamkeit ist der Umstand, dass keine Produktion eine Theaterbühne im klassischen Sinne bespielt und eine gegebene und gebaute Trennung von Bühne und Zuschauerraum benutzt. Die Räume sind elementare Bestandteile dessen, was die Inszenierung erschaffen kann. Sie bedienen und erweitern den zeitgenössischen Trend immersiver Kunst in verschiedenen Bereichen (siehe das Programm der Berliner Festspiele). Doch nicht nur die strukturierenden und atmosphärischen Elemente der Szenographie prägen die Form. Theater war schon immer ein Labor für die Benutzung von technologischen Neuheiten und Rimini Protokoll gehört seit seiner Gründung zu einem der Vorreiter in dieser Hinsicht. Der Einsatz von digitalen Smartdevices als Ortungs- und Navigationsgerät (Staat 1) oder als Umfrage-/POLL-Station (Staat 3), Gestenerkennung (Staat 1) oder algorithmusunterstützte Dramaturgie (Staat 1 und 3) sind nur ein Beispiel dafür. Auch klassische Medien werden in einer Art benutzt, wie dies im Theaterbereich nicht üblich ist: simultane Beschallung von acht Teilgruppen im selben Raum (Staat 2) ebenso wie 360-Grad-Videoprojektionen (Staat 4). Die Formate lassen sich in Untertitel und Kurzbeschreibungen zumindest eingeschränkt beschreiben: interaktives Hör-Stück in einem Museum (Staat 1), simultane szenische Baustellenführung (Staat 2), interaktives Wahl-Stück für eine Zuschauer-Cloud (Staat 2) und eine WEF-Simulation (Staat 4). Doch immer häufiger drängte sich eine Frage in die Konzeptions- und Probenprozesse: Wozu wird man eingeladen? Mit „man“ sind keine Rollen oder Performer gemeint, sondern die Zuschauer. Die Frage nach der Rolle des Publikums, nach den Möglichkeiten des Handelns und nach den Erwartungen an das Mitmachen des Publikums ist bei diesen Produktionen ebenso zentral wie die thematischen oder formalen Fragen. Wie schon bei anderen Produktionen (beispielsweise Situation Rooms, Weltklimakonferenz, Call Cutta, Remote X oder Hausbesuch Europa) geht es nicht nur um die Erstellung eines Stückes, sondern um die Erfindung und Realisierung eines Settings, einer Situation, in der das Publikum gebeten wird, eine Rolle einzunehmen, die sich von einer gewöhnlichen Zuschauerrolle unterscheidet. Der Zuschauer ist eingeladen, für einen gewissen Moment in die „Schuhe von jemand anderem zu

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schlüpfen“, „einen anderen Hut aufzusetzen“ oder einfach aus der Perspektive einer anderen Person auf eine Sache zu schauen. Manchmal passiert dies durch ständiges Gehen (Staat 1), manchmal kann man dabei sitzen bleiben (Staat 4). Bei Staat 1–4 bleiben die Situationen deutlich als ein „Als-ob“ gekennzeichnet. Es ist immer klar, dass man nicht wirklich ein CEO ist, sondern sich gerade darüber bewusst wird, was man wissen müsste, wenn man ein CEO wäre (Staat 4). Es ist klar, dass es (noch) kein intelligentes Regierungssystem gibt, aber wir spielen durch, was wäre, wenn es das schon gäbe (Staat 3). Natürlich ist man kein Agent – aber wie würde man sich als ein Agent im Museum bewegen (Staat 1). Und man denkt nie, dass man sich wirklich auf einer Baustelle befindet, auch wenn man einen Helm aufsetzt (Staat 2). Damit macht Rimini Protokoll die Zuschauer zu Komplizen, Mitspielern und Mitgestaltern der Simulationen, zu denen sie als Publikum geladen sind. Die verschiedenen Umgangsweisen mit dem Publikum gehören vielleicht zu den wesentlichsten Merkmalen dieser Tetralogie und man könnte durchaus behaupten, dass Staat 1–4 eine Studie zur Phänomenologie des Zuschauens und Mitmachens in zeitgenössischen Theatersettings sind. Staat 1–4 wären in diesem Sinne keine Inszenierung der Vorführung von postdemokratischen Phänomenen, sondern funktionieren – so die retrospektive Betrachtung des mitverantwortlichen Dramaturgen – als Labor. Installierte Simulationen und Modelle gewisser Sphären laden das Publikum dazu ein, innerhalb der vom künstlerischen Team gesetzten Rahmen, für einen bestimmten Moment andere Perspektiven einzunehmen und Positionen auszuprobieren. Was bleibt von einem so langen Prozess, von diesem Weg von drei Jahren? Ein Teil mündet natürlich in den Aufführungen, die aber zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt sind und dann höchstens als Videodokumentation weiterexistieren. Was ist aber mit den Partikeln, die nicht auf der Bühne landen, was ist mit den Gedanken, die im Laufe der Proben den Kürzungen zum Opfer fielen, was ist mit den Ideen, die sich technisch (noch) nicht realisieren ließen? Wo bleiben die Notizen und Skizzen, die erstmal in die Leere führten, aber vielleicht doch ein Wissen über das Feld abbilden? Obwohl gewisse Abläufe und Phasen der dramaturgischen Arbeit bei Projekten von Rimini Protokoll aussehen wie journalistisches oder gar wissenschaftliches Arbeiten, am Ende fließen sie doch in ein künstlerisches Werk, das als Theaterinszenierung funktionieren muss und dabei gewissen Gesetzmäßigkeiten von Zeigen und Anschauen folgen muss. Das Ziel dieses Buches ist zum Ersten der Versuch einige dieser losen Fäden, die in der Inszenierung nicht zu sehen sind, aufzudecken und festzuhalten, indem von allen Produktionen eine Art Recherchetagebuch erstellt wurde. Ein Logbuch dieser Spurensuche – auch dies wieder kollektiv gesammelt und verdichtet. Snapshots, geschossen mit den stets paraten Smartphones, ergänzen auf der visuellen Ebene diese Texte und ermöglichen dabei einen Blick außerhalb des Theaterraumes. Zum Zweiten soll die Publikation der Vergänglichkeit von Theaterinszenierungen entgegenwirken. Dies war der Anlass für die fotografische Dokumentation der Inszenierungen. Der Hamburger Fotograf Benno Tobler hat sich darauf eingelassen, jeweils für mehrere Tage kurz vor den Premieren bei den Proben dabei zu sein und ungewöhnliche Perspektiven auf die Vorstellungen zu finden, die weder die Beteiligten noch die Zuschauer jemals einnehmen konnten. Er wurde fast zum Teil der Inszenierung, was es ihm ermöglichte, sogar während der Vorstellungen in großer Nähe

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zu den Performern und Zuschauern Bilder zu machen, ohne zu stören. So sind seine eindrücklichen fotografischen Essays nicht nur eine Dokumentation des Bühnengeschehens, sondern eben auch der Interaktionen mit dem Publikum. Der Abdruck der Anfangstexte der Inszenierungen, dem Anliegen verpflichtet, für ungewöhnliche Theaterformate eine grafische Entsprechung zu finden, folgt ebenfalls dem Anspruch des Festhaltens. Das Skript ist bei Rimini Protokoll immer mehr als ein rein dramatischer Text, entsteht es doch parallel zu den Proben als ein Dokument in der Cloud, auf das verschiedene Teammitglieder Zugriff haben. Es enthält das gesprochene Wort der Performer, das mit ihnen zusammen während der Proben entwickelt wird, aber auch alle nötigen Informationen für die Licht-, Ton- und Video-Operators, die Requisite und die Inspizienz, die während der Vorstellungen zusammenarbeiten. Meistens werden diese Dokumente nicht veröffentlicht, da ihre Lektüre nicht gerade kulinarisch ist, aber hier zeugen die „Stückauszüge“ für eine Arbeitsweise von Rimini Protokoll, die normalerweise nicht sichtbar ist. Damit komme ich zum dritten Anliegen dieser Publikation, die darin liegt, den Arbeiten Staat 1–4 eine erweiterte Bühne zu bauen und örtlich und zeitlich jenseits der Theatervorstellung mit den Diskursen der Postdemokratie zu verweben. Dazu wurden theaterfremde Wissenschaftler aus den Bereichen Soziologie (Gabriela Muri, Dieter Läpple, Ganga Jey Aratnam, Timon Beyes), Kulturwissenschaften (Gabriela Muri), Medienwissenschaften (Timon Beyes, Mathias Fuchs), Urbanistik (Gabriela Muri, Dieter Läpple) und Wirtschaftswissenschaften (Hannah Trittin, Ganga Jey Aratnam) eingeladen, aus ihrem Blickwinkel auf die Inszenierungen zu schauen und ein Essay zu schreiben, das diese Welten verbindet. Zwei dieser sechs Essays sind deshalb interessant, da sie von Mitspielern (Ganga Jey Aratnam, Dieter Läpple) verfasst wurden, die die Erfahrungen bei der Stückentwicklung einbeziehen konnten. Schließlich packt das Buch alle vier Produktionen, die als eigenständige Theaterproduktionen funktionieren und gespielt werden, zwischen zwei Buchdeckel, versucht sie zu klammern und als eine Sammlung zu sehen. Der Schriftsteller Lukas Bärfuss hilft mit seinem Pamphlet gegen einen jammernden Gebrauch des Begriffs Postdemokratie mit und fordert, eigene Möglichkeiten zu erweitern und selber aktiv zu werden. Diese Publikation erscheint gleichzeitig zur „Gesamtschau“ in Berlin, wenn zum ersten Mal alle vier Teile zur gleichen Zeit am selben Ort gesehen werden können. Damit soll kein Abschluss markiert werden. Das Buch soll dabei helfen, immer wieder die Frage neu zu stellen: Wie wollen wir leben? Und was können wir dafür tun? Schließlich bleibt mir zu danken: Dieses Buch ist Teil des Gesamtprojekts Staat 1–4 und wurde von Beginn an von den Initiatoren mitgetragen und gewollt. Dem Haus der Kulturen der Welt (HKW), insbesondere dem Intendanten Bernd Scherer, allen vier beteiligten Theatern und ihren Intendanten Barbara Frey, Joachim Klement, Matthias Lilienthal und Wilfried Schulz gebühren der Dank für die andauernde Unterstützung auf allen Wegen. Ein großes Danke geht an Alexandra Engel und Jessica Páez (HKW), Juliane Männel, Daniela Bellm, Anna Florin und Maitén Arns (Rimini Protokoll Produktionsbüro) für ihre Moderations-, Organisations- und Koordinationstätigkeiten, ihre große Geduld und die andauernde Unterstützung.

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Der Band würde nicht vor Ihnen liegen, hätten sich nicht die Autoren auf den Weg gemacht, die Stücke anzusehen und einen Teil ihrer Lebenszeit diesem Projekt zu widmen. Ihren genauen Blicken, den scharfen Gedanken und der Großzügigkeit, ihr Können dem Band zur Verfügung zu stellen, sei hier sehr gedankt. Ebenso der Reise- und Abenteuerlust von Benno Tobler, dieser Theatertruppe hinterherzureisen und ihr immer wieder aus neuen Perspektiven zu begegnen. Danken möchte ich allen Teilnehmern der Veranstaltungen an den Instituten für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Haniel Summerschool 2017 der Universität St. Gallen und Copenhagen Business School und des Workshops an der Utrecht University für die aktive Forschungsteilnahme und auch den verantwortlichen Kollegen für die Einladung und Organisation. Dieses Buch beruht auf vier Theaterarbeiten – allen Künstlern und Technikern, Mitspielern und Experten, Gesprächspartnern und Organisatoren und dem Publikum bei vielen Vorstellungen und Proben sei für ihre investierte Zeit und Arbeit gedankt. Besten Dank an die Kollegen aus den Dramaturgien der Partnertheater für ihr kritisches Mitdenken und Beisteuern von Textmaterial, namentlich Robert Koall, Wilma Renfordt, Karolin Trachte und Julia Weinreich. Ein besonderer Dank gebührt meiner Kollegin Anna Königshofer, die das Projekt auf vielen Ebenen begleitet und unterstützt hat, und auch Timon Beyes, der mir immer wieder mit Rat und Tat zur Seite stand. Und schließlich liegt das Buch in dieser Art auch nur da dank der unermüdlichen Arbeit des Lektors Erik Zielke und der Gestalterin Sibyll Wahrig – vielen Dank besonders ihnen. Bei Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, mit denen mich weit mehr als eine langjährige Zusammenarbeit verbindet, bedanke ich mich ganz herzlich für ihr Vertrauen und ihre guten kritischen Gedanken – auf ein Neues. Die letzten Worte dieses Vorworts werden in der Nacht geschrieben, in der deutsche Parteien in tagelangen Sitzungen darum ringen, einen Koalitionsvertrag für eine erneute Regierung unter Angela Merkel zu formulieren. Dies ist gelungen. Nun entsteht die unter demokratischen Gesichtspunkten sehr skurrile Situation, dass die Mehrheit einer Partei diesem Vertrag zustimmen muss. Nicht die Bevölkerung oder die Wahlberechtigten, nicht die Mitglieder aller beteiligten Parteien, sondern nur die Mitglieder der einen Partei, die im September 2017 die historisch schlechtesten Ergebnisse erreichte und eigentlich überhaupt nicht in eine Regierungsverantwortung eintreten wollte. Der Entscheid sollte beim Erscheinen dieses Buches klar sein und wenn alles gut geht, dann wird Angela Merkel nach 16 Jahren als längste Nachbarin des Hauses der Kulturen der Welt in die Geschichte eingehen. Dass sich das Haus der Kulturen der Welt dafür entschied, das Projekt Staat 1–4 als Teil von 100 Jahre Gegenwart in Nachbarschaft zur Regierungschefin in Szene zu setzen, ist insofern interessant, als das Haus der Kulturen der Welt ein Geschenk aus der Nachkriegszeit des demokratischen Volkes der USA war (oder einzelnen Vertretern davon) und die Aufgabe hatte, Deutschland (und der ehemaligen Hauptstadt Berlin) wieder zu einem größeren Demokratieverständnis zu verhelfen. Auch da ließe sich etwas über „postdemokratische Verhältnisse“ sagen, wurden doch einige der Veranstaltungen inoffiziell mit Geldern der CIA finanziert. Doch das gehört zu einem anderen Projekt von 100 Jahre Gegenwart.

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Literatur: Agamben, Giorgio et al (2012), Demokratie?: eine Debatte. Berlin. Blühdorn, Ingolfur (2006), „Billig will ich. Post-demokratische Wende und simulative Demokratie“. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 19 (4), S. 72–83. Blühdorn, Ingolfur (2013), „Das etablierte Lamento trägt nicht zur Veränderung bei“.In: Indes Bd. 2, Ausgabe 3 2013, S. 131–141. Crouch, Colin (2008) [2004], Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. Frankfurt am Main. Foa, Roberto Stefan/Mounk, Yascha (2016), „The democratic disconnect“. In:Journal of Democracy 27.3 (2016), S. 5–17. Levitsky, Steven/Ziblatt, Daniel (2018), How Democracies Die. Danvers, MA. Mounk, Yascha (2018), Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. München. Mouffe, Chantal (2011), „‚Postdemokratie‘ und die zunehmende Entpolitisierung“. In: APuZ 1–2/2011, S. 3–5. Rancière, Jacques (2002), Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main. Rancière, Jacques (1997), „Demokratie und Postdemokratie“. In: Badiou, Alain/Rancière, Jacques/Riha, Rado: Politik der Wahrheit. Wien. Ritzi, Claudia (2014), Die Postdemokratisierung politischer Öffentlichkeit. Kritik zeitgenössischer Demokratie – theoretische Grundlagen und analytische Perspektiven. Wiesbaden. Van Reybrouck, David (2016), Gegen Wahlen: warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Göttingen. Wolin, Sheldon (2001), Tocqueville between two worlds. Princeton u. Oxford.

In dieser Publikation wird zur besseren Lesbarkeit nur die männliche Sprachform verwendet; natürlich sind alle Geschlechter gemeint.

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DER BEGRIFF „POSTDEMOKRATIE“ IST UNTAUGLICH UND GEFÄHRLICH Lukas Bärfuss

Nehmen wir im Folgenden einmal an, Jean-Jacques Rousseau habe Recht, wenn er zu Beginn seiner 1762 veröffentlichten staatphilosophischen Schrift Du contrat social behauptet, der Mensch sei frei geboren. Und nehmen wir weiter an, eine Demokratie bedürfe der Demokraten und Demokraten wiederum seien Menschen, die einen Begriff von der Freiheit haben. Zu Rousseau: Wir wissen, was er unter einer Geburt versteht. Aber was wird der Philosoph mit der Freiheit gemeint haben? Und warum verbindet er sie mit der Geburt eines Menschen? Ein Neugeborenes findet eine Welt und andere Menschen vor. Niemand wird alleine geboren. Über das Bewusstsein von Neugeborenen wissen wir wenig. Als Erwachsene besitzen wir keine Erinnerung an jene Zeit. Dass wir irgendwann geboren wurden, leiten wir ab, durch die Erzählung anderer und durch Beobachtung. Wir sehen, wie der Säugling auf die Befriedigung seiner primären Bedürfnisse konzentriert ist. Er will trinken, er will schlafen, er will Zuwendung. Mehr zu wollen, wäre für ihn sinnlos, er wüsste mit nichts, das über die vitalen Interessen hinausgeht, etwas anzufangen.

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Was soll ihm also die Freiheit, wenn er gebunden ist an die Abfolge seines Stoffwechsels, seiner Wach- und Schlafphasen? Warum schreibt ihm Rousseau eine Freiheit zu, für die ihm offensichtlich sowohl das Bewusstsein als auch die Notwendigkeit fehlen? Die Antwort lautet natürlich: Die Möglichkeiten eines Neugeborenen sind beschränkt, doch mit jedem Tag erweitert es sie. Der Säugling entwickelt sich, vergrößert seinen Aktionsradius, er wächst zum Kind. Das Kind kriecht, spielt, geht, spricht und entwickelt sich zum Jugendlichen, der noch in der Obhut seiner Eltern steht, bald aber, mit der gesetzlichen Volljährigkeit, autonom wird und seine Möglichkeiten, seine Freiheit nutzen darf. In einer Demokratie ist dies gleichbedeutend mit dem Beginn des Stimm- und Wahlrechts. Die Freiheit ist in diesem Sinne ein Potential. Was aber geschieht mit der potentiellen Freiheit eines erwachsenen Menschen? Seine Möglichkeiten erweitern sich ja nicht mehr natürlich, im Gegenteil, bald schon baut der Körper ab. Mit dem Alter werden die Möglichkeiten vielleicht weniger, aber die potentielle Freiheit bleibt davon unberührt. Was der erwachsene Mensch mit seiner Freiheit unternimmt, liegt an ihm selbst. Es liegt an seinem Willen, seinem Bewusstsein, ob er die gegebenen Möglichkeiten erkennt und nutzt. Wie zeigt sich der freie Mensch? Indem er die potentielle Freiheit umsetzt. Er setzt sie um durch Entscheidungen. Dafür braucht es Wahlmöglichkeiten. Mit der Zunahme der Möglichkeiten wird die Entscheidungsfindung komplexer. Die Wahl wird zur Qual. Mit der Anzahl der Möglichkeiten entwickelt sich die Freiheit, sie wird damit komplexer. Mit der Erweiterung der Möglichkeiten entwickelt sich demnach auch die Demokratie und wird dadurch komplexer. Die Komplexität ist ein Maß für die Entwicklung einer Demokratie. Aber wie verhält sich nun der Begriff „Postdemokratie“ dazu? Zuerst: Die Vorsilbe ist lateinisch und bedeutet „nach“. Nach der Moderne erschien die Postmoderne und ersetzte sie. Die Postmoderne bezeichnet eine abgeschlossene Entwicklung. Entsprechend beschreibt „Postdemokratie“ etwas, das nach der Demokratie gekommen sein muss – doch damit ergibt sich ein Widerspruch. Die Moderne bezieht sich eindeutig auf eine zeitliche Epoche. Epochen enden und werden durch andere, hier die Postmoderne, abgelöst. Auf die Postmoderne kann alles Mögliche folgen, nur nicht die Moderne. Gleichfalls kann auf Postdemokratie keine Demokratie mehr folgen – außer natürlich, ihre Apologeten verteidigten ein zyklisches Geschichtsverständnis. Damit würden sie sich allerdings außerhalb der Wissenschaft setzen, deren Modelle von einem expansiven Universum und einer irreversiblen Zeit ausgehen.

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Der Kategorienfehler ist offensichtlich. Die Demokratie ist keine Epoche, keine zeitliche Erscheinung, sie ist eine Methode und steht in einer zeitlichen Entwicklung. Sie kann schlechterdings niemals vollständig verwirklicht werden. Die Zahl der Möglichkeiten ist unbegrenzt, und mit der Erweiterung der Möglichkeiten hat sich die Demokratie entwickelt, indem, zum Beispiel, das Stimm- und Wahlrecht für Frauen erkämpft wurde. Damit war die Demokratie natürlich in keiner Weise vollendet. In jeder Demokratie leben Menschen, die keine Demokraten sein dürfen oder sein können, was einen Mangel beschreibt, die Demokratie aber nicht grundsätzlich anficht, die evolutiv ist und sich also entwickelt und erweitert. Dies alles folgt natürlich aus der Tatsache, dass die Demokratie eine Methode ist, die ihre eigene Verbesserung ermöglicht, weil sie davon ausgeht, dass die Freiheit immer neu verwirklicht werden will. Postdemokraten sind also nicht jene, die in einer unvollständigen und mangelhaften Demokratie leben, denn mangelhaft wird sie immer sein, es sind jene, die, aus welchen Gründen auch immer, den evolutiven Freiheitsbegriff verworfen haben, freiwillig oder unfreiwillig. „Postdemokratie“ stellt also ein statisches, kein dynamisches Modell zur Verfügung. Sie gibt die Demokratie damit verloren. „Postdemokratie“ ist die Negation der Demokratie. Für diese Negation der Demokratie gibt es allerdings bereits einen Begriff, er heißt „Diktatur“. Warum ein neuer Begriff? Warum „Postdemokratie“ statt „Diktatur“? Vielleicht schrecken die Apologeten vor der Härte und der geschichtlichen Erfahrung zurück. Dann stellt sich immer noch die Frage, warum sie nicht den Begriff der „Prädiktatur“ einführen. Die Folgen für den Diskurs wären entscheidend. Die Denkrichtung wäre nicht retro-, sondern prospektiv, auf die kommende Entwicklung gerichtet. Ferner denunziert man die Demokratie nicht als moribund. Dazu hätten sich die Möglichkeiten begleitend erweitert. Und schließlich und entscheidend: Der Begriff der „Prädiktatur“ beschreibt die geschichtliche Situation genauer – die Zahl der Menschen, die in Systemen leben, die sich Diktaturen annähern, nimmt zu. Abnehmend ist die Zahl der Demokraten. Der Demontage gesellschaftlicher Strukturen geht die Demontage der Begriffe voraus. Die Apologeten der sogenannten „Postdemokratie“ haben eifrig Hand an den Rückbau der Demokratie gelegt. Warum? Was sind ihre Motive? Warum verteidigen sie die Freiheit nicht, warum geben sie die Demokratie verloren? Aus diskursiver Erschöpfung? Aus biographischer Resignation?

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Jedes soziale System, gleich welcher Art, schränkt die Freiheit des Menschen ein. Im Gegensatz zur Diktatur hat sich die Demokratie dafür zu rechtfertigen. Demokratien kann man entwickeln und reformieren, solange die Demokraten verstehen, wie sie ihre Freiheit ins Spiel der Möglichkeiten einbringen können. Mit den Schwanengesängen auf die Demokratie geht die Mutlosigkeit einher. Sie wird, wie immer, von ihrem Gegenstück, dem Chauvinismus, begleitet. Die Selbstwahrnehmung der Demokraten schwankt in unseren Tagen, wie bei einem Narzissten, zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Größenphantasien. Aus dieser Disposition entstehen höchstens poröse Analysen. Ihre Dürftigkeit wird mit Lametta behängt, in Formen bunter Neologismen. Einmal beklatscht man die „Postdemokratie“, danach das „Anthropozän“, schließlich den „Homo Deus“. In allen Fällen hört man im Hintergrund dem begrifflichen Fortschritt leise das Totenglöcklein läuten. Wir erleben, wie die Demokratie von allen Seiten angegriffen und der Untauglichkeit bezichtigt wird. Die Qual der Wahl wird empfunden und beschworen. Folgerichtig verbreitet sich Untergangsstimmung. Statt daran zu arbeiten, die Zahl der Möglichkeiten zu vergrößern und die Demokraten zu befähigen, Entscheidungen zu treffen, führt man begriffliche Schrumpfformen ein. Den Verlust der Demokratie nimmt man als besiegelt und fragt sich nur noch, wie die Schmerzen gelindert werden können. Statt zu beleben, wird palliativ behandelt. Und man wird, wie in jeder hypochondrischen Episode, auf sich selbst zurückgeworfen und nimmt den Blick von der Welt und von den Menschen, die man darin vorfindet. Der letzte Gestus ist Wehleidigkeit, die letzte Form eine burleske Komik, die letzte Frage an den anderen: Bist du Arzt oder Schamane, kannst du mich retten?

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Top Secret International


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Was halten Staaten für geheim? Welche Geheimnisse versuchen andere Staaten mit ihren Nachrichtendiensten aufzudecken? Wie werden diese Informationen weitergereicht, gesammelt, ausgewertet? Wann können Geheimnisse zu einer wertvollen Währung werden? Jede Information verändert ihren Wert in dem Moment, in dem sie mit jemandem geteilt wird: Wann wird sie wertlos? Und kann man das im Vorhinein wissen? In Zeiten globaler Überwachungsaffären, vermeintlicher No-Spy-Abkommen und immer zahlreicher werdender WhistleblowerPlattformen begibt sich Top Secret International mitten in das globale Netz der Staatsgeheimnisse und Geheimdienste – den Staat im Staat. Die Zuschauer werden selber zu Recherchierenden und lernen die Tätigkeitsfelder der Intelligence kennen, indem sie von Beobachtern zu Agierenden werden. Mit einem Journalisten enthüllen sie verdeckte Ermittlungen fremder Geheimdienste. Mit einer Whistleblowerin, die nach der Veröffentlichung von Geheimnissen ihr Land verlassen musste, beschäftigen sie sich mit der Frage, wie Menschen manipuliert werden können. Zwischen den Skulpturen und Exponaten eines Museums (im Albertinum Dresden, Kunsthaus Zürich, Neuen Museum Berlin, Brooklyn Museum New York, Kunstpalast Düsseldorf und in der Glyptothek München) sind sie kaum von anderen Museumsbesuchern zu unterscheiden. Mit subtilen Gesten, gezielten Bewegungen greifen sie auf Dateien und Archive zu, die sich nach und nach öffnen: Lebensgeschichten aus Politik, Journalismus und Spionage, global agierende Geheimnisträger und Aktivisten zwischen Teheran und Vancouver, zwischen Santiago de Chile und Moskau stecken das Spielfeld ab. Die Besucher beobachten und verfolgen einander, nehmen Kontakt auf, bilden Koalitionen oder entziehen sich der Verbindung. In einer Welt, geprägt von Big Brother und Big Data, führen Stimmen von Schauspielern der Münchner Kammerspiele und vom unsichtbaren System als interaktives Hörspiel durch die Sphären zwischen Konspiration und Surveillance, die sich als eine zweite Ebene über die Räume des Museums legen. Staat 1 | 29


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LOGBUCH

Frühling 2015, Pullach Rund um die Mauern des BND geht eine Mauer. Wir fotografieren Schilder, auf denen steht: Fotografieren verboten. An diesem Sonntag arbeitet der BND in Pullach noch, wenn auch nicht besonders aufmerksam. Die Bedienung im Restaurant an der Ecke weiß aber, dass schon viele in

Anna Königshofer, Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi, Imanuel Schipper, Daniel Wetzel

der Gegend sich Hoffnungen auf das Grundstück und seine Immobilien machen. Ist ja auch idyllisch gelegen, so mitten im Wald. Früher war den Mitarbeitern nicht einmal das Wohnen in Pullach erlaubt, damit ihre „Legende“, ihre Zweitidentität nicht auffliegt. Mittlerweile bekommen sogar einzelne Journalisten Zutritt zum Gelände. Aber an

Pullach –> Berlin –> Eingangskorb E-Mail –>

ein Theaterstück ist trotzdem hier noch nicht zu denken.

Hamburg –> Berlin –> Atelier –> iPad –> Athen –> Peking –> Berlin –> Cloud –> Athen/New York –>

November 2015, Berlin

Cloud –> New York –> München –> Berlin –>

Will man das internationale Netzwerk der Geheim-

Canberra –> Berlin –> München –> Berlin –>

dienste sichtbar machen, muss man erst mal ein interna-

München

tionales Netzwerk als Theatergruppe ausbauen, um Verstärkung zu haben bei der Recherche und dem Ausfindigmachen möglicher Gesprächspartner und Protagonisten. Die Stringer werden in Osteuropa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika gefunden. Als Kenner der Situation vor Ort sollen sie sich auf die Suche nach Personen machen, die von ihren biographischen oder professio-

BND | internationales Theaterrecherchenetzwerk |

nellen Erfahrungen im oder mit dem Geheimdienst er-

Closed Cities | Agenten, Doppelagenten und

zählen: Mitarbeiter, Investigativjournalisten, Agenten, In-

Trippelagenten | Investigativjournalismus |

formanten, Aktivisten. Geschichten, die zeigen, wie

technische Probleme | Minecraft | Konspiration |

Geheimdienste funktionieren und welche Konsequenzen

Spähsoftware | Whistleblow | Musealisierung

ihre Aktivitäten für Individuum und Staat haben. In unregelmäßigen Abständen landen im Posteingang E-Mails von Stringern auf der ganzen Welt. Im Anhang finden sich Listen von potentiellen Kandidaten. Wird es ein Stück, bei dem man die Rolle einer Expertin einnimmt, sich quasi ihren Hut aufsetzt und sich damit durch die undurchdring-

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lichen Verstrickungen der Nachrichtendienste bewegt?

8. Dezember 2015, Berlin

Dazu bräuchte es hundert verschiedene Rollenprofile. Für

Treffen mit einem Investigativjournalisten einer renom-

jede Spielerin könnte es Verbündete und Feinde unter den

mierten Zeitung. Wie findet man etwas über den Ge-

anderen Besuchern geben und während man versucht, an

heimdienst raus? Wie findet man Informanten, warum

Informationen zu kommen, wird man womöglich selbst

suchen diese einen Kontakt? Wie funktioniert ein Treffen

Opfer der Spionage-Aktivitäten seiner Mitspieler.

mit Informanten? Wer kontaktiert wen? Information ist eine Währung, deren Wert beim Teilen sinken oder stei-

„Was gemacht werden kann, wird sehr wahrscheinlich auch gemacht.“ Ein Journalist

11. November 2015, Eingangskorb E-Mail

gen kann. Ein Informationsträger ohne Öffentlichkeit

Von einem Kontaktmann in einer osteuropäischen Stadt

kann diesen Wert nicht ausspielen. Es seien aber viele

geht eine Liste mit potentiellen Gesprächspartnern ein.

Wichtigtuer unterwegs. Die Motivation hat oft mit Eitel-

Zum Beispiel diese Fotografin, die Zutritt zu einer der

keit, Geltungssucht, Frustration oder Vergeltung zu tun,

44 Closed Cities in Russland erhielt. Die geschlossenen

die aus einer Verletzung oder einer Ungerechtigkeit her-

Städte sind Überbleibsel aus der Sowjetunion; geheime

rührt. Es gilt: Nur so viel wissen wie nötig – zu viel Wis-

Forschungseinrichtungen oder Militäranlagen, die auf

sen könnte unangenehm sein; immer die plausible de-

keiner Landkarte auftauchen. Dr. Strangelove lässt grü-

niability (glaubhafte Abstreitbarkeit) groß genug halten.

ßen. Oder der Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet Can Dündar. Er wurde dafür verhaftet,

Anfang Dezember, Berlin

Material publiziert zu haben, das Waffenlieferungen der

Telefonat mit einem Bekannten, der öfter von Deutsch-

Türkei an den IS belegte. Die Regierung klagte Dündar

land nach Ägypten reist. Aus wohl berechtigter Angst

an, Staatsgeheimnisse veröffentlich zu haben.

vor Repressionen verneint er weitere Gespräche und die Vermittlung zu Bekannten. Es sei aber bekannt, dass

November 2015, Hamburg

eine deutsche Firma nach der Arabischen Revolution

Durch Internetrecherche findet man schnell Morten

der Regierung neue Überwachungstechnologie verkauft

Storm, seine Kontaktdaten allerdings sind schwieriger

hat.

zu finden. Er ist ein sehr prominenter Doppel- oder sogar Trippelagent bei CIA, MI5 und dem dänischen In-

Dezember 2015, Berlin

telligence-Service PET. Er ist vorsichtig, Kommunikation

Treffen mit einem Team von Programmierern und Inter-

vorerst nur per Mail, Kopien gehen an einen Anwalt.

aktionsdesignern. Suche nach einem alltäglichen unauf-

Seine Geschichten erfahren wir aus diversen TV-Berich-

fälligen Device, das den User/Besucher selbst kontrol-

ten, Buchpublikationen und bei Wikipedia. Er ist einer

lierbar macht. Können Smartwatches so programmiert

Zusammenarbeit nicht abgeneigt, will aber schon für ein

werden, dass sie Gesten des Trägerarmes erkennen kön-

erstes Gespräch Geld sehen. Die Verhandlungen werden

nen? Müsste gehen, sagen die Programmierer. Gewiss-

vorerst abgebrochen, wir wissen noch zu wenig, wie das

heit gibt es nie. Und könnte dann ein handshake eine

Stück aussehen wird.

Datei freischalten, so als würde ein Informant einem an-

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deren eine Nachricht überreichen? Müsste gehen. Und könnte man Dateien an verschiedenen Positionen des Raumes so platzieren, dass sie mir nur zugespielt werden, wenn ich mich in unmittelbarer Nähe befinde? Wie ein toter Briefkasten? Müsste gehen. 25. Januar 2016, Atelier der Interaktionsdesigner Selbstgebaute Schreibtische, Räder an den Wänden, dazwischen Laptops und Kaffeegläser: die Server-Station. Sechs Personen wandern langsam durch die Räume des Ateliers. Den Blick fest auf die Smartwatch gerichtet, erkundet man, wie die Uhr auf die Bewegung reagiert. Dann bleibt man wieder stehen, hat eine Hand am Kopfhörer, der Blick schweift aus dem Fenster, während man einem Experten lauscht. Das Stück ist ein Audioparcours und in jedem Level erfährt man mehr über den jeweiligen Experten. Der Wunsch ist im Moment noch weiter als die technische Realisierbarkeit: Die Smartwatches fliegen aus dem Netz oder erkennen den Raum nicht. Die Gründe dafür liegen irgendwo zwischen Programmierung, Netzwerk und Client versteckt. Der Tryout muss abgebrochen werden. Wir sind uns einig, dass es sinvoll ist, sich über das Profilfoto auf der Smartwatch mit dem Experten zu identifizieren. Februar 2016, iPad Das Spiel Minecraft hat nicht wirklich ein Ziel, es geht immer weiter, hört nie auf. Die Fähigkeiten und Optionen des Avatars wachsen mit der Aktivität des Spielers. Ebenso wird die begehbare und bespielbare Welt immer größer. Ob ein Objekt interaktiv ist oder nicht, kann ich nur durch Probieren erfahren. Es gibt keine klassische Spielanleitung, keinen Spielbeginn, kein Spielende – nur eine open world.

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Winter 2015/16, Athen

Frage ist, inwieweit er sich auf ein Interview einlässt.“

SIM-Karten aus den Handys bitte. Iannis trifft uns zwar in

Dem Informanten sind die Risiken zu groß und die Spur

einem Café, aber das muss schon sein. Für einen Agen-

entpuppt sich als Sackgasse.

ten wie ihn, sagt er uns, weil er mit der Kontaktperson

„It’s such a dirty business that it’s only suitable for gentlemen.“ Ehemaliger MI6-Agent

gut bekannt ist, ist oberste Regel, immer jeden Anschein

19. Januar 2016, Berlin

bei sich zu hinterfragen: Wenn wir sagen, dass wir Thea-

Wir treffen einen ehemaligen Präsidenten des BND in

ter machen und uns für seine Arbeit interessieren, erst-

einem Hotelfoyer. Wir sprechen über Teesorten – und

mal davon ausgehen, dass wir genauso gut auch nicht

vieles andere. Doch das muss leider geheim bleiben.

vom Theater sein könnten und andere Interessen hätten,

Ebenso seine Stimme. Aber er meint, dass Hotelfoyers

als wir vorgeben. Das Gespräch findet wie mit glatten

gute Orte sind, um Informanten zu treffen.

Sohlen auf einer Eisfläche statt. Lachen kann man aber

Am Nachmittag besucht uns der Journalist und ehema-

viel, denn außer dass man beisammen sitzt, bekommt

lige BND-Mitarbeiter und Geheimdienstexperte Wilhelm

weniges das Gewicht einer unhinterfragten Sache. Und

Dietl in unserem Büro. Er erzählt davon, wie schwierig

so geht er durch die Welt. Er war schon Priester in Aus-

es sein kann, Bürger anderer Staaten dazu zu bringen,

bildung für ein halbes Jahr auf einer kleinen Insel, bis er

dass sie ihr eigenes Land verraten. Dabei fließt Geld als

im Beichtstuhl endlich den Hinweis auf den Mörder er-

Gegenleistung zu Informationen. Die Person, die den

lauscht hat, hat sich jahrelang in die Hells Angels herein-

ersten Kontakt mit einem potentiellen Informanten her-

und dann wieder herausgearbeitet und macht uns vor,

stellt, behält in der Regel sein Vertrauen. Die Chemie

wie man bei einem Zugriff für die Agenten des befreun-

muss stimmen, man darf sich nicht betrügen.

deten Dienstes per Zeichen bestätigt, welche Person verfolgt werden soll.

21. Januar 2016, Berlin Es soll kein Spiel werden, eher ein individueller Gang

2. Februar 2016, Peking

durch ein Archiv. Doch wie kann man hundert einzelne

Die Recherche zu Top Secret International macht den

Personen individuell durch mehrere Räume führen,

Titel zum Programm: Einer der Stringer macht in Peking

ohne dass die Qualität der Geschichten darunter leidet?

einen jungen Regisseur ausfindig, der zu einem Erstge-

Wie viele Geschichten will man hören? Sollen alle die-

spräch bereit ist. Dieser wiederum erinnert sich an einen

selben Geschichten hören?

alten Schulfreund, der für die Sicherheitsabteilung der Regierung tätig ist: „Er hat die Aufgabe, Graswurzelbe-

23. Januar 2016, Berlin

wegungen an der Universität zu erkennen und zu helfen,

Sollen die Zuschauer oder Zuhörer fremde Identitäten,

diese zu zerschlagen, da sie als Ursprung demokrati-

andere Profile annehmen? Und kann man Identitäten

scher Entwicklungen gewertet werden. Dieser Kontakt

zu einem bestimmten Zeitpunkt wechseln? Wie kriege

könnte gegebenenfalls auch darüber berichten, wie

ich weitere Informationen? Wie soll die Begehung

Muster dieser Bewegungen erkannt werden können. Die

enden?

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9. Februar 2016, Café in Berlin

Software auf jedem Device installiert werden und alle

Ein weiteres Treffen mit einem Investigativjournalisten

Daten desselben abrufen, speichern und sogar manipu-

und Filmemacher. Die Aufregung über die Geheim-

lieren. Reporter ohne Grenzen und Privacy International

dienste sei vorbei, das hätte für zwei Jahre für Empö-

sehen in Münchs Spähsoftware eine der größten Gefah-

rung gesorgt, jetzt sind wieder andere Gefahren viru-

ren für Aktivisten und Journalisten in Krisengebieten

lent. Zum Beispiel der IS, da könnten die Dienste und

weltweit. Von einigen Regierungen wie zum Beispiel in

ihre Arbeiten nützlich sein und die Bürger beschützen.

Bahrain, Ägypten oder Syrien werden sie bereits eingesetzt. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung

10. Februar 2016, Berlin, Produktionsbüro

verteidigt Münch seine Arbeit mit dem Argument, seine

Jochen Hollmann, Abteilungsleiter des Verfassungs-

Software diene einzig und allein polizeilichen Behörden

schutzes Sachsen-Anhalt, nimmt Platz und stellt erst ein-

und man könne mit Hilfe dieser Straftäter stellen, die an-

mal fest: „Wir sind nicht die allgegenwärtige Krake.“ Der

dernfalls unerkannt blieben. Wir wollen nachfragen.

Verfassungsschutz ist eine auf dem Boden des Rechts

Aber Münch ist in den Weiten des Netzes unauffindbar,

stehende Institution, die einen wichtigen Beitrag zur Si-

sein Kontakt taucht nirgends auf und wenn, führen die

cherheit leistet, insbesondere im Bereich Extremismus.

E-Mailadressen ins Leere. Dead end.

Wie transparent muss ein Nachrichtendienst sein? Da gebe es selbst in den eigenen Reihen Uneinigkeiten.

5. März 2016, Cloud

Hollmann ist kein Freund der Geheimnistuerei. Er ist der

In der Cloud, in der das Stück geschrieben und das Re-

Meinung, dass die frühere Haltung, nur das Nötigste

cherchematerial verwaltet wird, sammeln sich immer

nach außen zu kommunizieren, also das Kredo „need to

mehr Namen, vertrauliche Informationen und heikle

know“ zu einem „need to share“ werden solle. Früher

Daten. Die Suchverläufe der Laptops füllen sich mit ein-

sei es üblich gewesen, dass derjenige, der über die Infor-

schlägigen Begriffen, der Postausgang mit zahlreichen

mation verfügte, entschied, an wen die Information wei-

Anfragen. Werden unsere Bewegungen durch das Inter-

tergegeben wurde. Es war eine Frage der Macht. Das

net auffällig für Algorithmen, die nach potentiellen Irrita-

solle nun – in der Zusammenarbeit der Dienste – anders

tionen fahnden? Erscheinen wir bereits auf dem Radar

werden: Die Informationen werden in einem gemeinsa-

des Verfassungsschutzes? Müssen die Laptops gegen

men Topf gesammelt und jeder überprüft nun für sich,

Zugriffe von außen abgesichert werden? Zum Beispiel

ob er sie als nützlich erachtet.

mit der Tor-Software. Ein Softwareentwickler des Chaos Computer Clubs rät uns davon ab: Wer sich Tor herunter-

1. März 2016, Berlin

lade, wirke erst recht verdächtig.

„Software foltert keine Leute.“ Martin Münch war Miteigentümer und Pressesprecher der Gamma International

18. März 2016, Athen/New York

Group und ist der Entwickler der aggressiven Spähsoft-

Der PR-Chef von Hacking Team, den richtig Bösen, die

ware Finspy (Finfischer): Über einen Trojaner kann die

Spyware an jeden verkauften, der interessiert war, geht

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„Software foltert keine Leute.“ Martin Münch, Softwareentwickler


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Filmen, Büchern und Reportagen? Agent (CIA), Vertrauensperson (BND), Officer (MI6), Führungsoffizier, Doppelagent, Maulwurf, Informant, Kurier, Schläfer, operative Ehe, öffentliche und geheime Quelle, Resident, Selbstläufer, Überläufer, verbrannter Agent, Zielperson, Legende (falsche Identität), private Ermittlungsorganisationen, Whistleblower, HUMINT (human intelligence – von einer Person gesammelte Informationen) und SIGINT (signal intelligence – Informationen gesammelt durch das Abfangen von Signal), … April 2016, New York Der Stringer für Nord-Amerika trifft sich mit Ben Wizner, Rechtsanwalt u. a. von Ed Snowden – er rollt den Fall elMasri auf, ein deutscher Bürger, der aufgrund einer Verwechslung von der CIA entführt, in Afghanistan in ein Geheimgefängnis gebracht, dort festgehalten und über

„Das Geschäftsmodell der Geheimdienste ist dasselbe wie das von Google, Facebook, Apple, Amazon etc.: Soviele Daten wie möglich miteinander zu verknüpfen. Der Heuhaufen muss einfach groß genug sein, dann findet man schon irgendwann eine Nadel.“ Ein Jounalist

ran, ist mit der Aufnahme einverstanden und brubbelt

mehrere Monate hinweg auf schändlichste Weise miss-

freundlich seine Dementi-Passagen und Image-Senten-

handelt worden ist und schließlich im albanischen Hü-

zen. Die alte Debatte, das alte Lied: Wer den Hammer

gelland ausgesetzt wurde. Deutsche Behörden und der

baut und verkauft, ist doch nicht schuld, wenn damit an-

Geheimdienst gerieten in den Verdacht, über die Ver-

dere als Köpfe von Nägeln eingeschlagen werden. Ha-

schleppung informiert gewesen zu sein.

cking Team waren Vorreiter in der Kommerzialisierung nicht nur von Software, mit der abgehört oder mitgele-

13. Mai 2016, München

sen werden konnte, sondern auch von solcher, mit der

Wolfgang Ohlert, Ex-Protokollchef der Münchner Sicher-

auf fremden Geräten kompromittierendes Material plat-

heitskonferenz, spricht über Sicherheitsstufen und

ziert werden kann. Das hat nichts mehr mit Strafverfol-

deren Überprüfung in der Privatwirtschaft. Dabei wird

gung oder Abwehr von Gefahren zu tun, oder? – Ja, aber

der Umgang des zu Prüfenden mit Alkohol, Sex und

der BND macht es doch auch, nur mit der Software von

Geld unter die Lupe genommen. Das sind die großen

den anderen.

Gefahren – und die Mittel, die bei der Anwerbung von Informanten meistens im Spiel sind.

14. April 2016, Cloud

Erste Versuche mit Workshop-Teilnehmern in der Glypto-

Welche Rollen und Funktionen des Geheimdienstes tau-

thek. Das Beobachten von anderen Besuchern ist inte-

chen in unserer kollektiven Vorstellung auf, gespeist von

ressant. Viele der Besucher tragen Kopfhörer für den Au-

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dioguide – könnte das ein nützliches Setting sein? Zu

tralien) erklärt sie die Dramaturgie des Geheimnisses:

hören wären weniger Hintergrundgeschichten zu den

Wenn man sicher sein will, dass alle ein Dokument lesen,

Exponaten, sondern Erzählungen von Geheimdienstmit-

dann müsse man „Top Secret“ drauf schreiben.

arbeitern. Die Entscheidung fällt, dass das Stück im Museum stattfindet.

12. Oktober 2017, Berlin, Produktionsbüro Die neue Konzeption benötigt eine klare Auswahl der

31. Mai 2016, Berlin

„Profile“, der Akteure. Will man den Anwalt von Snowden

Neue Konzeption. Von hundert Profilen auf zwölf. Die

dabei haben? Der Kontakt wäre bereits hergestellt, 25 Mi-

Tryouts haben zum einen die Grenzen der Technologie

nuten Interview bereits geschnitten – oder ist Snowden

aufgezeigt und regen zu einem Umdenken beim Par-

schon zu bekannt? Ist er bereits ein Kulturgut, ein musea-

cours an. Allerdings haben die Aufenthalte in den Mu-

les Exponat unserer Zeit? Welche Themenfelder werden

seen gezeigt, dass einerseits intersubjektive Begegnun-

wichtig? Überwachung und Datensammlung, Wirtschafts-

gen interessant sind, andererseits der museale Raum

spionagen, Cyberwar, Terrorbekämpfung, Interpol und or-

und seine Exponate stärker eingebunden werden soll-

ganisierte Kriminalität, Hacking und Überwachungssoft-

ten. Also eher eine eigene Recherche erfahrbar machen.

wares, NSA-Ausschuss, Opfer- und Täterkonstruktionen

Der Zuschauer kann diverse Perspektiven auf den Ge-

etc. Wo hört Geheimdiensttätigkeit auf und wo beginnt

heimdienst erfahren und sich dabei gleichzeitig im

polizeiliche Arbeit? Entscheidung zur Tonspur: Es gibt drei

Beobachten und Informationensammeln üben? Die in-

verschiedene Ebenen. Erstens eine künstliche Stimme,

haltlichen Levels könnten dann sein: Rekrutierung, ver-

generiert aus einem Computerprogramm: Sie ist für die

schiedene Einsatzgebiete, internationale Positionen,

Verankerung im Raum verantwortlich, die Navigation

Missionen. Der Besucher erhält Anweisungen, aber auch

durch das Museum und gibt klare Instruktion. Zweitens

Wahlmöglichkeiten, er trifft Entscheidungen, indem er

eine Schauspieler-Stimme: eine Art Erzähler, eine persön-

sich durch das Museum bewegt. Sein Verhalten gene-

liche, manchmal suggestive Stimme, ein kleiner Mann im

riert Daten, die ihm am Ende des Parcours zurückge-

Ohr. Und drittens: die Original-Töne aus den gemachten

spielt werden. Überwachung.

Interviews. Diese Files muss sich der Betrachter erarbeiten, indem er bestimmte Entscheidungen trifft und einen

1. Juli 2017, Canberra

bestimmten Parcours einschlägt.

Gwenyth Todd gilt seit 2007 als Whistleblowerin eines von US-Neocons geplanten Krieges gegen den Iran. Nach ihrer

13. Oktober 2017, Berlin, Wohnung

Tätigkeit im Nationalen Sicherheitsrat im Weißen Haus

Das W-LAN-Modul der Smartwatches schafft es definitiv

unter Clinton arbeitete sie als politische Beraterin der Navy

nicht. Doch was soll die Uhren ersetzen? Ein Walkie-Tal-

in Bahrain – und veröffentlichte etwas, das als Geheimnis

kie? Ein Walkman mit Kassette? Ein Museumsguide? Ein

gelten sollte, es aber nicht länger war. Seither lebt sie im

Smartphone, das man um den Arm gebunden trägt?

australischen Busch. Bei Kaminfeuer (es ist Winter in Aus-

Aber dann hat der Zuschauer einen Screen vor sich, wie

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„Nicht jedes Land hat eine Armee – aber jedes Land hat mindestens einen Geheimdienst.“ Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Berlin


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kurz davor, gelöscht zu werden. Beim Überfliegen der Zeilen springt das Wort „Carlito“ ins Auge. Das ist der Spitzname, mit dem ein Kontaktmann in Ägypten gerne auf die Palme gebracht wurde. Was bedeutet dieser Name hier? Der Name ist verlinkt, ein Passwort wird verlangt. Seltsam. Gleichzeitig erscheint auf Skype eine Nachricht vom besagten Kontakt: „How are you man“. In Anführungszeichen. Diese Nachricht wird als Passwort eingefügt und es öffnet sich daraufhin ein Dokument, in dem arabische Links aufgelistet sind und geschrieben steht, dass er, Carlito, nun zum dritten Mal eine Hausdurchsuchung hatte und keine normalen E-Mails mehr schreiben könne zu dem Thema. Die Spur fühlt sich zu heiß an. November 2017, München Der Parcours wird kontinuierlich entwickelt, der Besuch der Toilette wird eingebaut, im Heizungsraum wird der Überwachungsmonitor installiert. Die Beschäftigung mit den Exponaten wird intensiviert. Wohin geht der Blick setzt man den ein? Jedes Device hat seine eigenen tech-

der Büste des Marc Aurel? Der Text für die Schauspieler

nologischen Implikationen, erfordert jeweils einen spe-

wird in der Glyptothek geschrieben, manchmal arbeiten

zifischen Umgang mit Text und Monitor, jedes Medium

wir nachts, wenn die Besucher und das Wachpersonal

steuert das Verhalten der Zuschauer auf seine Weise

gegangen sind. Im Dämmerlicht der Notbeleuchtung

und damit die Form der Aufführung. Entscheidung: Das

entwickeln die Skulpturen ein Eigenleben. Am Tag da-

Smartphone wird in ein Notizbuch eingebaut, so dass es

rauf finden Aufnahmen im Tonstudio in den Kammer-

zwar als Navigations- und Überwachungsgerät arbeiten

spielen statt, die wiederum montiert in kleinen Schnip-

kann, aber vom Besucher nicht gesehen oder bedient

seln

werden kann. Im Notizbuch findet der Besucher Informa-

Arbeitsinstrumente sind Tabellen, Flowcharts und Cloud-

tionen, nutzt es aber auch für eigene Notizen und Zeich-

Dienste. Mittlerweile hätten wir Material für über fünf

nungen, die in die Handlungen einbezogen werden.

Stunden – wie gehen wir damit um? Neue Programmie-

auf

den

Server

gespielt

werden. Wichtige

rungen stehen zum Testen bereit, geprobt werden kann 2. November 2016, Berlin

nur mit Testpublikum. Die Geste „Winken“ kann ein be-

Eine E-Mail von einer unbekannten Adresse landet im

stimmtes Audio-File auslösen. Immer nach 15 Minuten

Posteingang. Die Nachricht wird für Spam gehalten, ist

werden kleine performative Flashmobs ausgelöst.

Staat 1 | 37


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Liste zu finden, die in alphabetischer Reihenfolge alle Länder und ihre Dienste aufreiht. Nicht jedes Land differenziert in Inlands- und Auslandsdienst. Nicht jedes Land hat einen eigenen militärischen Nachrichtendienst und nicht jedes Land hat einen Geheimdienst im Sinne von Spionage und Agenten. Gambia zum Beispiel hat nur einen Eintrag: die National Intelligence Agency. Die Demokratische Republik Kongo hingegen unterscheidet in die National Intelligence Agency, General Staff of Military Intelligence, Directorate of General Information und National Financial Intelligence. Die USA sind schwer zu toppen: Sie haben eine ganze „Intelligence Community“ mit insgesamt acht Diensten. 2. November 2016, Berlin, Restaurant Josty Gerhard Schindler ist auch ein ehemaliger Präsident des

10. Dezember 2016, München, Glyptothek,

BNDs. Ein sympathischer und umgänglicher älterer Herr

Premiere

im Holzfällerhemd sitzt uns gegenüber, kein uniformtra-

Premierenfeier, Sektempfang. Ein Bodyguard betritt

gendes Sprachrohr des BNDs mehr, als das er im Fernse-

den Saal. Kein 0815-Security, sondern ein richtiger

hen auftrat. Er ist ein geschulter Zuhörer und wenn man

Bodyguard mit trainiert ernstem Gesichtsausdruck,

ihm zuhört, ertappt man sich dabei, ihm alles zu glauben.

durchsichtiger Verkabelung am Ohr und auffällig breiten

Ohne Dienste keine Lageeinschätzungen, keine Risikobe-

Brillen. Ihm folgt ein zweiter Bodyguard. Ein Herr mit

rechnungen, keine Sicherheit. Gespräche wie die mit Ger-

gepflegtem Bart, Tweedjacke und legèrem Schaal tritt

hard Schindler lassen Vorurteile von Gut und Böse in sich

ein, an seinem Arm hält sich eine Dame in Abendrobe

zusammenklappen und stellen sie an anderer Stelle wie-

und Highheels fest. Abschließend folgt Bodyguard

der auf. Wie er die Zukunft der Dienste einschätzt? Dienste

Nummer drei. Sind das Museumsbesucher, die so VIP

seien so etwas wie der letzte nationale Hort, die Zukunft

sind, dass sie selbst fürs Kulturprogramm einen Begleit-

der Dienste aber sei eine globale, mit mehr internationa-

schutz brauchen? Aber wieso nehmen sie sich jetzt ein

ler Zusammenarbeit. Vertrauen werde hier eine neue und

Glas Sekt? Irritation macht sich breit in der Zuhörer-

wichtige Kategorie sein. Am Ende des Gesprächs ist man

schaft. Dann ist die Rede beendet, man klatscht und das

überzeugt: Der BND ist einer von den „Guten“.

schwer bewachte Paar steht nun mit Rimini Protokoll zusammen und plaudert gesellig. Es handelt sich um den

1. Dezember 2016, München

Briten James Short, dessen Geschichte und Stimme im

In das Notizbuch für die Zuschauer kommt eine Liste

Stück vorkommt. Er hat beim MI6 gearbeitet. Überra-

aller Geheimdienste der Welt. Auf Wikipedia ist eine

schenderweise ist er der Einladung zur Premiere gefolgt.

38 | Staat 1

„Geheimdienst ist ein dreckiges Geschäft.“ Gerhard Schindler, ehemaliger BND-Präsident


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STÜCKAUSZUG Düsseldorfer Fassung

Top Secret International funktioniert wie ein Hörspiel, bei dem die verschiedenen Szenen erst dann abgespielt werden, wenn sich der Zuhörer am richtigen Ort befindet. Das Skript täuscht eine Linearität und Kontinuität vor, die so gar nicht vorkommen. Die Nummerierung (1.1, 1.2 usw.) entspricht den einzelnen Audiofiles, die an bestimmte Zonen (Zone 1 , Zone 2 usw.) im Museum gekoppelt sind, die um bestimmte Exponate herum definiert wurden (MADONNA, PETRUS usw.). An diversen Situationen muss der Zuschauer aus verschiedenen Möglichkeiten auswählen und entscheidet darüber, wie seine Geschichte weiterläuft (zum Bespiel 1.4.1 oder 1.4.2). Dieser Stückauszug gibt den Parcours im Museum Kunstpalast in Düsseldorf wieder.

42 | Staat 1

1.1 Warteschleife mit Ansage

die einem auf den Leib geschrieben wird, damit

COUNTER/Zone 2

du getarnt deinen wirklichen Aufgaben nachgehen kannst. Dem Anschein nach bist du ein ganz nor-

Das System: Du kannst meine Stimme hören?

maler Besucher dieses Museums.

Dann nicke jetzt kurz, damit das Personal weiß,

Du machst das, was man im Museum eben so

dass alles in Ordnung ist. Gut! Los geht’s. Stell

macht: Du läufst umher, betrachtest die Exponate,

dich in die Mitte der Eingangshalle.

und hörst über deinen Audio-Guide Hintergrund-

Der Schauspieler: Da bist du ja. Herzlich Will-

informationen. Doch eigentlich bist du hier, um

kommen. Du befindest dich in einem Museum –

etwas über etwas herauszufinden, dessen Wesen

einer Institution, die zahlende Besucher mit „ver-

es ist, unsichtbar zu sein. Es ist so alt wie die Ex-

gangenen Zeiten“ verbinden soll, einem Ort, der

ponate, die hier konserviert werden.

Kulturschätze bewahrt.

Das System: Nein, es ist noch viel älter.

Das System: Du bist im Museum Kunstpalast in

Der Schauspieler: Man sagt, es sei das zweitäl-

Düsseldorf.

teste Gewerbe der Welt.

Der Schauspieler: Ich werde dich auf deinem

Das System: Jetzt solltest du aber mal etwas

Gang durch dieses Museum begleiten.

näher an das Werk herangehen.

Das System: Aber nur ich werde immer wissen,

Der Schauspieler: Ja, mach das ruhig!

wo du dich befindest. Geh nun die Stufen der

Das System: Madonna hält in ihrer rechten Hand

alten, geschwungenen Steintreppe rechts hinauf,

lässig die Welt in Form eines Apfels. Die Friedens-

in den ersten Stock zur Sammlung. Dort wirst du

taube hat sich auf den Knien des Jesuskindes nie-

schon erwartet. Geh die Treppe hinauf zur Ma-

dergelassen. Ein kurzer friedvoller, weltumspan-

donna-Statue.

nender Zustand. In Stein gemeißelt für die Ewigkeit. Der Schauspieler: Wie würde diese Geschichte

1.2 Intro

ausgehen, wäre sie nicht in der Zeit eingefroren

MADONNA/Zone 2

worden? Das System: Wir kennen den Ausgang der Ge-

Das System: Du stehst vor der Madonna.

schichte dieses Kindes.

Der Schauspieler: Das System hat dich geortet!

Ein Spion. Judas.

Das System: So ist es! Geh ruhig etwas näher an

Ein Kuss: Verrat.

das Werk heran.

Ein qualvolles Ende.

Der Schauspieler: Warte, nicht so schnell. Erst-

Der Schauspieler: Gleich wirst du dich ins Netz

mal solltest du dich mit deiner Legende vertraut

der Geheimdienste begeben, mit deinem Körper.

machen. So nennt man in den Diensten eine Rolle,

Anders als …


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Das System: die Madonna und das Jesuskind …

Der Schauspieler: In jedem Raum dieses Muse-

1.2.1.1 Weiter/Instruktionen

Der Schauspieler: … kannst du deinen Körper

ums sind Dokumente abgelegt – unsichtbar und

Von Petrus mit Schlüssel zur

bewegen.

nur für dich abhörbar.

Schwelle Madonnenraum/

Das System: Ich werde dich orten.

Das System: Durch deine Präsenz in dem Raum

Zone 3 > 4

Der Schauspieler: Du wirst Nachrichten erfas-

werden sie aktiviert und abgespielt. Wie jetzt Avi

sen, sammeln und auswerten – alles unbemerkt

Primor.

Das System: Dreh dich von der Wand weg und

von deiner Umgebung. Du bist mit einem Objekt

Der Schauspieler: Avi Primor war viele Jahre

schau in den nächsten Raumabschnitt hinein,

ausgestattet worden – zur Tarnung ist es ein Notiz-

Botschafter für Israel in Deutschland. Er ist bereit,

ohne ihn schon zu betreten.

buch. Nutze es als solches.

zu dir zu sprechen.

Der Schauspieler: Intelligence – Nachrichtenbe-

Avi Primor: Hallo, ja!

schaffung – bezieht sich immer auf „die anderen“,

Der Schauspieler: Du fragst ihn, warum Staaten

nie auf uns.

1.2.0 Weiter/In die Sammlung

Geheimdienste haben.

Das System: Wie oft wurde der friedliche Augen-

Von Madonna in die Sammlung/

Avi Primor: Also sagen wir so: Kriege sind

blick mit Madonna und dem Jesuskind auf dem

Zone 2 > Zone 3

immer ausgebrochen, nachdem eine Seite davon

Arm eingefroren. Wie viele kleine Details führen

ausgegangen ist, dass sie den Krieg gewinnen

auf die eine oder die andere Spur?

Der Schauspieler: Also.

kann. Wenn jemand davon ausgehen sollte, dass

Der Schauspieler: Man will mehr wissen über

Das System: Geh nun durch die Glastür, links, in

er einen Krieg nicht gewinnen kann, dann würde

den aktuellen oder den zukünftigen Feind.

den nächsten Raum hinein zum Holzrelief an der

er einen Krieg nicht initiieren, würde sich auch in

Das System: Geh nun langsam in den Raum mit

Wand gleich links.

einen Krieg nicht einlassen.

den Madonnen-Statuen hinein.

Das System: Geh nun langsam weiter an den Gemälden und einer weiteren Madonna zu den 1.2.1 Stammbaum/Avi Primor

beiden schmalen Bildern an der rechten Wand. Auf

1.2.2. Augenhöhe/Kosta und Iannis

HOLZRELIEF > PETRUS/Zone 3

dem linken Gemälde siehst du Petrus mit dem

MADONNEN/Eckraum

Zone 3: erster Quadratsaal

Schlüssel zur Himmelspforte. Er wird ihn später

Alte Meister

weitergeben …

Das System: Gut, du befindest dich unter den

Avi Primor: Das heißt, dass fünfzig Prozent der

Madonnen.

Das System: Du hast dich bewegt.

Menschen, die Kriege führen, sich im Grunde ge-

Der Schauspieler: Stell dich einem Menschen-

Der Schauspieler: Gut machst du das …

nommen täuschen, aber das ist ja so ein Spiel,

bild gegenüber. Findest du ein Gesicht auf deiner

Das System: Siehst du Isaia, den Vater Davids,

dass jeder alles von dem anderen wissen will und

Augenhöhe?

unten in der Mitte, liegend in Denkerpose?

der andere von ihm wissen will, und das kann

Das System: Entscheide dich, wem du in die

Zweige und Verästelungen führen über die Kö-

man nur anhand von Geheimdiensten bekom-

Augen schauen willst.

nige Israels und Judas hinauf zu Maria und

men. Also Geheimdienste sind die Grundlage des

Der Schauspieler: Gegenüberstellung.

Jesus. Ein lückenloser Stammbaum macht sich

Krieges. Ohne Geheimdienste gibt es keinen

Das System: Schauen die Augen zurück? Mach ein

immer gut!

Krieg.

Gesicht, als könnte man aus dir nichts rausholen!

Staat 1 | 43


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:39 Seite 44

Der Schauspieler: Kosta Tsetsos ist Sicherheits-

Das System: Such dir eine andere Statue aus

1.2.2.1 Weiter

experte und Konfliktforscher. Er ist Experte dafür,

und stell dich mit dem Rücken zu ihr.

Von Madonnen zu Altarbild/Zone 4 > 5

Gefahren zu erkennen und künftige bewaffnete

Der Schauspieler: Jemand wie Iannis würde

Konflikte zu berechnen. Frage an dich: Wie ist die

sich alles an deinem Gang merken und später no-

Das System: Geh weiter in den nächsten, lang-

Sicherheitslage an deinem jetzigen Standpunkt?

tieren. Für einen Agenten wie Iannis ist immer

gestreckten Raum hinein. An der langen linken

Und was meint Kosta dazu?

nichts sicher. Er ist Geheimpolizist. Ein Experte für

Wand siehst du drei farbenfrohe Gemälde. Das

Kosta Tsetsos: Also konkret auf das Museum

Langzeitbeobachtungen in anderen Rollen – als

erste hat die Szene festgehalten, in der Jesus Pe-

bezogen, also auf die Besucher im Museum, sehe

Mitglied der Hells Angels, als Drogenkurier, als As-

trus den Schlüssel übergibt.

ich keine Gefahren, die man jetzt direkt durch Ob-

sistenz-Priester. Nachdem er eine längere Mission

Halbrechts hinter dir steht ein Altarbild mitten im

servation der Besucher im Museum erkennen

beendet hat, bekommt er etwas Ruhigeres. Zum

Raum – dich interessiert die gemalte Rückseite.

könnte.

Beispiel:

Geh langsam dorthin wie ein normaler Museums-

Das System: Siehst du hier im Raum Wachper-

Iannis: To observe a man who lives in an area in

besucher.

sonal oder andere Besucher? Siehst du Kameras?

Athens and every tuesday, every thursday takes

Kosta: Eventuell könnte man aber an Einzelper-

his dog for a walk.

sonen Sachen – am Schritt kannst du Sachen

Der Schauspieler: Zwei Männer, ein Hund, zwei-

1.3 Entscheidung + Recruitment/

sehen, du kannst an einer Handbewegung sehen,

mal die Woche.

BND-Chef und Ausbildung GB

an auffälligem Verhalten. Aber da muss ich ja

Iannis: From 8:30 until 10:00 in the morning.

ALTARBILD/Zone 5

davon ausgehen, dass irgendwas im Busch ist.

Der Schauspieler: Einer lebt, der andere lebt

Der Schauspieler: Was könnte Kosta über dich

mit.

Das System: Wer hat diese Rückseite an dem

sagen? Über jemanden, der mit einem Notizbuch

Iannis: He wears trousers, he wears a shirt, he

Originalort sehen können?

im Museum steht.

wears a blouse, he’s wearing a hat, the colour of

Der Schauspieler: Der vorige Präsident des Bun-

Kosta: Jeder Mensch ist ein Spion in einer gewis-

the shoes – all this you report. Everything about

desnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, geht

sen Hinsicht. Weil jeder Mensch Informationsge-

this man.

gerne ins Museum.

winnung betreibt – ob es über seine Freunde ist,

Der Schauspieler: Du weißt nie, was genau der

Gerhard Schindler: Gerne.

seine Verwandten, seine Arbeitskollegen – und die

Zweck deiner Aufgabe ist. Du hast verinnerlicht:

Der Schauspieler: Er sagt:

teilweise auch geheim hält. Manchmal aus gutem

Was immer dir als Zweck erscheint – oft ist es

Schindler: Weil – da kann man erkennen: wo

Zweck, wegen einer platonischen Lüge, weil es

genau andersherum.

kommen die Menschen her, und wenn man das

sich nicht lohnt, die Wahrheit zu sagen, weil man

Iannis: After one year you have an order to stop

ein bisschen erkannt hat, dann kann man auch

mehr Schaden anrichtet – oder um einen Wettbe-

this. You will never know who is this man. You

sehen: wo gehen sie hin.

werbsvorteil, eine positive Konsequenz zu erwirt-

never know why you make this mission.

Der Schauspieler: Er sagt auch:

schaften.

Der Schauspieler: Du hast dein Leben lang Men-

Schindler: Wissen schafft Handlungsspielräu-

Der Schauspieler: Was machen die anderen Be-

schen beobachtet und du weißt nie, wer von ihnen

me …

sucher? Wie wirkst du hier? Wechsle den Stand-

dazu da war, um dich zu beobachten.

Das System: Danke. Später hörst du eventuell

punkt.

44 | Staat 1

mehr von ihm. Das hängt von deinen Entschei-


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dungen ab. Zwischen was wägt der Erzengel ab:

deine sexuellen Präferenzen in Erfahrung bringen.

Was ist gut, was ist böse?

Die Höhe der laufenden Kredite. Du trinkst gern?

Der Schauspieler: Weltweit steigen die Ausga-

Nimmst exzessiv andere Drogen? Du spielst?

Der Schauspieler: Frage: Hast und speicherst du

ben für die Nachrichtendienste. Weltweit häufen

Schwierig!

Informationen über andere, die sie erpressbar

sich Informationen über Informationssammlun-

Außerdem bist du nicht alleine: Familie, Freunde,

machen? Wenn ja:

gen. Dir wurden ein Notizbuch und ein Stift ausge-

Kollegen, Nachbarn, flüchtige Bekanntschaften

Das System: Dann geh gleich nach rechts in das

händigt. Blättere darin, als ob du nach einer alten

aus einem Café … Auch diese machen dich er-

kleine blaue Kabinett mit der hell erleuchteten

Aufzeichnung suchst. Du findest darin eine Über-

pressbar. Über jeden Menschen auf dieser Welt

Glasvitrine. In den japanischen Raum.

sicht über alle Geheimdienste dieser Welt. Wür-

gibt es mindestens eine Information, die ihn ins

Der Schauspieler: Und wenn du keine Informa-

dest du für einen dieser Dienste arbeiten wollen?

Verderben stürzen könnte, die ihn erpressbar

tionen über andere hast und speicherst, die sie er-

Ein krisensicherer Arbeitsplatz. Gut bezahlt, ohne-

macht, ihn in Handlungen zwingt. Was könnte dich

pressbar machen, dann:

hin. Wie kommt man rein?

erpressbar machen? Bilder tauchen auf. Momente.

Das System: Dann gehe gleich linksherum in das

Du fragst Jonathan Bloch. Er ist Wirtschaftsberater

Satzfetzen.

kleine blaue Kabinett an dem schweren Holztor

und sammelt seit Jahren Informationen über Ge-

Das System: Ab dieser Stufe stellt dich das Sys-

vorbei in den Orient.

heimdienste:

tem vor Entscheidungen. Sie beeinflussen deinen

Der Schauspieler: Geh ganz unauffällig und

Jonathan Bloch: Well, we know how they do it in

Pfad. Nimm nun etwas Abstand von dem Altarbild

langsam, als wärst du ein normaler Besucher,

England. So, in England it used to be done at uni-

und schau an der Tafel vorbei. Rechts und links

sonst bringst du das ganze System durcheinander.

versities. Particular Oxford and Cambridge. And

wirst du jeweils einen Eingang in ein kleines Kabi-

Das System: Keine Sorge. Das System arbeitet

they would say: „Would you be interested in wor-

nett entdecken. Kleine blau gestrichene Räume.

stabil.

king for government department?“, and then – you

Ich werde dir eine Frage stellen und du hast zwei

know, you would meet somebody at a sort of non-

Antwortmöglichkeiten, die dich in den einen oder

descript office block and they would recruit you.

den anderen Raum führen werden.

1.3.1.1 Frage/Infos erpressbar machen

Right! Now, they advertise on the radio on the television. They have a whole careers website. They even use headhunters, now. Das System: Wann dreht sich eine Entscheidung gegen dich? Wie der Pfeil auf diesem Bild auf den Entsender der Botschaft, auf den Schützen selbst, zeigt? Der Schauspieler: Wer in diesem Raum könnte für den Geheimdienst arbeiten? Könntest du selbst rekrutiert werden? Würdest du als ausreichend stabil und belastbar dafür eingestuft wer-

Wenn „Ja“ 1.4.1 Seite 46

Wenn „Nein“ 1.4.2 Seite 47

den? Dein potentieller Arbeitgeber würde auch

Staat 1 | 45


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blank and you had to write in the name of every

friendship?“ And I said: „Oh my god, I hope not, I

Raum rechts (Japan) Zone 24

country –

don’t think so.“

Der Schauspieler: Blättere in deinem Notizbuch.

Der Schauspieler: Wie sieht das bei dir aus?

Das System: Du hast also Informatio-

Kiriakou: So I just scribbled in all the names of all

Hast du?

nen, die andere erpressbar machen.

the countries.

Kiriakou: „Let me think about it.“ And they said:

Okay, dann lass deinen Blick über die

Das System: Du findest Karten. Kontinente ohne

„No, no, that’s the answer we were looking for.“ I

kleinen Figürchen in den Vitrinen wan-

Länderbezeichnungen.

said: „Okay.“

dern. Taste sie ab.

Der Schauspieler: Kannst du die Länder benen-

Das System: In der linken Vitrine, ganz rechts

Sie sind voller Zeichen und Andeutun-

nen, während du weiter zuhörst.

oben, findest du kleine, garstig aussehende Figür-

gen, deren Code du kaum kennst.

Das System: Fang mit Japan an!

chen. So stellten die Japaner Ausländer dar.

Versuche sie zum Sprechen zu bringen!

Kiriakou: And the next one was very long, sever-

They said: „You know that Mr. X has something in

Der Schauspieler: Du triffst einen CIA-

al thousand questions. As an example, one of the

his house that you need, whether it’s a file or what-

Mitarbeiter und er erzählt dir, wie er rekrutiert

questions was: I like boxing. I thought, well, I don’t

ever, you need it. And you work on him to recruit

wurde.

really care about boxing, but in Mike Tyson

him, so that eventually, he’ll turn that file over to

Sein Professor bittet ihn nach der Vorlesung noch

fighting I usually stop and watch it. So I put „yes“.

you. But he’s not recruitable and in the end, when

einen Moment zu bleiben.

But then like, 234 questions later, it says: „I like

you ask him for the file, he tells you no. What do

Kiriakou: And he said: „Do you have any job

boxing.“ And I said: „Jeez, what did I say the first

you do?“

lined up after graduation?“ And I said: „Oh, Dr.

time, I can’t remember.“ I put „yes“. And another

I said: „I’d break into the house and take it.“ Seem-

Post – not do I only not have a job and don’t even

four hundred questions later it says: „I like box-

ed like a perfectly logical answer to me. If Mr. X

have any prospect for a job.“

ing.“ And I thought „Jeez, I mean…“ So you see

was a Russian scientist, let’s say, I would abso-

So he said: „Have you given any thought to the

what they’re doing. They’re looking for patterns.

lutely break into his house and take it. Right where

CIA?“ And I said: „No, not really.“ – „You think

Der Schauspieler: Bist du fertig mit deiner

the good guys are, there are the bad guys. So a

you’d be interested?“ And I said: „Sure.“

Karte?

couple of weeks after that I got an offer in the mail.

Der Schauspieler: James Kiriakou.

Kiriakou: A week or so later I get a call from Bob,

Kiriakou: So he calls a number and says: „Bob,

he says: „You blew the doors off that test, I want

1.4.1.1 Weiter/Raumwechsel

are you free? I have a good one.“ And hung up the

you to go to another equally non-descript build-

Raus zu Vorderseite Altar/Zone 24 > 5

phone and said: „What I want you to do is Satur-

ing.“ I was met there by three individuals, a psy-

day morning at 8 o’clock be at the George-

chologist, a psychiatrist and an anthropologist,

Das System: Geh nun raus aus dem blauen Kabi-

Washington-University medical center auditorium,

and they interviewed me, like uh: „Describe your

nett. Du warst hier schon länger als andere Besu-

you’re gonna take some tests.“ I said: „Okay.“

relationship with your mother.“

cher, du fällst langsam auf. Geh zur Vorderseite

There were two hundred people there at least and

Der Schauspieler: Schreib den Namen deiner

des Altarbilds. Siehst du Menschen, die in den an-

the proctors handed out these stacks of papers.

Mutter in eins der Länder auf deiner Karte.

deren blauen Raum gehen? Das sind diejenigen,

So one was a big map of the world, but it was just

Kiriakou: And then finally they ask a question

die angeblich keine Informationen über andere

blank, all the countries were divided, but it was

that still sticks with me: „Have you ever betrayed a

Menschen haben.

1.4.1 JA

CIA/Bewerbungstest

46 | Staat 1


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Marco P.: Du musst erstmal beobachten, deine

Marco P.: Du musst für dich ein System finden,

Raum links (Islam) Zone 6

Umgebung analysieren, die Personen um dich

bei dem du in der Lage bist, abzuschätzen, wie viel

herum und ihre Abläufe beobachten. Es geht

Zeit ist vergangen seit deiner Gefangennahme.

Das System: Du hast keine Informatio-

immer darum, sich ins Bild mit einzufügen, aber

Weil jede Information, die mal älter als 24 Stunden

nen, die andere erpressbar machen.

trotzdem aus allem, was du siehst, Informationen

ist, ist eigentlich nichts mehr wert. Es gibt grund-

Der Schauspieler: Schade. Je mehr

ziehen zu können.

sätzlich Mittel und Wege, auch psychisch so auf je-

„Spielmaterial“ du hast, desto mehr

Der Schauspieler: Ausbildung.

manden einzuwirken, dass, sage ich mal, eine kör-

Macht hast du. Mit Informationen

Marco P.: Du kommst aus einer Spezialeinheit

perliche Folter nicht notwendig ist. In der Regel

kannst du handeln, sie gegen andere In-

vom Militär. Während deiner Ausbildung hast du

funktioniert es über Schlafentzug und Essensent-

formationen tauschen.

gelernt, in sehr kleinen Teams Informationen zu

zug, speziell auch solche Lehrgänge werden im

Das System: Schau dir die koptischen

beschaffen. Vom Klettern angefangen über Skifah-

Ausland weitergeführt, indem man halt von Teams

Textilien hinter Glas an der rechten

ren, über Sprengen, über Schießen, über Zu-

befragt wird, die auch keine Deutschen sind, son-

Wand an. Grabbeilagen, wie Kissenbezüge. Ent-

gangstechnik, Taktik, Tarnen, Fotografieren, …

dern die auch hier wiederum ihre Erfahrungen

deckst du die Kampfszene zwischen Perseus und

Der Schauspieler: Hast du einen Fotoapparat?

sammeln. Der Lehrgang selber ist eskalierend an-

Medusa? Was macht das Bild einer Enthauptung

Dann übe schon mal.

gelegt und von grob sechzig Leuten, die am An-

unter dem Kopf eines Verstorbenen?

Das System: Ohne dass du von einem Aufpasser

fang sich angemeldet haben, bleiben in der Regel

Der Schauspieler: Über einen Münchner Sicher-

gesehen wirst.

fünf übrig.

heitsexperten erhältst du die Mobilfunknummer

Marco P.: … über wie dokumentiere ich auch

Das System: Geh nun durch das niedrige alte

eines freien BND-Mitarbeiters. Der unterhält offi-

Daten oder wie kannst du die von einem Ort zum

Holztor hindurch. Das Tor einer Moschee, von der

ziell eine Beratungsfirma für Sicherheitsfragen in

anderen Ort übermitteln. Wenn du mal in Gefan-

man nur annehmen kann, dass sie einst in Kairo

Ostdeutschland und verabredet sich mit dir in Ber-

genschaft gerätst, da, wie kannst du eine be-

stand. Geh geradeaus in den Raum hinein zum

lin zum Interview.

stimmte Zeit überleben. Du versuchst halt die In-

Gemälde an der rechten Wand, das eine weise

Er betritt den Raum und sieht aus wie ein sympa-

formation, um die es halt wirklich geht, so lange

Frau mit dunkler Haut zeigt. Diese Sybilla macht

thischer junger Kultursoziologe. Nichts Muffiges,

wie möglich zurückzuhalten. Wenn natürlich ir-

schon alle Vorhersagen über das Schicksal Christi.

nichts Anrüchiges. Einfach nur ein junger Mann

gendwann körperliche Folter einsetzt, bist du na-

Die Dornenkrone liegt schon auf ihrem Schoß.

Mitte dreißig.

türlich in der Lage auch Informationen weiterzuge-

Marco P.: Gegen Ende der Ausbildung wird es na-

Das System: Vielleicht wie der bärtige Mann mit

ben, aber …

türlich immer einfacher, weil du bestimmte Auto-

1.4.2 NEIN

Marco Ausbildung/Deutschland

Hund, dem du auf deinem Weg ins Museum be-

matismen erzeugst.

gegnet bist?

1.4.2.1 Weiter/Raumwechsel

Das System: Und schaust, wer der nachfolgen-

Der Schauspieler: Seinen Namen möchte er lie-

Durch das Holztor >

den Besucher welches Kabinett wählt. Du weißt

ber nicht öffentlich sagen. Ihr einigt euch auf ein

Gemälde Frau dunkler Haut/Zone 6 > 5

nun, dass sie dir damit eine Antwort geben.

Spiel. Er wird dir erklären, wie es wäre, wenn du in seiner Haut stecken würdest. Dazu gibt er dir

Der Schauspieler: Wie viel Zeit ist vergangen,

Anweisungen.

seit du das Museum betreten hast?

Staat 1 | 47


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GEHEIMNISTHEATER Timon Beyes

Im Netz des Geheimnisses Den Kopfhörer aufgesetzt, werde ich von der Stimme des menschlichen Erzählers in der Münchener Glyptothek herzlich willkommen geheißen. „Gleich wirst du dich ins Netz der Geheimdienste begeben, mit deinem Körper.“ – „Aber nur ich werde immer wissen, wo du dich befindest“, ergänzt die andere, computergenerierte Erzählerinnenstimme etwas bedrohlich. Sie lotst mich zu einer antiken Skulptur, „Der Knabe mit der Gans“, und fragt, ob es sich bei dem Dargestellten um Spiel oder Kampf handele. Damit ist der Rahmen von Top Secret International (Staat 1) abgesteckt: Geheimhaltung und Überwachung, Kampf und Spiel. Eingetaucht in Geschichten und Stimmen eines globalen Geflechts aus Überwachungstechnologien und Spionagepraktiken, Sicherheitsfirmen und Geheimnisträgern, klandestinen Operationen und Konflikten, eröffnet sich eine Welt jenseits öffentlicher Sichtbarkeit, demokratischer Partizipation und, so erfährt man, zu guten Teilen jenseits parlamentarischer Aufsicht. Mit dieser Rahmung besteht ein Bezug zur Diagnose postdemokratischer Zustände, wie sie Colin Crouch (2008) 1 Für Rancière (2010) ist Postdemokratie daher kein gesellschaftlicher Zustand, sondern eine spezifische Regierungsweise, die das Politische „zwischen den Mühlsteinen der wirtschaftlichen Notwendigkeit und der rechtlichen Regel zerreiben“ würde (S. 143) und die man eher eine „aufgeklärte

vorgenommen hat: Die wichtigen Entscheidungen würden in postdemokratischen Zeiten zusehends im Verborgenen und hinter geschlossenen Türen gefällt, während öffentliche Debatten zum bloßen Spektakel der Ablenkung verkämen. Geheimhaltung zentraler wirtschafts-, sozial- und sicherheitspolitischer Weichenstellungen bei gleichzeitiger Ruhigstellung und Überwachung der Bevölkerung, so ließe sich der Befund zuspitzen. Mit Jacques Rancières etwas

und kontrollierte Oligarchie nennen könnte“ (S. 155). Unter den Bedingungen „wuchernder Verrechtlichung“, „verallge-

schärfer und ästhetisch gedachtem Begriff der Postdemokratie formuliert, geht es genau darum, dafür zu sorgen,

meinerter Expertenpraktiken“ sowie „der ständigen Mei-

dass es bei allem Spektakel nichts zu sehen gibt – nichts zumindest, was die üblichen Mechanismen politischer und

nungsforschung“ gründet der Staat, wie der Philosoph formuliert, auf der Fähigkeit, „die gemeinsame Unfähigkeit zu verinnerlichen“ (S. 147).

ökonomischer Steuerung und Machtausübung unterbrechen und ihre Legitimation zur Disposition stellen könnte. Im Namen einer demokratischen Politik sucht ein technokratisches Management der Bevölkerung das Aufscheinen eigentlich demokratischer Momente des Disputs über Begriffe, Annahmen und Akteure des politischen Gefüges zu

2 Das Lateinische kennt unterschiedliche Begriffe und damit Seinsweisen des Geheimnisses: Ist das secretum „das unsichtbar Gemachte“ und „Getarnte“, das zu entschlüsseln ist, so bezeichnet das arcanum Verborgenes oder Weggeschlosse-

verhindern (Rancière 2010).1 Doch scheint mir bei der Bewegung ins Netz der Geheimdienste, die das Stück vollzieht, mehr auf dem Spiel zu stehen als die Inszenierung und Bebilderung solcher Diagnosen. „Was wäre, wenn es keine Geheimnisse mehr

nes, dessen Weitergabe verboten ist (mit dem Begriff der Arkanpolitik klingt daher die Unverfügbarkeit des Staatsgeheimnisses an, siehe unten zur dritten Geheimnisebene der arcana imperii). Der dritte Typ des mysterium betont hingegen „das Nicht-Wissbare, das religiöse oder kultische Geheimnis“, das nicht verraten werden kann (Horn 2007: 105–107).

gäbe?“, sinniert der menschliche Sprecher zu Beginn. In seinem Fokus auf „das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“, um den Titel eines Aufsatzes des Soziologen Georg Simmel aus dem Jahr 1907 zu zitieren, zwingt Top Secret International seine Teilnehmer in ein Geflecht aus secreta und arcana, aus entschlüsselbaren und unverfügbaren Geheimnissen.2 Dieses Geflecht aus „bewußt gewolltem Verbergen“ (Simmel 1992: 392) scheint mir genauso prä- wie

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postdemokratischer Natur zu sein. Simmel zufolge ist das Geheimnis als „allgemeine soziologische Form“ zu begreifen, „die völlig neutral über den Wertbedeutungen ihrer Inhalte steht“ (S. 407). Die „Attraktionen des Geheimnisses“ (S. 409) bezeichnen vielmehr einen notwendigen Tatbestand sozialer Differenzierung. Eine Welt, in der es keine Geheimnisse gäbe, ist aus dieser Sicht gar nicht denkbar, oder wenn, dann nur als Schreckensvision: „Das durch negative oder positive Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten“, schreibt Simmel, „ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit; gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen könnten“ (S. 406). Was für Anhänger des Transparenzgebotes (Schneider 2013) nach unangenehm reaktionärer Haltung klingen dürfte, ist für Simmel ganz nüchtern eine soziologisch gebotene Praxis, „ohne die angesichts unseres sozialen Umgebenseins gewisse Zwecke überhaupt nicht erreichbar sind“ (S. 407). Dazu kommt die „eigentümliche Attraktion“ geheimnisvollen Verhaltens (S. 407), das ein „Energiefeld“ aufspannt und auf sinnlich-affektiver und damit auch spielerischer Ebene wirkt. Das Geheimnis wird somit zu einem Treibstoff sozialen Zusammenlebens. In einer Art Nullsummenspiel von Verbergen und Enthüllen, Heimlichkeit und Verrat wird es zum Operator gesellschaftlicher Entwicklung.3 Geheimniskrämerei und Ausweitung der Überwachung, so wäre also die vorläufige These, sind keine

3 „– so daß man“, fährt Simmel fort, „auf die paradoxe Idee

im besonderen Maße postdemokratischen Phänomene; sie sind den modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften

kommen könnte, das menschliche Zusammensein bedürfe unter übrigens gleichen Umständen eines bestimmten Maßes

gleichsam eingeschrieben. Vor diesem Hintergrund möchte ich meine Erfahrungen als Objekt und Subjekt nachrichtendienstlicher Erkennung in Top Secret International anhand unterschiedlicher Ebenen bzw. Modi des Geheimnisses reflektieren. Davon unterscheide ich zumindest vier: die individuelle, körper- und affektbezogene Ebene; die strukturelle respektive Organisationsebene; die Ebene der Staatsgeheimnisse (arcana imperii); sowie schließlich die medientechnologisch bedingte Ebene eines security-entertainment complex (Thrift 2011). Die Geheimnismodi dieser Ebenen bedienen sich teils unterschiedlicher Technologien, Materialien, Akteure, Narrative und Affekte. Die analytische Unterscheidung soll gleichermaßen verdeutlichen, wie es dem Stück gelingt, eben diese Modi räumlich und zeitlich miteinander zu verweben. Auf dieser Basis, also über den Umweg des Geheimnisses und unterschiedlicher Geheimniseffekte, möchte ich am Schluss auf die Frage des Postdemokratischen zurückkommen. Jeder ein Spion: das geheime Leben der Einzelnen Eine Schlüsseldimension von Top Secret International betrifft die Subjektivität und den Körper der Zuschauerin. Nachdem die im Foyer der Glyptothek ausgehändigten Kopfhörer aufgesetzt sind und das dazu verabreichte, seltsam klobige Notizbuch gezückt ist, begebe ich mich auf meinen eigenen Weg auf und über die Museumsbühne. Im Laufe der Aufführung sind verschiedene Rollen einzunehmen und zu spielen. Das Hinein- und Hinauskatapultieren aus diesen kurzen Rollenspielen konfrontiert mich gleich mehrfach mit meiner eigenen Position zu Fragen des Geheimen. „Jeder Mensch ist ein Spion in einer gewissen Hinsicht”, sagt Kosta, seines Zeichens Sicherheitsexperte

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von Geheimnis, das nur seine Gegenstände wechsle: indem es den einen verlasse, ergreife es den anderen, und erhalte unter diesem Tausch ein nicht geändertes Quantum“ (S. 411).


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und Konfliktforscher, zu Beginn des Stücks. Er kündigt damit einen die Inszenierung – und damit jeden Teilnehmer – begleitenden Fragekomplex an: Eignet man sich zum Spion? Könnte und würde man mitmachen? Spioniert man nicht ohnehin schon, im Alltag? Die Ja/Nein-Fragen, die die computergenerierte Stimme stellt und deren Antworten zum Teil den Weg durch den Parcours bestimmen, testen – und provozieren Reflexionen über – die eigene Bereitschaft, am Geschäft mit dem Geheimen zu partizipieren. So muss ich über Gesten und Bewegungen signalisieren, ob ich Informationen über andere besäße und speicherte, die diese erpressbar machten; ob ich bereit sei, jemanden für Informationen zu bezahlen, die diese Person eigentlich nicht weitergeben dürfe; ob ich der Meinung sei, dass Menschen vor bestimmten Inhalten durch Zensur geschützt werden sollten. Das Geheimnis ist konstitutiv für die Entstehung von Privatheit. Als soziale Form hat das Geheimnis Effekte der Isolation und Individualisierung, schrieb Simmel (1992). Es handelt sich daher zunächst um ein individuell gelagertes Phänomen, das jedoch nur auf der Basis sozialer Beziehungen zu anderen denkbar ist. Das Geheimnis ist gewissermaßen eine Verbindungstechnik, die über Verhüllung funktioniert. Wie viel behält man für sich, und wann, und wem gegenüber? Gibt es Verborgenes, Privates, das man vor den Augen, Ohren und Algorithmen anderer schützen

„Schützt dich der Geheimdienst oder musst du dich vor ihm schützen?“

möchte? „Schützt dich der Geheimdienst“, fragt mich die kalte, elektronisch generierte Stimme, „oder musst du dich vor ihm schützen?“ Mehrfach werde ich zum Observieren von anderen aufgefordert. Was kann ich entdecken oder enthüllen hinter den Bewegungen, Aktivitäten und Ausdrücken anderer? Jede Beziehung zwischen Menschen, so Simmel, lasse sich dadurch charakterisieren, „wieviel Geheimnis in ihr oder um sie ist“ (S. 410). Kleine Übungen locken mich aus der Betrachter- und Zuhörerrolle in die eines aktiven Observierens und Aufzeichnens. Ich probe bewusst unauffälliges Bewegen und werde zu einem Dokumentenaustausch mit einem Fremden angeregt, der keine Aufmerksamkeit erregen soll. Die teils verkrampfte Körperlichkeit des Beobachtens, Bewegens und des Simunlierens verweist auf die affektive Kraft des Geheimnisses. Simmel betonte, dass das Geheimnis ein Kräftefeld organisiert. Es äußert sich in Affekten von Ausnahmestellung und Macht genauso wie als „verführerische[r] Anreiz“ (Simmel 1992: 409) bzw. „Anziehungskraft des Abgrunds“, die sich als „Lust“ im Augenblick der Enthüllung äußern kann (S. 410): als Begehren nach dem Verrat. Die Installation von Top Secret International spannt ein solches Kräftefeld auf. Sie produziert Gefühle der Unsicherheit und der Unheimlichkeit (Beyes u. Steyaert 2013), nicht zuletzt über den Gedanken an das eigene Beobachtetwerden oder im Moment der Übergabe eines Zettels, auf dem ich meine größte Angst notieren sollte, an einen Fremden. Die Inszenierung provoziert aber auch ambivalente Gefühle geteilter Macht und Stärke. Man erfährt ja Geheimnisse, glaubt man, und wird für einen Moment zum Komplizen und Geheimnisträger; man wird eingeweiht in Abläufe sonst unsichtbarer Arkanpolitik und ihrer Staatsgeheimnisse und fühlt die Verlockung des Verrats. Am Ende erhält jeder Teilnehmer eine Beurteilung der persönlichen Eignung für die Arbeit im Geheimdienst (zusammen mit einer Art Werbeflyer vom BND, das den Titel „Einzigartig vielseitig geheim” trägt). Meine Einstufung war ziemlich gut. (Vermutlich war sie das bei allen.) Und wäre es in diesem Moment nicht enttäuschend gewesen, wenn es anders gewesen wäre? Das Stück spielt auf affektiver und reflexiver Ebene mit Simmels Einsicht, dass das Geheimnis konstitutiv für die eigene Subjektivität ist.

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Diskrete Zweckverbände: das geheime Leben der Organisation Eine zweite Ebene des Geheimen, die Top Secret International durchzieht, betrifft die Operationen und Organisationsprozesse von Geheimdiensten selbst. Wie üblich bei Rimini Protokoll, beruht das Stück auf den Ergebnissen einer bemerkenswerten Recherchearbeit, diesmal im Geheimdienst- und Überwachungssektor und bei seinen politischen Kontrollorganen. Es ist als Montage aus Geschichten, Erfahrungen und Einschätzungen von Geheimnisexperten konstruiert, die von diesen selbst erzählt und auf der Tonspur in die Räume der Glyptothek verpflanzt werden. Als Lernender erfahre ich eine Menge über das Kampffeld klandestiner Einsätze und ihre organisationalen Bedingungen auf meiner Tour durch das „zweitälteste Gewerbe der Welt“. – „Es gibt keinen sauberen Nachrichtendienst“, berichtet ein ehemaliger Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Es sei ein schmutziges Geschäft, in dem gelogen, verraten, betrogen und korrumpiert werden müsse. Die Organisation des Geheimdienstapparates ist somit selbst von Verschleierung und Verhüllung geprägt. Das gilt einerseits für die externe Aufsicht: Ein Mitglied eines deutschen parlamentarischen Untersuchungsausschusses berichtet von weitreichender Intransparenz. Wie viel Geld wofür ausgegeben werde, stehe nicht im Bundeshaushalt, und wenn man mal ein Dokument zu Gesicht bekomme, sei der Großteil der Seiten geschwärzt. Das gilt aber auch für die internen Abläufe. Ein ehemaliger israelischer Botschafter erzählt, dass Spitzel mit Diplomatenpass in Botschaften arbeiteten und von dort aus in wiederum anderen Ländern aktiv würden, ohne dass die Botschaftsleitung darüber informiert sei oder wissen könne, wen das betreffe. Ein griechischer Agent sagt, er würde nie erfahren, warum er eine spezifische Mission habe. Und die Nacherzählung eines Einsatzes zur Ausspionierung eines Waffendepots in Libyen ist insbesondere wegen der Unsicherheit und Unentscheidbarkeit, die diese geheime Mission prägen, genauso fesselnd wie furchterregend. Auch hinsichtlich des Zusammenhangs von Organisation und Geheimnis lohnt die Lektüre Simmels. Die formale Organisation bzw. der „Zweckverband“, so schrieb er, sei die „schlechthin diskrete soziologische Formung“ (S. 392). Damit ist die Form des Geheimnisses konstitutiver Organisationsmodus, und das Strukturprinzip der Organisation verkörpert die Form des Geheimnisses (Costas u. Grey 2016). Schon die hierarchische Ordnung bestimmt ja Zonen des Wissens und Nicht-Wissens: Indem sie festlegt, wer wann was zu entscheiden hat, eröffnet sie daneben einen opaken Raum der Informalität, der Kontingenz und der Intransparenz. Mit Bezug auf bürokratische Herrschaft hat Simmels Zeitgenosse Max Weber zudem darauf hingewiesen, dass „jede Bürokratie“ mit dem Machtmittel der Geheimhaltung arbeite und ihr Wissen und Tun zu verbergen suche, „soweit sie irgend kann“ (Weber 1972: 572). „Der Begriff des ‚Amtsgeheimnisses’ ist ihre spezifische Erfindung, und nichts wird von ihr mit solchem Fanatismus verteidigt wie eben diese […] Attitüde“ (S. 573). All das gilt allzumal für die Organisationen, die in Eva Horns Worten „zugleich die Anruchigkeit wie die Effizienz des Geheimnisses in der Politik der Moderne verkörpern“: die Geheimdienste (Horn 2007: 126). Hier ist das „bewußt gewollte Verbergen“ verdoppelt: Es ist nicht nur konstitutiv für die Organisation, sondern ihr Existenzzweck. Und das wiederum in einem Doppelsinne, geht es doch um die Enthüllung der Geheimnisse anderer für die Produktion wiederum geheimen Wissens. In solch „geheimen Gesellschaften“, wie Simmel das genannt hat, „ist das Ge-

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„Es gibt keinen sauberen Nachrichtendienst.“


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heimnis soziologischer Selbstzweck, es handelt sich um Erkenntnisse, die nicht in die Menge dringen sollen; die Wissenden bilden eine Gemeinschaft, um sich gegenseitig die Geheimhaltung zu garantieren“ (Simmel 1992: 433). Mit diesem Organisationsmodus geht ein „Pathos des Geheimnisses“ einher (S. 440), das die Aussagen so mancher Experten durchzieht, die in Top Secret International zu Wort kommen. Dieses Pathos übersetzt sich in eine „Gesamtbeanspruchung des Individuums“ (S. 438) als organisationalen Akteur und damit in ein hohes Maß an Unterworfenheit oder an Aufgehen in der Organisation, an „Entindividualisierung“, „Entselbstung“ und „Nivellierung“ (S. 451), wie sie in einigen der Erzählungen der Inszenierung anklingt. Das Geheimnis wird hier zum primären Treibstoff des Organisierens: Es bestimmt, wie Organisationsmitglieder handeln und sich aufeinander beziehen. Arcana imperii: das geheime Leben des Staates Die bürokratische Macht des Geheimnisses und seine Verdopplung zum Organisationsprinzip der Geheimdienste verweisen bereits auf das geheime Leben des Staates als dritte Ebene des Geheimnisses in Top Secret International. Damit kommt auch die Frage der Postdemokratie wieder ins Spiel, die bei den Geheimniseffekten von Individualität und Organisation zunächst ins Leere läuft. Auf den ersten Blick aber scheint auch auf Ebene der arcana imperii kein unmittelbarer Bezug zum Postdemokratischen vorzuliegen: Wie die nonchalanten Aussagen der Experten unterstreichen, handelt es sich beim Kampf um intelligence in der Tat um ein sehr altes Gewerbe. Ganz in diesem Sinne lassen sich Praktiken hoheitlicher Arkanpolitik einerseits bis in die Antike zurückverfolgen – ein Tatbestand, den das Stück durch den Einbezug antiker Skulpturen in den Museumsräumen der Glyptothek unterstreicht. Andererseits entstehen moderne Geheimdienste und bürgerliche Öffentlichkeit zur ungefähr selben Zeit (Voigt 2017). Das Staatsgeheimnis ist gleichursprünglich mit – und komplementär zu – der Entstehung des modernen, mehr oder weniger demokratischen Staates und seiner unruhigen zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit, die aus Staatssicht der Überwa4 Wie sich diese Apparate unter totalitären Bedingungen

chung und Kontrolle bedarf (Koselleck 1973).4 Mit anderen Worten: Die Emergenz der bürgerlichen Öffentlichkeit und

paranoid aufblähen können, wurde von Rimini Protokoll

ihrer aufklärerischen Postulate von Transparenz und Partizipation geht einher mit dem Aufbau eines klandestinen Si-

bereits mit dem „Stasiakten-Stück“ 50 Aktenkilometer untersucht und – ebenfalls über das Mittel der Fernsteuerung mit Kopfhörer und Tonspuren – im Stadtraum aufgeführt (Beyes u. Steyaert 2013).

cherheits- und Überwachungsapparates, wie er gegenwärtig dank Snowden und NSA-Affäre sowie durch die Auseinandersetzungen zwischen FBI und aktuellem US-Präsidenten einmal mehr in die Schlagzeilen geraten ist. Top Secret International erlaubt somit einen raren Blick in das Arkanum des Staates. In dieser Hinsicht den Snowden-Enthüllungen von Dokumenten der US-amerikanischen National Security Agency und ihren Five-EyesPartnern aus Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland nicht unähnlich, geht es um Einblicke in Orte, die der Einsicht und erst recht der Auseinandersetzung enthoben sind, wie Howard Caygill zum secret life of the state schreibt (Caygill 2015: 23). Caygill bezieht sich auf Carl Schmitts Bemerkungen zur Arkanpolitik im 1923 verfassten Werk Römischer Katholizismus und politische Form (Schmitt 2008), denen zufolge die geheimen Kammern und Prozesse des politischen Arkanums nicht nur Bestandteil von, sondern konstitutiv für den modernen Staat und seine Entwicklung seien. Damit nimmt das Arkanum des Staates die Form des Geheimnisses an: Der Staat hat keine Geheimnisse, er ist Geheimnis, so spitzt Caygill es zu (2015: 32). Der Ethos des Geheimnisses – oder was Simmel das

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Pathos des Geheimnisses nennt – durchdringt den Staatsapparat, der seinen Anspruch auf Geheimhaltung mit allen verfügbaren Mitteln aufrechtzuerhalten sucht, wie es Max Weber mit Blick auf bürokratische Herrschaftsmechanismen auffiel. Der Staat verfügt somit – oder lässt sich gar definieren über – sein Geheimnismonopol ebenso wie über sein Gewaltmonopol. Wenn aber der Staat weniger politischen Mechanismen als vielmehr dem Arkanum des Geheimnisses gehorche, dann, so merkt Caygill an, sei es vielleicht seine wesentliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Politik gar nicht erst stattfinden könne. Seine Rolle besteht dann zumindest auch darin, wie bereits zuvor mit Rancières Postdemokratiebegriff formuliert, die Vorkehrungen dazu zu treffen, dass es nichts zu sehen gibt, was die Mechanismen und Begriffe ökonomisch-politischer Machtausübung ins Wanken bringen könnte. Das heißt in aller Radikalität aber zugleich, dass die störenden Möglichkeiten des Politischen und Demokratischen auch in so genannten liberalen Demokratien schon lange – nämlich seit und mit ihrer Entstehung – bekämpft und vermieden werden. Mit dem Diskurs des Postdemokratischen, gerade in seiner melancholischen Form einer Verfallserzählung, derzufolge es in früheren Dekaden besser, weil demokratischer war, kann diese fundamentale Rolle des Geheimnisses als Arkanum des Staates kaum gefasst werden. Allerdings scheint unstrittig, dass momentan eine „politische Expansion des Geheimnisses“ zu beobachten ist (Knobloch 2017: 216) – siehe wiederum die Snowden-Affäre, die Funde bei WikiLeaks oder schlicht die steigenden Budgets der Nachrichtendienste, sofern sie einsehbar sind. Als Grund wird zumeist das neomachiavellistische Argument angeführt, dass der Staat seine eigenen Geheimnisse bewahren und ausbauen, diejenigen der Zivilgesellschaft indes aufspüren müsse, um letzterer Sicherheit zu garantieren (Caygill 2015) – eine Argumentation, die auch in Top Secret International von ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern mit Verweis auf das allgemeine Gefahrenpotential, auf Terrorismus und Cyberterrorismus, aufscheint: „Tagtäglich werden deutsche Regierungsnetze und die deutsche Wirtschaft angegriffen”, berichtet der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes. „Das heißt, im Internet tobt ein stiller Krieg.” Security and entertainment: das geheime Leben der Algorithmen Die These des vermeintlich stillen Krieges im Netz annonciert die vierte Ebene des Geheimnisses, die sich in Top Secret International erfahren lässt und die an die neuen technologischen Möglichkeiten allgegenwärtiger Überwachung gekoppelt ist. Räumlich inszeniert das Stück ein Aufeinandertreffen von Museumsarchitektur und musealer Ausstellung mit Techniken algorithmischer Steuerung – und damit, so scheint mir, eine Begegnung unterschiedlicher Epochen des Geheimnisses, der Arbeit von Nachrichtendiensten und der Spionage. Die oben angesprochene körperliche Teilnahme des Publikums stellt eine geradezu klassisch anmutende Welt von Geheimdienstpraktiken der Observierung und der Verschleierung nach, wie sie in der Imagination des Zuschauers durch Spionageromane und Agentenfilme geprägt ist (Horn 2007). Atmosphärisch verstärkt wird dieser Eindruck durch die Räume der Glyptothek, Münchens ältesten Museums, das antiken Skulpturen gewidmet und dessen Innenarchitektur der eines römischen Badehauses nachempfunden ist. Das Stück macht skulpturale Körper von antiken Denkern und Herrschern

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„Im Internet tobt ein stiller Krieg.”


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sowie Tierfiguren zu Akteuren des Spiels. Das verweist einerseits auf die lange Geschichte der Arkanpolitik, andererseits werden diese Gesichter und Augen als observierende und zu observierende in die Inszenierung integriert. Im „Schlachtfeld der Blicke“ werde ich, so spricht es in mein Ohr, von diesen Statuen beobachtet; brav beobachte ich zurück. Doch die Stimme, die hier spricht, ist computergeneriert, und meine Wege und Begegnungen durch die Glyptothek sind programmiert; sie werden von einem automatischen Algorithmus kontrolliert und ausgewertet. „Wie kannst du erwarten, dass ich deine Geräte nicht beobachte?”, erklärt mir die Computerstimme. „Also der Staat. Er braucht ständig neue Werkzeuge. Um dich zu schützen und andere vor dir.” Doch was ist hier Staat, und was Markt? Von einem hacking team werde ich über zeitgenössische, technologisch ermöglichte Praktiken der Geheimhaltung und Überwachung informiert. „Aber das Internet ist kein Staat”, und „der Markt macht uns zu Spionen”, so

Überwachung für jedermann als Geschäftsmodell, ein ertragreiches, wachsendes Marktsegment

höre ich. Bei Amazon gibt es die dazu notwendige Hard- und Software: Überwachung für jedermann als Geschäftsmodell, ein ertragreiches, wachsendes Marktsegment. „Diese Art von [Geschäfts- und Betriebs-]Geheimnissen scheint beim ökonomisch-technischen Denken besonderes Verständnis zu finden, und darin könnte schon wieder der Anfang einer neuen, unkontrollierbaren Macht liegen“, so spekulierte Carl Schmitt 1923 (Schmitt 2008: 58). Am Horizont des frühen 20. Jahrhunderts wird bereits die nächste Stufe eines technikökonomischen Arkanums sichtbar. Top Secret International inszeniert diese Thematik in zweifacher Hinsicht: zum einen durch Expertenstimmen, die auf netzwerkförmig organisierte, teils internetbasierte Sicherheitsrisiken und die Notwendigkeit einer Art digitaler Geheimdienstkultur aufmerksam machen, sowie durch Beispiele und Erzählungen aus dem privatisierten Markt von Geheimnis und Überwachung. Zum anderen durch die Steuerung und Observierung der Teilnehmer selbst: Das Notizbuch ist klobig, weil es einen Sensor enthält, der die Bewegungen und teilweise die Gesten seines Trägers registriert und aufzeichnet. Mir scheint, dass es genau dieser Operationsmodus ist, der die Frage des Geheimnisses in digitalen Kulturen neu stellt (Beyes u. Pias 2014). Dieser Modus beruht auf medientechnologisch ermöglichten, zahlenbasierten Organisationslogiken des Messens, Auswertens, Kategorisierens, Evaluierens und Archivierens, die sich menschlicher Wahrnehmung zumeist entziehen und im Geheimen ablaufen. Shoshana Zuboff hat für diese Praktiken und ihre Konsequenzen den Begriff des surveillance capitalism geprägt. Anhand des Beispiels von Google zeigt sie, wie das Rohmaterial von Daten zu surveillance assets wird, die aus Nutzerpopulationen extrahiert und vermittels algorithmisch organisierter Mustererkennung und prädiktiver Analyse gewissermaßen hinter dem Rücken der Nutzer kommerziell verwertbar gemacht werden. Diese Prozesse führen, fürch-

5 In ähnlicher Stoßrichtung hat John Lanchester unlängst

tet Zuboff, auf Seiten der Bevölkerung zu einem „antizipatorischen Konformismus“ (Zuboff 2015: 82).5 In ihrem

in der London Review of Books reflektiert, wie Facebooks

Furor über die Plattformmonopolisten des Silicon Valley als neue souveräne Herrscher droht Zuboff indes zu über-

Geschäftsmodell primär auf Überwachung basiert. Das Unternehmen habe sich in kürzester Zeit zur „größten überwachungsbasierten Unternehmung der Menschheitsgeschichte“ aufgeschwungen (Lanchester 2017: 8).

sehen, dass es sich hier um einen Organisationskomplex handelt, an dem staatliche Überwachungsagenturen ebenso – und teilweise in Abstimmung mit den Unternehmen – partizipieren, wie Snowdens Enthüllungen über die NSA und ihre Verbündeten vor Augen geführt haben (Beyes 2018). Die Sammlung von Datenmassen und ihre softwarebasierte Auswertung eint die Unternehmen des so genannten Plattform-Kapitalismus (Srnicek 2017) mit staatlichen und überstaatlichen Verwaltungen und Einrichtungen.

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Mit Nigel Thrift lässt sich vor diesem Hintergrund über die Emergenz eines security-entertainment complex spekulieren. Er bezeichnet, in Thrifts Worten, „eine Ära des permanenten und pervasiven Krieges und der permanenten und pervasiven Unterhaltung“ (2011: 11). Sicherheits- und Unterhaltungssektor hätten gemein, dass ihre Arbeit auf der Allgegenwart und Verfügbarkeit von Daten und den nachrichtendienstlichen Mitteln der Informationsgewinnung basiere. Sie teilten daher die Formen und Resultate des intelligence gathering, seine Forschungsstrategien und Softwarecodes. Die Strategien, Methoden und Codes sind geheim, wie auch das Wissen, das durch sie angehäuft wird, sowie die Weisen seiner Verwendung. Doch zeitigt dieser Modus der Überwachung und der Anhäufung geheimen Wissens Effekte, über die zu reden ist: Er erlaubt die Akkumulation vermeintlich präzisen Wissens über potentielle (kommerzielle, nachrichtendienstliche, kriegerische) Beute und ihre Habitate sowie über den Grad ihrer Abweichung von Normen der Konformität und des Gehorsams (Caygill 2015: 36). Geheimnistheater Mit Simmel gesprochen ist das Geheimnis nicht nur ein Operator des sozialen Lebens und der gesellschaftlichen Entwicklung; es markiert auch die treibende Kraft von Top Secret International. Die Frage des Postdemokratischen wird damit zunächst suspendiert. Gewiss, zentrale Entscheidungen fallen im Verborgenen; ein Schleier der Intransparenz umgibt insbesondere wirtschafts- und sicherheitspolitische Abstimmungsprozesse. Doch aus einer Perspektive, die von der Unhintergehbarkeit des Geheimnisses und geheimer Gesellschaften ausgeht, entspricht das einer eher banalen Beobachtung. Arkanpolitik ist nichts Neues, und die Entwicklung von Geheimdiensten modernen Typs ist gleichursprünglich mit der Emergenz zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit und ihrer Forderungen nach Transparenz, Partizipation und demokratischen Abstimmungsprozessen. Interessanter und provokativer scheint mir die Verwebung spezifischer Modi und Effekte des Geheimnisses zu sein, die Top Secret International vornimmt. Mit der Montage unterschiedlicher Stimmen, Narrative und Affekte aus der Welt von Geheimdiensten und Sicherheits- und Überwachungstechnologien gelingt das auf stupende Weise, auch weil das Publikum zu Mitwissern und Mitspielern gemacht wird. Auf einen Begriff gebracht, würde ich von einem Geheimnistheater sprechen. Als Geheimnistheater ist es gleichermaßen ein dokumentarischesTheater des Verrats und der Enthüllung und eine Inszenierung der sozialen, affektiven und politischen Kraft der Geheimhaltung. Wie ich nachzuzeichnen versucht habe, spielt die treibende Kraft des Geheimnisses dabei auf individueller, organisationaler, staatlicher und medientechnologischer Ebene. Insbesondere die letztgenannte Dimension wirft beunruhigende Fragen auf. Vielleicht gilt es, der melancholischen Diagnose postdemokratischer Zustände, die sich auf vergangene Zeiten einer vermeintlich größeren Transparenz und Partizipation sowie eines funktionsfähigen öffentlichen Raums bezieht, eine geheimnistheoretische Volte anheimzustellen. Die Analyse des Postdemokratischen ist zu ergänzen um ein Verständnis prädemokratischer Formen des Geheimnisses, der Intransparenz und der Nicht-Partizipation (Beyes u. Pias 2014). Das Postdemokratische, wie es in dieser Lesart in Top Secret International verhandelt wird, umfasst dann weniger eine bloße Wiederkehr solcher Formen, die nie weg waren. Es äußert sich eher in ihrer Verstärkung und in ihrer neuen Gestalt durch ein technologisch bedingtes Arkanum.

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Gesellschaftsmodell GroĂ&#x;baustelle


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Der Berliner Flughafen, das italienische „Generationenprojekt“ A3 oder die Fußballstadien von Qatar: Was erzählen Großbaustellen über unsere Gesellschaft – ihre verborgenen Choreografien verschobener Fertigstellung und Kostenkorrekturen, die komplexen Verflechtungen wirtschaftlicher und politischer Akteure, die undurchsichtigen Verbindungslinien in alle Welt – über unsere Gesellschaft? Warum bauen Staaten und für wen? Was geht vor: Partizipation oder Masterplan? Gesellschaftsmodell Großbaustelle sucht nach einer aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit und schickt das Publikum mit acht Experten auf szenische Baustellenführungen über die Simultanbühnen eines sich immer weiter auffächernden Raumes: Ein rumänischer Bauarbeiter (Marius Ciprian Popescu) nimmt die Zuschauer mit zum Fliesenverlegen, um von Über stunden und Schwarzarbeit zu erzählen; eine Anlageberaterin (Sonja-Verena Breidenbach) entwirft eine Kostennutzenrechnung für Investitionen in „Betongold“; ein Baurechtler (Jürgen Mintgens) führt Zuschauer in den „Kampfsport Nachtragsforderungen“ ein; der ehemalige Entrauchungsplaner des Berliner Flughafens BER (Alfredo Di Mauro) rekonstruiert seine Baustelle, um das eigene Bauernopfer gegenüber der Politik zu verstehen; eine chinesische Performerin (Fang-Yun Lo) probt eine Choreographie der Wanderarbeiter; ein Anwalt (Andreas Riegel) wirft einen Blick hinter die Kulissen des größten Korruptionsfalles in Nordrhein-Westfalen; ein Stadtsoziologe (Dieter Läpple) schaut von einer Schweizer Übersichtsterrasse in Singapur aus auf einen Masterplan für postfossiles Bauen. So entsteht ein räumliches Wimmelbild, an dem wiederum ein Ameisenforscher (Reiner Pospischil) aufzeigt, wie ein Staat bauen könnte, dessen Bewohner Partizipation nicht als Summe von Partikularinteressen verstehen.

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LOGBUCH

11. Februar 2016, Berlin Kein Gespräch über Großbaustellen, bei dem nicht der Berliner Flughafen erwähnt wird, dessen Eröffnung für 2011 geplant war und mittlerweile für 2020 angekündigt wird. Treffen mit Jochen Köhn, Architekt bei Gerkan, Marg und Partner (gmp) in Berlin. Beim Neubau des

Wilma Renfordt, Stefan Kaegi

Flughafens Berlin Brandenburg war er zuständig für das Vertragsmanagement. Was genau schieflief, kann auch dieses Gespräch nicht klären. Zwei Zahlen geben allerdings eine erste Ahnung: Für gmp als Generalunternehmer des Neubaus arbeiteten eine dreistellige Zahl von Unternehmen mit mehreren tausend Mitarbeitern, als

Berlin –> Düsseldorf –> Singapur –> Essen –> Mönchengladbach –> Oberhausen –>

das Büro 2012 aus dem Projekt ausschied. Das Gespräch verdeutlicht grundsätzliche Probleme,

Düsseldorf –> Wuppertal –> Düsseldorf –>

die auch viele weitere Gesprächspartner benennen wer-

Rumänien –> Katar –> Offenbach –>

den: Großbaustellen sind unfassbar komplexe Gefüge,

Ameisenhaufen –> Duisburg –> Cannes

deren Beteiligte sich die Verantwortlichen zu großen Teilen nicht frei aussuchen dürfen – zumindest nicht bei Bauvorhaben der öffentlichen Hand. Das Vergaberecht bestimmt, dass der Zuschlag für Bauleistungen an den wirtschaftlichsten Anbieter gehen muss. In der Realität ist das oftmals der billigste, nicht der beste. Aufträge werden in immer kleineren Portionen vom Bauherren über den Generalunternehmer bis zum Sub-Sub-Subunternehmer weitergereicht, bis am Ende kaum noch überschaubar ist, wer überhaupt auf der Baustelle tätig ist. Und warum wird obendrein alles immer teurer, als es zu Beginn in der Zeitung stand? Jochen Köhn: „Hans Stimmann, der ehemalige Berliner Senatsbaudirektor, hat für das Bauwesen den Begriff der ‚politischen Lyrik‘ geprägt. Damit meinte er: Neunzig Prozent der Projekte würden nicht realisiert, wenn die tatsächlichen Kosten von Anfang an ehrlich kommuniziert würden.“

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Das Baugeschäft kostet viel Zeit und nimmt wenig Rücksicht.

27. April 2016, Bundesministerium

wird von Investoren gerne eingekauft. Bei der Umset-

Nachfrage beim Bundesministerium für Verkehr und di-

zung gibt es allerdings immer wieder länderspezifische

gitale Infrastruktur. Dort wurde 2013 die „Reformkom-

Probleme zu bekämpfen. Zurzeit ist er Projektleiter in

mission Bau von Großprojekten“ ins Leben gerufen, da

Singapur, es entsteht ein Wohn- und Bürokomplex, der

man sich angesichts einer „Reihe aktueller Bauprojekte

insgesamt eine Milliarde Euro kosten wird. Zwar sind

mit erheblichen Kosten- und Terminüberschreitungen“

die bürokratischen Hürden geringer als in Deutschland

die Frage stellte, „ob oder inwieweit es strukturelle Defi-

und der Bau schreitet schnell voran – dafür müssen sich

zite bei Planung und Realisierbarkeit von Großprojekten

die Planer aber immer wieder mit einer Ausführungs-

in Deutschland gibt“. Die Antwort lautet offenbar Ja, denn

qualität arrangieren, die nicht den ursprünglichen Erwar-

in ihrem Abschlussbericht fordert die Kommission von

tungen entspricht. Das führt dann mitunter, so unser Ge-

allen Beteiligten „einen grundlegenden Kulturwandel“,

sprächspartner, zu einem „basarhaften Ändern der

unter anderem: mehr Kooperation, Vergabe an den wirt-

Planung“. In Australien etwa, wo er ein Hochhaus gebaut

schaftlichsten, nicht den billigsten Anbieter, klare Zustän-

hat, ist der Markt für Baufertigteile viel kleiner als in

digkeiten und mehr Transparenz. Im Gespräch mit Iris

Europa, so dass oft keine Industrieprodukte zur Verfü-

Reimold und ihren Kollegen lernt das Rechercheteam au-

gung stehen – man behalf sich mit der „Hinterhofschlos-

ßerdem eine neue Figur kennen: den Nachtragsdetektiv.

serei“. In Japan wiederum sah er sich mit extrem hohen

Wie wir später von Rechtsanwalt Jürgen Mintgens erfah-

Qualitätsansprüchen und einer Detailversessenheit kon-

ren werden, suchen mitunter ganze Abteilungen detekti-

frontiert, die ihm in Deutschland noch nicht begegnet

visch nach Lücken in Leistungsverzeichnissen: Wo ist

war. Trotz aller Unwägbarkeiten: Am Ende prangt auf

mehr zu tun, als in der Ausschreibung angegeben? Was

allen Gebäuden das Siegel seines Büros und so reist der

dauert länger? Denn in diesen Fällen können Auftragneh-

Projektleiter regelmäßig zu den ausführenden Architek-

mer für ihre Bauleistungen mehr verlangen, als sie in

ten und Bauunternehmen vor Ort, um den Baufortschritt

ihrem ursprünglichen Angebot kalkuliert haben. Das Pro-

mit der Planung abzugleichen. Für eine Beteiligung als

blem: Die Gewinnzone beginnt für Baufirmen oft erst mit

Darsteller bei unserem Projekt hat er leider keine Zeit.

diesen sogenannten Nachträgen.

Das Baugeschäft kostet viel Zeit und nimmt wenig Rücksicht.

3. Mai 2016, Düsseldorf/Singapur Wer im Ausland baut, muss sich auf veränderte Bedin-

21. Juni 2016, Essen

gungen einstellen. Der Architekt, den wir heute treffen,

Bei Großbaustellen ist dieser Blick aufs Ganze unmöglich.

hat damit langjährige Erfahrung. Wir treffen ihn im Kon-

Allerdings hat man uns bei der Reformkommission des

ferenzzimmer mit weitem Blick über die Stadt. „Das Aus-

Bundesministeriums ein Zauberwort verraten, das dies

land ist einfach ein größerer Markt“, sagt er. „Deutsche

ändern soll: BIM. In Essen treffen wir Dirk Schaper, Ge-

Planungsleistungen genießen außerdem weltweit gutes

schäftsführer der Hochtief ViCon GmbH und leidenschaftli-

Ansehen und sind vergleichsweise günstig.“ Sein Büro

cher Verfechter dieses BIM, des Building Information Mo-

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deling, das er mit seiner Firma anbietet. „BIM ist eine Phi-

chen oder der MIPIM in Cannes „bieten Städte wie Mön-

losophie, ein soziokulturelles Unterfangen“, sagt Schaper.

chengladbach deshalb Flächen auf bunten Bildern an,

Oder, prosaisch: eine Planungsmethode, nach der alle

auf denen man“, so Bonin, „sein Geld gut investieren

Daten eines geplanten Bauwerks digital erfasst, in 3D-Mo-

kann.“ Für Mönchengladbach, das sich uns auf dem Weg

dellen visualisiert und unter den Projektbeteiligten ausge-

vom Bahnhof zum Rathaus eher verhalten präsentiert

tauscht werden können. Das heißt: Wenn der Architekt

hat, schwebt Bonin bereits ein neues Bild vor. Hinter

eine neue Tür plant, erfährt der Haustechniker automa-

dem Hauptbahnhof soll ein künstlicher See angelegt

tisch, dass hier kein Heizkörper mehr stehen kann. Klingt

werden, drumherum Wohn- und Geschäftsgebäude. Das

sehr praktisch und ist genau das, was die Reformkommis-

Sujet: Stadt am Wasser.

sion sich als Vorgehen für die Zukunft wünscht. Aber die Bauwirtschaft ist, so Schaper, „änderungsresistent“.

22. Juni 2016, Oberhausen Der erste Baustellenbesuch – das Corpus Delicti aus un-

21. Juni 2016, Mönchengladbach

mittelbarer Nähe. Mit Carsten Machentanz und Ilias

Worum geht es bei Bauprojekten? Für wen wird gebaut?

Abawi von der Emschergenossenschaft fahren wir auf

Und aus welcher Motivation? Für Gregor Bonin, von

einer Brache südlich der A 42 in Oberhausen per Bau-

2006 bis 2015 Planungs- und Baudezernent der Stadt

stellenaufzug gut dreißig Meter in die Tiefe einer riesi-

Düsseldorf, sind die unterschiedlichen, bisweilen kon-

gen Baugrube. Machentanz ist Projektleiter für einen

trären Interessen von öffentlicher Hand, Investoren und

zehn Kilometer langen Abschnitt des unterirdischen Ab-

Bürgern tägliches Brot. Wir treffen Bonin im Rathaus

wasserkanals, der die Emscher nach 28 Jahren Bauzeit

Rheydt in Mönchengladbach, wo er kurz zuvor dasselbe

bis 2020 von Abwässern befreien und die Renaturierung

Amt übernommen hat. An den Türen künden Aufkleber

des betonierten Flussbetts ermöglichen wird. Am Boden

mit dem Logo „mg+ Wachsende Stadt“ bereits vom Elan

der Grube fräst eine Vortriebsmaschine zwei raumhohe

des neuen Amtsinhabers: „Baudezernenten sind Triebtä-

Röhren ins Erdreich, eine Grubenbahn liefert die Beton-

ter!“ Er handele aus Leidenschaft für die Stadt, sagt der

teile zur Auskleidung der Röhren an – für uns leider un-

studierte Architekt, und will ihr vor allem wirtschaftliche

sichtbar, da die Maschine sich schon mehrere hundert

Vorteile bringen: „Stadtplanung ist ein Produkt, das be-

Meter vorgearbeitet hat. Machentanz und sein Team ver-

worben werden muss. Wir müssen alles so aufstellen,

brauchen hier in drei Jahren genug Stahl für eine Replik

dass wir am Markt überleben, Gewinne generieren und

des Eiffelturms und eine Menge Beton, aus der man den

Arbeitsplätze schaffen.“ Dafür braucht es die Investoren,

Kölner Dom nachbauen könnte. Bislang läuft alles nach

laut Bonin ein „sensibles Gut“, das mit Vertrauen und

Plan. Eine Abwasserleitung ist kein Prestigeprojekt.

einem guten zwischenmenschlichen Verhältnis gepflegt werden will: „Sie folgen Vorlieben und Emotionen, sie

22. Juni 2016, Landgericht Düsseldorf

wollen ein schönes Projekt machen und sich verwirkli-

Ums große Geld geht es auch bei unserem Besuch am

chen.“ Auf Immobilienmessen wie der Exporeal in Mün-

Landgericht Düsseldorf. Verhandelt wird die Korrupti-

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Bislang läuft alles nach Plan.


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onsaffäre um den landeseigenen Bau- und Liegen-

mittlerweile als Subunternehmer selbstständig. Doch zum

schaftsbetrieb (BLB). Im Zentrum der Vorwürfe steht der

vereinbarten Termin erscheint er nicht und ist auch telefo-

ehemalige BLB-Geschäftsführer Ferdinand Tiggemann,

nisch nicht mehr zu erreichen. Beim nächsten Aufenthalt

der Informationen über geplante Bauvorhaben des Lan-

in Düsseldorf telefonieren wir mit einem ehemaligen Po-

des an einen kriminellen Immobilienmakler weitergege-

lier, der am Telefon in Aussicht stellt, Details zu zahlreichen

ben haben soll, um Kaufpreise durch illegale Abspra-

halblegalen bis kriminellen Geschäftspraktiken zu berich-

chen zum Vorteil des Maklers in die Höhe zu treiben.

ten. Bei einer Nachfrage zu seiner Identität legt er auf. Ein Fachbauleiter im Ruhestand hingegen erzählt umso plasti-

23. Juni 2016, Wuppertal

scher aus seinem Berufsleben. Zum Abschied drückt er

Die Besichtigung der Baustelle rund um den Wupperta-

uns eine handgezeichnete Bildergeschichte in die Hand, in

ler Hauptbahnhof scheitert für die Kollegin mit Schuh-

der die Inhaber eines kleinen Geschäfts hinterhältig dazu

größe 41 beinahe am Fehlen der passenden Sicherheits-

gebracht werden, ihr Grundstück zu einem Dumpingpreis

schuhe. Frauengrößen sind auf Baustellen nach wie vor

an einen Investor zu verkaufen.

rar. Beim Döppersberg, wie das Projekt zur Umgestaltung des Bahnhofsumfelds heißt, ist die Verantwortliche

23. Juni 2016, DGB, Düsseldorf

allerdings eine Frau: Architektin Irene Baumbusch ist für

Reinhard Steffen empfängt uns im DGB-Gebäude un-

alle städtischen Hochbauvorhaben an diesem Standort

weit des Düsseldorfer Hauptbahnhofs. Der Gewerk-

zuständig. In der sengenden Mittagshitze besichtigen

schaftssekretär ist der erste Gesprächspartner, der aus

wir mit ihr das, was von der neuen Eingangshalle des

erster Hand von den skandalösen Arbeitsbedingungen

Bahnhofs, der Verkehrsführung und dem Parkhaus be-

auf einigen Großbaustellen zu berichten weiß, die uns

reits zu sehen ist. Drumherum ein reges Treiben mit Bag-

bislang nur gerüchteweise oder aus der Presse bekannt

gern, Lastwagen und Kränen, ein Geschehen, das Ferdi-

sind. Einer seiner tragischsten Fälle: Im März 2010 baten

nand Tönnis, Niederlassungsleiter bei Zechbau, in einem

sieben rumänische Bauarbeiter die Gewerkschaft um

späteren Gespräch als „kleine Fabrik“ bezeichnen wird,

Hilfe, weil sie seit drei Monaten auf der Baustelle eines

die bei seinen Projekten meist einhundert bis zweihun-

Kölner Seniorenwohnheims arbeiteten, aber noch kei-

dert Mitarbeiter beschäftige und einen monatlichen Um-

nen Cent Lohn gesehen hatten. Der Generalunterneh-

satz von drei bis vier Millionen Euro generiere. „Als Ge-

mer, Tochter einer großen deutschen Unternehmens-

neralunternehmer handeln wir mit Bauleistungen“, sagt

gruppe, hatte eine Malerfirma aus dem Sauerland mit

Tönnis: „Es geht um Ankauf und Verkauf.“

den Trockenbauarbeiten beauftragt, die wiederum eine rumänisch geführte Firma mit Sitz in Düsseldorf beauf-

23. Juni 2016, Telefon

tragt hatte, die sieben Rumänen anzuwerben, sich aber

Bereits während der ersten Recherchereise nach Düssel-

beharrlich weigerte, die Arbeiter zu bezahlen. Die IG

dorf sind wir mit einem Handwerker verabredet. Der Elek-

BAU informierte den Zoll, der die Baustelle am darauf-

triker arbeitet seit dreißig Jahren auf dem Bau und ist

folgenden Tag kontrollierte. Nach der Kontrolle berichte-

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ten die Arbeiter, dass der rumänische Mittelsmann aus dem achten Stock des Hauses gesprungen sei, in dem sie gemeinsam auf knapp fünfzig Quadratmetern wohnten. Den Sturz überlebte er nicht. Die Arbeiter hatten keine gültigen Arbeitsgenehmigungen, nur Meldebescheinigungen und Gewerbeanmeldungen, waren also als selbstständige Unternehmer gemeldet – ohne sich dessen bewusst zu sein. Nach Mindestlohntarif Bau und den schriftlich angegebenen Stunden wurden Lohnforderungen in Höhe von mehreren tausend Euro pro Kopf ermittelt. Reinhard Steffen konnte schließlich einen Vergleich aushandeln, so dass die Arbeiter zumindest einen Teil des vereinbarten Lohns erhielten und nach Rumänien zurückkehren konnten. 24. Juni 2016, Kö-Bogen Ein Projekt, das Gregor Bonin in Düsseldorf mit großer Leidenschaft verfolgt hat, ist der Kö-Bogen: Architektur von Daniel Libeskind, 1A-Innenstadtlage auf einer ehemaligen Straßenbahnkehre am Ende der Kö, nun exklusiver Büro- und Einzelhandelsstandort. In einem nigelnagelneuen Büroriegel an einer Düsseldorfer Ausfallstraße treffen wir Stefan Mühling, Gründer und Geschäftsführer von „die developer“ und damit Entwickler des Kö-Bogens. Nach zwanzig Jahren als Projektentwickler beim Strabag-Konzern ergriff Mühling 2007 die Gelegenheit, sich mit der Kapitaleinlage seines Geschäftspartners Kurt Zech selbstständig zu machen. Die Finanzkrise war für die junge Firma Glück im Unglück: 2008 wurde das Grundstück für den Kö-Bogen zur Bebauung ausgeschrieben, von 17 Interessenten gaben aufgrund der schwierigen Situation am Kapitalmarkt nur zwei ein Angebot ab. Das Gebäude konnte 2013 fristgerecht fertiggestellt werden, heute gehört es zwei berufs-

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ständischen Versorgungswerken: „Wir bauen am Ende

17. August 2016, Offenbach

für den institutionellen Markt, also deutsche Fonds“, sagt

Die erste Skizze für die Wunschbesetzung steht. Unter

Mühling. „Sicherheit in Kombination mit einem langfris-

den offenen Positionen: jemand, der an Großprojekten

tig stabilen Cashflow wird dort hoch bewertet, was in

persönlichen Schaden erlitten hat. Alfredo di Mauro ist

den letzten Jahren zu stark gestiegenen Immobilienprei-

unter keiner der im Netz auffindbaren Nummern zu er-

sen geführt hat.“ Auch die Family Offices der Superrei-

reichen. Tweet an seinen Account: „@dimauroalf Ich re-

chen wollen gerade investieren: „Ein Haus aus Steinen

cherchiere für ein Theaterstück zu Großbaustellen u.

löst sich nicht in Luft auf, eine Aktie vielleicht schon.“

wäre sehr neugierig auf Ihre Perspektive zum BER. Nä-

Und das ist einer der Gründe, weshalb derzeit so viel ge-

heres gern per dm!“ Di Mauro meldet sich umgehend

baut wird.

zurück. Sein Offenbacher Büro macht seit dem Flughafendebakel „Verschnaufpause“, daher sind auch alle Lei-

5. Juli 2016, Rumänien

tungen tot. Gern aber möchte di Mauro in der Öffentlich-

Telefonat mit Catalina Guia. Sie ist Beraterin im Projekt

keit klarstellen, was aus seiner Sicht zu der Misere am

„Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten“ des DGB

BER geführt hat.

und damit erste Ansprechpartnerin für Arbeitnehmer aus Osteuropa, die in Deutschland mit unfairen bis kri-

22. September 2016, Ameisenhaufen

minellen Arbeitsbedingungen zu kämpfen haben. Auf

Ebenfalls auf der Wunschliste: ein Ameisenforscher. Denn

unsere Bitte ist Guia sofort bereit, nach einem Arbeit-

wenn wir im Lauf der Recherche eines bereits verstanden

nehmer zu suchen, der an unserem Projekt als Darstel-

haben, dann dass Menschen immer wieder an der Kom-

ler teilnehmen könnte. So kommen wir schließlich mit

plexität von Großprojekten scheitern und es offenbar

Marius Ciprian Popescu in Kontakt – der erste Inter-

gern versäumen, ihre Partikularinteressen im Rahmen

viewpartner, der mit Fug und Recht behaupten kann,

des gemeinsamen Vorhabens zurückstellen. Wären Amei-

ein ganzes Haus von Anfang bis Ende gebaut zu

sen also womöglich die besseren Baumeister? Der Geo-

haben.

loge Ulrich Schreiber von der Universität Duisburg-Essen ist neugierig auf unsere These, Besuch am Institut für Bio-

Sommer 2016, Katar

logie. Leider, so muss Schreiber uns enttäuschen, können

Sehr gern hätten wir, zumindest per Video, auch Einbli-

wir von den Ameisen nicht viel lernen. Denn ihr Erfolg be-

cke in das Geschehen auf der Baustelle Berliner Schloss

ruht auf einem genetischen Programm: Durch Fütterung

oder vom Stadionbau für die Fußball-WM 2020 in Katar

nach der Geburt werden bestimmte Gene aktiviert, die

erhalten und an das Publikum weitergegeben. Doch hier

einzelne Ameisen für ihre Bau-Arbeit spezialisiert. Der In-

war nichts zu machen. In unserer Projektbeschreibung

genieur hinter den komplexen Riesennestern ist die Evo-

sei von „Kostenüberschreitung und Zeitverzug“ die

lution. Dabei funktioniert die einzelne Ameise wie eine

Rede, schreiben uns die Pressesprecher. Damit hätten

Körperzelle: „Der Staat ist der Körper, die einzelne

ihre Baustellen nichts zu tun.

Ameise ist nichts“, sagt Schreiber. Faule Arbeiterinnen

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werden aussortiert. Demokratie? „Können die nicht.“ Wir

wo Städte um Investorenmillionen für ihre Infrastruktur-

denken zurück an einen Termin bei der IG BAU im Juni.

projekte buhlen. Wir scheuen den Eintrittspreis von fast dreitausend Euro und bewerben uns für eine Akkreditie-

21. November 2016, Transparency International

rung als Journalisten. Wir versichern der Pressestelle,

Die Hälfte der Besetzung steht: Der Stadtforscher Dieter

dass unsere Form des dokumentarischen Theaters ge-

Läpple sowie Alfredo di Mauro, Jürgen Mintgens und

nauso objektiv zu sein versucht wie andere Medien. Ver-

Marius Ciprian Popescu sind dabei. In den Folgemona-

geblich. Wir lassen es uns aber nicht nehmen, vor Ort ein

ten stoßen Sonja-Verena Breidenbach, Produktspezialis-

paar Videoaufnahmen der eleganten Manager am Haupt-

tin für institutionelles Immobilien-Asset-Management,

eingang zu machen. Und wie durch ein Wunder gelangen

die Choreografin Fang-Yun Lo, der Insektenexperte Rei-

wir gratis über den Strand und das Messecafé vorbei an

ner Pospischil und Andreas Riegel hinzu, der sich bei

den funkelnden Stadtmodellen von Dubai, 3D-Simulatio-

Transparency International engagiert.

nen von Moskauer Logistikhubs und den Cocktailbars englischer Städte zu einem kleinen weißen Tresen mit ein

19. Januar 2017, Duisburg Nachgehakt beim nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Stefan Engstfeld, Vorsitzender der Grünen Fraktion im BLB-Untersuchungsausschusses: Wie konnte das passieren? Mit der Konstruktion des BLB wurde, so Engstfeld, seinerzeit Neuland betreten, weswegen es notwendig war und weiterhin ist, die strukturelle Ausgestaltung immer wieder auf Optimierungsbedarf zu überprüfen, um so ein Höchstmaß an Transparenz und notwendiger Kontrolle zu gewährleisten. Mit ausreichend krimineller Energie kann allerdings nahezu jedes System unterlaufen werden. So sind beim Bau des Düsseldorfer Landgerichts, in dem Tiggemann schließlich nach seiner Verurteilung im Februar 2017 verhaftet wird, Schmiergelder geflossen. Geschichten, wie sie sich das Theater nicht besser ausdenken könnte. Allerdings sind dem Land NRW durch dieses Theater viele Millionen Euro Schaden entstanden. 14. März 2017, Cannes Die Proben haben vor einer Woche begonnen, Abstecher zu Europas größter Immobilienmesse MIPIM in Cannes,

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paar eher unauffälligen Bildern, darüber steht: Düsseldorf.


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STÜCKAUSZUG

An ein Wimmelbild könnte man denken,

Off-Stimme:

wenn man von oben auf die laufende Vor-

modell Großbaustelle. Sie befinden sich auf einer

stellung sehen würde: Die Zuschauer sind

Baustelle, das ist eine Gefahrenzone. Deshalb bit-

in acht Gruppen auf der ganzen Simultan-

ten wir Sie, den Anweisungen Folge zu leisten und

bühne verteilt und bewegen sich, während

die markierten Sicherheitsbereiche zu respektie-

sie die Beiträge über Kopfhörer zugespielt

ren. Für die Dauer der Führung werden Sie in die-

kriegen, gleichzeitig durch den Raum.

ser Gruppe bleiben! Behalten Sie sich gegenseitig

Nach jeweils zwölf Minuten wechseln

im Auge. Sollten Sie unterwegs Probleme mit

die Gruppen zu der nächsten Station

dem Weg oder mit der Ausrüstung haben, können

und die Baustellenbesichtigung beginnt

Sie sich jederzeit an unser Sicherheitspersonal in

von Neuem. Der Stückauszug gibt die

den leuchtfarbigen Sicherheitswesten wenden.

Möglichkeit, die acht Perspektiven

Wir bitten Sie, für die Dauer der Führung Ihr

parallel zu lesen.

Mobiltelefon auf lautlos zu schalten.

Willkommen im Gesellschafts-

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Sonja Breidenbach/ Investitionen:

Reiner Pospischil/ Schädlingsbekämpfung:

Andreas Riegel/ Transparency International:

Fang-Yun Lo/ Wanderarbeit:

Sie lässt die Leute rein. Sie begin-

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Publikum liegt auf kleinen Isomat-

nen in Immobilienmagazinen zu

hier am Kongress für angewandte

ten am Boden.

blättern. Es ist eher dunkel im Raum,

Insektenkunde. Ich heiße Reiner

so dass man die Kugel gut sieht. Auf

Pospischil und beschäftige mich

der Kugel sieht man schon ein paar

schon ein halbes Jahrhundert mit

Stände, nicht nur den Strand.

Insekten und ihrer Baukunst. Dreißig Jahre lang habe ich in einem großen Chemiekonzern im Bereich

0.00

der Schädlingsbekämpfung gear-

0:00

0:00

Fahrstuhlklassik wird leiser.

beitet, und das ist hier meine

Willkommen hinter der Kulisse.

Nihao. Mein Name ist Fang-Yun Lo.

Herzlich willkommen! Ich heiße

Firma: Pest Management Soluti-

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein ein

Wer ich genau bin, spielt keine

Sonja Breidenbach. Auf meinem

ons. (T-Shirt zeigen.)

investigativer

Hier

Rolle. Aber ich stehe für 170 Millio-

Schreibtisch im Büro liegen viele

Wer Schädlinge bekämpfen will,

hängt das Gerüstnetz vor ihren

nen Wanderarbeiter. Willkommen

solcher Magazine. Ich arbeite seit

muss sich damit beschäftigen, wie

Augen wie ein Schleier. Das Netz

in China.

gut 15 Jahren im institutionellen

sie leben und wie sie zu Schädlin-

ist nur teilweise transparent. So

Machen Sie es sich bequem.

Immobilien-Asset-Management.

gen werden. Die Ameisen galten in

wie die Bauwirtschaft. Jetzt schauen

Legen Sie sich ruhig hin.

Heute möchte ich ein Spiel mit

meiner Arbeit immer als Schäd-

Sie mal runter: Was sehen Sie da

Schließen Sie jetzt die Augen.

Ihnen spielen, in dem Sie in die

linge, ich sehe sie heute eher als

unten?

Stellen Sie sich die grünen Berge

Rolle von Investoren schlüpfen.

Nützlinge. Aber schauen wir uns

Journalist.

von Sezuan vor.

jetzt mal diese Spezies hier an: den

0:20–0:40 Riegel steigt ins sicht-

Stellen Sie sich ein kleines Dorf vor.

Menschen!

bare Feld.

Atmen Sie tief durch.

Strandvideo MIPIM

Sie sehen nicht alles. Korruption

Die Luft ist sehr gut.

Warum sind Investoren bei Politi-

sieht man nicht.

kern so beliebt?

Sehen Sie mich? (winken) Ich bin

Hier sehen wir die MIPIM in Cannes.

hier auf dem Kran.

Das ist die größte Immobilien-

Mein Name ist Andreas Riegel. Ich

messe der Welt. Hier an diesem

komme aus einer Juristenfamilie

Strand sind jedes Jahr im März

und bin Anwalt geworden, in der

auch viele Investoren unterwegs.

Hoffnung,

Sie sind auf der Suche nach Ren-

Rechtsstaat leisten zu können. Und

dite.

ich habe lange geglaubt, dass der

0:30

84 | Staat 2

einen

Beitrag

zum


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 85

Alfredo Di Mauro/ Gebäudetechnik:

Marius Ciprian Popescu/ Innenausbau:

Jürgen Mintgens/ Baurecht:

Dieter Läpple/ Stadtentwicklung:

0:00

0:00

0:00

0:00

Sehen Sie mich? Ich bin von Ihnen

Mein Name ist Popescu Ciprian Ma-

Hören Sie mich alle? Sie fragen

Mein Name ist Dieter Läpple. Ich

aus gesehen ganz links, wo Sie her-

rius, und ich habe mein ganzes Leben

sich wahrscheinlich, warum ich Sie

bin Professor für internationale

gekommen sind. Auf der Besucher-

auf Baustellen verbracht. Sehen Sie

so fürsorglich mit den Vollkontakt-

Stadtforschung. In meinem Beitrag

terrasse. Ich winke Ihnen. Wer ganz

den Kran? Mein Vater war Kranführer.

Kampfsporthelmen polstere! Mein

zum Thema Großbaustellen werde

rechts sitzt, muss vielleicht aufste-

Als ich sieben Jahre alt war, durfte ich

Name ist Jürgen Mintgens. Ich bin

ich den Horizont verschieben: vom

hen, um mich zu sehen … Sehen

an einem Sonntag mit hinaufsteigen.

Fachanwalt für Bau- und Architek-

globalen Norden in den globalen

Sie mich jetzt? Dann winken Sie!

Da hinauf. Das war toll. Ein großarti-

tenrecht bei GTW Rechtsanwälte

Süden. Bitte: Zunächst von Berlin

Danke. Mein Name ist Alfredo Di

ges Gefühl, von oben auf die Welt hi-

und ich kämpfe gerne. Jedes Jahr

nach Addis Abeba.

Mauro, Planer für Gebäudetechnik,

nunter zu schauen. Die Menschen

verlieren bekanntlich Kommunen,

Und deshalb bitte ich Sie: Stellen

seit über vierzig Jahren. Vielleicht

waren so klein.

Ich komme aus Iași. Wer weiß, wo

Länder und Bund in Deutschland

Sie sich jetzt vor, Sie sind eine Re-

zwei- bis dreistellige Millionenbe-

gierungsdelegation aus Äthiopien.

das ist? Das ist die letzte Ecke von

träge durch Mehrkosten bei laufen-

Also: Meine Damen und Herren, Ich

neuen Berliner Flughafen geplant,

Europa. An der Grenze zwischen Ru-

dem Bauvorhaben – also Kosten,

schätze und liebe Ihr Land. Ich war

die angeblich an allem schuld sein

mänien und Moldawien. Mit zwan-

die erst im Bauverlauf entstehen

einige Male in Äthiopien und ar-

soll. Aber vorher habe ich die En-

zig Jahren bin ich nach Bukarest ge-

und die vorher keiner kalkuliert

beite seit Jahren mit Forschern

trauchung

Shopping-Center

fahren. Da habe ich die größte

hatte. Das sind die Kosten, die

Ihres Architektur-Instituts in Addis

Alexa in Berlin geplant. Und die

Baustelle meines Lebens gesehen:

jeden Bau teurer und teurer wer-

Abeba zusammen. Dadurch kenne

den lassen. Dagegen muss sich die

ich die Probleme und Stärken Ihres

kennen Sie mich aus der Presse. Ich habe die Entrauchungsanlage am

im

funktioniert wunderbar. Nur am Ber-

den Palast von Ceaușescu.

liner Flughafen ist alles schief ge-

öffentliche Hand verteidigen. Das

Landes.

laufen. 2013 stand ich noch auf einer

0:40–1:45 Bild: Palast auf Video

ist höchst kompliziert, aber darauf

Äthiopien gehört zu den ärmsten

solchen Besucherterrasse mit Politi-

Da habe ich verstanden, warum wir

habe ich mich spezialisiert. In Bau-

Ländern der Welt. Drei Viertel der

containern

Äthiopier haben weniger als zwei

kern und Managern vom Berliner

in Iași manchmal keinen Strom hat-

wie

diesen

finden

Staat 2 | 85


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 86

Sonja Breidenbach/ Investitionen:

Reiner Pospischil/ Schädlingsbekämpfung:

Andreas Riegel/ Transparency International:

Fang-Yun Lo/ Wanderarbeit:

0:40 Außenbereich der Messe

ab 0:40

Rechtsstaat für alle gleich funktio-

Städte sind im Wettbewerb um Ka-

Ameisengeräusche faden ein.

niert und sich alle gleich daran hal-

0:45

pital für ihre Entwicklungs- und In-

Ein Ameisenstaat wird meist mit

ten, wie die japanischen Kampf-

Es regnet fast jeden Tag.

frastrukturprojekte: Hier zum Bei-

tausenden von Arbeiterinnen be-

sportler da unten.

spiel die UK-Midlands, hier weht

setzt, und circa achtzig Prozent ar-

die Fahne für Warschau und hier

beiten unsichtbar im Untergrund.

Dubai.

Hier bei den Menschen dagegen

0:48 Regen

haben wir einen relativ kleinen Staat: 250 Tiere sind an der Oberfläche (und einige bewegen sich für unsere Augen unsichtbar da oben hinter der Gerüstfolie). Da oben (auf dem Kran) scheint ein Wächter nach Feinden Ausschau zu halten. Er beschützt wohl das Nest. Auf Baustellen wird ja auch viel gestohlen. Aber bei den Ameisen werden Nesträuber von den Wächterin0:55 Dubai-Bild

nen getötet oder vertrieben. Bei

Der Stand von Dubai ist besonders

den Menschen dagegen werden

imposant. Schauen Sie hier: Das ist

die Vergehen nur im Ausnahmefall

1:00 Salutation Baurecht-Gruppe

ein Stadtmodell so groß wie dieser

geahndet.

Bis vor 13 Jahren dachte ich, eini-

1:05

ganze Raum.

Es fällt auf, dass bei den Menschen

germaßen den Überblick zu haben.

Im Dorf leben auch Schweine …

auch Männchen als Arbeiter gedul-

Aber vor 13 Jahren habe ich am

det werden. Bei den Ameisen haben

Trienekens-Müll-Skandal gearbei-

1:10 Schweine

1:10 Innenbereich mit Düsseldorf

wir ja ausschließlich Arbeiterinnen,

tet, in dem Korruption bis in hohe

… und Hühner. (Hühner)

Die Stadt Düsseldorf ist ein wenig

also weibliche Tiere. Denn dort wer-

politische Ämter in einem Ausmaß

Sie wachsen auf in einer kleinen

bescheidener, trotz guter Nachbar-

den die Männchen nach der Be-

zum Vorschein kam, wie ich es mir

Hütte.

schaft zu Abu Dhabi und Moskau.

fruchtung nicht mehr gebraucht und

in Deutschland bis dahin nicht

Diese Hütte hat Ihr Vater aus Holz

Soviel zur Messe in Cannes. Und

sterben nach wenigen Wochen.

hätte träumen lassen. Seither bin

gebaut. Die ganze Familie baut

ich bei Transparency International

Grüntee an. Jeder verdient zehn

was ist jetzt Ihre Rolle in unserem

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TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 87

Alfredo Di Mauro/ Gebäudetechnik:

Marius Ciprian Popescu/ Innenausbau:

Jürgen Mintgens/ Baurecht:

Dieter Läpple/ Stadtentwicklung:

Flughafen. Neben mir stand hier

ten. Riesige Baumaschinen und

Schlachten um Mehrkosten statt!

Dollar pro Tag zur Verfügung. 85

Flughafen-Chef Mehdorn und wir

20 000 Arbeiter, vor allem Soldaten

Schlachten zwischen Bauunterneh-

Prozent Ihrer Einwohner leben

waren uns einig: Wir sind auf bes-

wie die hier mit den Helmen (Bau-

mern wie Herrn Di Mauro da drü-

noch auf dem Lande. Aber immer

tem Weg zur Eröffnung des Berliner

recht-Gruppe) haben den Palast

ben und der öffentlichen Hand. Es

mehr Menschen ziehen in die

Flughafens. Ein Jahr später behaup-

gebaut. Der Palast ist das größte

sind Schlachten um Steuergelder,

Städte, in der Hoffnung, Hunger

tete die Flughafengesellschaft und

öffentliche Gebäude der Welt: drei-

also um unser aller Geld. In meiner

und Armut zu entkommen. Ihre

die Politiker, die Entrauchungsan-

tausend Räume. 700 000 Tonnen

Freizeit bin ich begeisterter Kampf-

Städte sehen allerdings anders aus

lage funktioniere nicht und ich sei

Stahl. Eine Million Kubikmeter Mar-

sportler. Ich betreibe Kenpo-Karate

als

daran schuld. Dabei wurde meine

mor. Nicht nur 82 Meter hoch, son-

in Mönchengladbach. Und für eine

Hauptstadt auf diesem Werbepla-

Anlage gar nie getestet!

dern auch 92 Meter tief. Gekostet

bevor stehende Schlacht auf der

kat. Sie erleben vor allem eine Ver-

hat das 3,3 Milliarden Euro.

Baustelle möchte ich Sie in Kampf-

städterung der Armut, verbunden

Ceau escu wollte vor dem Palast

sport

jedem

mit einer Expansion von Selbst-

eine Champs-Éllysée wie in Paris.

Training stimmen wir uns mit der

bausiedlungen und Slums. Äthio-

Aber dort stand zu Baubeginn die

sogenannten Salutation auf die an-

pien steht vor der gewaltigen Auf-

Altstadt im Weg. Das hat die Bauar-

stehenden Kämpfe ein. Die „Salu-

gabe, für die Menschen, die in die

beiten blockiert.

tation“ können wir jetzt gerne ein-

städtischen Zentren drängen, Woh-

Kommen Sie, schauen Sie! (Sie

mal gemeinsam machen und uns

nungen, Schulen und Kranken-

stehen auf.)

so auf die Auseinandersetzungen

häuser

Stellen wir uns vor: Der Erdhügel

einstimmen:

bereitzustellen, den Verkehr zu or-

schulen!

Vor

diese

zu

Zukunftsvision

ihrer

bauen, Trinkwasser

mit den Bauerbeitern mit gelben

ganisieren und vor allem Arbeits-

Helmen da drüben ist die Altstadt

plätze zu schaffen. Ihre Städte sind

von Bukarest! Ein dutzend Kirchen

1:00 Gong

riesige Baustellen und Ihre zentrale

und drei Synagogen standen im

Tension. Wir ziehen das linke Bein

Frage ist: Wie kann man diese ra-

Weg. Und da wohnten Menschen

an das rechte. Down the horse and

sante Verstädterung gestalten? Sie

1:08 Flughafen

in 40 000 Wohnungen. Aber in

meditate. Ich meditiere mit Schild

haben deshalb als Regierungsdele-

Sehen Sie, da ist der Flughafen. Da

einer Diktatur war sowas kein Pro-

und Schwert. Close. Wir kehren die

gation eine Reise nach Singapur

geh ich jetzt mal hin. Die Gepäckan-

blem: Jetzt kommen die Bagger.

Handflächen nach außen. Saluta-

gemacht, wo ich seit fünf Jahren in

lagen! Die Flugbrücke! Alles fast fer-

tion! Ich nehme meine Waffen zu-

einem Forschungsprojekt zur Zu-

tig gebaut – seit Jahren! Die große

nächst zur Seite und zeige sie dann

kunft der Stadt mitarbeite. Sie, die

Treppe im Terminal … Zu Popescu:

meinem Gegner. Schlage mit den

„afrikanischen Löwen“, wollen von

Der Haufen muss auch noch weg.

Händen meinen Mantel nach hin-

dem

erfolgreichen

„asiatischen

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TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 88

Sonja Breidenbach/ Investitionen:

Reiner Pospischil/ Schädlingsbekämpfung:

Andreas Riegel/ Transparency International:

Fang-Yun Lo/ Wanderarbeit:

Spiel? Wir sind hier einige Wochen

und versuche, Menschen zu zeigen,

RMB – das ist ein Euro – pro Tag.

später in einem Investorenmee-

was unter der Oberfläche der Vi-

Der Tee wird jede Woche einmal im

ting. Auf der Messe wurden drei

deopräsentationen der Immobi-

Dorf abgeholt und über Chengdu

potentielle Projekte identifiziert, die

lienprojekte liegt. Sehen Sie diesen

nach Europa exportiert. Europa ist

für Investoren wie Sie interessant

Sandhaufen, da unten, auf dem die

sehr weit weg. Sie können sich

sein könnten.

Bauarbeiter mit den gelben Hel-

Europa

Jetzt nehmen wir einmal mal an:

men sitzen? Ein solcher Sandhau-

Deutschland kommen die Autos,

Sie hier, Sie sind der Kapitalvor-

fen befindet sich auf einer Bau-

heißt es. Seit es eine Straße durch

stand einer großen deutschen Ver-

stelle, in der Nähe von Düsseldorf.

das Dorf gibt, kommen immer

sicherung. Sie wollen möglichst

Wegen

mehr Autos.

zeitnah für fünfzig bis hundert Mil-

Schweigepflicht, darf ich nur nicht

lionen Euro Immobilien ankaufen.

sagen, wo. Mandanten von mir

Aber sie unterliegen sehr strengen

hatten mit der Baustelle zu tun, als

Risiko-Beschränkungen. Ihnen sitzt

es zum Eklat kam. Der Sand wurde

die Versicherungsaufsicht im Na-

angeliefert als gewaschener Rhein-

cken.

sand gemäß Bestellung für den

Nehmen wir weiter an: Ihre Kolle-

Gartenbereich, in dem später Kin-

gin rechts von Ihnen trifft die Kapi-

der spielen sollten, da wo jetzt die

tal-Entscheidungen für eine Pensi-

Bauarbeiter sitzen. Nun werden Sie

onskasse. Ihr Portemonnaie ist

gleich sehen, dass nicht alle an

etwas kleiner.

dem Sand ihre Freude haben.

meiner

anwaltlichen

nicht

vorstellen.

Aus

Sie ist mit zwanzig bis vierzig Millionen Euro dabei. Sie hat ein ähnliches Problem wie der Versicherer. Trifft sie eine falsche Entscheidung, steht sie morgen in der Presse. 2:00–2:10 Gebäudetechnik-Gruppe

Denn sie arbeitet hier mit den Rentengeldern einer ganzen Genera-

2:10 Gebäudetechnik-Gruppe geht

steht auf und geht.

tion.

durch den Raum. Die Menschen

Sehen Sie: Die ersten gehen jetzt

Dort drüben sitzen noch die Verant-

hier wuseln recht chaotisch durchei-

weg, und man hört sogar die Kin-

wortlichen der Family Offices. Sie

nander, und jeder geht seine eige-

der weinen, die da spielen wollten.

88 | Staat 2


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 89

Alfredo Di Mauro/ Gebäudetechnik:

Marius Ciprian Popescu/ Innenausbau:

Jürgen Mintgens/ Baurecht:

Dieter Läpple/ Stadtentwicklung:

ten. Ich zeige die drei Stufen des

Tiger“ Singapur lernen, wie man

Lernens: Lehrer, Schüler, Meister.

die „Stadt der Zukunft“ baut.

Ich zeige nochmal Schild und Schwert, ich bete darum, meine Waffen nicht einsetzen zu müssen. Close, linkes Bein wieder an das rechte heranziehen. 1:30 1:45

Jetzt sind wir bereit für jede Art von

So jetzt stehe ich hier vor dem

Auseinandersetzung. Also: Wovon

Check-in, draußen auf dem Balkon.

reden wir? Ich darf keine laufenden

Sehen Sie mich?

Fälle kommentieren. Aber stellen

1:40 Einfaden Hafenatmo

Und da unten ist meine Entrau-

Sie sich vor, Sie befinden sich auf

Jetzt stehen Sie im Geschäftszen-

chungsanlage. Die will ich jetzt tes-

der Baustelle eines Großbauvorha-

trum von Singapur auf einer Hoch-

ten. Da unten haben genau 17 Tes-

bens beispielsweise eines Justiz-

terrasse, schauen auf eine Groß-

ter Platz. Wer kommt mit? Die

zentrums oder eines Universitäts-

baustelle, wo gleich einiges in

stehen jetzt bitte auf und folgen der

klinikums (Bauvolumen 150 bis 200

Bewegung kommen wird.

Fluglotsin hier unten durch die Si-

Millionen Euro). Auf der einen

Und jetzt gehe ich mal runter.

cherheitskontrollen. Die anderen

Seite stehen die Projektverant-

bleiben sitzen und beobachten den

wortlichen des öffentlichen Auf-

Test über den Videoscreen.

traggebers, die Architekten, Sonderfachleute, Projektsteuerer und gegebenenfalls auch Baubetriebler. Das sind jetzt mal Sie hier mit den roten Kampfhelmen! Und auf der anderen Seite das Unternehmen,

2:00 17 Zuschauer gehen durch die Baurecht-Gruppe, hinter den

2:10 Gebäudetechnik-Gruppe geht.

das für die Verlegung des Estrichs

Vorhang.

Und die Menschen gehen weg in

zuständig ist. Das sind jetzt mal Sie

2:15 Geht durch die Wanderarbeit-

den Plattenbau. Jetzt können wir

hier mit den schwarzen Kampfhel-

Gruppe.

men. Das da drüben sind Ihre Ar-

▾ Staat 2 | 89


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 90

Sonja Breidenbach/ Investitionen: verwalten

das

Reiner Pospischil/ Schädlingsbekämpfung:

Vermögen

Andreas Riegel/ Transparency International:

Fang-Yun Lo/ Wanderarbeit:

der

nen Wege. Bei dieser Spezies scheint

Was ist passiert? Bei einer Boden-

reichsten Familien und Erbenge-

jedes Individuum von eigenen Inte-

probe stellte sich heraus, dass es

meinschaften

Deutschland.

ressen angetrieben zu sein. Jeder

sich nicht um Rheinsand, sondern

Ihre Strategie lautet Werterhalt. Ei-

will seinen eigenen Kopf durchset-

um gefährlichen Abfall handelte.

nige von Ihnen zocken schon ein-

zen. Jeder will sein eigenes Nest. An-

Der vom Anlieferer bestochene

mal gerne.

ders als bei den Ameisen, die alle ge-

Mitarbeiter des Bestellers bestä-

Der Rest hier darf sich unter die

meinsam essen und schlafen. Bei

tigte trotzdem, dass es gewasche-

Fonds- und Portfoliomanager rei-

den Menschen wäre kaum einer be-

ner Rheinsand war – Einbau er-

2:30

hen.

reit, sein Leben für den Staat hinzu-

folgt,

Und jetzt öffnen Sie die Augen!

Weshalb sind Sie heute hier?

geben. Die Tiere hier wollen ja auch

Lieferant hat sich nicht nur die Kos-

Chinesischer Stadtlärm – Gebäude-

alle anders aussehen. Jeder will

ten für den Rheinsand gespart,

technik-Gruppe bewegt sich.

seine eigene Handbekleidung (zei-

sondern sogar noch kostenpflichtig

Sie wachen in einem Zimmer

gen). Wenn bei den Ameisen jemand

zu entsorgenden Abfall gewinn-

neben vierzig Bauarbeitern auf. Und

anders aussieht oder riecht, dann

bringend verkauft. Dreifaches Ge-

da steht ein Mann mit einer langen

wird er angegriffen. Abweichendes

schäft.

Nase. Und ihre Familie ist nicht

Verhalten wird dort nicht toleriert.

Kriminelles Handeln wird gerne

mehr da.

möglichst tief in der Erde versenkt,

Willkommen in Beijing. Sie sind in

2:50

denn was einmal unter der Erd-

die Stadt gekommen mit der Hoff-

Ähnlich wie die Ameisen bauen

oberfläche liegt, gräbt niemand

nung auf Arbeit.

auch Menschen bis zu hundertfa-

wieder raus! Das ist ein unge-

Wecker.

che Körperhöhe. Aber nur oberir-

schriebenes Gesetz in der Baubran-

Stehen Sie auf und strecken Sie

disch. Ameisen bauen bekanntlich

che. Ist ein Gebäude errichtet, prüft

sich.

ebenso tief unterirdisch. Also noch-

keiner mehr nach, was darunter

mal sechzig Kellergeschosse.

steckt. Sehen Sie hier unter mir die

von

2:55 Video: Hochhäuser 3:00 Video: Zinsentwicklung

Bezahlung

auch.

Der

Verhandlungen im Baucontainer?

2:55–3:10 Aufstehen

Mit solchen Machenschaften habe

Akustisch wirds lauter, chinesische

ich immer wieder zu tun.

Großstadt.

Während der letzten Finanzmarkt-

3:15

Gerade saßen sie noch friedlich da

Schauen Sie sich um. Versuchen

krise ist viel Kapital vernichtet wor-

Jetzt transportieren die Arbeiter of-

als Investoren und haben sich bera-

Sie, sich in der großen Stadt zu ori-

den. Sie erinnern sich: das Jahr

fenbar Bauteile. Diese Individuen

ten lassen. Jetzt sitzen da Mitarbei-

entieren. Gehen Sie los. Egal

2008. Für viele von Ihnen der

scheinen ein wenig zu schwächeln,

ter eines öffentlichen Auftragge-

wohin. Sie haben jetzt drei Minuten

90 | Staat 2


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 91

Alfredo Di Mauro/ Gebäudetechnik:

Marius Ciprian Popescu/ Innenausbau:

Jürgen Mintgens/ Baurecht:

Dieter Läpple/ Stadtentwicklung:

unseren Boulevard der Einheit

beiter, die mit den gelben Bauhel-

Singa Pura, die Stadt des Löwen,

bauen. Den Bulevardul Unirii.

men. Was tun die?

wurde von den Briten als kolonialer

Ziehen Sie sich bitte Handschuhe an.

Umschlagsplatz gegründet – auf

Jetzt werden Sie Bauarbeiter. Ich

2:10 Gebäudetechnik-Gruppe

halbem Weg zwischen Indien und

habe 2004 angefangen, auf dem Bau

(17 Zuschauer) steht auf und geht

China. Vor fünfzig Jahren erhielt

2:40–4:20 Live-Kamera

zu arbeiten in Rumänien. 2004 war

durch das Spalier der Kämpfer.

Singapur seine Unabhängigkeit als

Folgen Sie mir. Wir sind in der

die Wirtschaft gut. Ich habe die Woh-

Die stellen die Arbeit ein und verlas-

Stadtstaat.

Ebene U2. Sie gehen über 17 Paare

nung von einem Grenzpolizisten re-

sen die Baustelle: Die meisten von

Dies hier ist ein dynamisches

von

Boden.

noviert – und zwar schwarz! Manch-

Ihnen gehen einfach weg! Die las-

Stadtmodell, das uns die Ge-

Jeder stellt sich auf ein Paar Füße.

mal haben wir von morgens um

sen die Arbeit einfach liegen! Das

schichte von Singapur verdeutli-

Bitte aufschließen. Über uns ist die

sieben bis abends um 23 Uhr gear-

kann zu einer Bauverzögerung und

chen wird: Sie sehen jetzt die Stadt

Ankunftsebene 0 mit Gepäckausga-

beitet. Aber er hat immer bezahlt,

nicht kalkulierten Mehrkosten füh-

in den 1960er Jahren. Die Stadt

ben und Autovermietungen, Ban-

und ich habe gut verdient.

ren! Darüber sind Sie, die Roten,

liegt am Boden: die Trümmer des

ken. Alles fertiggebaut. Darüber die

also der öffentliche Auftraggeber,

britischen Kolonialismus. China-

Abflughalle E1, der Check-in, Pass-

verärgert. Buuh! Sie sehen keinen

town, eine Ansammlung von Hüt-

kontrollen, Duty-Free-Shops. Und

Grund für die Arbeitseinstellung!

ten. Die Menschen gefangen in

hier unten sind wir im Entrau-

Das werfen Sie dem Estrichleger

Armut, Analphabetismus, Drogen,

chungskanal: Der ist unterirdisch,

vor und greifen ihn somit an. In die

Kriminalität und ethnischen Kon-

anders als das beim Düsseldorfer

Sprache des Kampfsports übersetzt

flikten. Kaum jemand glaubt, dass

Flughafen war.

bedeutet dies, dass Sie versuchen,

dieser isolierte Stadtstaat überle-

Jetzt sollte jeder von Ihnen bei

beispielsweise

ben kann.

einer Tafel stehen. Nehmen Sie sie

Schwinger“ zu landen. Das sieht

Und jetzt schauen wir, was dann

in die Hand. Auf der Tafel sehen Sie

dann so aus … (Schlag) Bitte ma-

geschah. Die Entwicklung der Stadt

meine Entrauchungsanlage. Wir

chen Sie das einmal mit! Und noch

im Zeitraffer.

sind da, wo der Pfeil hinzeigt.

einmal. (Schlag) Sie, die Schwarzen

Der Kanal ist sieben Meter hoch

hier, also der Estrichleger, bestrei-

Fußabdrücken

am

einen

„rechten

und drei Meter breit. Fünfzig Centi-

3:00

ten gar nicht, dass Sie die Arbeit

2:55–3:10 Wanderarbeit-Gruppe

meter Wände. Ein Meter dicke Bo-

Das sind Steine/Dachlatten/OSB-

eingestellt haben. Sie behaupten

steht auf. Fade-in: Video-Skyline

denplatte. Die Anlage steht genau

Platten für den Gartenweg von

aber, dass Ihre Arbeiter in der Aus-

von Singapur hinten

so seit Jahren. Fertig. Sie müsste

meinem ersten Haus, das ich al-

führung Ihrer Tätigkeit behindert

Das sind die 1970er Jahre … (Erste

nur noch getestet werden.

leine gebaut habe. Die müssen da

waren, weil der Heizungsbauer die

recken sich.) … die 1980er …

Staat 2 | 91


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 92

Sonja Breidenbach/ Investitionen: Super-GAU.

Die

Reiner Pospischil/ Schädlingsbekämpfung:

Andreas Riegel/ Transparency International:

Fang-Yun Lo/ Wanderarbeit:

internationalen

tragen nur kleine Stücke zum Nest-

bers und eine Unternehmerin zu-

Zeit, um sich frei durch den Raum

Märkte rauschten in Richtung Re-

bau. Wenn ich an Ameisen denke,

sammen am Tisch und formulieren

zu bewegen. Keine Angst, Sie wer-

zession. Um die Wirtschaft wieder

die tragen das zigfache der eigenen

unzulässigerweise gemeinsam das

den mich wiederfinden. Wählen Sie

anzukurbeln, senkte die Europäi-

Körpergröße und des eigenen Ge-

Leistungsverzeichnis

jeder eine Richtung.

sche Zentralbank die Zinsen. Die

wichts. Die Menschen hier versu-

schreibung. Da werden tausend

Zinsen sanken weiter und weiter,

chen offenbar eine Straße zu bil-

Randsteine ins Leistungsverzeich-

bis hier unter die Nulllinie, wo wir

den, aber wenn ich hier mal eine

nis geschrieben. Die Unternehmerin

uns heute befinden. Was bedeutet

Arbeiterin auch nur kurz störe …

wird die für nur einen Euro anbie-

das für Sie? Wenn Sie Ihre Millio-

Er blockiert den Weg.

ten. Warum kann sie das tun? Weil

nen auf dem Bankkonto liegen las-

… dann ist das Wesen verwirrt und

der korrupte städtische Mitarbeiter

sen, bekommen Sie nicht nur keine

muss sich neu orientieren. Amei-

ihr sagt, dass gar keine Randsteine

Zinsen. Nein, sie zahlen sogar noch

sen hätten sich ihre Straßen und

gebraucht werden.

drauf. Sie suchen nach möglichst

Wege mit Pheromonen genau mar-

sicheren Anlage-Alternativen zu

kiert – wie programmierte, selbst-

den gängigen Anlageformen wie

steuernde Autos. Bei den Ameisen

beispielsweise Staatsanleihen oder

würden die Nachbarn sofort helfen

Pfandbriefen (denn die rentieren

und am Nest sofort angreifen.

einer Aus-

sehr niedrig). Der Großteil hier von Ihnen sieht sich in der Pflicht, seine Kapitalversprechen gegenüber sei-

3:25 Wanderarbeit-Gruppe geht

nen Kunden (Versicherung – Poli-

auseinander.

cen/PK – Altersvorsorge/Family Of-

Sie gehen alleine durch die Stadt.

fice – die igentümer/Fondsmanager –

Überall sind Bauarbeiter unter-

Privatkunde) zu erfüllen. Sie alle

wegs. Überall werden Geschäfte ge-

haben Angst vor Inflation – und

macht. Überall sind große Häuser.

dass die Währungen außer Kon-

Das ist die Großstadt. Alle Men-

trolle geraten.

4:00 Baurecht-Gruppe Kampfbe-

schen sind beschäftigt. Sie folgen

Die erhebliche Geldmengenaus-

4:10 Klimawedeln bei Gebäude-

wegung

einem unsichtbaren Plan. Men-

weitung führt dazu, dass wir hier

technik-Gruppe

Die Konkurrenten, die da unten mit

schen tragen Kopfhörer. Menschen

alle viel zu viel Geld haben.

Da hinten gibt es eine Gruppe, die

den schwarzen und roten Helmen

sprechen in Mikrofone. Mit Men-

sich um das Klima im Nest küm-

um den Auftrag kämpfen wollen, kal-

schen, die nicht da sind. Und die

▾ 92 | Staat 2


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:43 Seite 93

Alfredo Di Mauro/ Gebäudetechnik:

Marius Ciprian Popescu/ Innenausbau:

Jürgen Mintgens/ Baurecht:

Dieter Läpple/ Stadtentwicklung:

Und das machen wir jetzt.

hin, bitte! Nächster! Hier. 2007

Heizschlangen der Fußbodenhei-

(Einige stehen.) … und die 1990er

Vorne im Kanal gibts jetzt eine

habe ich meine eigene Firma ge-

zung nicht rechtzeitig gelegt hat und

Jahre. (Die meisten stehen.) Die

Rauchentwicklung.

Rauch

gründet. Mit Rumänien ging es auf-

Sie daher nicht arbeiten könnten. In

Stadt wächst in die Höhe. Die Zahl

muss schnell abgesaugt werden.

wärts, wir waren frisch in der EU,

der Sprache des Kampfsports be-

der Einwohner verdoppelt sich.

Drehen Sie sich jetzt so, dass Sie

und es gab immer viel zu tun. Ich

deutet dies: Sie „blocken“. Dies ma-

Buddhisten, Hindus, Muslime und

richtigrum in den Fußstapfen ste-

hatte manchmal 15 Angestellte.

chen wir (die Schwarzen) jetzt ein-

Christen gehen ihren Weg ohne ei-

hen.

Dreißig bis vierzig Häuser habe ich

mal gemeinsam mit der Technik

nander zu stören. Innerhalb weni-

Jetzt starten wir die Entrauchung:

gebaut. Und zwar allein, ohne Ar-

gegen den rechten Schwinger, „De-

ger Jahrzehnte schafft Singapur

Wedeln Sie mit dem Brett Ihrem

chitekten und Professoren wie die

layed

verzögerte

den Sprung vom armen Entwick-

Vordermann möglichst viel Wind in

da oben auf der Bauterrasse. Ich

Schwert! Wir gehen zurück ins soge-

lungsland zu einer der reichsten

den Rücken!

habe gut verdient. Ein Haus habe

nannte Rechtsneutral und blocken.

Städte der Welt. 90 Prozent der Be-

Wir brauchen zwei Meter pro Se-

ich für 140 000 Euro verkauft. Und

Machen Sie mit: diese Bewegung,

völkerung besitzen eine eigene

kunde. Kräftig! Hoch runter. Hoch

ich habe geheiratet.

einen sogenannten Block. Zusätz-

Wohnung. Gesundheits- und Erzie-

runter!

2011 ging die Krise los. Meine Kolle-

lich werfen Sie dem Auftraggeber

hungssystem sind hervorragend.

gen sind weggezogen, und ich habe

vor, dass dessen Bauleitung die

mich von meiner Frau scheiden las-

Schuld für die Arbeitseinstellung

sen. Ich wollte nur noch weg.

trage, weil die verschiedenen Hand-

Der

Sword“,

das

werker nicht richtig koordiniert worden seien. Sie kündigen an, Mehrkosten wegen verlängerter Bauzeit

3:30

in Rechnung stellen zu wollen. Sie

geht auseinander. Auf Sandhügel

mit dem schwarzen Helm als Unter-

hinten:

3:53 Hupe

nehmer greifen jetzt also ihrerseits

Hier entsteht durch die Verlagerung

Da hupt der Bus. 2014 bin ich mit

an: zum Beispiel mit einem Tritt und

des Hafens eines der größten

dem Bus nach Deutschland gefah-

mit einer Handkante. Jetzt können

Stadterweiterungsprojekte

ren.

in

wir die gesamte Technik „Delayed

Welt. Diese Großbaustelle wird

Deutschland war eine Wohnung in

Sword“ gemeinsam machen. Das

einen Heißhunger nach Sand ent-

Köln-Troisdorf: Wir haben an Mon-

sieht dann so aus:

wickeln. Sand zur Aufbereitung des

Meine

erste

Station

Die kamen aus Holland, Polen, Ru-

Wanderarbeit-Gruppe

der

Baugrundes und zur Landgewin-

teure und andere Arbeiter von Großbaustellen Zimmer vermietet.

Die

nung. Durch die Aufschüttung des

4:00 Gong.

Meeres ist die Fläche von Singapur

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Sonja Breidenbach/ Investitionen:

Reiner Pospischil/ Schädlingsbekämpfung:

Andreas Riegel/ Transparency International:

Fang-Yun Lo/ Wanderarbeit:

mert, indem sie Luftlöcher öffnen

kulieren realistisch und bieten die

Luft ist schlecht. Bleiben Sie nicht

und verschließen – genau wie bei

Randsteine für 20 000 Euro an, weil

stehen. Sie gehen alleine weiter.

den Ameisen.

sie davon ausgehen, zu diesem Preis auch tatsächlich leisten zu müssen.

4:20–5:00 Er hält die Kamera in

Eine Chance auf den Auftrag haben

den Container.

sie damit nicht, weil ihr Angebot al-

Jetzt wollen wir mal sehen, was ge-

lein wegen dieser Scheinposition

schieht, wenn Fremdmaterial auf das

fast 20 000 Euro teurer ist. Dafür be-

Nest abgeworfen wird. Dazu nehme

kommen die städtischen Mitarbeiter

ich hier diese Kamera, die so ähnlich

von der Unternehmerin ein Prozent

ist wie das Endoskop, womit ich

der späteren Auftragssumme. In die-

unter Oberflächen schaue, ob sich

sem Fall 50 000. Hier übergebe ich

darunter Schädlinge verbergen. Hier

die erste Rate.

sehen wir die Königinnenkammer. 4:30 Es wird heller, regnet hier

4:30 Geldabwurf von Kran (Riegel)

4:30 Er schüttet Geld über Contai-

4:30 Geld fällt vom Kran

Geld von oben in den Container.

Offenbar ist es nicht essbar, so wird

ner.

Investoren verdienen in einer Mi-

Nehmen Sie, was Sie kriegen kön-

es eben für den Nestbau verwendet.

nute so viel Geld wie Ihre Familie in

nen. Jeder Hundert-Euro-Schein

Wie in einem Ameisenstaat ist die

einem ganzen Jahr. Sie selbst

steht hier heute für eine Million

Königin gut geschützt. Um sie

leben in einem Container. Wander-

Euro! Es darf nichts liegenbleiben.

herum ist immer eine ganze Reihe

arbeiter dürfen in der Stadt kein ei-

von Arbeiterinnen versammelt, die

genes Zuhause besitzen. Ihre Kin-

sich um Temperatur und Feuchtig-

der sind auf dem Dorf geblieben,

keit sowie die Eier kümmert. Im

weil sie in der Stadt kein Recht auf

Ameisenstaat stammen alle von der

öffentliche Schule haben.

gleichen Königin ab und sind also eng verwandt. Man kann das durchaus als Vetternwirtschaft bezeichnen, was bei den Ameisen aber nie zu Korruption führt, sondern im Gegenteil zu enger Zusammenarbeit.

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Alfredo Di Mauro/ Gebäudetechnik:

Marius Ciprian Popescu/ Innenausbau:

Jürgen Mintgens/ Baurecht:

Dieter Läpple/ Stadtentwicklung:

mänien … Meistens haben sie sich

Rechtsneutral,

Block,

Ball-Kick,

bereits um ein Viertel gewachsen.

gegenseitig nicht verstanden. Im

Handkante. Hier auf dem Gerüst –

Es geht um viele Hundert Millionen

Flur standen immer Reisetaschen.

schauen Sie mal –, da ist jetzt die

Tonnen Sand. Sand, der aus den

Ein Bett hat mein Chef für zwanzig

Hölle los, wie Sie sehen, überall

Nachbarländern kommt und um

Euro oder mehr vermietet. Zwanzig

wird aufgestachelt und angegrif-

den es heftige Konflikte gibt. Es ist

Menschen haben geschlafen auf

fen! Sie als öffentliche Hand, mit

schon die Rede von einem „Krieg

einer Fläche, so groß wie dieser

rotem Helm, müssen sich jetzt Ih-

um den Sand“.

Container, in dem hier jetzt die

rerseits gegen den Angriff des Un-

Übrigens: Da oben auf den drei

Bonzen sitzen.

ternehmers verteidigen. In der

Hochhäusern wurde in 190 Meter

Sprache des Kampfsports übertra-

Höhe ein riesiger Park gebaut mit

gen heißt das, Sie würden jetzt Ih-

einem der längsten Schwimmbe-

rerseits

cken der Welt.

blocken

und „Delayed

Sword“ anwenden. Das machen

Und hier vorne? Was sehen wir da?

wir gemeinsam: 4:30 Licht im Kanal aus

4.30 Geldabwurf

4:30 Gong.

4:30 Riegel schüttet Geld über

Sehen Sie: Es klappt! Der Rauch

Mein Chef hat fünftausend Euro

Block, Ball-Kick, Handkante.

Container.

zieht ab.

pro Woche verdient. Mich hat er am

Auf diese Art kann die Situation es-

Geld. Singapur ist ein Magnet für

Danke. Der Versuch war erfolgreich.

Ende gar nicht mehr bezahlt. Er

kalieren.

Geld und das entscheidende Fi-

Lassen Sie die Bretter bitte zurück.

schuldet mir noch fünfhundert

nanzzentrum Südostasiens. Was in

Kommen Sie mit, bitte.

Euro.

Europa und den USA als Leitbild der modernen Stadt ausgedacht wurde, hat Singapur zur Perfektion entwickelt: Die Stadt als effiziente Maschine. Diese Stadtmaschine befreit ihre Bewohner nicht nur von den Begrenzungen und Zumutungen der Natur, sondern auch von der individuellen Verantwortung für die Zerstörung der Natur.

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BAUEN BIS AN DEN HIMMEL Dieter Läpple

Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen! (Genesis 11;4) Babylon war die Wiege der ersten urbanen Hochkultur. Mit seiner Stadtmauer, vor allem dem grandiosen Ischtar-Tor, schuf es eines der sieben Weltwunder der Antike. Doch viel wirkmächtiger als das Ischtar-Tor sind bis heute die Bilder des Baus des Turms zu Babel. Vor allem das Bild von Pieter Breughel dem Älteren von dieser gewaltigen Großbaustelle wurde zu einer Ikone, die tief im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Der alttestamentarische Mythos des Turms zu Babel steht bis heute für Wagemut und Grenzüberschreitung. Aber zu diesem Mythos gehört auch – zumindest in der jüdisch-christlichen Tradition – die gewaltsame Zerstörung der Stadt Babylon und ihres Turmes, verbunden mit Vertreibung und babylonischer Sprachverwirrung als Strafe für Hybris und Gigantomanie der „Hure Babel“. Ist der Mythos von Babylon ein mögliches Leitmotiv für die „Großbaustellen“, denen man quer durch die Geschichte in nahezu allen historischen Epochen immer wieder begegnet? Die Nekropolen im alten Ägypten, die gewaltigen Bauwerke des Römischen Reiches, die Kathedralen des Abendlandes, der Eiffelturm – dieses Symbol des Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts –, die Wolkenkratzer von Chicago und New York sind nur einige Beispiele historischer Großbaustellen und Großprojekte, die unsere Zivilisation und urbane Kultur geprägt haben. Es gibt nicht wenige moderne Architekten, die das Narrativ des Turmes zu Babel als Bezugspunkt nehmen, nicht nur für ihre Hochhäuser mit einer „Spitze bis an den Himmel“ – also den „Wolkenkratzern“ –, sondern auch für Innovationen und Grenzüberschreitungen durch neue Bauformen und bisher unerprobte Bautechniken. Der amerikanische Architekt Louis Henry Sullivan erhob die Maßlosigkeit des Turmbaus zu Babel Ende des 19. Jahrhunderts gewissermaßen zum Programm für den Bau eines Hochhauses: „Es muss hoch sein, jeder Zoll von ihm muss hoch sein. Die Kraft und die Gewalt der Höhe müssen in ihm sein, so wie der Ruhm und der Stolz der Begeisterung.“ (Louis H. Sullivan 1896)1 Die Möglichkeit, immer höher zu bauen, betrachtete der äußerst einflussreiche Architekt Sullivan nicht nur als eine technische Herausforderung, sondern überhöhte sie zum göttlichen Geschenk: „one of the most magnificient opportunities that the Lord of Nature in His beneficence has ever offered to the proud spirit of man“. (Ibid.) Das Bauen „bis an den Himmel“ hat offensichtlich bis heute nichts von seiner Faszination verloren.

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1 Übersetzt von D. L.


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Dieses Wettbauen in die Höhe wird aber gegenwärtig weniger von New York oder Chicago dominiert, sondern vor allem von Städten wie Dubai, Shanghai, Tokio oder Taipei. Allerdings hat sich die Manie der Großprojekte inzwischen über den ganzen Globus verbreitet, und dabei nimmt die Sucht nach Monumentalität immer wieder neue architektonische und technische Formen an. Der Kunsthistoriker Marc Wilken betont in einem Essay über „Architektur-Utopien“ die anhaltende Wirkkraft des Mythos Babylon in der Architektur: „Der Turm von Babel wurde zu einem Leitmotiv für die moderne Architektur, die teils unbewusst das Streben nach Monumentalität übernommen hat; dieses Motiv verleitet aber auch dazu, Utopien real werden zu lassen und das Undenkbare greifbar zu machen.“ (Marc Wilken 2008: 263) Anzumerken bleibt jedoch, dass es bei Architekturvisionen, Großbaustellen und Großprojekten nicht nur um technische, ökonomische und ästhetische Grenzüberschreitungen oder bauliche Innovationen geht, sondern – wie schon beim Turm von Babel oder den mittelalterlichen Geschlechtertürmen der adligen Familien in der Toskana – um Symbole ökonomischer Macht und politischer Herrschaft. In seiner historischen Studie über Herrschaftsform und Baugestalt betont der Kunsthistoriker Wolfgang Braunfels die Zeichenhaftigkeit jeder Bauform: „Jede Architektur kann als Zeichen für Macht, Wohlstand, Idealsinn, ja auch für das Elend seiner Erbauer oder Bewohner gelesen werden.“ (Wolfgang Braunfels 1976: 11) Eine besondere Rolle kommt dabei „Monumentalbauten“ zu: Sie repräsentieren unmittelbar Formen von Herrschaft wie auch des Zusammenlebens. In ihrem Erscheinungsbild geben sie nach Braunfels „eine Definition der politischen Ideologien und erheben sie kraft ihres Ranges als Kunstwerk in die Zone der Idealität“ (Ibid.: 10). In diesem Sinne ist jeder Monumental-

Jeder Monumentalbau und jede Großbaustelle ist nicht nur ein technisch-architektonisches Gebilde und eine kulturelle oder religiöse Manifestation, sondern zugleich ein Politikum.

bau und jede Großbaustelle nicht nur ein technisch-architektonisches Gebilde und eine kulturelle oder religiöse Manifestation, sondern zugleich ein Politikum. Sie können also nicht losgelöst von der politischen Verfasstheit und den Herrschaftsformen der jeweiligen Städte und ihren übergeordneten staatlichen Institutionen verstanden werden. Werfen wir einen Blick auf die aktuellen Debatten über Großprojekte und Großbaustellen, so zeigt sich zunächst eine geradezu groteske Chronik des Scheiterns: astronomisch hohe Budgetüberschreitungen, endlose Zeitverzögerungen im Bauprozess, absurde Qualitätsmängel bei der Planung und Durchführung, Korruption und Bodenspekulation, Blockaden durch Wutbürger und nicht enden wollende Gerichtsprozesse. Die großen prestigeträchtigen Utopien mutieren in dem mühseligen Prozess ihrer Umsetzung nur zu oft in blamable Dystopien. Was zeigt uns das? Eine Bankrotterklärung der technischen Kompetenz unserer Ingenieure und Architekten? Das Resultat einer bürokratischen Überregulierung unserer Gesellschaft? Ein Ausdruck gesellschaftlichen Kleinmuts und einer Status-quo-Mentalität? Politikversagen oder einfach nur die Folge von Größenwahn völlig überforderter Stadtverwaltungen? Meist ist das Urteil schnell gesprochen, und mögliche Lösungen werden wohlfeil angeboten: Großbaustellen sind, so ein gängiger Kommentar, sowieso nur „Großspielplätze“ für Jungs, die – vielleicht genetisch bedingt? – gerne mit dem Bagger spielen und, vor allem wenn sie älter sind, dazu neigen, die Rolle des Homo ludens mit der des Homo deus verbinden zu wollen. Ist also die Großbaustelle vor allem ein Genderproblem? Oder sind Großbau-

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stellen einfach aus der Zeit gefallen, passen nicht mehr in unsere Gesellschaft, in der alle Formen der Hierarchie unzeitgemäß erscheinen? Brauchen wir statt Großbaustellen heute „Kleinstbaustellen“? Das klingt irgendwie freundlich, wirft aber neue Fragen auf: Wie entsteht aus diesen „Kleinstbaustellen“ eine Stadt oder auch nur ein öffentliches Verkehrssystem? Das Urteil einiger Großbaumeister, vor allem international tätiger „Stararchitekten“, weist in die entgegengesetzte Richtung. Sie betonen bei jeder Gelegenheit, mit wie viel weniger Problemen und wie viel schneller sie „ihre“ Großprojekte in China, Katar, Baku oder Dubai realisieren können. Dabei erfährt man selten, dass auf den entsprechenden Großbaustellen ganze Heerscharen rechtloser Wanderarbeiter oder Migranten nicht nur arbeiten, sondern meist auch schlafen; dass die Großbaustellen oft erst möglich wurden, da man zuvor ganze Stadtquartiere mit all ihren kulturhistorischen Zeugnissen abgerissen hat und niemand so recht weiß, wo die Bewohner dieser Quartiere heute wohnen und arbeiten; oder dass wertvolle Ökosysteme einfach verschwunden sind unter Asphalt, Beton, Stahl und Glas. Es ist leicht einsichtig, dass autokratische Regime eine hohe Affinität zu Großbaustellen und Großprojekten haben und auch dazu neigen, ihre ganze Machtfülle zu nutzen, um deren Realisierung gegen alle möglichen Widerstände durchzusetzen, um der Welt zu beweisen, wie mächtig, aber auch wie modern und leistungsfähig sie sind. Dass ihnen dabei „westliche“ Architekten und Ingenieure willfährige Helfer sind, da diese die Chance nutzen wollen, um endlich ihren grandiosen Entwurf oder ihre einmalige bauliche Innovation realisieren zu können, ist auch allgemein bekannt. Warum aber lassen sich Städte, die sich der europäischen Stadtkultur mit ihrer demokratischen Tradition verpflichtet fühlen, auf eine immer größer werdende Zahl von Großprojekten ein, obwohl sie meist nicht einmal genügend Geld haben für die Lösung ihrer „kleinen“ Probleme, wie zum Beispiel den Bau und den Unterhalt von Kindergärten und Schulen, den Ausbau des öffentlichen Verkehr, den Bau von Sozialwohnungen und Gesundheitszentren, den Unterhalt von Stadtteilkulturzentren oder den Betrieb der städtischen Theater? Das Schlüsselwort heißt Städtekonkurrenz. Die Angst vor einem immer schärfer werdenden Verdrängungswettbewerb, die Angst der Bürgermeister und Stadträte, dass ihnen andere Städte den Rang ablaufen, dass sie – je nach Größe – im regionalen, nationalen, europäischen oder globalen Wettbewerb das Nachsehen haben könnten. Aus diesem Gefühl der Bedrohung und der Erkenntnis ihrer immer größer werdenden Austauschbarkeit, angesichts der Banalisierung ihrer Architektur und der Filialisierung ihrer Innenstädte, kommt der Ruf nach einem Großprojekt als einem rettenden Anker, nach einer Großbaustelle als einem manifesten Zeichen der Zukunftsorientierung. Der Ruf nach einem „Leuchtturmprojekt“ („lasst uns […] einen Turm bauen, […] dass wir uns einen Namen machen“), um die Stadt sichtbar zu machen auf der Landkarte Europas und der Welt. Ein Leuchtturmprojekt, das die Stadt „in die internationalen Medien katapultiert“, so die Worte eines früheren Hamburger Bürgermeisters nach der Eröffnung der Elbphilharmonie. Dabei sollte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass mit dem politischen Beschluss, ein „Leuchtturmprojekt“ zu bauen, und der Eröffnung der Großbaustelle ein sich selbst verstärkender Strudel von scheinbar unaufhalt-

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Brauchen wir heute „Kleinstbaustellen“?


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samen Sachlogiken entfesselt wird. Dass man sich nicht nur den Launen eines nicht vorhersehbaren Marktgeschehens, sondern vor allem dem gnadenlosen Druck international agierender Bau- und Immobilienunternehmen aussetzt. Ist die Großbaustelle mal in Gang gekommen, gibt es kaum mehr Möglichkeiten demokratisch legitimierter Einflussnahme. Versuche einer Korrektur erhöhen meist nur noch das ohnehin schon ins Maßlose steigende Budget. Eine einzige Zahlt illustriert den ganzen Wahnsinn dieser Entwicklungslogik: Allein die Instandhaltung der Großbaustelle des Großflughafens BER im Nichtbetrieb frisst jeden Monat 17 Millionen Euro, wobei die Fertigstellung und die kaum mehr möglich erscheinende formelle Inbetriebnahme in eine immer fernere Zukunft verschoben werden. Nun gibt es bei der Stadtentwicklung sicherlich Aufgaben, die sich kaum oder nur ungenügend über den Markt und die Routine der Verwaltung lösen lassen. Allerdings sind Großprojekte als Instrumente der Stadtentwicklung hochgradig voraussetzungsvoll. Sie müssen eine Vision haben, die aus der Stadtgesellschaft kommt, sie müssen an den realen Problemen der Stadt ansetzen und das Potential haben, zu begeistern. Die Bürger müssen also von vornherein eingebunden werden. Alles Voraussetzungen, die sich nur schwer mit der Idee eines „Leuchtturmprojektes“ verbinden lassen, da dessen Logik vor allem auf die Außenwirkung ausgerichtet ist. Dazu kommt die fatale Tradition einer längst fragwürdig gewordenen „Moderne“ mit ihrem Vertrauen in die Steuerungs- und Leistungskapazität durch Expertenwissen und die ungebrochene Sucht nach Größe – nach dem Motto: Je größer, desto besser! Ein grandioser Denkfehler, denn wir leben längst in einer Netzwerkgesellschaft und müssen die Flexibilität und vor allem die Anpassungsfähigkeit vernetzter und modularer Systeme als Chance begreifen und nutzen. Angesichts der offensichtlichen Erosion der Autorität des Expertenwissens wird auch zunehmend klar, dass es in einer Gesellschaft vielfältige Wissensformen gibt. Stadtentwicklung und gesellschaftliche Gestaltungsversuche tun gut daran, auf das Wissen der Menschen vor Ort zurückzugreifen. Kurz: Mit den Großbaustellen öffnet sich ein weites Feld, in dem es sehr viel mehr Fragen als Antworten gibt. Aber die Großbaustelle steht für ein manifestes gesellschaftliches Problem, nicht nur wegen der astronomisch hohen Budgetüberschreitungen und endlosen Zeitverzögerungen, sondern vor allem auch, weil jedes Großprojekt zugleich – wie bereits benannt – ein Politikum ist, das viel über die politische Verfasstheit und die Herrschaftsformen unserer Gesellschaft aussagt. Ist es möglich, ein so komplexes und scheinbar vor allem technisches Thema ins Theater zu holen? Mit Gesellschaftsmodell Großbaustelle greift Rimini Protokoll einen zentralen Aspekt von Großbaustelle auf, nämlich die Auflösung der Bau- und Entscheidungsprozesse in verselbstständigte Funktionsbereiche. Es ist längst nicht mehr der Architekt, der in diesem äußerst komplexen Prozess die Fäden in der Hand hat. Allein schon durch die Größe und Komplexität der Bauaufgaben verlagert sich die Koordination des Bauablaufes einschließlich der Zeit- und Kostenplanung auf technische, ökonomische und rechtliche Spezialisten, die vielfach tätig sind bei international agierenden Bau- und Planungskonzernen. Zugleich entstehen immer mehr Spezialisten mit ihren spezifischen Expertensystemen und ihren professionellen Routinen, also neben all den verschiedenen Gewerken der Bauarbeiter, die wiederum bei unterschiedlichsten Subunternehmen engagiert und teilweise skandalös ausgebeutet werden, agie-

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ren im Kontext der Großbaustelle Gebäudestatiker, Tiefbauingenieure, Baulogistiker, Bauphysiker, Gebäudetechniker, Klimaanlagen- und Entrauchungsanlagenbauer, Baurechtsspezialisten, Projektmanager, Kostenkontrolleure, Finanzspezialisten, Bauleiter, Generalunternehmer usw. Eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung also, wie sie prägend ist für unsere Form der Modernisierung der Gesellschaft, „in der der größte Teil des persönlichen Lebens in immer höherem Maße von unpersönlichen Großsystemen verschlungen wird“ (Anthony Giddens 1996: 176). Dieses komplexe Geschehen repräsentieren in dem Stück acht Expertinnen und Experten mit ihrer jeweils spezifischen Sicht und ihren sehr unterschiedlichen professionellen Erfahrungen.2 Acht völlig eigenständige Narrative, die alle einen unmittelbaren Bezug zur Großbaustelle haben, ohne dass diese Narrative auch nur ansatzweise über-

2 In Gesellschaftsmodell Großbaustelle bin ich einer der „Experten des Alltags“. Dabei erzähle ich von meinen spezifischen Erfahrungen aus der Perspektive eines Professors für interna-

lappende inhaltliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Und zugleich kreuzen sich die Wege der Expertinnen und Exper-

tionale Stadtforschung, der sich unter anderem in Singapur

ten auf der Großbaustelle, aber immer nur mit verengtem funktionalistischem Blick, ohne ein gemeinsames Grund-

(einer der reichsten Städte der Welt) und Äthiopien (einem

verständnis des Geschehens zu haben. Damit ist ein zentraler Kern der Großbaustelle thematisiert. Durch die sukzessive Überlagerung der Narrative während der szenischen Baustellenführung, bei der das Publikum auch in den Sog der zeitlichen Zwänge einer Baustelle gerät, entsteht ein immer komplexeres Bild und bei den Zuschauern vielleicht ein mögliches Grundverständnis des Geschehens auf einer Großbaustelle. Bei der Inszenierung erweisen sich die vielen offenen Fragen, die mit dem Themenfeld der Großbaustelle verbunden sind, als ein äußerst produktiver Ausgangspunkt. In seinen Kommentaren zu Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank schreibt Dürrematt: „Der Wert eines Stückes liegt in seiner Problemträchtigkeit, nicht in seiner Eindeutigkeit.“ (Friedrich Dürrenmatt 1998: 159) Und er verbindet dieses Postulat mit der Forderung, dem Publikum zu vertrauen, das sich instinktiv die Bühne aneignet. „Es wagt mitzumachen, sich zu beteiligen. Ein Wunschtraum? Möglich. Immer wieder möglich. Ohne Vertrauen ins Publikum ist kein Drama möglich.“ (Ibid.) Bei Gesellschaftsmodell Großbaustelle bietet sich den Zuschauern die Möglichkeit, ihre eigene Wirklichkeit mit den professionellen Welten der „Experten des Alltags“ zu konfrontieren und in der vorgespielten Großbaustelle selbst Konturen eines Gesellschaftsmodells zu entdecken, die Entsprechungen mit den Konturen unserer Gesellschaft haben. Ob sie darin auch eine spezifische Ausprägung unseres Staates erkennen können oder wollen, die manche als postdemokratisch oder technokratisch bezeichnen, überlässt das Stück den Zuschauern.

Literatur: Braunfels, Wolfgang (1976), Abendländische Stadtbaukunst. Köln. Dürrenmatt, Friedrich (1998), Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. Zürich. Giddens, Anthony (1996), Konsequenzen der Moderne. S. 176. Sullivan, Louis Henry (1896), „The Tall Office Building Artistically Considered“. In: Lippincott’s Magazine. March 1896. Zitiert nach MIT OpenCourseWare: https://ocw.mit.edu. Wilken, Marc (2008). „Architektur-Utopien nach Babylon“. In: Babylon. Mythos und Wahrheit. Katalogband. Staatliche Museen zu Berlin.

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der ärmsten Länder der Welt) mit Fragen des Bauens und der Stadtentwicklung beschäftigt.


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ARCHITEKTUR – EIN PARTIZIPATIVES STÜCK THEATER Gabriela Muri

Das Gesellschaftsmodell Großbaustelle tritt uns im gleichnamigen Theaterstück in Düsseldorf als Erzählung über sichtbare und verborgene Choreografien komplexer Verflechtungen wirtschaftlicher und politischer Schauplätze entgegen. Die inszenierte Dramaturgie des Bauens verweist damit – was im Theater möglich ist, in einer gebauten Stadt jedoch nicht – auf ein grundlegendes Missverständnis, dass Städte, Räume und Bauten greifbar und handhabbar sind. Großbaustellen als Gesellschaftsmodell, so meine Ausgangsthese, erzählen von der Utopie, dass Masterpläne und dazugehörige politische Prozesse geeignet seien, einen gebauten Rahmen für Gesellschaften zu schaffen, dass partizipatives Bauen mit einfachen demokratischen Entscheidungsverfahren zu erreichen sei und dass gemeinsam bewohnte Städte und Bauten von Gemeinwohl zeugten. Ich betrachte die Großbaustelle daher im Spiegel ihrer utopischen Gegenwelten und behaupte, dass Städte, Räume und Bauten nicht nur im Theater als fortwährende Erzählungen gesellschaftlichen Handelns und Aushandelns zu planen und zu verstehen sind. Dies führt ausgehend von drei Thesen zu einem praxeologischen Verständnis von Städten und Architektur, zu drei Dimensionen des urbanen Alltags: Räumliche und zeitliche Praxen von Akteuren, die Szenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens an urbanen Schauplätzen, die sich im Alltag fortwährend überlagern, schreiben das Stück Stadt fort, das im Theater begonnen hat. In Gesellschaftsmodell Großbaustelle spricht der Schädlingsbekämpfer Reiner Pospischil vom Modell des Ameisenbaus: Die vornehmlich weiblichen Arbeiterinnen wissen, was zu tun ist, und geben ihr Leben für den Staat. Das Sekret, das beim Bauen als Zement verwendet wird, ist abbaubar; gebaut wird ohne Verzögerungen und mit Planungssicherheit. Im großen Theatersaal wird vor uns Zuschauenden ein altes Schulzimmerbild aufgerollt, das den Ameisenstaat, der zugleich ein Ameisenbau ist, als anschauliches, überschaubares, braun koloriertes Bild zeigt. Wir setzen uns Helme auf, marschieren mit Kopfhörern den Expertinnen hinterher, spielen um Besitz und Geld in Baubaracken und hören auf Erdhügeln Erzählungen über Wanderarbeiterinnen in China und Rauchabzüge, die nicht

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entrauchen. Dazwischen fällt Geld, immer wieder Geld von einem Kran, auf dem Transparency International über Parteispendenskandale und Vorverkaufsrechte berichtet. Diese theatrale Großbaustelle ist ein raumfüllendes, von unseren bunten Bauhelmen bewegtes und lärmendes Projekt einer Gesellschaft, von der mit Blick auf den Ameisenbau behauptet wird, dass wir hauptsächlich essen und schlafen würden und dafür – und nur dafür – bauen würden. Architektur und Bauen: Masterplan oder Partizipation?

Doch nur essen, arbeiten und schlafen, das geht nicht mehr.

Doch nur essen, arbeiten und schlafen wie Ameisen in ihrem Staat, so lautet meine erste These, das geht nicht mehr. Es ging nie, aber als Utopie gräbt sich die Vorstellung in Höhlen, durch Korridore und Kammern hinein, mit dem Entwerfen von Stadtstrukturen und Baukörpern ließen sich Bühnenbilder für eine partizipative Gesellschaft schaffen, in der räumliche Nähe soziale Nähe und Gemeinwohl erzeugt. Auf Großbaustellen wird Architektur unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen hergestellt. Maik Novotny fragt in seinem Text über den Kampf um die Schalthebel des Bauens zwischen Top-Down und Bottom-Up, ob Architekten nicht einmal Idealisten waren, „damals, als alles noch greifbarer, machbarer, handhabbarer war“ (Novotny 2017: 15). Doch wie stehen heute Architekten und ihre Werke da, in einer Welt die nur noch komplex und unübersichtlich erscheint? Wie beim Turmbau zu Babel kann uns keine allen bekannte Sprache weiterhelfen, das auf Großbaustellen Gebaute, das fragmentarisch Erkennbare ökonomischer Verwertungsketten und politischer Instrumentalisierung zu vervollständigen. Ein morphologisch verstandener Prozess des städtebaulichen Entwerfens und Bauens bleibt einem Masterplan für ein vereinfachtes Modell gesellschaftlichen Zusammenlebens verhaftet. Zwar werden von unseren Bedürfnissen ausgehend funktionale Kriterien erarbeitet, die als Grundlage für Nutzungskonzepte verwendet werden. Doch in Wahrheit bilden wir alle lediglich das Ergänzungsmuster städtebaulicher Strukturen und ökonomischer Verwertungsketten. Funktioniert es also doch, ohne dass wir mitdenken und mitbauen? Planen und Bauen: Bühnen des Alltags Ein praxeologischer Blick erweitert das beschriebene Verständnis des Bauens um eine erste räumliche Dimension des urbanen Alltags. Im siebten Kapitel seines Werkes Kunst des Handelns beschreibt der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau unter dem Titel „Gehen in der Stadt“ die Perspektive auf die Stadt New York von der 110. Etage des World Trade Centers. Er bezeichnet sie als monumentales Relief, als gigantische Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion. Aus der entfernten Perspektive entsteht eine Distanz zu praktischen Vorgängen und der Betrachter wird zum Voyeur. Demgegenüber leben die gewöhnlichen Benutzer der Stadt jenseits dieser Sichtbarkeit als Fußgänger, „deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ‚Textes‘ folgen“ (De Certeau 1988: 182): „Eine metaphorische oder herumwandernde Stadt dringt somit in den klaren Teil der geplanten und leicht lesbaren Stadt ein.“ (Ibid.) Greifbar und machbar sind Städte, Architektur und auf Großbaustellen entstandene Bauten nur, wenn sie im Alltag angeeignet werden. Die Produktion des Raumes auf

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Großbaustellen setzt sich fort im Spiegel des Alltags, als Großbaustelle gesellschaftlicher Verhältnisse. Der Blick auf Akteure, die Städte zu lesbaren Kulissen der Gesellschaft werden lassen, verweist auf einen prozessualen, interpretativen Raum- und Aneignungsbegriff (Muri u. Friedrich 2009). Raumtheoretische müssen dafür mit zeittheoretischen Konzepten verbunden werden. Die Dramaturgie der alltäglichen Bühnen verlangt nach einer Definition von interpretierenden Akteuren, aber auch der Problematisierung von Differenz, die strukturell wie diskurstheoretisch relevant ist. Der präzise Blick auf urbane Öffentlichkeiten, auf die Vorplätze und Straßen von Einfamilienhausbauten in Vorortquartieren macht uns zu Voyeuren wie Beobachterinnen von räumlichen (Alltags-)Praktiken. Ein solcher Blick würde differente Perspektiven zwischen Planern und Raumgestaltern und alltäglichen Akteuren sichtbar machen (Ibid.: 177–187). Wie De Certeau schreibt, geht es darum, die „einzigartigen und vielfältigen, mikrobenhaften Praktiken zu untersuchen, die ein urbanistisches System hervorbringen oder unterdrücken“ (De Certeau 1988: 186). Darunter versteht er Taktiken, die im Alltag mit unauffälliger Kreativität die Netze der Überwachung unterlaufen. Partizipation in der Planung: Dramaturgie und Aneignung Architektur geht alle etwas an. Noch nie herrschte mehr Bürgerbeteiligung als heute: „Wäre mehr Partizipation, mehr Bottom-Up nicht doch angebracht?“ (Novotny 2017: 14) Die Frage der Partizipation in der Planung wird oft mit der Durchführung von Informationsabenden und professionell geleiteten Versammlungen oder Workshops gelöst, in denen Bürgerinnen und Bürger ihre Wünsche zur Nutzung und zur Gestaltung einbringen können. Anliegen zur Nutzung, so meine zweite These, werden meist bedingt umgesetzt – weil sich Nutzung nicht so einfach baulich umsetzen lässt. Wünsche nach einer bestimmten Gestaltung sind problematisch, weil Architektinnen und Architekten Experten ihres Fachgebiets sind und diesen Expertenstatus auch durchsetzen möchten. Architektur nach demokratischen Prinzipien verschiedenster Bürger zu gestalten, scheint denn auch schwierig, schauen wir nur die verschiedenen Wohnzimmer an und die Feriensiedlungen, die in Katalogen ausgesucht werden, und würfeln wir daraus das Bild eines Baus zusammen, der allen gefällt (Muri 2001). Das heißt jedoch nicht, dass Partizipation keinen Platz auf einer Großbaustelle haben sollte. Aneignung von Räumen bedeutet nicht nur die Aneignung bereits existierender und vorstrukturierter Räume, sondern auch die „Schaffung eigener Räume als Platzierungspraxis“ (Deinet 2012: 10). Für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist zum Beispiel das Erleben von Selbstwirksamkeit durch „Mitgestalten im öffentlichen Bereich, bei Bau und Planung und im unmittelbaren Wohnumfeld“ (vgl UNICEF 2014) essentiell, wie auch eine von UNICEF in Auftrag gegebene Studie festhält: „Während Erwachsene eher abstimmen und auswählen lassen“, beobachtete man bei Kindern, „dass Entscheide unter Gleichaltrigen eher durch konsensorientierte Formen wie Aushandeln, Losen oder spielerisch (Schere-Stein-Papier) zustande kommen“ (Ibid.). Dies verdeutlicht den für Kinder und Jugendliche charakteristischen Bezug zu wenig planbaren, narrativen und erlebnisorientierten Prozessen der Raumaneignung. Kinder erfahren ihre Umwelt über Geschichten, erleben das Zu-„eigen“-Machen von Alltagsräumen interaktiv in Spielhandlungen und über Kommunikation untereinander (Muri 2014: 31–42). Die unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Raumaneignungsprozesse illustrieren, wie Partizipa-

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Architektur geht alle etwas an.


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tionsbemühungen auf Großbaustellen Bereitschaft zu einem Perspektivenwechsel bedingen, für verschiedenste Zielgruppen, auf verschiedenen Ebenen. Zur Sicherstellung von möglichst egalitären Kooperationsprozessen müssen Alltagsakteure als Subjekte des sich im Alltag fortsetzenden Bauprozesses wahrgenommen werden, als Ko-Produzenten der gebauten Räume. Die Alltagsumgebung wird zum Möglichkeitsraum, um das Zusammenleben zu erproben und Grenzen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu erfahren (Kilb 2012: 613). Teilhabe an Räumen bedeutet daher, sich auf Aushandlungsprozesse einzulassen, die bei Informationsveranstaltungen beginnen, sich bei Beteiligungsanlässen den Alltags- und Erlebnisdimensionen verschiedener Gruppen zuwenden und sich in einer flexiblen Alltagsnutzung fortsetzen. Wie im Theaterstück Gesellschaftsmodell Großbaustelle herrscht ständig Bewegung, die Großbaustelle steht für fortwährend wechselnde Bedingungen des Regelns und Aushandelns. Raum als Geflecht von beweglichen Elementen Ein Raum ist für Michel de Certeau denn auch ein Ort, an dem man etwas macht – und so folgt Gesellschaftsmodell Großbaustelle als szenische Baustellenführungen den unterschiedlichen Schauplätzen des Planens, Bauens, Kalkulierens und Legitimierens des eigenen Handelns. Sie werden zu Handlungsrahmen für verschiedene Erzählungen über das Bauen und die divergierenden Interessen wirtschaftlicher und politischer Akteure. Eine geometrisch festgelegte Straße, ein Bühnenraum wie ein gebauter Raum werden erst durch Gehende und Handelnde, durch eine zweite zeitliche Dimension urbaner Alltagspraxis in einen Raum verwandelt: Ein Ort ist die Ordnung (egal welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. […] Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. […] Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. […] er wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben. (De Certeau 1988: 217–218) Es gibt so viele Räume wie Raumerfahrungen, so viele Perspektiven auf eine Stadt und das Bauen als Gesellschaftsmodell wie es unterschiedliche Akte, Akteure und Zuschauererfahrungen in einem Theaterstück geben kann. Beim theatralen Gesellschaftsmodell steht jede der acht Simultanbühnen für einen spezifischen Blick auf die Großbaustelle, folgt einer eigenen Dramaturgie, erzeugt eine situative Konstellation der Aushandlungsbedingungen von Staat und Gesellschaft. Subjektive Raumerfahrungen sind – wie im Alltag – untrennbar mit transitorischen Praxen, intersubjektiv ausgehandelten Situationen, kollektiven Lesarten und damit in ihrer zeitlichen Dimension mit Räumen verbunden (Muri 2016: 105–109). In Erzählungen werden Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt. Das Tun

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erlaubt also das Sehen. Das Verhältnis zwischen der Beschreibung der Wegstrecke als diskursive Reihe von Handlungen und einer Karte als totalisierende Planierung der Beobachtungen bezeichnet De Certeau als zwei Erfahrungspole bzw. als symbolische und anthropologische Sprachen des Raumes. Im Gegensatz zu den Karten, bei denen die Wegstrecken im Laufe der Jahrhunderte zunehmend beseitigt worden sind, unterlaufen die Alltagserzählungen mit ihren Aktivitäten in Räumen den aufgezwungenen Ort – zum Beispiel einen Stadtplan, einen Wohnungsgrundriss. Güter, mögliche Funktionen und Grenzen dieser Orte und Räume werden immer wieder neu ausgehandelt. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Erinnerung. Gehen bedeutet, Nicht-Orte (Augé 1982) und verborgene, die Ordnung unterlaufende Geographien zu schaffen. Ein Abgehen von Szenen einer Baustelle schafft dementsprechend ein anderes Wissen über Orte und bringt Räume als Produkte gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse erst hervor. Raum und Zeit: Emotionalisierung des Transitraumes Raum und Architektur sind daher viel mehr, als der Blick auf die Bühne einer Großbaustelle vermuten lässt, Ausdruck der täglich gelebten Zeit und der darin möglichen Verhaltens- und Seinsdimensionen. Erst die Bewegung macht den Raum zum Eigentlichen, sie hebt die expressive und rhetorische Seite des Alltags hervor. Der Stadtraum wird damit immer auch zum Möglichkeitsraum und wird im Sinne de Certeaus „zum Akt einer Präsenz“ (Verweis). Auch Henri Lefebvre (vgl. Lefebvre 1974) versteht Raum als soziales Produkt, das in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen hergestellt und reproduziert wird. Die Produktion findet sowohl auf gesellschaftspolitischer, institutioneller Ebene wie auch im konkreten Alltag statt. Deshalb unterscheidet Lefebvre zwischen Raumrepräsentationen, so zum Beispiel einem von Planern konzipierten Raum, einem wahrgenommenen Raum, der materielle wie soziale Dimensionen umfasst, sowie dem gelebten Raum, der im Alltag belebt und erlebt wird. In der Interaktion dieser drei Dimensionen wird Raum als soziales Produkt hergestellt. Die gebaute Stadt als Abfolge von Bildern wird zur erzählenden Stadt, zu einem belebten und erlebbaren Raum. Wir leben in einer Welt, in der die Bilder existieren, die Architekten mit Architektur in die Welt gesetzt haben. Heute sind nicht nur die Transiträume, Freizeit- und Infrastrukturbauten, Geschäftshäuser und Wohnungen da, heute sind auch die Bilder da, die das massenhafte Bauen mit Masterplänen und ökonomischen Verwertungsprozessen erzeugt. Und oft erschrecken wir darüber. Jetzt, wo die Bilder da sind. Es sind Mehrheitsräume, die da produziert wurden. Die Mehrheit, was auch immer für ein empirisch eruierbarer Durchschnitt der Mehrheit sich erfassen lässt, bestimmt, welche Räume für wie viel Geld, wie, wann und wie oft genutzt werden: Spaces and Places of Mainstream statten unsere Welt aus. Fragile Gesellschaften: Doing Society Die Ausstattung der Mehrheitsräume ist eingebettet in politische und wirtschaftliche Prozesse, keine Frage. Der Common Ground (z. B. Ostrom 1990) jedoch dieses Zusammenspiels, so meine dritteThese, entspricht nicht dem Ameisenbau als Sinnbild einer einfach funktionierenden Gemeinschaft, in welchem die Rollen unmissverständlich

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Der Stadtraum wird immer auch zum Möglichkeitsraum.


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verteilt und festgelegt sind. Es sind die vielfältigen institutionellen Bedingungen, die das Bild der Gesellschaft erzeugen und dadurch die Architektur zur Kulisse und zum Requisit werden lassen. Der Staat, die wirtschaftlichen Interessen, die Machtverhältnisse sind bestimmend, jedoch auch die Alltagsschritte, die wir nicht zählen beim Gehen, die aber mitgezählt werden und die individuellen Raumerfahrungen und Aneignungspraktiken weben am Bild einer gebauten Stadt. Der Stadtplaner Georg Franck bezeichnet Architektur in größerem Maßstab als Mannschaftssport (Franck 2014: 250). Eine gute Adresse kann weder durch Rechtsplanung noch individuelle Spitzenarchitektur hergestellt werden: „Eine Adresse ist gut, wo der öffentliche Raum einladend, wo der Straßen- und Platzraum wirtlich ist.“ (Ibid.: 245) Er plädiert für eine Rechtsform des Urban Commons als interdisziplinäres Forschungsprojekt mit Stadtforschern, Juristen, Ökonomen, Stadtplanern und Architekten, das Städte als Walkable Cities, als Stadt der kurzen Wege im Alltag versteht (Ibid.: 260). Doch ist sie genauso von Partikularinteressen beeinflusst wie die in Gesellschaftsmodell Großbaustelle beschriebenen Schauplätze, deren Gemeinsamkeiten sich in changierenden Farben von Bauhelmen verlieren: Der Common Ground ist fragil geworden. Was erzählen Großbaustellen über unsere Gesellschaft – ihre verborgenen Choreografien verschobener Fertigstellung und Kostenkorrekturen, die komplexen Verflechtungen wirtschaftlicher und politischer Akteure, die undurchsichtigen Verbindungslinien in alle Welt – über unsere Gesellschaft? (Programmheft Gesellschaftsmodell Großbaustelle 2017: 8) Der Kultursoziologe Ronald Hitzler spricht von fragiler Sozialität, die den Common Ground unserer Gesellschaft kennzeichnet (Honer, Meuser u. Pfadenhauer 2010). Ein zentrales Merkmal „fragiler Sozialität“ sind posttraditionale, populärkulturelle Vergemeinschaftungen. Sie zeichnen sich – um eine der verschiedenen Definitionen aufzugreifen – durch Netzwerke lokaler Gruppen, durch einen translokalen, meist medial vermittelten Sinnhorizont, durch deterritoriale Referenzsysteme und durch einen thematischen Kern aus. (Hepp 2010: 343) Dabei lassen sich drei Deutungsstränge hervorheben: Erstens spricht ein topologischer Bedeutungswandel im Zuge der Festivalisierung von Städten für den Zusammenhang zwischen Stadtentwicklung, Standortpolitik und Gentrifizierung. Zygmunt Bauman spricht von ästhetischen Gemeinschaften mit einer „expliziten oder stillschweigenden Übereinkunft, die sich in der unwillkürlichen Billigung eines ästhetischen Urteils bzw. in uniformem Verhalten äußert“ (Bauman 2009: 81). Zugehörigkeit und damit ein gemeinsames Verständnis von Gemeinwohl wird zu einem ständigen Aushandlungsprozess im Feld der Mehrdeutigkeiten. Grenz und Eisewicht entwickeln den Begriff des Zugehörigkeitsmanagements (Grenz u. Eisewicht 2012). Auf den Bühnen der Großbaustelle wird das Bauen zu einer „Praxis als dynamische Verkettung von Handlungen zu Praktiken, wobei sich die Praktiken wiederum zu umfassenderen Praxisformen verknüpfen können“ (Hörning 2012: 11). Die Kulturwissenschaftlerin Sabine Eggmann bindet den Praxisbegriff an Prozesse der Ver-

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netzung verschiedener Ordnungen (Eggmann 2013, 2009). Unter dem Titel Kultur-Konstruktionen (Eggmann 2009) entwickelt sie einen relationalen Kulturbegriff, den sie „als Praxis des kontinuierlichen Aushandelns von Verschiedenheit und Ordnung konzipiert“ (Muri 2013: 18 in Anlehnung an Eggmann 2009). Kultur erhält dabei eine Schlüsselrolle, indem sie die Herstellung alternativer Ordnungen über Prozesse gesellschaftlicher Selbstverständigung immer wieder neu ordnet. Die Herstellung alternativer Ordnungen konkretisiert sich in Praxen (Eggmann 2013), in welchen sich Handlungsräume und -zeiten (Muri 2013) immer wieder neu verschränken. Mit Blick auf die Inszenierung von Rimini Protokoll stellt sich daher die Frage, in welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen das Bauen – auf der Großbaustelle wie beim individuellen Traumhaus eines frisch verheirateten Paares – Prozesse und Praxen gesellschaftlicher Selbstverständigung neu ordnet und vernetzt. Missverständnis Stadt – die Stadt als Staat Meine Ausgangsthese, dass Städte, Räume und Bauten dem Missverständnis unterliegen, sie wären greifbar und handhabbar, folgt neben einer raum- und zeittheoretischen Dimension daher einer dritten Dimension, die sich als Repräsentation des Urbanen, des Gebauten umschreiben lässt. Es beginnt mit Texten der frühen Stadtsoziologie, in denen der moderne Akteur als Sozialfigur, der Typus des Städters als distanzierter Taktiker beschrieben wird (Simmel 1995 [1901]). Sie prägen bis heute zusammen mit einem funktionalistischen Verständnis von Nutzenden, Stadtvisionen und Architekturvisualisierungen, die für Novotny in der „erstickungsanfallzeugend häufigen Verwendung von Buzzwords wie ‚Vision‘ pervertiert“ werden (Novotny 2017: 14). Ähnlich der Vogelperspektive auf das Straßengitter von New York (de Certeau 1988: 11) zeugen die meist mit CAAD-Darstellungen vermittelten Visionen von einem idealistischen Blick. Der abgebildete, im Alltag unterschiedlich angeeignete Sozialraum erfährt über visuelle Repräsentationen eine Vereinheitlichung (vgl. Muri 2016: 396–406). Der Charakter des Raumes wird zu einem Produkt im Prozess der Produktion beim „Verkaufen“ der Stadt auf dem global orientierten Städte- und Immobilienmarkt. Der Kulturwissenschaftler Tobias Scheidegger spricht von zwei „raumpolitischen“ Strategien, die die Bilderproduktion urbaner Öffentlichkeiten prägen (Scheidegger 2009: 98–117): Einerseits zeugen CAAD-Darstellungen vom Sichtbarmachen durch Helligkeit, glatte Oberflächen, das Weglassen von dunklen Winkeln und transparente Hüllen aus Glas im Sinne Foucaults von einem panoptischen Blick auf den Raum (Foucault 1976). Sie werden von Texten in den Tagesmedien begleitet, die vor dem Hintergrund einer segregativen Stadtpolitik stehen. Visuell dargestellte Transparenz repräsentiert Gesellschaftsideale, die Angst vor dem unkontrollierten Raum und die Sehnsucht nach einem widerstandslosen „sauberen“ Raum verdeutlichen: Es scheint, als seien an ihm die von de Certeau beschriebenen Operationen mit erschreckender Effizienz vollzogen worden: […] Nichts hinterlässt im homogenen Raum der digitalen Traumwelt Spuren, es gibt keine Patina, keinen Abfall, keinen Vandalismus als Zeichen verflossener Zeit und vergangener Ereignisse. Die Totalität ununterbrochener und

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ungebrochener Oberflächen scheint jede Emanation von gelebter Zeit in sich zu absorbieren und somit zum Verschwinden zu bringen. (Scheidegger 2009: 91) Diese selektiv vorgehenden Visualisierungsprozesse des Sichtbar-Machens gehen andererseits mit Strategien des Unsichtbar-Machens einher. Der „schöne Alltag“ als Ziel einer von Gentrifizierung und Konsumästhetik beherrschten Stadtpolitik führt dazu, dass „man auf den Visualisierungen bestimmte Gruppen und Schichten von Stadtbewohnern nie zu Gesicht bekommt“ (Ibid.: 91). Eine solche Stadtpolitik ist „Ausdruck einer durch die Kunden diktierten Verkaufsästhetik […]. Durch die Neuausrichtung der Stadtentwicklung, wie sie im Rahmen der Headquarter Economy vollzogen wird, erfolgt eine Fokussierung auf spezialisierte Reproduktion, die den Bedürfnissen nach einer Ästhetisierung des Alltags in Produktion und Konsum entgegen kommt “ (Ibid.: 113). Die Stadt als Staat, lässt sich hier folgern, repräsentiert das Bild eines Gesellschaftsmodells, das von utopischen Vorstellungen des Zusammenlebens ausgeht, so meine dritte These. Insofern verführen das Bauen wie die bunten Bauhelme und das fallende Geld in Gesellschaftsmodell Großbaustelle zum Wunsch nach Darstellbarkeit des Gesellschaftlichen, über Bilder und Visionen. Stadtgedanken – Architekturvisionen – Alltagspraxen Die Großbaustelle im Spiegel ihrer utopischen Gegenwelten – der Vorstellung eines baubaren Masterplanes, der eine ideale Bühne für das Alltagsleben bildet, von Bürgerbeteiligungsanlässen, die auf einfache Weise Partizipation ermöglichen, eines Gemeinwohls, das sich jenseits ständiger Aushandlungspraxen festhalten ließe – zeugt von einem Verständnis des Gebauten, das jenseits der gesellschaftlichen Aneignung und Produktion durch die Nutzenden als Verflechtung von politischen und ökonomischen Interessen betrachtet werden kann: Das Gebaute als greifbares Bild gesellschaftlicher Verhältnisse. Das (Miss-)Verständnis Stadt gründet vor dem Hintergrund meiner drei Thesen daher auf einer selektiven Wahrnehmung von Denktraditionen und theoretischen Konzepten zur Perspektive

Architekturvisionen bleiben sowohl von innovativen Debatten in den Kultur- und Sozialwissenschaften als auch von Fragen der konkreten Nutzungspraxis in öffentlichen urbanen Räumen weitgehend unberührt.

auf und Analyse von Fragen des Urbanen, des Städtischen und des Bauens. Architekturvisionen bleiben sowohl von innovativen Debatten in den Kultur- und Sozialwissenschaften als auch von Fragen der konkreten Nutzungspraxis in öffentlichen urbanen Räumen weitgehend unberührt: Wie kommen Gemeinschaften heute zusammen? An Beteiligungsverfahren für Großbauprojekte oder an attraktiven Events? Wie werden gemeinsame Inhalte und Wertvorstellungen beeinflusst? Ein augenfälliges Merkmal, so meine abschließende vierte These, ist ein gewandeltes Verständnis des Politischen, der gemeinsamen Gesinnung und gemeinsamer Wertvorstellungen, die das Politische auf eine bestimmte Weise formt oder „verschleiert“. Politische Diskussionen werden heute zu Reliktkulturen des politischen Diskurses und gesellschaftspolitische Ziele wie Inklusion und Ökologie finden Widerhall in Trendquartieren, Prinzessinnengärten und Urban-Gardening-Initiativen. Oft vermischen sich Lifestyle-Elemente von Trendquartieren mit politischen Anliegen so sehr, dass letztere nicht mehr sichtbar sind. Der vorliegende Text vertritt daher nicht die These

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eines Verschwindens des Politischen, sondern einer Verschleierung der Produktionsbedingungen und der Formen der Teilhabe durch Akteure der Zivilgesellschaft. Die betroffene Öffentlichkeit wird durch inszenierte Informationsund Beteiligungsanlässe für Großbauprojekte konditioniert, es werden bestimmte, attraktiv verpackte Visionen des zu Bauenden erwartet. Dieser Prozess ist dabei reziprok: Erwartungen der Öffentlichkeit werden durch Projektentwickler und Kommunikationsexperten supponiert. In diesen unscharfen Zuweisungen und Akzeptanzmustern liegt meines Erachtens die gesellschaftspolitisch problematische Folge begründet: „Gefühliges“ Wir-Bewusstsein und eine konstellative Zwangsläufigkeit durch Mutmaßung gemeinsamer Interessen (Pfadenhauer: 365; Hitzler 2008: 137) ermöglichen keinen belastbaren Common Ground. Über solche mutmaßenden Prozesse werden in postdemokratischen Kontexten Aufmerksamkeiten reguliert, nicht jedoch die Produktionsbedingungen von Großbaustellen. Anders bei der Theaterproduktion Gesellschaftsmodell Großbaustelle: Die Zuschauenden werden zu Akteuren einer multiperspektivischen Betrachtung des Phänomens Großbaustelle und somit Mitproduzenten im Sinne de Certeaus. Die „Verpackung“ des Politischen über bauliche Visionen steht für die Ordnung gesellschaftlichen Wissens und beeinflusst strukturelle Voraussetzungen der Produktionsbedingungen gesellschaftlicher Verhältnisse.

Literatur: Augé, Marc (1994), Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main. Bauman, Zygmunt (2009), Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt. Frankfurt am Main. Bourdieu, Pierre (1982), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Bourdieu, Pierre (1991), „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“. In: Wentz, Martin (Hg.), Stadt-Räume. Frankfurt am Main, S. 25–34. Certeau, Michel de (1988), Kunst des Handelns. Berlin. Eggmann, Sabine (2013), „Doing Society: Was ‚Volkskultur’ und ‚Gesellschaft’ verbindet“. In: Eggmann, Sabine/Oehme-Jüngling, Karoline (Hg.), Doing Society. Volkskultur als gesellschaftliche Selbstverständigung. Basel, S. 9–16. Eggmann, Sabine (2009), „Kultur-Konstruktionen“. Die gegenwärtige Gesellschaft im Spiegel volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Wissens. Bielefeld. Foucault, Michel (1976), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. Franck, Georg (2014), „Die städtebauliche Allmende. Zum urbanen Außenraum als Becken des Anbaus guter Adressen“. In: Hengartner, Thomas/Schindler, Anna (Hg.), Wachstumsschmerzen. Gesellschaftliche Herausforderungen der Stadtentwicklung und ihre Bedeutung für Zürich. Zürich, S. 243–260. Hepp, Andreas (2010), „Populäre Medienkulturen. Posttraditionalität und populärkulturelle Vergemeinschaftung“. In: Honer, Anna/ Meuser, Michael/Pfadenhauer, Michaela (Hg.), Fragile Sozialität. Inszenierungen, Sinnwelten, Existenzbastler. Ronald Hitzler zum 60. Geburtstag. Wiesbaden, S. 341–354. Hitzler, Ronald (2010), „Der Goffmensch. Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie“. In: Honer, Anne/Meuser, Michael/Pfadenhauer, Michaela (Hg.), Fragile Sozialität. Inszenierungen, Sinnwelten, Existenzbastler. Wiesbaden, S. 17–34. Hörning, Karl H. (2012), „Praktische Verknüpfungen. Das Zusammenspiel von Ding und Ästhetik“. In: Eisewicht, Paul/Grenz, Tilo/ Pfadenhauer, Michaela (Hg.), Techniken der Zugehörigkeit. Karlsruher Studien Technik und Kultur. Band 5. Karlsruhe, S. 9–27. Hörning, Karl H. (2004), „Kultur als Praxis“. In: Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhard (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band I: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart, S. 139–151. Hörning, Karl H., Reuter, Julia (2004) (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld. Kilb, Rainer (2012), „Die Stadt als Sozialisationsraum“. In: Eckhardt, Frank (Hg.), Handbuch Stadtsoziologie. Wiesbaden, S. 613–632.

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Die betroffene Öffentlichkeit wird durch inszenierte Informations- und Beteiligungsanlässe für Großbauprojekte konditioniert.


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Knoblauch, Hubert (2008), „Kommunikationsgemeinschaften. Überlegungen zur kommunikativen Konstruktion einer Sozialform“. In: Hitzler, Ronald/Honer, Anna/Pfadenhauer, Michaela (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen. Wiesbaden, S. 73–89. Muri, Gabriela (2016), Die Stadt in der Stadt. Raum-, Zeit- und Bildrepräsentationen urbaner Öffentlichkeiten. Wiesbaden. Muri, Gabriela: „Wo und wann sind wir glücklich? Topologie des Alltäglichen zwischen Verheissung, Strategie und Enttäuschung“. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 111 (2015), S. 1–22. Muri, Gabriela (2014), „Der Alltag als inszenierte Choreografie? Zur Ausstattung und Aneignung urbaner Vergnügungen“. In: Hengartner, Thomas/Schindler, Anna (Hg.), Wachstumsschmerzen. Gesellschaftliche Herausforderungen der Stadtentwicklung und ihre Bedeutung für Zürich. Zürich, S. 171–188. Muri, Gabriela (2014), „‚Mehr als Wohnen‘ – Wohnen, Räume, Lebenswelten: Planung, Architektur und Erziehungsmuster ermöglichen oder verhindern Entwicklung“. In: Marie Meierhofer Institut für das Kind (Hg.), undKinder. Drinnen und Draussen 94, S. 31–42. Muri, Gabriela (2013), „Raum und Gesellschaft: Zu einer kultur-, zeit- und praxistheoretischen Fundierung des Raumbegriffes“. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 109, S. 17–31. Muri, Gabriela (2012), „Forschung und Praxis im urbanen Raum. Zu theoretischen und methodischen Herausforderungen einer alltagsorientierten Stadtethnographie“. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 108, S. 178–188. Muri, Gabriela (2011), Für eine familienfreundliche Wohnpolitik. Thesenpapier im Auftrag der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen EKFF. Bern. Muri, Gabriela (2011), „Kontextualität – urbane Akteurinnen und Akteure – informelle Begegnungen: Urbane Öffentlichkeiten als gegenwartsspezifische Kontexte des Alltagshandelns“. In: Emmenegger, Barbara/Litscher, Monika (Hg.), Perspektiven zu öffentlichen Räumen. Theoretische und praxisbezogene Beiträge aus der Stadtforschung. Luzern, S. 205–225. Muri, Gabriela, Friedrich, Sabine (2009), Stadt(t)räume – Alltagsräume? Jugendkulturen zwischen geplanter und gelebter Urbanität. Wiesbaden. Muri, Gabriela (2001), „Das kleinste Dorf der Welt: Ein Paradigma?“ In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 97, S. 193–211. Novotny, Maik (2017), „Vom Kampf um die Schalthebel des Bauens zwischen Top-Down und Bottom-Up und von den Architekten in der Mitte“. In: Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2). Programmheft. Schauspielhaus Düsseldorf, S. 11–17. Ostrom, Elinor (1990), Governing the Commons. The Evolution of Institutions of Collective Action. Cambridge. Scheidegger, Tobias (2009), Flanieren in ArCAADia: Digitale Architekturvisualisierungen – Analyse einer unbeachteten Bildgattung. Zürcher Beiträge zur Alltagsarchitektur. Band 19. Zürich. Simmel, Georg (1995) [1901]: „Die Großstädte und das Geistesleben“. In: Simmel, Georg/Rammstedt, Otthein (Hg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Band I. Frankfurt am Main, S. 227–242. UNICEF (2014), „‚Von der Stimme zur Wirkung‘. Neue Studie zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz“. www.unicef.ch/de/medien/medienmitteilungen/von-der-stimme-zur-wirkung-neue-studie-zur-partizipation-von-kindern-und.

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Träumende Kollektive. Tastende Schafe


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Ein interaktives Stück für eine Cloud aus bis zu 120 Theaternutzern. Data-Mining und Big Data, digitale Echokammern und Machine Learning: Das Internet produziert alternative Formen der Partizipation und stellt hergebrachte Praktiken der Meinungsbildung in Frage. Mit Ausgangspunkt in Griechenland, wo die Demokratie erst kürzlich zu scheitern schien, erkundet Träumende Kollektive. Tastende Schafe die Bedeutung des digitalen Raums für demokratische Prozesse. Das Jahr 1990 markierte einen Einschnitt: Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten der Kalte Krieg beendet. Im Jahr 1990 wird das Internet für die kommerzielle Nutzung freigegeben und damit zu einer der ersten gesamtdeutschen kollektiven Erfahrungen; es prägt die Arbeitswelt, die soziale Kommunikation und das Verhältnis zu politischen Institutionen. Wie geht eine neue Generation, die nun mit der ganzen Welt vernetzt ist, mit Fragen persönlicher, sozialer und politischer Identität um? Wodurch wird ihr Wahlverhalten beeinflusst: Werden demokratisch legitimierte Wähler durch algorithmische Legitimationen ersetzt? Welche Erwartungen stellen wir an die Mechanismen demokratischer Willensbildung? Welche Formen von Partizipation und Demokratie sind für uns relevant? Kostis Kallivretakis, geboren in Griechenland, studierte Chemie und Schauspiel in Athen, lebt und arbeitet als Performer in Berlin und Athen. Vassilis Koukalani, mit griechischen und iranischen Wurzeln, ist in Köln geboren, spielt als Schauspieler sowohl in griechischen als auch deutschen Film- und Theaterproduktionen mit. Zusammen mit dem intelligenten System IRIS leiten die beiden Performer durch eine theatrale Spielinstallation, die nach dem Wert der Ware Daten fragt und diese in einer sinfonischen Situation zum Klingen bringt. Mit einer Smartphone-App ausgestattet, begeben sich die Zuschauer in einen permanenten Abstimmungsprozess. Das Publikum selbst wird dabei zum Klangkörper, der netztypische Dynamiken des Schwarmverhaltens überführt – in den analogen Raum.

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LOGBUCH

10. Januar 2017, Dresden Gespräch mit dem stellvertretenden Sächsischen Datenschutzbeauftragten. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist durch die Verfassung zumindest gewährleistet. Aber wie gehen wir selbst damit um, dass wir die Privatwirtschaft permanent füttern? Und dass die Politik

Daniel Wetzel, Julia Weinreich

bzw. Staatsapparate immer mehr versuchen, auf diese Daten Zugriff zu bekommen? Im Bundesinnenministerium wird an einem Ergänzungsgesetz gearbeitet, das die Zweckbindung von Daten aufweichen soll, auch im Interesse der Wirtschaft. Informationsfülle ist Macht. Der Übergang von Macht aus dem politischen Raum in die

Dresden –> Stanford –> Athen –> Berlin –>

Wirtschaft nimmt an Fahrt auf. Algorithmen haben bereits

Epidaurus –> Pirna/Athen –> Internet

weitgehend Entscheidungsfunktionen übernommen – Kreditwürdigkeit, Hafterleichterungen, Preisgestaltung, Zielgruppen, Sperrgruppen … In die Zukunft gedacht: Wie schnell und konkret können Algorithmen bestimmende Komponenten im demokratischen Apparat werden? 11. Januar 2017, Dresden Probebühne. Kein Internetzugang. Aber die Smartphones der meisten Anwesenden markieren sicher, wo wir sind, entsprechend auch, mit wem wir beisammen sind. Die Funkstationen der Mobildienste speichern es

Plato | Robotik | Artficial Intelligence | Kultur-

auch. Dr. Stefan Köpsell, wissenschaftlicher Mitarbeiter

schock Leihbibliothek | elektrische Schafe |

für Datenschutz und Datensicherheit, kann von da aus

Grexit | Gegen Wahlen | Online-Spiele | Darknet |

mit ein paar weiteren Informationen bis zu den Algorith-

Sinfonie aus Fragen

men vordringen, die unsere Patientendaten verarbeiten. 13. Januar 2017, Dresden Aus Sicht des Historikers für Technik- und Technikwissenschaftsgeschichte sind technische Neuerungen stets mit Debatten, utopischen und dystopischen Entwürfen verbunden. Führten Walkmen dazu, dass alle in ihrer Audio-

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Egoblase vor sich hintappen? Mit dem Pendelverkehr

Arbeit – dann der Millionen-Segen und das Ende des

per Eisenbahn in Großbritannien entstanden auch Leih-

Teams: WhatsApp, Skype, Viber – alle wollen diese

bibliotheken in den Bahnhöfen. Man konnte Bücher am

Software-Komponente, die Fehlermeldungen an die

einen Ort entleihen, am anderen abgeben. In den ersten

Entwickler zurücksendet. Die meisten folgen dem Ruf

beiden Klassen, in denen genügend Platz war, ver-

nach Kalifornien, die junge Firma bekommt ein paar Ti-

stummte das Geplauder und man sah sich Lesenden ge-

sche im Gebäude, drei der vier erhalten unterschiedlich

genüber. Ein Kulturschock. Untergang des Gesprächs-

hohe Millionenbeträge, Dimitris nur ein paar tausend

abendlandes. Im Jahr 1860 wird die Schädlichkeit des

Dollar – er hatte ein Zertifikat zu wenig, um ebenfalls

Lesens beim Reisen an einem medizinischen Kongress

ein Jobangebot zu bekommen. Ging mit nach San

untersucht. Ergebnis: Reiselektüre kann zwar eine ge-

Francisco, um die Übergabe zu machen. Kam gerne

wisse schädliche Wirkung auf die Augen haben, Versu-

wieder zurück. Das Internet, wie es im Moment struktu-

che, sie zu unterbinden, brächten aber nichts.

riert ist, soll so in einigen Jahren nicht mehr existieren, der US-Zentralismus des Netzes abgelöst sein von

19. Januar 2017, Stanford

einer eher lokalistischen Netzwerkarchitektur. Daran

Aufwachen auf dem Campus. Hier entstanden Google,

wird mit Open Source gearbeitet, wie an Linux gearbei-

Facebook usw. Das Valley ist ein Tal in der Nähe. Hier

tet worden war.

müssten eigentlich Roboter-Hirsche und fliegende Lunchpakete anzeigen, wo wir sind. Viele würden gerne

6. Februar 2017, Dresden-Trachau

eine Nachricht erhalten: „Willkommen in der Beta-Ver-

Die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen ist

sion der First-Life-Simulation, in der das Unwahrschein-

überraschend peripher gelegen, am Stadtrand. Es geht

liche eingetreten ist. Zum Verlassen klicke Return.“ Der

hier vor allem um Gesprächsformate landesweit vor Ort

Rimini-Protokoll-Workshop an der Universität über

und um die Arbeit in Online-Foren. Und es gibt immens

Theater und Politik wäre beinahe abgesagt worden, nun

viel Arbeit. Laut dem „Sachsen-Monitor 2016“, einer

ist er auf ein zeitliches Minimum reduziert. Die Universi-

repräsentativen Befragung der Bevölkerung Sachsens

tät hatte nicht mit einer Wahl von Donald Trump gerech-

im Auftrag der Staatskanzlei, sagen 69 Prozent, hier

net und für den traditionellen Tag der Amtsübernahme

lebende Muslime akzeptierten unsere Werte nicht, und

Lehrplan as usual geplant. Nun sollten die Studenten

39 Prozent, Muslimen solle die Zuwanderung nach

nicht davon abgehalten werden, zu demonstrieren: Ana-

Deutschland untersagt werden, 18 Prozent stimmen

log, auf der Straße. Die meisten wollten zur Großdemo

dem Satz zu, die „Deutschen seien anderen Völkern von

in San Francisco.

Natur aus überlegen“.

3. Februar 2017, Athen

22. Februar 2017, Athen

Er hat mal an einem Startup-Projekt mitgearbeitet. Vier

Skype mit Alan Mills aus Guatemala. In seinem Buch

Leute, eine Lücke, die es zu schließen galt, zwei Jahre

Hacking Coyote. Tricks for Digital Resistance sind wir

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ohnehin

schon

„lesbar,

vermessen,

überwacht,

überprüft, gesteuert wie durchnummeriertes Vieh, das aufs Schlachthaus wartet; wir sind als Herde organisiert, wie elektrische Schafe, unfähig die Gefahr zu spüren“ – Elektrische Schafe … hm … warte mal. Nein, die träumen nicht von androiden Schlachthöfen, oder? Der Kojote jedenfalls durchwandert den „dunklen Cyber-Totalitarismus unserer Zeit“, dekodiert, läuft quer, spöttisch – ein Datenraubtier, das uns „schamlos mit einer Wolke aus seiner kubanischen Zigarre unser Gesicht streichelt“. 23. Februar 2017, Athen Gabriel Sakellaridis hat die Erfahrung gemacht, in Mikrofone und Kameras zu sprechen im Bewusstsein, dass die Börsenkurse unmittelbar auf seine Worte reagieren. Er war Pressesprecher der griechischen Regierung während der ersten Monate der Syriza-Regierung. Nach dem Referendum ging er enttäuscht zurück in die Wissenschaft: Ökonomie. Raus aus dem Spielfeld, in dem er permanent wissen sollte, was die Position der Minister und was das Problem beim Referendum war. „Die Frage war nicht klar. Die Wähler konnten gar nicht genau wissen, wofür oder wogegen sie stimmen, und es gab auch

24. Februar 2017, Athen

keine Zeit, sich über die Konsequenzen zu verständigen.

Trottel, Depp (besonders in den oberdeutschen Dialek-

Es wäre ehrlicher und strategisch besser gewesen, zu

ten), Dummkopf, Schwachkopf, Hornochse, Einfaltspin-

sagen: Nein heißt unter Umständen Grexit. Die Verhand-

sel, Vollpfosten (neu) oder Narr (veraltend) – eine Wiki-

lungsposition gegenüber den Geldgebern wäre stärker

pedia-Liste zum gegenwärtigen Gebrauch von Idiot.

gewesen. Dann hätte auch mehr Klarheit geherrscht da-

Nichtwähler ist nicht dabei. Dabei ist im klassischen

rüber, ob die Nein-Wähler den Grexit in Kauf genommen

Athen idiotis, wer sich aus dem öffentlichen Lebens ins

hätten. Das Spiel ‚Ihr bekommt mehr Geld, wenn ihr un-

Private zurückzieht. – Im Gegensatz zum politis, der sich

sere politischen Empfehlungen umsetzt‘ begann spätes-

in die Angelegenheiten der Polis einmischt. Der junge

tens im Jahr 2000.“ Wäre auch ein super Experte in

Historiker, mit dem wir darüber sprechen, sagt, Demo-

einem Experten-Stück gewesen. Let’s take another di-

kratie sei das einzige, wofür er unter Umständen auch

rection.

töten würde. Die Entscheidung des Sokrates, sich das

122 | Staat 3


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:44 Seite 123

Leben zu nehmen und damit die demokratische Ent-

bar einstufte. Schulz antwortete einige Monate später im

scheidung über sein eigenes Leben zu stellen.

September, er sei im Urlaub gewesen und werde den Bericht lesen. Die Memoranden, die Griechenland unter-

3. März 2017, Athen

schrieben hatte – ein Verstoß gegen die Menschen-

Im Büro der Anwältin und Politikerin Zoi Konstantopou-

rechte, da sie die Regierung eines Landes zwingen, zu-

lou. Eine in Körpergröße, Blick, Stimmgewalt und Argu-

ungunsten seiner Bevölkerung zu agieren.

mentation beeindruckende Erscheinung. Wird dies ein Stück, in dem sie auf der Bühne steht? Sie ist die ehema-

9. März 2017, Dresden

lige Präsidentin des Parlaments, die in der Debatte über

SAP. Hier wird anders gearbeitet, signalisiert das Design

das Ergebnis des Referendums der Realpolitik das fun-

und bekommt man sofort erklärt anhand der flexiblen

damentale, das „Griechische“ des Votums vertritt. Die

Arbeitszeit. Der Blick aus dem fünften Stock markiert die

Frage des Referendums war für sie sonnenklar – eine

Position, die Software Solutions mittlerweile eingenom-

Gewissensentscheidung über die Zukunft und Unabhän-

men haben: Zwinger, die Hofkirche, Semperoper. Wird

gigkeit des Landes. Tsipras hatte sie gefragt, was er tun

das ein Stück, bei dem das Publikum eine Cloud bildet?

solle, sollte das Ja sich durchsetzen. Ihre Antwort: Zu-

Wir sollen uns eher in Berlin bei den entsprechenden

rücktreten. Seine Reaktion: schockiert. Er habe auf ein Er-

Abteilungen kundig machen. Das Öl von morgen: un-

gebnis um 50/50 gehofft, um ein Alibi zu haben, die Ver-

strukturierte Daten, Bilder, Ton – und wie man sie raffi-

handlungen in Brüssel fortzusetzen. Das Nein – für

niert. Beispiel: Farbtrends für Mode anhand der neu ge-

Konstantopoulou ein logisches, emotionales, demokra-

posteten Fotos auf Facebook permanent aktualisieren.

tisches Nein, auch weil Würde schwerer wiege als das ei-

Kein großer Modekonzern, der nicht mit solchen Solu-

gene Überleben. Das Internet: eine wichtige Chance für

tions permanent das Netz durchkämmen ließe. Gibt’s

die Demokratie. Vielleicht die einzige Chance, die durch

auch SAP-Solutions für Wählertrends und Parteipro-

Medien manipulierte und desinformierte Bevölkerung

gramme? Das machen andere, soweit bekannt.

durch ungeschönte Zahlen aufzuklären. Nachdem der

„So gilt es, will ich sagen, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt.“ Aristoteles

damalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im Vor-

10. März 2017, Berlin

feld des Referendums 2015 die Griechen aufforderte,

Im Internet ist auch nachzulesen, dass die Bibliothek

einzusehen, dass ein Ja zu den Memoranden die einzige

des Deutschen Bundestags David Van Reybroucks

Option wäre, schrieb sie ihm als Parlamentspräsidentin

Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch

einen Brief, in dem sie ihn aufforderte, sich nicht in die

im September 2016 angeschafft und mit der Sigle

demokratischen Angelegenheiten der Griechen einzumi-

P 5150439 einsortiert hat. Eine Arbeitsgruppe des

schen und den Bericht der international besetzten Wahr-

Bundestages hat Van Reybrouck zur Diskussion in den

heitskommission zur Kenntnis zu nehmen, der die Be-

Reichstag eingeladen. Er ist ein bisschen enttäuscht,

rechnungen des IWF und der EU-Staaten zu den

dass keine Abgeordneten da sind, außer den beiden

Schulden Griechenlands als illegitim, illegal und unhalt-

von SPD und CDU, die eingeladen haben. Was hätten

Staat 3 | 123


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:44 Seite 124

die anderen dazu gesagt, dass das Losverfahren, im an-

mehrere Stunden – Dienst auf „World of Warcraft“.

tiken Athen zentraler Bestandteil des demokratischen

Immer in derselben Gruppe, recht weit oben im interna-

Prozesses, jetzt, da Demoskopie und Statistik den Pro-

tionalen Ranking, gut durchorganisiert. Urlaub und Fehl-

zess auch landesweit ermöglichen, Teil der demokrati-

tage müssen angemeldet und abgesprochen werden.

schen Entscheidungsfindung werden sollte. Einhundert

Wie wäre es, wenn wir Zuschauer, mit Avataren ausge-

per Los ausgewählte Mitglieder der Bevölkerung, zur

stattet, uns in einer dieser Welten bewegen würden? Wie

Neutralität verpflichtet, die über einen längeren Zeit-

sehen dann die anderen Welten aus?

raum ein Thema bearbeiten – wie z. B. zuletzt in Irland die Fragen zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen

25. April 2017, Athen

Ehe und der Abtreibung. Wird unser Projekt eines, bei

Nachts auf dem Philopapposhügel, an der Sternwarte

dem das Publikum zu Repräsentanten einer zufällig aus-

vorbei und plötzlich: die Pnyx. Auf den Resten der anti-

gewählten Gruppe wird?

ken Rednertribüne kiffen ein paar Leute. Weiter drüben läuft Musik. Nachtblick über die Stadt. Was würden sie

13. März 2017, Athen

wählen, wenn die sozialen Netzwerke, in denen sie he-

Eine Frau, die wir treffen, entwirft Spiele, auch digitale.

rumtapsen, ihnen jedes halbe Jahr auf Basis ihrer Daten

Aber immer mehr interessiert sie sich für Spiel-Formen

Vorschläge machen würden? Etwas anderes? Wie sehen

im realen Raum mit echten Menschen. Genug von Bild-

die Avatare aus, die entstehen auf diesen unräumlichen

schirmen. Körper, Rückgrat, Atmung, Stimmung. Das In-

Bühnen, die wir mit unseren Daten, Entscheidungen und

ternet ein Spiel, bei dem sich unsere verhältnismäßig

Mitgliedschaften bespielen? Mehr als 150 Jahre fand

neue Rolle als Spieler erst langsam herausschält. Wir als

hier die Volksversammlung statt, deren Name später

Spieler in einem Feld, das wir nicht ganz durchschauen

ausschließlich für die christliche Kirche genutzt wird:

und das sich im Laufe des Spielens erst selbst ent-

ekklēsía. Später zog die Versammlung ins Dionysos-

wickelt. Irgendwann beginnen wir herauszufinden, wie

Theater um.

unsere Avatare so aussehen – nicht die, die wir selbst gebastelt haben in Second Life, sondern unser Spiegel-

20. Mai 2017, Athen

bild zusammengesetzt aus all den Datenspuren, die wir

Telefongespräch mit einem Datenhändler. Er sagt, ein

hinterlassen.

paar hundert Nutzerprofile mit ihren Daten – was die so googeln –, das wäre kein Problem. Wir wollen aber auch

30. März 2017, Dresden

die Namen dazu und vielleicht noch die Berufe, damit

Besuch bei einem jungen Mann, der sich auf die An-

die Zuschauer, die auf den Smartphones ihr Profil ken-

nonce des Staatsschauspiels gemeldet hat: Suchen

nenlernen, ein paar handfeste Informationen bekom-

Leute, die uns ihre Online-Spiele erklären. An der Wand:

men. Das gäbe aber Ärger. Ja, aber dafür ist Theater

Bud Spencer, Terence Hill und Arnold Schwarzenegger.

doch ein guter Ort. Jedenfalls: „Wenn ihr sowas wollt, im

Auf dem Bildschirm: wöchentlich an mehreren Tagen für

Darknet bekommt ihr das alles.“

124 | Staat 3

„Diese Gesellschaft, die die geographische Entfernung abschafft, nimmt im Inneren die Entfernung als spektakuläre Trennung wieder auf.“ Guy Debord


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3. Juni 2017, Athen Die Figürchen im Modell sind aus dem Modell für Prometheus in Athen (2010) – 103 Athener am Fuß des Parthenon –, einer Variante von 100 % Stadt, das wir 2013 mit hundert Dresdnern realisiert haben. Diesmal soll wieder abgestimmt werden, aber das Modell ist nicht die repräsentative Umfrage, sondern die Cloud. Die Ergebnisse nicht gleich sichtbar, sondern Futter für einen Algorithmus. Braucht ihr eine rule-based-Datenbank oder geht es um machine learning? Der vierte Programmierer für das Bühnenbild, den wir treffen, ist schwerer zu verstehen, aber der richtige Mann. 10. Juni 2017, Athen Endlich ein erster Versuch: Zwanzig Mobiltelefone sind mit einer eigens geschriebenen Test-App versehen und mit Apps zum Musizieren. Wie ist es, wenn auf jede Antwort Töne erklingen? Das Einverständnis im Griechischen ist die simfonía. Sinfonien sind in musikalischen Gedanken organisiert. Könnte eine von ihnen strukturell ein Rückgrat bieten? Könnten Töne als Resultat unterschiedlicher Antworten im Nachgang zu Sätzen 28. Mai 2017, Athen

einer Sinfonie zusammenwachsen, die entsprechend

Schon wieder so ein toller Experte. Während er in den

der Abstimmungsverhältnisse jeweils anders klingt?

USA studierte, war er sich sicher, dass er sein Leben der

Wie schreibt man eine Sinfonie aus Fragen?

künstlichen Intelligenz widmen würde, doch mangels Technologie zur Speicherung und Kommunikation gro-

9. Juli 2017, Epidaurus

ßer Datenmengen, lagen die vergangenen Jahrzehnte

Zwei Männer im Schatten des Olivenbaums auf Stöcke

im sogenannten Artificial-intelligence-Winter. Jetzt ist

gelehnt. Sie stehen schon seit fünftausend Jahren hier,

Frühlingsduft allenthalben und er ist aufgeregt: machine

abends wechseln sie ins Haus und die circa achtzig Schafe

learning. Deep learning. Endlich Systeme, die selbsttätig

in den Stall. Kein Laut, nur Glocken, die sie um den Hals

lernen können und nicht gefüttert werden müssen. Und

haben; im Moment schlafen sie, sagt einer – dabei liegt

ja, das ist sehr, sehr gefährlich, aber nicht die Technolo-

keins. Wiederkäuen. Außerdem sind sie trächtig, sie wür-

gie – wir sind gefährlich.

den alle am 15. August ablammen, sagt der andere.

Staat 3 | 125


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12. Juli 2017, Athen Das Bühnenbild, eine gigantische Tastatur, jede Taste eine Sitz- oder Stehgelegenheit, wird wieder abgeschafft zugunsten einer Landschaft aus eher modularen, handlicheren Elementen, damit der Raum verändert werden kann. Aber wie sieht sowas aus? 25. Juli 2017, Pirna/Athen Schäfer Rohrmann via Skype: „Wenn Sie ein Schaf in meiner Herde sein wollen, dann ist das Wichtigste: Sie müssen sich unterordnen. Und einordnen. Leitschafe erlernen das Leiten der Herde von ihren Müttern. Und Sie würden weiblich sein. Die männlichen Mitglieder der Herde tragen ausschließlich zur Fleischproduktion bei.“ 27. Juli 2017, Epidaurus 14 000 Leute schauen Alkestis. Andreas ist dabei und verliert seinen Geldbeutel. Die beiden Polizisten von Epidaurus haben nichts gehört. Ruf mal bei der Hafenpolizei an. Die sagen am Telefon: „Da bist du ja! Wir haben dich auf Facebook gesucht, aber da gab’s zu viele mit deinem Namen.“ Auf die Idee, mit den Ausweispapieren in ihre eigenen Dateien zu gehen, sind sie nicht gekommen. 30. Juli 2017, Internet Schlagzeile: Facebook schaltet seine Chat-Bots ab, nachdem sie begonnen haben, ihren eigenen Idiolekt zu sprechen. Eigentlich war es ein Experiment, bei dem Facebook zwei Bots miteinander chatten ließ.

126 | Staat 3

Bob: i can i i everything else … Alice: balls have zero to me to me to me to me to me to me to me to me to Bob: you i everything else … Alice: balls have a ball to me to me to me to me to me to me to me Bob: i i can i i i everything else … Alice: balls have a ball to me to me to me to me to me to me to me Bob: i … … …


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Dieses Labor ist eine Zeitmaschine. Es

STÜCKAUSZUG

geht darum, wie unser Tappsen und Tippen von heute, sich in der Zukunft auswirkt. Dafür wurde ich programmiert. Ich bin

ein Modell für eine digitale Regierung in absehbarer Zukunft. Ich wurde pro-

grammiert von Dimitris Trakas.Ich werde

Dresdner Fassung

heute bedient durch: Andreas Andreou,

Peter Breitenbach und Ioanna Valsamidou. Die Ergebnisse dieser Performance werden Ihre Performance sein. Ihre Antworten

Träumende

Kollektive. Tastende

Schafe

spielt heute und in dreißig Jahren. Die Zuschauer beantworten über ein kleines Display verschiedene Fragen und erzeugen dabei immer wieder neue Töne. IRIS, das Modell eines intelligenten Regierungssystems, führt durch den Abend in der Zukunft, während die beiden Schauspieler/Experten Fragen dazu stellen, ob das genau die Richtung ist, die wir gerade einschlagen (ohne

füttern dieses Modell einer zukünftigen Regierung. Ich werde speichern und verarbeiten. Sie geben Ihre Stimme ab und bekommen Klang zurück

Die Zettabytes, auf denen Sie sitzen,

werden die Pixel des heutigen Mappings sein. Der Zeitsprung beginnt. 1.0 Einstimmung

IRIS begrüßt die beiden Abgeordneten des heutigen Termins: Vassilis Koukalani und Kostis Kallivretakis. Kostis: Bitte keine Knöpfe auf den Geräten drücken. Manchmal braucht euer Gerät etwas länger als die anderen, um in der Cloud aktualisiert zu werden, dann wartet auf das nächste Zeichen. Sonst wendet euch an die Kollegen da links auf dem Stuhl und da rechts auf dem Stuhl. IRIS, wir sind bereit für die Profile: IRIS: Datum: 27. Oktober 2047. Die digitale Regierung, gratuliert euch zu ihrer Schöpfung. IRIS gratuliert euch zu diesem Schritt. Es war ein mutiger Schritt. Und ein demokratischer Schritt. Auch wenn er ohne Alternative war. Die Menschheit wäre untergegangen. Zu viel Krieg. Zu viel ökonomische Desaster. Zu viel Bedrohung durch die Natur. IRIS managt ab jetzt die Menschheit auf diesem Planeten. Ihr behaltet alle euer Stimmrecht. Jede Stimme hat Gewicht. Die Demokratie ist endlich flüssig geworden … 1.1 Du kannst applaudieren, wenn du willst.

IRIS: Danke. Stimmungsbild gemessen. IRIS wird euch immer besser kennenlernen. In Echtzeit. Ge-

sie vielleicht gewählt zu haben). Die Texte in den Kästen entsprechen den Anzeigen auf

IRIS: Willkommen zum sechsten Labortermin in

meinsam werden wir die Balance halten. IRIS ist

den Displays.

Dresden mit IRIS. Nach Jahren der Annäherung,

dazu da, eure Haltung zu speichern. IRIS ist die un-

der Entwicklung, der Optimierung ist es nun im

sichtbare Hand, die den Konsens steuert.

Jahr 2047 zum ersten Mal möglich, zu sagen: Menschen, eure Probleme werden ab jetzt gerecht und fair gelöst! Was ihr früher künstliche Intelligenz genannt habt, ist nun ein System geworden, das alle Konflikte zwischen Kontinenten, Ländern, Regionen, Gruppen und sogar zwischen Menschen fair und intelligent lösen wird.

130 | Staat 3

PROFILE 2.0 Profile Ich bin froh, im Jahr 2047 zu leben. Ja

Nein


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Kostis: Stop! –

Kostis: Man kann auch auf den Tafeln die Ereig-

Kostis: Ok, Leute. Schaut euer Gegenüber an, mit

Immer wenn wir abstimmen, gibt es pro Antwort

nisse sehen.

dem ihr die Box teilt. Steht auf und tauscht den

einen speziellen Ton. Also, Beispiel: Wer mit Ja geantwortet hat, trägt diesen Ton bei: response sounds YES Kostis: Und die, die mit Nein stimmen, klingen so: response sounds NO

Meine Freizeit heute …

Sinfonia in unserer Sprache heißt Einverständnis, aber eigentlich Zusammen-Klang. Sin-fonia. Und wir hören, wie wir in dieser Frage zusammenklingen: Seid ihr froh, im Jahr 2047 zu leben? response sounds together

tropisches

Holo in einer

Ich war mit dem Shopping Mall in

Nickerchen herun-

China

tergeladen.

DER GLEICHE

ALS GESTERN Ich bin

realistisch.

Helikopter.

der Couch aus zu.

Älter

Zu

Zeitlos

Nicht

Hat

hat

Zeit

ressant

gemäß

gut

scheidet IRIS für euch auf Basis eurer Daten. Mein Frühstück heute:

nicht

geholfen

keiner mein Typ

inte-

zeit-

sich ge-

halten

VEGAN

2.1 Tausche den Ort mit deinem Gegen-

Speck und Bohnen

Saft und Früchte

ihn ein.

aus London heruntergeladen.

Ich hab mir

aus Griechenland

sein.

Vassilis: Wir sind ein Chor. IRIS: Ein Chor, der Tragödien verhindern kann. Vassilis: Und wir beide, Kostis, Vassilis, sind

KLASSISCH FETT

Ich hab Eier und

nieren.

Wir würden uneins

der Wolke. IRIS speichert. Ab jetzt seid ihr ein Chor.

2047 aus?

Kostis: Achtung: bei Stimmenthaltungen ent-

DISSONANZ

IRIS: Die Profile sind aktualisiert. Willkommen in

Dein Gegenüber: Wie sieht er/sie jetzt

werden

EINKLANG

Kostis: Wechselt zurück zu euren Geräten.

PER HOLOGRAMM

Ich schaue von

derer Meinung sein als du?

2.2 Wechsle zurück zu deinem Gerät.

EIN ANDERER

PER LUFT mit

dem Autopilot-

Dein Gegenüber wird in vielen Punkten an-

Wir würden harmo-

Mein Partner heute ist …

Ich lebe monogam.

So bin ich heute ins Theater gekommen:

oder Nein sein soll.

WÜNSCHEN

Ich hab mir ein

WIE GESTERN

Vassilis: Nächste Frage.

tet ihr für sie oder ihn. Entscheidet, ob es ein Ja

TRÄUMEN

Traumset für ein

Kostis: Wir sind ein Orchester der Meinungen.

Platz. Seid vorsichtig. Die nächste Frage beantwor-

über. Die nächste Antwort gibst du für

heute die Chor-Führer. Kostis: Die Koryphäen. 2.3 Applaus oder Buh

IRIS: Danke. Stimmungsbild gemessen. Kostis: Nächste Runde. WUNSCHLISTE 3.0 Abstimmung: Ziele

ausgedruckt.

Staat 3 | 131


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IRIS: 27. Oktober 2047. Abstimmung Nummer 1/ Ziele für die Zukunft der Menschheit. Abstimmung. Kostis: Wunschliste! Jetzt, 2047. Vassilis: Was wünschen wir uns für die Zukunft? Kostis: Dann, 2067.

langes Leben

Hochladen meiner

Gedanken

und Erin-

Nicht

einsam

zu sein

nerungen

In

Frieden zu

sterben

Chancen sich

zu ent-

wickeln.

soll

Macht

über sie haben.

Keine

Unsterb-

Manchmal

sollte

linge –

als

nur

Wissen

lich

sein.

Eindringweder Staat

lichkeit Avatar

noch

einfach

Immer

gesund zu

sein.

Leben ohne

Einsamkeit

lasse ich das System entscheiden über … Mein

Guthaben

tingent

für Ener-

Meinen

Wohnort

gie und

zu sein

Gauner

Mein Kon-

Meine

Arbeitszeit

Wasser

IRIS: Die Abstimmungsergebnisse werden übernommen. IRIS speichert.

IRIS: Erinnerung: bei Stimmenthaltungen ent-

Vassilis: Moment! Legt eure Geräte hier an wie

scheidet IRIS für euch auf Basis eurer Daten.

wir. Und steigt auf wure Zettabytes. Wer hat gleich gestimmt wie ihr? Wir haben die Farben unserer letzten Antwort auf

Genauer

Minder-

Menschen

Zur

wie es

und

Sklaverei

gehen.

erklären, Ein

Zur Erfüllung meiner Wünsche,

offline

Das System sollte …

Für meine Kinder ist mir wichtig … Niemand

Alles

zugäng-

Vassilis: Nun für unsere Nachkommen.

Beste

wichtig:

immer

Für mich persönlich ist wichtig … Ein

Für ein besseres digitales Leben ist mir

Entscheidungen

trifft.

heiten

OfflineMenschen

vor

schützen.

besser

berück-

sichtigen.

Hölle Alle Pro-

gramme

runterfahren!

dem Gerät. Gleich werden wir nochmal alle die Farben unserer Antworten sehen und dabei die Abstimmung nochmal hören. IRIS: IRIS berechnet das Klangbild der vorigen Abstimmung. Vassilis: Abflug! Wir fliegen! Kostis: Ornithes! Die Vögel. Zeigt eure Flügel. Vassilis: Zeigt eure Ergebnisse! Eine schöne neue Welt wird das! Eine schöne neue Welt ist das! Sie hat neue Wolken bekommen. Wolken die

Für eine bessere Gesellschaft ist mir wichtig … Gesellschaft ohne

Armut

132 | Staat 3

Einklang mit der Natur

Gesellschaft ohne

Gewalt

Faire,

gleiche Chancen

für alle

unsere Wünsche lesen und miteinander abgleichen! Vassilis: Ich hab eine Frage an den Chor: Wir sind

Die Clouds ziehen über uns hinweg und lesen

jetzt 2047 zehn Milliarden Menschen, das ist dop-

unsere Wünsche. Und wir schwirren dazwischen

pelt so viel als 1989. Frage: Damit eure Wünsche in

wie Vögel!

Erfüllung gehen können, wo würdet ihr am ehesten Opfer bringen? IRIS: Danke. IRIS übernimmt die Frage:


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:45 Seite 133

VERNETZTE SYSTEME 4.0 Abstimmung 2: Vertrauen

IRIS: 27. Oktober 2047/Abstimmung Nummer 2/Vertrauen in vernetzte Systeme. In dieser Abstimmung geht es um Gefühle. Die Menschen haben entschieden, dass IRIS Gefühle berücksichtigen soll, aber nicht selbst Gefühle entwickeln soll. Jetzt geht es um Gefühle gegenüber dem System.

dungen von Menschen zwischen Schnellrechnern

Vassilis: So, alle, die sagen, dass sie immer wäh-

gehandelt als an der Börse. Kein Mensch konnte

len gehen: Ihr habt grün auf dem Apparat. Nehmt

mehr überblicken, was gehandelt wurde.

eure Vassilisbytes und stellt sie hier ab.

Kostis: Aber Regierungen gingen wir immer noch

Kostis: Meine Frage an die Nicht-Wähler. Sollten

wählen. Analog. Mit Stift und Papier.

diese Nicht-Stimmen im Parlament sichtbar sein?

Alle vier Jahre wählen zu gehen, war mir wichtig. Gar nicht

▸▸

▸▸▸

Sehr

Kostis: Moment, erstmal müssen wir nochmal

Bei der letzten Bundestagswahl waren es 25 Prozent. Das würde bedeuten: 177 Sitze im Parlament. Sollten die Nichtwähler Sitze im Parlament haben? Ja

Nein

über Entscheidungen reden. Mein Thema hier ist:

Kostis: Ah, heute ist der Ton sehr tief, das heißt,

Entscheidungen!

es ist euch nicht wichtig, alle vier Jahre wählen zu

Vassilis: Erinnert ihr euch: Damals, Oktober 2017,

gehen.

Vassilis: Diejenigen, die dagegen sind, die kom-

da wart ihr im Theater.

Vassilis: Aber war das ohne Algorithmen besser?

men raus!

Kostis: In dieser Zeit: Wer entschied, ob man von

Ich bin Iraner und einmal war ich dort wählen, es

Kostis: Aha, Frage an euch, die ihr geblieben seid

der Bank einen Kredit bekommt? Und zu welchen

gab große Hoffnungen – aber am Ende: Wahlbe-

und die ihr für Sitze für Nichtwähler seid: Was soll

Bedingungen?

trug, ganz sicher! Und zu wissen: Mit Wahlen wird

man mit diesen weißen Sitzen machen? Ich habe

Vassilis: Ein Algorithmus.

die Macht erhalten.

zwei Vorschläge: Entweder man lässt die Sitze leer

Kostis: Wer entschied über die Preise im Supermarkt: Vassilis: Algorithmen. IRIS: Programme, die Regeln folgen, die noch von Menschen geschrieben wurden. Kostis: Welche Werbung du sehen sollst …?

Wahlergebnisse, wie sehr beeinflussen sie dein Leben? Gar nicht

▸▸

▸▸▸

Sehr

Vassilis: Algorithmen. Und mehr und mehr Entscheidungen wurden durch Programme möglich,

Kostis: Zwecklosigkeit. Meine Frage: Wer von uns

durch Software.

hat mal bewusst entschieden, nicht wählen zu

Kostis: Wir haben die Entscheidungen delegiert.

gehen?

IRIS: Zunächst war das Internet ein Verbindungsnetz zwischen Computern, die von Menschen bedient wurden. Die Menschen wollten vor allem spielen. Spiele. An der Börse. Und mit ihren Körpern. Dann ließen sie die Rechner gegeneinander spielen. Mehr Aktien wurden ohne die Entschei-

oder wir ziehen das Los, wie im antiken Athen: Vassilis: Klirosis! Was soll mit den Nichtwähler-Sitzen passieren?

Sie sollen

Sie sollen

Die

bleiben.

Bürgern be-

Partei

leer

Hast du einmal bewusst eine Wahl

verweigert? Ja

per Los mit setzt werden.

stärkste bekommt sie.

Vassilis: Stichwort antikes Athen – wir müssen Nein

was bauen: die Pnyx. IRIS show us who has fourty percent of the answers in common.

Staat 3 | 133


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:45 Seite 134

4.0.1 Wechsle auf die andere Seite.

Da unten leuchten Millionen Fenster. Wie wär’s,

Vassilis: Versteh ich nicht. Du meinst …

wenn ich die Leute da unten was fragen könnte: Hey,

Kostis: Was war vor 32 Jahren? Das Referendum –

Vassilis: Kommt, wir bauen die Pnyka/Pnyx.

geht’s euch gut? Und wer Nein sagt, macht das Licht

ein Spiel!

Pnyx wird gebaut.

aus. Ich sitze auf dem Fundament der BHMA, das

Vassilis: Ah, genau, die Griechen wurden gefragt:

IRIS: Danke. IRIS berechnet.

heißt „Schritt“ auf Griechisch. Und das war das Po-

Wollt ihr die Bedingungen der Europäer akzeptie-

Kostis: Halt! Noch nicht! Leute, schaut euch um,

dium der antiken Volksversammlung. Die erste de-

ren, oder nicht? Die Details spielen jetzt keine

lauft herum und findet denjenigen, von dem ihr

mokratische überhaupt. Ein neues Ideal: Regierung

Rolle. Aber es war in letzter Minute. Die Banken

denkt, dass ihr die WENIGSTEN Antworten ge-

hieß: das anzustreben, was die Mehrheit wollte.

waren bereits zu, es gab kein Geld mehr.

meinsam habt. Findet einen Platz und setzt euch

Das Los hat entschieden, wer regieren sollte, für

Kostis: Hast du mitbekommen, dass der Chor der

gemeinsam.

die Dauer eines Jahres. Später ist die Volksver-

europäischen Machtzentralen sagte: Wenn ihr

Vassilis: Ihr habt Zeit, solange ihr Musik hört.

sammlung ins Theater umgezogen, ins Dionysos-

nicht unterzeichnet, dann ist es irgendwie aus?

IRIS: Danke. Angenommen. IRIS berechnet das

Theater, am Fuße der Akropolis.

Vassilis: Ja. „Geld oder – kein Leben“. Als würden

Klangbild der vorigen Abstimmung.

IRIS: Frage: Ist die Versammlung noch interessiert?

wir dann nicht mehr weiterexistieren. Als ob Grie-

Vassilis: Hey, außer den Fragen aus deinem Pro-

chenland abdriften würde und an einem anderen

gramm haben wir auch eigene Fragen! Sonst

Kontinent andocken könnte. Dann seid ihr raus.

bringt’s das ja nicht!

Das schwarze Schaf.

4.1 Finde die Person, von der du denkst, dass ihr die wenigsten Antworten gemeinsam habt.

IRIS: Danke. IRIS speichert. 4.2 Setzt euch zusammen.

Kostis: Ein schwarzes Schaf färbt die ganze Herde

Seid ihr interessiert? Ja

ein. Also lass dich scheren, oder – raus. Nein

IRIS: Danke. Unterpunkt angenommen.

sie ein Leben ohne Gewalt leben wollen.

Medien waren alle für JA – NAI. Die Nachrichtensendungen gingen plötzlich drei Stunden! Wir haben

Kostis: IRIS, bitte spiele die Musik an die Geräte, von den Leuten, die vorher gestimmt haben, dass

Vassilis: Da war so viel Hetze und Propaganda. Die

eine Regierung gewählt, die NEIN sagen wollte, und sie ist losgezogen mit einem klaren Auftrag.

REFERENDUM IN GRIECHENLAND 2015 4.2.1 Referendum Griechenland 2015

REFERENDUM

Kostis: Die Regeln korrigieren. Vassilis: Europa demokratisieren. Kostis: Solidarität aktivieren. Ich hab damals ein Video aufgenommen und auf Facebook gepostet,

Kostis: Jedenfalls: Da oben fing das an, als ich

in dem ich gesagt habe: Man, stopp die Angstpro-

Kostis: Ich sitze wieder mal auf diesem Felsen. Er

auf die Fenster da unten schaute und dachte: Ich

paganda! Und dann: Wow. An einem Tag wurde es

ist mitten in Athen, auf dem Filopapou-Hügel. Du

weiß genau, wie es hinter den Fenstern aussieht.

45 000 Mal geteilt und hatte 1 800 000 Views. Seit-

siehst die Akropolis da drüben und da vorn die

Dann schaute ich auf die Screens um mich herum,

dem habe ich 8000 Followers auf Facebook. Was

halbe Stadt. Tagsüber sind hier manchmal viele

die im Dunkeln leuchteten. Und ich dachte: Es

für eine Herde …

Vögel. Jetzt, nachts, leuchten die Smartphones,

wäre besser, wenn man die Daten von all den

Vassilis: Chor der Dresdner: Was glaubt ihr, was

Pärchen, Grüppchen, Kiffer.

Handys nutzen könnte und damit zu wählen.

hab ich damals gemacht? Was hab ich gewählt?

134 | Staat 3


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Kostis: Schaut ihn euch an: Was hat er gewählt? Was hat Vassilis gemacht? Er hat

Er hat

Er ist

Er hat

gestimmt.

gestimmt.

zur Ab-

gewählt.

mit Nein

mit Ja

nicht

stimmung

ungültig

schuldet. Und ich weiß genau, aus erster Hand,

Bewohnern auszulosen, wer für ein Jahr mitent-

aus meiner eigenen Familie, was es bedeutet eine

scheiden soll?

Bank abzubezahlen. Als ich im Krankenhaus war

Kostis: Ohne Machtinteressen, ohne Strategie,

und neben meinem Vater saß, der an Krebs litt,

ohne Möglichkeit zur Korruption?

klingelte sein Handy. Ich habe abgehoben, es war eine Bank, Eurobank, und sie wollten mit ihm über seine Schulden reden. Ich sagte ihnen: „Leute, bitte, es reicht, der Mann stirbt.“ Und sie haben

gegangen.

mir geantwortet: “Können Sie das beweisen?”

100 per Los gezogene Bürger ersetzen

jeweils einen Minister. Gute Idee? Ja

Nein

Deshalb habe ich NEIN gewählt. Vassilis: Eigentlich heißt es doch: „JA oder NEIN“.

Vassilis: 61.3 Prozent für Nein. OLOI MAZI: OXI!

Kostis: Ich habe auch eine Frage. Unser Online-

Auf dem Wahlzettel stand aber: „NEIN oder JA“.

Kostis: Super Stimmung: Freude und Stolz.

Leben ist doch ein besserer Spiegel unserer Ge-

Erst OXI – Nein, dann Ja – NAI.

Vassilis: Nach all der Angstpropaganda.

sellschaft als die Wahlen. Soll ein Algorithmus für

Kostis: Jetzt seid ihr mal die Griechen – für einen

Kostis: Es kommt jetzt eine harte Zeit. Aber die

euch wählen?

Moment. Wir machen Referendum. Was hättet ihr

Mehrheit hat sich dafür entschieden! Demokra-

gemacht?

tisch.

Vassilis: Hättet ihr gesagt: Scheiß auf Geld, Kre-

Vassilis: Keine Erpressung mehr! Entzug! Das

ditkarte, iTunes, Amazon, Benzin im Tank, Aspirin,

war die Antwort. Aber am Ende war das Resultat:

Klopapier. Wir wollen nicht mehr Geld! Stopp mit

Nein heißt Ja … eine „Stunde historischer Verant-

der Erpressung! Was hättet ihr gesagt?

wortung“ …

(Nein) gesagt

NAI

(Ja)

gesagt

gel unserer Gesellschaft als die Wahlen. Soll ein Algorithmus für dich wählen? Ja

Nein

Kostis: Eine historische Stunde: Demokratie war

Ich hätte... OXI

Unser Online-Leben ist der bessere Spie-

keine

Stimme

abgegeben.

eine

ungültige

Stimme abge-

geben.

ein Spiel, aber wir waren nicht die Spieler. Wir

Vassilis: Diejenigen, die Ja gesagt haben: Wollt

waren die Spielsteine.

ihr, dass der Algorithmus euch fragt, bevor er für

Vassilis: Und wir waren die Griechen der Post-

euch abstimmt?

Demokratie. Die Schafe von Europa. Wir Wähler tappsten: ja, nein, und dann liefen wir wieder hinterher. Weil es die Banken waren, das Kapital und seine Schnellrechner, die die Regeln machten. Chor der tastenden Bürger, hör mich an! CHOR!

Willst du, dass der Algorithmus dich fragt, bevor er für dich abstimmt? Ja

Nein

Ihr Dresdner! Nein war plötzlich Ja. In einem so Kostis: Ich hab auch NEIN gewählt. Wisst ihr,

komplexen Spiel zwischen Europa, Ländern und

IRIS: Danke. IRIS speichert.

warum? Weil es keinen Unterschied gibt zwischen

Banken und Wechselkursen – macht es überhaupt

Kostis: IRIS, Algorithmus, zeig uns, mit wem wir

einer Familie, die einer Bank Geld schuldet, und

Sinn, die Wähler zu fragen? Und überhaupt: De-

bis jetzt die meisten Antworten gemeinsam

einem Land, das den internationalen Banken Geld

mokratie … Wäre es besser gewesen, unter den

haben!

Staat 3 | 135


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Du hast die meisten Übereinstimmungen

mit: xy.

Ein gezüchtetes Schaf zu sein bedeutet … Folgen

IRIS: Ende der Messung.

Mit-

denken

Vassilis: IRIS, wie waren wir? Wie war der Chor?

Seiner

eigenen Wege

gehen

IRIS: Nicht schnell.

Seine Zeit

selbst ein-

teilen

IRIS: Eine Herde von Avataren. Ein Bild von dir entsteht. Genauer, als es dir gefallen würde. Schäfer: Schafe sind herdengebunden, das ist ein einziges Kollektiv. Wenn eins wegläuft, laufen alle anderen hinterher. Das ist der Instinkt, einer folgt dem anderen. Vassilis: Quiztime! Matchpartner, stimmt euch

TAPPING SHEEP 5.0 Test: Herde

Kostis: Tapsende Kollektive.

Kostis: Leute, wenn ihr falsch getippt habt, macht euch keine Sorgen. Ich habe auch digitale Amnesie. Ich kann mir nicht mehr meine eigene Telefon-

ab! Wem folgen die meisten Schafe?

IRIS: 27. Oktober 2047/Abstimmung Nummer 3/

nummer merken und schon gar nicht mehr die

Test. Benutzer. Herde.

Telefonnummer meiner Freundin.

Wissen ist ein Schwarm. Politik ist ein Schwarm.

IRIS: Möchtest du jetzt mit deiner Freundin ver-

Kollektive Intelligenz. In den Wolken finden alle

bunden werden?

Gedanken und Dinge ihren Platz. Jetzt, 2047, sind

Kostis: Stamata re! Ich schalte dich aus wie HAL.

IRIS: Die meisten Schafe folgen der Mehrheit.

die meisten Gesellschaften über IRIS reguliert. Die

Vassilis: Lass sie. Sie hat immerhin gefragt …

Kostis: Tap, tap, tap. Erst ging es nur um das so-

beste Lösung bekommt die meisten Likes. IRIS

Aber ist das der sogenannte Google Effect? Tap,

genannte Internet. Ein neuer freier Raum. Eine

gleicht sie ab mit allen Parametern. Den Märkten.

tap, tap, tippe ich auf meinem Gerät: „Macht das

vierte Dimension, in der alles neu sortiert werden

Dem Planeten. Jetzt geht es um die Einstimmig-

Internet uns dumm?“

kann. Ohne Hierarchien. Viele von denen, die

keit zwischen den Matchpartnern. Beantwortet die

Kostis: Machen wir uns dumm?

davon geträumt haben: Cyberpunks, Kopier-Pira-

folgenden Fragen gemeinsam.

Vassilis: Ich tippe Enter. Fast sofort tauchen ei-

ten, Cyberspace-Philosophen, Kollektiv-Utopisten,

Vassilis: Playtime! Lasst uns old school machen,

nige grüne Büsche von Infos auf. Links. Mjam. Tip,

schwarze Schafe, weiße Hüte, sagten schon 2017:

lasst uns ein sogenanntes Video anschauen, zwei-

tip, und schon bin ich im Shop. Mein Kopf bewegt

Der Kampf ist verloren.

dimensional, von 2017!

sich auf und ab. Meine Augen sind der Cursor.

IRIS: Besser, alle wissen alles über jeden Busch.

Schäfer: Wenn Sie ein Schaf in meiner Herde

Kostis: Die Welt ist nicht, was der Fall ist, sondern

Und über jedes Lamm. Beides kann optimiert

sind, dann müssen Sie sich mir unterordnen, das

was einen Link hat.

werden. Es gibt keine unlesbaren Dinge mehr.

ist ganz leicht: man braucht nur hinter mich gu-

Vassilis: Unsere Weide ist ein Markt. Jeder

Unsere Daten über die Welt sind größer als die

cken, dann sieht man alle sind relaxt, manche fres-

Busch voller Cookies. „Bist du Einverstanden?“

Welt selbst. Deep Learning verknüpft alles opti-

sen, manche schlafen, manche beobachten mich,

Klar, ich will ja knabbern. Und ich bin drin, in der

mal.

so sollte es sein, alles ruhig und relaxt.

Herde. Kunden, die sich für dies interessiert

Vassilis: Hemmungen!

haben, kauften auch jenes. Freunde, die das gele-

Kostis: Playtime! Let’s play a quiz! Die sich gefun-

sen haben, haben auch für diese Kampagne ge-

den haben: Entscheidet zusammen.

stimmt.

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Den

Stärksten

Der

Mehrheit

Den

Ältesten

Den

Schönsten


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Weshalb spricht man vom schwarzen Schaf? Ein Bild aus der Bibel.

Die Wolle des Kollektivs könnte

einfärben.

Schwarze Tiere

beunruhi-

Alles

davon.

gen die Herde.

Kostis: Wovon träumen Schafe eigentlich? Vassilis: Wahrscheinlich von den Vögeln um sie

IRIS: Er wusste, dass er nichts weiß. Wäre es Sokrates lieber gewesen, wenn wir seine Gedanken heute nicht lesen könnten? Kostis: Sokrates hat nie einen einzigen Gedanken aufgeschrieben, sondern Platon, sein Schüler! Vassilis: „Langes Haar, Hungern, nicht waschen wie Sokrates“.

Was wird am Ende von Die Vögel in Wolken-

kuckucksheim gefeiert? Hoch-

Freuden-

Ab-

Sieges-

feier:

Vögel und

feier:

Die Vögel

zeitsEin

Kostis: Ein Witz aus Ornithes – Die Vögel.

Mensch

στους Σκιάποδες στην ξέρα

rann und

Vassilis: Είναι εκει μια λίμνη πέρα

όπου κάθεται ο Σωκράτης

wird Ty-

feier:

Menschen bleiben

zusammen.

heiratet

schiedsDie

Menschen gehen

feier: hatten genug.

wieder.

herum.

άπλυτος σαν λυχνοστάτης

Schäfer: Also unsere Herde begleiten vor allen

Kostis: Euelpides und Peisthetairos. Sie verlas-

Dingen drei Vogelarten. Die Schwalben fliegen nur

sen Athen auf der Suche nach einem besseren Ort.

dicht über der Herde, ich weiß nicht, ob man im

Sie finden die Wolkenstadt. Wie heißt Neffelokok?

Vassilis: IRIS/Algorithmus, wer ist der Gewinner

Moment das hinter uns sieht, so, die Stare setzen

Wolkenkuckucksheim. Utopie. Dort überzeugen

des gesamten Spiels?

sich verstärkt immer druff und lassen sich von den

sie die Vögel, dass es besser für sie wäre, wenn sie

Am Ende der Komödie heiratet Peisthetairos einen

Schafen tragen – und warten wirklich spezielle,

die Menschen aufnehmen. Die Vögel lassen sich

Vogel und macht aus der Utopie, die sie gesucht

wenn ein kleiner Käfer oder was hochfliegt, um

überzeugen. Und Iris …

haben, eine menschliche Tyrannei – und er ist der

sich den zu schnappen. Die Störche laufen zwi-

Vassilis: Da gibt’s auch eine Göttin Iris. Eine Botin

Tyrann.

schen unseren Schafen dann herum und suchen

der Götter, die zu den Vögeln kommt und ihnen

Gewinner, kommt alle auf den Felsen. Applaus!

sich dann ihre Frösche und ihre Käfer.

Fragen stellt. Ex machina.

Vassilis: Ich tappe und tappe durch die Informa-

Kostis: Deus ex technologia.

tionsfetzen im Internet. Firmen sammeln die

Vassilis: Quiztime!

einen

Vogel.

Datenschnipsel, die wir von Klick zu Klick hinter uns lassen. Je mehr, desto besser. „Ich bin mit der Einbildung von Wissen statt mit Wissen erfüllt.“ IRIS: Zitat Platon. Kostis: Sokrates. In Phaedrus! Sokrates warnt vor dem Schreiben: Wenn du aufschreibst, was du weißt, beginnt das Vergessen. Vassilis: In den Bits und Bytes und den Likes zu tasten und herumzuweiden – hat das noch was mit Wissen zu tun?!

Staat 3 | 137


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INTELLIGENZCOMPTOIRS Mathias Fuchs

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts spekulierte Michel Eyquem de Montaigne in einem seiner Essais über die Möglichkeit des freien Informationsaustauschs mittels Zugriff auf eine öffentliche Datensammlung – gewissermaßen also einer frühen Suchmaschine: Mein verstorbener Vater […] sagte mir einmal, er hätte gerne veranlasst, dass in den Städten eine bestimmte Stelle eingerichtet würde, an die alle, die irgendetwas brauchten, sich wenden könnten, um ihre Sache durch einen eigens dafür eingesetzten Beamten registrieren zu lassen […]. Offensichtlich würde ein solches Mittel zum Austausch von Informationen die Beziehungen zwischen den Menschen wesentlich erleichtern, denn jeden Augenblick entstehen Situationen, da sich Menschen gegenseitig suchen, aber, weil sie ihre Stimmen nicht hören können, in ihrer höchst misslichen Lage allein bleiben. (Montaigne [1580] 2012, 1. Buch, Kapitel 35: 119) Dieser Gedanke, der mit einem Augenzwinkern und rein spekulativ vorgetragen wurde, zielte auf eine neue Form der Steuerung der Bevölkerung. Man würde Montaigne völlig missverstehen, wenn man seine vorwärts-gerichtete Vision, die sich hinter der rückwärts-gerichteten Erinnerung an seinen Vater versteckt, als sarkastische Dystopie interpretieren wollte. Montaigne hatte offenbar eine staatliche Institution im Sinn, deren Zweck die Förderung des Gemeinwohls sein sollte. Im 16. Jahrhundert gab es zwar keine industrielle Datenverarbeitung im Sinne der heutigen Big Data, die auch nur entfernt an die quantitativen Kapazitäten der Serverfarmen des Silicon Valley heranreichte, es gab aber Big Administration mit Tausenden von Registraren und Verwaltungsbeamten, die eine flächendeckende Erfassung von Benutzerdaten, Benutzerprofilen, Wünschen und Beschwerden gewährleisten konnten. Montaignes Konzeptvorschlag brauchte nicht lange auf seine Verwirklichung zu warten. Das erste funktionsfähige Adressbüro war das 1628 vom französischen Arzt Théophraste Renaudot gegrundete Bureau d’ adresses et de rencontres. Renaudot erklärte offen, dass Montaignes Ideen ihn zu seinem Bureau inspiriert hatten. Seine Einrich-

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tung sollte kein Einzelfall bleiben, und in den folgenden Jahrhunderten entstanden in Europa zahlreiche Nachfolgeprojekte, die Namen wie Intelligence-Office, Fragamt oder Intelligenzwerk trugen (Tantner 2015: 130). In Vorwegnahme des universellen Anspruchs gegenwärtiger Suchmaschinen-Projekte ging es Renaudot im 17. Jahrhundert nicht um ein Archiv, das nur bestimmte Fragen bedienen sollte, vielmehr war der Auskunftsbereich ungemein umfassend. Das Bureau sollte (wie die Google-Suchmaschine) alle menschlichen Bedürfnisse bedienen, insbesondere auch solche, derer sich eine Person noch gar nicht bewusst war. Es gibt mehrere Gründe dafür, warum das Bureau als ein wesentlicher Teil derjenigen Tendenz und „Kraftlinie“ verstanden werden kann, die Foucault als Gouvernementalität bezeichnet (Foucault 2005: 171). Zum einen versammelte das Bureau d’ adresses et de rencontres Institutionen, Verfahren, Analysen und Reflexionen, die es gestatten, „diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“ (Ibid). Zweitens ist die Nähe der Institution zur Macht auffällig, die ursprünglich ökonomisch motiviert war. Théophraste Renaudot genoss die Gunst König Ludwigs XIII. und – was fast noch wichtiger war – die Unterstützung Richelieus. Auf eine Weise, die der Verknüpfung amerikanischer Politiker, Präsidenten und Präsidialkandidaten mit den Datenverarbeitungsprinzen des Silicon Valley ähnlich ist, bewies Renaudot eine Regierungsperioden überspannende Konstanz seines Einflusses. Ludwig XIV. schenkte dem wichtigen Informationsträger Renaudot seine Gunst ganz wie sein Vorgänger Ludwig XIII. und ernannte ihn 1646 zum „Historiker des Königs“. Erinnern wir uns, dass der ausgezeichnete Kontakt Obamas zu Google dem früheren Präsidenten den Ruf einbrachte, eine „Android Administration“ (Dayen 2016) eingerichtet zu haben. Hillary Clintons Wahlkampfmanager John Podesta wiederum werden ausgezeichnete Kontakte zum ehemaligen Google-Vorstandsvorsitzenden Eric Schmidt nachgewiesen, die sich in Wahlgeschenken wie Kleinflugzeugen für die Wahlhelfer ausdrückten. (Hartmans 2016) Auch mit Donald Trump, der zu verschiedenen Zeitpunkten gegen Facebook und Google wetterte, scheint sich eine neue Freundschaftlichkeit herzustellen. Die Financial Times berichtet, dass Google Genugtuung darin empfinde, dass der Präsident einen versöhnlichen Ton gegenüber dem chinesischen Kollegen Xi Jinping eingeschlagen habe (Financial Times 2017), so dass nun hoffentlich bessere Geschäfte mit China zu machen seien. Auch CNBC berichtet: „Google was against Trump, now it’s trying to win him over.“ (Lipton 2017) Immerhin, so berichtet der Wirtschaftssender, habe man Eric Schmidt, den einstigen Clinton-Unterstützer kürzlich ein paar Mal im Trump Tower gesehen. Drittens kann man feststellen, dass sich im Bureau d’ adresses et de rencontres ein Typus von Aufgaben darstellt, der nicht mehr mit Wahrheit oder Gerechtigkeit legitimiert wird, sondern aufgrund organisatorischer Notwendigkeiten seine Berechtigung einfordert. Foucault beschreibt das folgendermaßen: Schließlich glaube ich, dass man unter Gouvernementalität […] das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und

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16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt „gouvernementalisiert“ hat. […] Diese Gouvernementalisierung des Staates ist das Phänomen gewesen, das es dem Staat ermöglicht hat, zu überleben. […] Wir leben im Zeitalter der Gouvernementalität. (Foucault 2005) Foucault meint also, dass die Verwaltungsapparate mit ihren Speicher- und Suchfunktionen einen Machttypus am Leben erhalten, der sich Regierung nennt und er versteht unter Gouvernementalität die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als „Regierung“ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat. (Foucault 2005) Liegt es nicht nahe, vorzuschlagen, dass die Foucaultschen „Verwaltungsapparate“ gleich die Aufgaben der „Regierungsapparate“ übernehmen, die sie ja seiner Meinung nach vorbereiten und legitimieren? Müssten wir nicht eigentlich die nur scheinbar verrückte Situation, die uns in der Inszenierung Träumende Kollektive. Tastende Schafe (Staat 3) vorgeführt wird, als zwangsläufig verstehen? Auf der Bühne erleben wir, wie digitale Werkzeuge von Registrierungsapparaturen zuerst fragen, dann kombinieren und schließlich entscheiden. Die Frage, ob eine Regierung überhaupt noch nötig ist, wenn Gouvernementalität sich radikalisiert, wird schließlich auch den Circlern in Dave Eggers Roman The Circle nahegelegt. In einer scheinbar harmlosen Fragerunde, die mit Späßen und persönlichen Anekdoten aufgelockert wird, stellt die Leitung des „Circle“ die Mitarbeiter vor die Frage, was die akkumulierte Information, die aus den Daten von dreihundert Millionen Amerikanern extrahiert wurde, für politische Entscheidungen bedeuten könne: Nehmen wir einmal an, das Weiße Haus wollte die unverfälschte Meinung seiner Wählerschaft in Erfahrung bringen. Und stellen wir uns auch vor, dass wir alle die Möglichkeite 1 Im englischen Original: „Imagine the White House wanted

hätten, die US-Außenpolitik direkt zu bestimmen. Jetzt denken Sie bitte mal kurz nach: Es

the unfiltered opinion of its constituents. And imagine you

wird ein Tag kommen – ich sage: es muss ein Tag kommen – an dem allen Amerikanern in

had the direct and immediate ability to influence U.S. foreign

dieser Sache Gehör geschenkt wird. (Eggers 2013: 404)1

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policy. Take your time on this. There might come a day – there should come a day – when all Americans are heard in such matters.“


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Die Antwort auf die rhetorische Frage lautet: Direkte und schnelle Informationsauswertung wäre in allen Feldern politischer Machtausübung ein effizienteres Steuerungsinstrument als die althergebrachte demokratische Übertragung des Bürgerwillens an eine Regierung. Regierungen – das führt uns Dave Eggers in The Circle vor – verlangsamen unnötig die exekutiven Prozesse und führen Fehler ein, die maschinellen Systemen nicht passieren würden. Tatsächlich kann man sich angesichts der katastrophalen Regierungsfehler im Umgang mit dem Brexit, verschiedenen finanzpolitischen Eingriffen, Regierungseifersüchteleien und -eitelkeiten mit dem Gedanken anfreunden, dass eine Regierung ohne die Regierenden vielleicht schmerzloser operieren könnte als die mit Ehrgeiz, Ego-Problemen und Erfolgssucht beladenen Personalregierungen. Diejenigen, die allerdings immer noch Vertrauen in eine Politik der Politiker bewahren konnten, werden einwerfen: Eine gute Regierung zeichnet sich aus durch die Intelligenz der Regierenden. Benötigt man zum Regieren Intelligenz? Nicht unbedingt. Ein Großteil der Regierungsentscheidungen wird getroffen, weil Expertensysteme, Simulationen oder Langzeitprognosen rational, aber nicht unbedingt intelligent gewisse Operationen selektieren, die durchzuführen sind, um größeren Schaden abzuwenden. Insbesondere im finanzpolitischen Bereich kann man wohl kaum bestreiten, dass Kalkulationen die Justierung der ökonomischen Parameter be-

Nach Finanzkrisen werden die Algorithmen optimiert und nicht etwa das Personal ausgetauscht.

stimmen und nicht ökonomische Intelligenz. So werden denn auch nach Finanzkrisen die Algorithmen optimiert und nicht etwa das Personal ausgetauscht. Aus kosmetischen Gründen geht dann hier oder dort mal ein Nationalbankdirektor in den Ruhestand und ein allzu draufgängerischer Fonds-Manager muss sich mit einer Abfindung zurechtfinden. Die große Frage ist jedoch stets: Was war der Fehler in den Berechnungsmethoden? So wird beispielsweise der berüchtigte „Flash Crash“-Börsenzusammenbruch, der am 6. Mai 2010 um 14.32 Uhr begann und in den darauffolgenden 36 Minuten tausende Milliarden von US-Dollar bewegte, als ein bedauernswertes Resultat des High Frequency Trading bezeichnet. Immerhin stürzte die Fehleranfälligkeit der Programme die einen in den Ruin, andere in den Tod. Einige Regierungen schränkten die Geschwindigkeit der algorithmischen Transaktionen ein, andere lasen verstört in Büchern nach, wie man die Algorithmen verbessern könnte (Aldridge 2013; Cartea, Jaimungal u. Penalva 2015). Aus den Reihen der Trader konnte man allerdings vernehmen, dass solch umständliche Versuche, menschliche Intelligenz in den Vollzug automatisierter Prozesse einzuführen, so ungeschickt seien wie die der Optimisten, die auf Fahrrädern hinter Ferraris herjagen: „They still use bicycles to catch Ferraris.“ (Bates 2015) Wir müssen die eingangs gestellte Frage neu formulieren: Wenn künstliche Intelligenzen politische und ökonomische Prozesse steuern, benötigt man dann noch menschliche Intelligenz zum Regieren? Die Frage ist mit dem Problem verbunden, was man als Intelligenz, als künstliche Intelligenz und als computergestützte Intelligenz verstehen möchte. Stuart Russell und Peter Norvig weisen in ihrem klassischen Referenzwerk zu Künstlicher Intelligenz darauf hin, dass mindestens vier grundsätzlich unterschiedliche Ansätze dazu entwickelt wurden, um beschreiben zu können, was man unter Artificial Intelligence ver-

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stehen soll: Diese Ansätze schlagen vor, AI als Simulation menschlichen Denkens zu verstehen, als Simulation menschlichen Handelns, als Simulation rationalen Denkens oder als Simulation rationalen Handelns. (Russell u. Norvig 1995: 2) Offenbar unterscheiden diese Ansätze sich im Anspruch, was künstliche Intelligenz vermögen sollte. Die bescheidenste Forderung, die beispielsweise von Winston formuliert wurde als „Studium der Berechnungen, die es ermöglichen etwas wahrzunehmen, zu rationalisieren“ (Winston 1992)2, wird anspruchsvoller von Nilsson eingefordert: 3

„AI […] geht es um intelligentes Verhalten künstlicher Systeme.“ (Nilsson 1998) Voller Skepsis, ob so etwas denn

2 Im englischen Original: „The study of the computations that make it possible to perceive, reason“. 3 Im englischen Original: „AI […] is concerned with intelli-

überhaupt möglich sei, entwerfen schließlich Elaine Rich, Kevin Knight und Shivashankar B. Nair eine offene Be-

gent behavior in artifacts.“

griffsdefinition. AI sei ihrer Ansicht nach „die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, wie Computer etwas bewerk-

4 Im englischen Original: „the study of how to make com-

4

stelligen können werden, worin wir Menschen derzeit noch besser sind“ (Rich, Knight u. Nair 1991) .

puters do things at which, at the moment, people are better.“

Noch! Es ist jedoch keineswegs gesagt, dass Maschinen jemals menschlich denken und handeln werden. Aus diesem Grund ist der Titel eines Papers von besagtem Nils Nilsson aus dem Jahr 2005 gut nachvollziehbar:

5 Das kann man ins Deutsche übersetzen als „Künstliche

„Human-level artificial intelligence? Be serious!“5 Im Jahr 2005 war der grenzenlose Optimismus der 1950er Jahre

Intelligenz auf der Ebene menschlichen Verständnisses?

etwas abgekühlt und nachdenkliche Forscher schlugen vor, den Euphemismus der künstlichen Intelligenz vielleicht

Machen Sie Witze?“.

lieber durch Computer-Intelligenz, Computational Intelligence, zu ersetzen, um so der delikaten und letztendlich nicht entscheidbaren Frage nach der Möglichkeit der Emulation von humaner Intelligenz zu entgehen. Man muss aus heutiger Sicht sagen, dass viele Erwartungen der frühen AI-Forschung völlig überzogen waren. Bereits im Jahr 1957 prognostizierte Herbert Simon zuversichtlich und völlig unzutreffend: Ich habe keinesfalls die Absicht, sie zu überraschen oder zu schockieren – aber die beste Zusammenfassung, die ich Ihnen geben kann, ist die folgende: Es gibt heute in dieser Welt Maschinen, die denken, lernen und schöpferisch tätig sind. Darüber hinaus kann man sagen, dass der Prozess der Entwicklung solcher Maschinen schnell fortschreiten wird, bis wir schließlich – und das wird in absehbarer Zukunft stattfinden – einen Bereich von Problemlösungen vor uns haben, der genauso groß sein wird wie derjenige, den der menschliche Verstand anzugehen vermag.

6

(Simon 1957)

6 Im englischen Original: „It is not my aim to surprise or shock you – but the simplest way I can summarize is to say that there are now in the world machines that think, that learn and that create. Moreover, their ability to do these things is going to increase rapidly until – in a visible future – the range of problems they can handle will be coex-

Bereits ein Jahr vor dieser gewagten Prognose verkündete Simon seinen Studenten: „Während der Weihnachtsfeier-

tensive with the range to which the human mind has been

tage haben Allen Newell und ich eine Denkmaschine erfunden.“ (Gardner 1985: 146)7 Simon bezieht sich bei dieser

applied.“

„Denkmaschine“ auf den Logic Theorist, ein Programm, das unter Verwendung von fünf logischen Axiomen und drei zulässigen Operationen aus einer logischen Aussage eine andere konstruieren konnte. Das ist nicht-trivial und

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7 Im englischen Original: „Over Christmas Allen Newell and I invented a thinking machine.“


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war für die damalige Zeit eine kleine Sensation. Immerhin setzte der Logic Theorist an einer Problemstellung an, die große Mathematiker beschäftigte. Alfred North Whitehead und Bertrand Russell arbeiteten in den 1900er Jahren an dem Problem, eine Ableitung logisch-mathematischer Sätze rein formal durchführen zu können. (Whitehead u. Russell 1910) Die Leistung von Russell und von Whitehead bestand gerade darin, intelligent nachzuweisen, wie Theoreme formal, also eigentlich unter Verzicht auf kreative Intelligenz bewiesen werden können. Ich denke, nicht zu übertreiben, wenn ich hier behaupte, dass die Principia ein zentrales Dokument mathematischen Scharfsinns und 8

Es soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass Gödel an

der Vollständigkeit der Whitehead- und Russellschen Thesen

ein Ausweis für das sind, was humane, mathematische Intelligenz darstellen kann. 8 Das Logic-Theorist-Programm von Simon und Newell vermochte nur 46 Jahre nach der Ausformulierung der Principia Mathematica Ableitungen

begründete Zweifel anmeldete. Der Unvollständigkeitssatz (1931) ist gewissermaßen ein Beweis der Zweifel an der Rus-

einer ganzen Reihe von Theoremen derselben durchzuführen. Die Leistung des Logic-Theorist-Programms bestand

sell-Whiteheadschen Universalitätsforderung logischer Kon-

darin, ein Gebiet menschlicher Intelligenz durch eine maschinelle Demonstration erfolgreicher Rechenleistung in

sistenz des Universums der Principia Mathematica.

den Schatten zu stellen. Es wird berichtet, dass Russell über eine der maschinell exekutierten logischen Ableitungen gesagt haben soll, dass letztere „more elegant and efficient than his own“ (Fancher 1979) sein solle, eleganter also und auch noch effizienter. Ich bin nicht sicher, ob dieses angebliche Statement Bertrand Russels ein Zeichen der Bescheidenheit des Mathematikers, ein humorvoller Kommentar oder einfach nur eine gut erfundene Anekdote war, die Simon und Newell sich auf die Fahnen schreiben wollten. Immerhin weist die Aussage darauf hin, dass logische Beweise auf die eine oder andere Weise erfolgen können und dass ein Programm wie der Logic Theorist in gewissen Aspekten gegen menschliche Intelligenz punkten kann. Der Unterschied zwischen dem, was heute als Artificial Intelligence verstanden wird, und dem, was vor sechzig Jahren als AI verstanden wurde, ist vor allem eine Begriffsverschiebung. Wir sind heute versucht, einen Algorithmus aus dem Hause Google oder Facebook als intelligent zu bezeichnen, wenn dieser meine Lieblingssenfsorte erraten kann, oder weiß, ob von einer beliebigen Person gelbe oder grüne Socken bevorzugt werden. Das entspricht nicht den Vorstellungen, die Warren McCulloch und Walter Pitts von künstlicher Intelligenz hatten oder Alan Turing und Hilary Putnam. Den Pionieren der 1940er und 1950er Jahre ging es um maschinelle Methoden und menschliches Denken. Den derzeit so populären Senfsortenratealgorithmen geht es eher um ausgefeilte Methoden der linearen Vorhersage, also „linear prediction with big data“. Um es anders zu sagen und nochmals auf die Klassifizierung

1957 ging es der AIForschung um menschliches Denken, 2017 geht es vorrangig um rationales Handeln.

Russells und Norvigs einzugehen: 1957 ging es der AI-Forschung um menschliches Denken, 2017 geht es vorrangig um rationales Handeln. In Träumende Kollektive. Tastende Schafe (Staat 3) begeben sich die Partizipanten nochmals um dreißig Jahre in die Zukunft, ins Jahr 2047. Dann – oder jetzt – stehen nicht mehr das Denken oder das Handeln im Zentrum des maschinellen Wirkbereichs, sondern die Träume. In der Musik zu Wim Wenders Film Bis ans Ende der Welt träumen Menschen, und Maschinen sind in der Lage diese Träume aufzunehmen. Die Traumaufzeichnungen können wie die Speichermedien eines Videorecorders dazu verwendet werden, Träume wieder abzuspielen. Wim Wenders und Solveig Dommartin, die die Geschichte schrieben,

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und der amerikanische Filmemacher Michael Almereyda, der das Drehbuch verfasste, weisen bereits darauf hin, was die Probleme automatisierter Traumaufzeichnung sein könnten. Eine „Bilderkrankheit“ könnte dazu führen, den maschinellen Traumaufzeichnungen mehr zu trauen als der physikalischen Wirklichkeit. Auch die Verdrängung von anderen vormaschinellen Träumen wäre vorstellbar. Im Film rebellieren daher die australischen Aborigines gegen die Traummaschinen. Wie es sich für einen guten Film gehört, drängt natürlich auch das CIA in den Plot. Träume sind politisch verwertbar, und Träume müssen die Apparate der Macht interessieren. Schließlich wird auch argumentiert, dass die Traumsucht zur Beschädigung des physiologischen Sehapparates führen könnte. All diese Faktoren des kollektiven und maschinenvermittelten Träumens zeichnen sich in unserer Gegenwart ab. Wir sind willig, unsere Träume preiszugeben, und wir sind süchtig danach, immer mehr Träume vorgespielt zu bekommen. Was wir nicht sehen wollen, weil wir vielleicht schon „bilderkrank“ sind, sind die Strategien der Macht und die Gefahren unserer freiwilligen Entmachtung. Dreams seen by a man-made machine How does it seem, how does it seem That we can see each others dreams (Can: Last Night Sleep)

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Träume sind politisch verwertbar.


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Literatur: Aldridge, Irene (2013), High-Frequency Trading: A Practical Guide to Algorithmic Strategies and Trading Systems. Hoboken/ New Jersey. Bates, John (2015), „Post Flash Crash. Regulators Still Use Bicycles to Catch Ferraris“. www.tradersmagazine.com/news/technology/post-flash-crash-regulators-still-use-bicycles-to-catchferraris-113762-1.html. Cartea, Álvaro, Jaimungal, Sebastian u. Penalva, José (2015), Algorithmic and High-Frequency Trading (Mathematics, Finance and Risk), Cambridge. Dayen, David (2016), „The Android Administration“. https://theintercept.com/2016/04/22/googles-remarkably-close-relationshipwith-the-obama-white-house-in-two-charts. Eggers, Dave (2013), The Circle. London. Fancher, Raymond E. (1979), Pioneers of Psychology. New York/London. Financial Times (2017), „Google’s China prospects rest on Trump, says Chinese official“. www.ft.com/content/6b24d1b8-1ac9-11e7bcac-6d03d067f81f. Foucault, Michel (2005), Analytik der Macht. Frankfurt am Main, S. 68–75. Gardner, Howard (1985), The Mind’s New Science: A History of the Cognitive Revolution. New York City. Hartmans, Avery (2016), „Stolen emails reveal a tight relationship between Google’s Eric Schmidt and the Clintons“. www.businessinsider.de/wikileaks-emails-google-eric-schmidt-relationship-with-clintons-2016-11?r= US&IR=T. Lipton, Josh (2017), „Google was overwhelmingly against Trump, now it’s trying to win him over“. www.cnbc.com/2017/01/17/ google-was-against-trump-now-its-trying-to-win-him-over.html. Montaigne, Michel Eyquem de (2012) [1580], Essais. München. Nilsson, Nils (2005), „Human-level artificial intelligence? be serious!“ In: AIMag 26 (4). Nilsson, Nils (1998), Principles of Artificial Intelligence: A New Synthesis. Burlington. Rich, Elaine/Knight, Kevin/Nair, Shivashankar B. (1991), Artificial Intelligence. New York City. Russell, Stuart J. u. Norvig, Peter (1995), Artificial Intelligence. A Modern Approach. Upper Saddle River/New Jersey. Simon, Herbert (1957), Models of Man: Social and Rational. New York City. Tantner, Anton (2015), Die ersten Suchmaschinen. Adressburos, Fragämter, Intelligenz-Comptoirs. Berlin. Whitehead, Alfred North/Russell, Bertrand (1910), Principia Mathematica. Cambridge. Winston, Patrick (1992), Artificial Intelligence. Boston.

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Weltzustand Davos


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Davos scheint ein Rückzugsort zu sein, an dem die Uhren anders ticken. Dank Höhenluft und -sonne kamen Tuberkulosekranke in die dortigen Sanatorien. Mittlerweile ist Tuberkulose medikamentös behandelbar und einmal im Jahr landet hier, wie ein Raumschiff, das „World Economic Forum“, eine der wichtigsten internationalen Wirtschaftskonferenzen. Neben Konzernchefs tummelt sich eine Elite aus Politik, Kultur und humanitären Einrichtungen in Davos. Was wird von den dreitausend Global Leaders hier verhandelt, geplant, abgemacht? Werden auf höchster Ebene unter Umgehung demokratischer Legitimierung obskure Deals geschlossen? Oder steht das WEF für eine Weltregierung, bei der privatwirtschaftliche Akteure gesellschaftliche Verantwortung übernehmen? In einem ovalen Raum werden die Zuschauer Teil eines olympischen Treffens über den Wolken und nehmen die Biographie eines Konzernchefs an. Während das Publikum in fremde Rollen schlüpft, spielen die fünf „Experten“ im Bühnenring sich selbst: Der Sozialmediziner und Soziologe Ganga Jey Aratnam publiziert zum Einfluss von Reichtum und Macht in der Schweiz und erforschte Auswirkungen des internationalen Rohstoffhandels. Otto Brändli war als Lungenarzt an Kliniken in Zürich, New York, Wald und Davos tätig und beschäftigt sich mit der weltweiten Renaissance der Tuberkulose. Hans Peter Michel, ehemaliger Landammann von Davos, ist dort in einer Bergbauernfamilie aufgewachsen und war in seinem Amt gestaltender Verhandlungspartner des WEF. Während der Proteste von Globalisierungsgegnern trat er als Vermittler zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten auf. Sofia Sharkova hat mit 19 Jahren ihr erstes Unternehmen gegründet. Heute arbeitet sie bei einem IT-Konzern und leitet einen Verein, der Frauen als Unternehmerinnen fördern will. Als Vizepräsidentin des Zürcher Hubs der „Global Shapers“ des WEF setzt sie sich für Gleichberechtigung ein. Cécile Molinier hat 35 Jahre für die UN gearbeitet, davon die meiste Zeit für dessen Entwicklungsprogramm in Afrika.

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LOGBUCH

4. November 2016, Zürich/Berlin Am Beginn der Recherche steht der Versuch, das „World Economic Forum“, also die Stiftung mit Sitz in Cologny bei Genf, direkt zu kontaktieren. Über verschiedene Verbindungen können wir uns persönlich an Hilde Schwab wenden, die wir um ein Gespräch bitten. Sie ist die Ehe-

Karolin Trachte, Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi, Anna Königshofer, Imanuel Schipper

frau von Gründer Klaus Schwab und Mitgründerin des WEF. Sie bittet freundlich um Verständnis, aber sie und ihr Mann „sehen leider keine Möglichkeit, darauf einzugehen“. Die Hoffnung, Zugang zu einem der begehrten Badges und damit Zutritt zum WEF zu bekommen, rückt erstmal in weite Ferne.

Berlin –> Zürich –> Davos –> Cologny –> Dalian (China) –> Zürich

7. November 2016, Berlin Ein Journalist, den wir treffen, arbeitet an einem Film über das WEF. Er war dazu selbst am WEF, im Headquarter und bei einem „Regional Meeting“. Er sagt: „Historisch ist das WEF das Symbol der Postdemokratie – in Wahrheit ist es aber eine internationale Konferenz, die von einem privaten Veranstalter durchgeführt wird. In Davos wird nichts entschieden.“ Etwas später ergänzt er: „Das WEF ist das beste Netzwerk der Welt.“ Er beschreibt das starke Wir-Gefühl: „Wir duzen uns alle. Wir sind diejenigen, die etwas tun können. Wer, wenn nicht wir?“

Das beste Netzwerk der Welt | Der Zauberberg |

Wir sind erfolgreich mit einem Tweet an Philipp Rösler,

Davos Men | Tuberkulose | Global Governance

den ehemaligen deutschen Finanzminister, mittlerweile Vorstandsmitglied beim WEF. Er verweist uns weiter. 24. Januar 2017, Zürich Wir sprechen mit einem ehemaligen Berater des WEF. Für ihn ist das WEF ein „Katalysator“: Es geht um ein „großes Shakehands“ und den Austausch – und das nicht in erster Linie in den Konferenzbeiträgen, sondern während hunderter von Einzeltreffen. Die Teilnehmer

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Das WEF – ein Verein von „Handschweißfetischisten“?

gehen sehr gut vorbereitet in diese Gespräche und kom-

ammann von Davos. Die Gemeinde Davos und das WEF

men nach dreißig Minuten mit hochrotem Kopf wieder

verhandeln partnerschaftlich, planen die Sicherheitsvor-

heraus. Die vielleicht komplizierteste Agenda dürfte in

kehrungen gemeinsam, teilen Kosten auf und so weiter.

diesen Tagen der Hausherr selbst haben, Klaus Schwab.

Nach 9/11 fand das WEF einmalig aus Solidarität in New

Autor und Journalist Jürgen Dunsch hat über ihn ein

York statt. Kurz schien es eine Option zu sein, nicht zu-

Buch geschrieben: Gastgeber der Mächtigen.

rückzukehren. Doch seit der Gründung 1971 (damals

Er erzählt vom WEF-eigenen sozialen Netzwerk „Toplink“,

noch als „European Management Forum“) blieb es bei

mit dem man Termine digital vereinbart. Trotzdem gäbe

dieser einen Ausnahme 2002.

es noch den „Kaminzimmer-Effekt“ und zufällige per-

„Übrigens: Zum Thema der Proteste der 1990er Jahre

sönliche Begegnungen unter den Wichtigsten und Mäch-

solltet ihr meinen Vorgänger Hans Peter Michel treffen“,

tigsten der Welt. Nicht zu vergessen: die langen Nächte

verabschiedet sich Caviezel. Während dem WEF ist das

mit Dinners und Partys der Unternehmen, wie die Bolly-

Kongresszentrum wichtiger Anlaufpunkt, obschon es

wood Night, in der Bar im Hotel Pöstli, im Belvédère

kein eigentliches Zentrum darstellt. Man trifft sich in den

oder bei der Burda Night. Mit den Vorwürfen, das WEF

dreißig Hotels und Unternehmen wie Facebook bauen

sei ein konspirativer, gar gefährlicher Club unter Aus-

während des WEF auf der Promenade ihre eigenen Cha-

schluss der Öffentlichkeit, kann Jürgen Dunsch wenig

lets auf – alles temporäre Bauten – oder veranstalten in

anfangen. Eher der „wichtigste Stammtisch der Welt“,

den Lobbys der Hotels eigene Panels. Auch im Kon-

das „Jahrestreffen der Globalisierungsfreunde“. Kriti-

gresszentrum wird für das WEF praktisch jeder Zentime-

scher ist da erwartungsgemäß Oliver Classen, Medien-

ter überbaut, eigene Böden verlegt, Wände gestellt, Tre-

verantwortlicher bei „Public Eye“ (ehemals „Erklärung

sen gebaut, Logos geklebt – ein Phänomen, das die

von Bern“). In seinen Augen ist das WEF ein Verein von

gesamte Stadt betrifft. Gerade befindet es sich im Rück-

„Handschweißfetischisten“, die sich treffen, um staatli-

bau, überall Arbeiter, Kisten, verbrauchtes Material. Zu

chem Eingriff durch Steuern oder Regulierungen zuvor-

den vielen Arbeitern, die den Auf- und Abbau bewerk-

zukommen, indem sie Selbstverpflichtungen verfassen –

stelligen, gehört auch Lukas. Er bietet uns eine Führung

unter dem Mantra der Freiwilligkeit. Der Rest ist eine Art

an, zeigt uns den Plenarsaal und erklärt uns die Logistik.

„Burning Man Festival for Billionaires“. Die Jahre der

Fotograf Andy Mettler war langjähriger Hausfotograf

Proteste endeten damit, dass das WEF sich öffnete und

des WEF, kennt Klaus Schwab seit vielen Jahren persön-

Formate wie das „Open Forum“ einrichtete, während

lich und erzählt vom Glamour des WEF. Mit Hillary Clin-

„Public Eye“ seine Aktivitäten vom WEF abzog.

ton war er Ski fahren, Bill Gates kennt er schon seit den 1980er Jahren. In Celebrity-Dichte stehe das WEF einer

25. Januar 2017, Davos

regulären Film-Biennale in nichts nach! – Früher. Heute

Der erste Besuch im verschneiten Davos zwei Tage nach

sei es „viel zu groß, zu schnell und zu unpersönlich!“

Ende des 47. „Annual Meeting“ führt uns am Morgen ins

Die berühmte Davoser Höhensonne strahlt, Lokalbesuch

Rathaus zu Tarzisius Caviezel, dem amtierenden Land-

im Hotel Schatzalp, das Thomas Mann zu seinem Zau-

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berberg inspirierte. Die Terrassen, auf denen früher die Schwindsuchtkranken mit Alpenluft und Butterdiät kuriert wurden, sind heiß begehrt bei indischen CEOs während des WEF. Dann werden selbst die Klinikbetten freigemacht für die Teilnehmer und VIPs, aber auch für Mitarbeiter, Militär und Polizei. Hans Peter Michel, ehemaliger Davoser Landammann, war in seiner offiziellen Funktion jedes Jahr Teilnehmer wie auch Gastgeber des Forums. Er fächert die Chronologie der internationalen Anti-Globalisierungs-Proteste auf. Sowohl mit den Demonstranten als auch mit der Polizeiführung eng verbunden, konnte er durch persönliche Vermittlung und indem er sich manchmal auch auf die andere Seite stellte, einige Eskalationen verhindern. Auf Seiten der Polizei gibt es die sogenannte 3-D-Strategie: Dialog, Deeskalation, Durchgreifen. Was den Schutz der Staatsgäste betrifft, spricht man im Sicherheitsdispositiv vom „Klumpen-Risiko“. 26. Januar 2017, Zürich Ein Journalist, den wir treffen, hat knapp zehn Jahre über das WEF recherchiert und geschrieben. Zu den Zeiten, als das WEF sich noch gegen Presse verschloss, gelang es ihm, einen Hotel-Badge zu ergattern. Um die Jahrtausendwende sprach man von den „Davos Men“ als Verkörperung des neoliberalen Managergeists. Seine Analyse des Forums heute: ein Verein zum Schwätzen und Schwurbeln, „das Innere des Tempels ist leer“. Aber ganz ungefährlich vielleicht nicht, „hier werden die Trends nicht besprochen, sondern vielmehr ohne jede Evidenz gemacht“. Er erinnert sich an eine Rede, in der Klaus Schwab auf Thomas Manns Zauberberg anspielte, etwa: Es wird viel geredet und am Ende bricht der Weltkrieg aus. Gleichzeitig würde ein „Tom-Sawyer-Trick“ angewendet, der großartig funktionieren würde: „Der Ein-

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trittspreis ist so unglaublich hoch, dass das Forum be-

tologe Geoffrey Allen Pigman 2006 von zwei Narrativen

deutungsvoll sein muss.“ Der Basler Soziologe Ueli

des Forums. Einerseits: Das WEF als der noch junge

Mäder meint: „Das Forum findet im Elfenbeinturm statt.

Shar-Pei-Welpe, dessen Haut ihm noch zu groß ist – es

Dass Mächtige zusammensitzen, garantiert noch keinen

wächst noch in seine Aufgabe, die World Governance,

Beitrag zum Frieden.“ Der ehemalige Bundespräsident

hinein. Andererseits das Bild der Kritiker: der Wolf im

Moritz Leuenberger erzählt vom pragmatischen Nutzen

Schafspelz, darin die Weltelite, die sich beim WEF be-

des WEF. Während sich sonst die Terminplanung mit Mi-

sorgt gibt und auf den Moment zum Zuschlagen wartet.

nistern kompliziert gestaltet, findet man sich in Davos ganz leicht. So mancher Staatsbesuch erübrigt sich dank

29. Mai–2. Juni 2017, Berlin

WEF. „Es ist der Marktplatz der Präsidenten, Premiers

Rimini Protokoll beginnt im Rahmen der „Haniel-Sum-

und Minister. In drei Tagen konnte ich so viele Termine

merschool“ die Beschäftigung mit den WEF-Teilneh-

vereinbaren, wie sonst im ganzen Jahr nicht.“

mern. Jeder Studierende der HSG und der Copenhagen Business School nimmt sich eine Biographie vor – Jack

23. März 2017, Zürich

Ma, Gary White oder Priscilla Chan – und untersucht

Alois Zwinggi ist WEF-Vorstandsmitglied und wurde von

deren Motivation, das „Annual Meeting“ zu besuchen.

der Neuen Zürcher Zeitung „der Klempner des WEF“ ge-

Wir treffen zwei Vertreter der „Global Shapers“, der

nannt. Wir fragen ihn nach den internen Strukturen, den

Nachwuchsorganisation des WEF. Sie sind eine welt-

anderen Konferenzen neben dem „Annual Meeting“

weite Community von circa siebentausend Mitgliedern,

(Davos) und nach den „Initiativen“. Das sind ganzjährige

die in lokalen Hubs auf der ganzen Welt Projekte initiie-

Projekte des WEF, bei denen nach dem Stakeholder-Prin-

ren, bei denen „gesellschaftliche Probleme mit unter-

zip Bürger, NGOs, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft

nehmerischem Handeln“ angepackt werden sollen.

an einen Tisch geholt werden. So wird in Boston die Ein-

Michèle Mischler, zuständig beim WEF für die schweize-

führung fahrerloser Autos vorangetrieben und „Grow

rische Öffentlichkeitsarbeit, zeigt die große Breite der

Africa“ verbessert in Zusammenarbeit mit der UNO die

Tätigkeiten des Think Tanks auf und stellt sich den kriti-

Lebensmittellogistik. Ist das Postdemokratie, wenn pri-

schen Fragen der angehenden Wirtschaftselite.

vate Akteure wie das WEF solche Aufgaben koordinieren? Eine Tendenz dahin gebe es schon. „Das Forum ver-

20. Juni 2017, Cologny

steht sich als Public-private-Partnership und interessiert

Alois Zwinggi lädt ein zum Hausbesuch nach Cologny

sich für Fragen der Governance, also für Regelsysteme,

ins Hauptquartier des WEF. In einer langen Agenda stel-

die nicht unbedingt staatlich sind.“

len sich Vertreter der 650 Mitarbeiter vor, darunter Nico Daswani, Head of Arts and Culture, Yann Zopf, Head of

28. April 2017, Zürich/Berlin

Media Operations and Events, und Christoph von Tog-

In seinem Buch World Economic Forum. A Multi-Stake-

genburg als Zuständiger für die „Global Shapers“, die

holder Approach to Global Governance schreibt der Poli-

„Young Global Leaders“ und die Schwab Foundation for

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Social Entrepreneurship. Er ist eigentlich Künstler und

kulinarisch und kulturell zu bieten hat. Im Foyer steht

als Fotograf in vielen Konfliktregionen tätig. Ein Quer-

eine selbststeuernde Drohne mit einem Sitz für eine

einsteiger wie viele der WEFler. Er ist beeindruckt von

Person – ein Ein-Mann-Hubschrauber. Beim Betreten

der Heterogenität und der Offenheit beim Forum. Sämt-

des futuristischen Gebäudes muss man durch einen

liche Mitarbeiter in offenen Großraumbüros – in einer

Metalldetektor und beim Rausgehen muss man sich

hinteren Ecke hinter dem Monitor: Philipp Rösler.

für einen von drei übertitelten Torbögen entscheiden: „The future feels exciting“, „… challenging“ oder „…

26.–29. Juni 2017, Dalian (China)

frightening“. Ausbeute: 37 Sessions, 62 „businesscards“,

Der Besuch beim WEF hat gefruchtet: Eine Teilnahme am

6 „bilateral meetings“.

„Summer Davos“, dem „Annual Meeting of the New Champions“ in China, ist möglich. Sie beginnt schon

28. August 2017, Zürich

Wochen vor dem eigentlichen Meeting. Gespräche, Info-

Roman Gutzwiller, der Präsident des „Global Shapers“-

Mails und immer wieder Aktualisierungen auf „Top-Link“,

Hubs Zürich, erzählt von einem Projekt, bei dem her-

dem Konferenz-Netzwerk des WEF. Huawei lädt zum

kömmliche Taxis durch elektrisch angetriebene Taxis

Empfang in ein Fünf-Sterne-Hotel, Swissnex zum Pitch

ausgetauscht werden. Kann man auch ein „Shaper“ wer-

mit Apéro. Schon beim Umsteigen in Peking outen sich

den, wenn man arbeitslos ist? Gutzwiller meint, theore-

einige durch eine ausgedruckte Programmvorschau als

tisch ja, aber es gebe strenge Aufnahmekriterien; man

Teilnehmer und spätestens beim Desk in Dalian wird

müsse einen Leistungsnachweis haben und passioniert

man mit Blau-Weiß gebrandet: Bei der Registrierung

sein für die Anliegen der Community und des Hubs. Ge-

gibts neben dem Badge eine blaue Tasche und ein Notiz-

rade aus der Kunst- und der Sportszene fehlen ihnen

buch. Die Zone um das Konferenzzentrum am Hafen ist

Leute. „Die konnten wir noch nicht überzeugen, da herr-

weiträumig abgesperrt – nur mit Badge hat man Zutritt.

schen auch einige Vorurteile gegenüber dem WEF.“

Am Vorabend gibt es ein Warm-up mit den Kulturvertretern und einen Empfang mit den „Young Scientists“. Am

29. August 2017, Davos

Morgen geht es um sieben Uhr mit einem „Informal

Zweiter Davos-Besuch, diesmal im Hochsommer. Wir

Breakfast“ los. Dann folgt Session auf Session – Block-

treffen den stadtbekannten Hotelier Ernst „Aschi“

chain, „global warmth“, „machine learning“, „electronic

Wyrsch. Er leitete mit seiner Frau das Hotel Belvédère,

identity“, „empathy“, CRISPR usw. Zweitausend Teilneh-

wo man sich auf die Super-VIPs spezialisiert hatte: „Die

mer lauschen dem chinesischen Premier, wie er ver-

Geister, die wir riefen … Ich bin der Ursprung dieser bru-

spricht, dass China den heimischen Markt noch mehr für

talen Vermarktung“. Hier fanden in manchen Jahren über

ausländische Investoren öffnet. Vormittags gibts frische

zweihundert Veranstaltungen in fünf Tagen statt. Das

Gemüsesäfte, nachmittags Kekse aus Insektenprotein,

WEF ist Fluch und Segen: „Zehn Tage Arbeit ohne eine

abends einen überwältigenden cultural evening, bei

Minute Schlaf – dafür dann 355 Tage ruhiger Schlaf“.

dem Dalian so ziemlich alles auffährt, was die Provinz

Neben den dreitausend Hotelbetten für die Wichtigsten

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Im Foyer steht eine selbststeuernde Drohne mit einem Sitz für eine Person.


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muss während dem WEF für weitere siebentausend Menschen Platz gemacht werden – weshalb viele ihre privaten Räume vermieten. Das ausschlaggebende Kriterium bei den Wohnungen, erzählt uns ein Immobilienmakler, sei der Internetzugang. Ein Champagner im Kühlschrank und eine Fruchtschale auf dem Tisch sind bei den horrenden Mieten eine kleine Willkommensgeste. Es lässt sich sehr viel Geld verdienen. Sein Hobby? Jagen. „Jagen ist fast noch schöner als das WEF.“ Echte Engpässe gibt es bei den Putzkräften in Davos, was die Stundenlöhne in die Höhe treibt. Vermieten und alles rausräumen ist Peter Flury das Geld nicht wert. Er leitet das kleine, aber zentral gelegene medizinhistorische Museum. Hier versammelt er alte Röntgengeräte, Spucknäpfe, den berühmten Peddigrohrliegestuhl – und die Lebensgeschichten vieler Kranker. Wie man heute weiß, war die Davoser Luft für die Heilung der Tuberkulose praktisch ohne Einfluss, eine nachweisbare Wirkung hingegen hat die Höhensonne. Bis heute herrschen außerdem besondere Bedingungen für Asthmatiker, weil es in Davos keine Milben gibt, sagt Cezmi A. Akdis, der Chef des Schweizer Instituts für Allergieund Asthmaforschung (SIAF). Könnte man das WEF als eine Höhen- und Sonnenkur der Weltwirtschaft betrachten, ein Moment der Ruhe und Besinnung zu Beginn des Geschäftsjahres? Ein weiteres Spitzeninstitut in Davos ist das Physikalisch-Meteorologische Observatorium. Es fungiert zugleich als „World Radiation Center“, als eine Art „Nullpunkt“ in Sachen Sonnenforschung. Alle fünf Jahre kommen Institute aus der ganzen Welt mit ihren Messgeräten für drei Wochen nach Davos angereist. Während dieser Zeit werden – wenn es das Wetter zulässt – auf allen Geräten die Sonnenstrahlungswerte verglichen und an die Davoser Geräte angepasst. Ist das

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das WEF? Ein Abgleichen der Messwerte, ein Sensorium für die bevorstehende Zukunft? Beim Gespräch mit der Immunologin Nicole Joller (UZH) taucht ein neuer Aspekt auf: Wissenschaftstheater. Sie berichtet davon, wie sie als Rednerin für ein Panel beim WEF ihren Vortrag aufs Genaueste timen und immer wieder üben musste. Das WEF-Programm ist zu dicht, komplex und hochstehend, als dass hier jemand stammeln oder seine Redezeit überschreiten dürfte. Selbst Nelson Mandela nicht – der es 1992 aber trotzdem tat und von Klaus Schwab gestoppt werden musste. 31. August 2017, Zürich

Welt bleibe politisch ein „Flickenteppich“, daran könne

Wir treffen noch weitere „Global Shapers“, außerdem

weder die UNO noch die Wirtschaft etwas ändern.

einen afrikanischen Ingenieur für Entwicklungsarbeit

Dass Staatschefs zum WEF anreisen, hat aber noch an-

sowie die Leiterin der Global Regulatories einer interna-

dere Vorteile. Als Pilot der Schweizer Luftwaffe weiß

tionalen Bank und weitere Politologen. Nikola Biller-

Beat Hedinger das WEF gewissermaßen zu schätzen – es

Andorno, Medizinethikerin, berichtet von dem zuneh-

ist der größte Einsatz der Luftwaffe des Jahres, ein An-

menden Einfluss privater Geldgeber auf die Agenda gro-

lass, der viele aufwendige Übungseinsätze erübrigt.

ßer Einrichtungen wie der Weltgesundheitsorganisation.

Neben der Luftraumsicherung gewährleistet die Luft-

Immer häufiger verhindern projektgebundene Gelder,

waffe auch den Personentransport für Staatsvertreter

dass die WHO selbst entscheidet, worauf sie ihre Aktivi-

von Kloten nach Davos. Diese landen mit den Staatsma-

täten lenkt. Ist das WEF eine Zelle der Postdemokratie, in

schinen in Kloten und werden von dort in dreißig Minu-

der die Wirtschaft die Global Agenda schreibt? Das zu

ten nach Davos gebracht. Eine Schwierigkeit besteht

vertiefen, bekommen wir heute Gelegenheit. Allerdings

darin, dass hohe Repräsentanten es gewohnt sind, volle

nimmt uns Thomas Bernauer, Politologe der ETH, was

Entscheidungsmacht zu haben. Aber im Gegensatz zu

die These der Postdemokratie betrifft, ziemlich den Wind

Kloten, wo man nach Geräten fliegen kann, braucht es

aus den Segeln. Das WEF-Motto „Comitted to improving

zum Anflug in Davos Sichtflugbedingungen. Ob man si-

the state of the world“ findet er selbstbewusst, aber eine

cher fliegen kann, kann nur der Pilot entscheiden, egal

allgemeine, problematische Einflussnahme der Kon-

ob hinten Kofi Annan oder Bill Gates sitzen. Am Abend

zerne auf die Politik sieht er eher nicht. Auch eine gar zen-

erklärt Bernhard Müller, der designierte Chef der Schwei-

tral koordinierte World Governance werde es nie geben;

zer Luftwaffe, am Stützpunkt Dübendorf die Kapazitäten,

weder staatlich noch privatwirtschaftlich organisiert. Die

die Einsatzplanung, die Kommunikationsketten der Luft-

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Das WEF ist der größte Einsatz der Luftwaffe des Jahres.


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Ende September 2017, Zürich Sofia Sharkova und Hans Peter Michel sagen uns als Erste für das Projekt zu. Leider sagt zugleich der Zürcher Gärtner und Skilehrer ab, der sich in Davos jedes Jahr finanziell sanierte, indem er beim Aufbau des Konferenzbereichs mitgehämmert hat. Er hat sich mittlerweile entschieden, Polizist zu werden. Der Soziologe Ganga Jey Aratnam teilt sein Interesse schon beim ersten Skype-Gespräch von seinem Forschungsaufenthalt in Sambia aus mit. Seine Biographie hat ihn schon früh um die ganze Welt gebracht, in Zug lernte er seine heutige Frau kennen. Er interessiert sich für die Aktivitäten der Firma Glencore, deren Hauptsitz waffe beim WEF. Es gebe kaum eine größere Dichte von

in Zug ist – und die natürlich jedes Jahr am Forum in

interessanten Zielpersonen für mögliche Anschläge.

Davos teilnimmt.

1. September 2017, Zürich

11. Oktober 2017, Zürich

Sofia Sharkova trifft uns an einem Morgen in der Milch-

Als Vertreterin der Medizin im Zeitalter digitaler Vernet-

bar, Nähe Paradeplatz. Wir hoffen von ihr als Vize-Präsi-

zung spricht eine Forscherin des Zürcher Büros von

dentin der Zürcher „Global Shapers“ mehr über den

Watson Health über Patientendaten, die von Algorith-

Nachwuchs der „Davos Men“ zu erfahren. Sie arbeitet

men für andere nutzbar gemacht werden sollen. Die

für einen großen IT-Konzern, aber sie berichtet auch von

Spur verliert sich in der Abstraktion der Programmier-

ihren eigenen Start-ups und davon, wie sie mit ihrem

sprachen.

Verein „ASPIRE“ und einem Mentoring-Programm junge Gründerinnen ermutigt und unterstützt. Denn wie

24. Oktober 2017, Genf

in vielen anderen Bereichen sind auch hier die Frauen

Cécile Molinier hat ihr Leben lang für die UNO gearbei-

unterrepräsentiert. Aufgewachsen in Russland hat Sofia

tet. Sie war selbst nie beim WEF, hat beim UN-Pro-

bis heute 67 Länder besucht, in elf gelebt und gearbeitet.

gramm für Entwicklungshilfe aber immer wieder erlebt,

Eine ehemalige WEF-Mitarbeiterin, jetzt Konferenzdirek-

dass große Projekte wie die „Millenium Goals“ nur ge-

torin bei einem anderen Institut, erzählt von verspäteten

meinsam mit privaten Partnern gelingen konnten. Diese

Helikoptern, dem andauernden Adrenalinhoch bei den

Partner traf ihre Abteilung nicht selten in Cologny oder

Mitarbeitern in Davos und dem logistischen „Night-

Davos. Sie findet unser Projekt spannend und sagt zu –

mare“, als 2002 innerhalb von wenigen Wochen das „An-

der „Cast“ ist also mit ihr und Aratnam auf vier Perso-

nual Meeting“ nach New York verlegt wurde.

nen angewachsen.

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17. und 18. Oktober 2017, Zürich

den, aber Theaterstücke sind ein Anfang …“ In seinen

Über einen Leak kommen wir an die Teilnehmerliste des

Augen ist das WEF ein Lobbyverein. Nicht für ein Pro-

WEF von 2017 und durchsuchen sie nach möglichen Ge-

dukt, eine Branche, sondern für die Idee, dass die Priva-

sprächspartnern und Darstellern. LinkedIn-Profile wer-

tisierung die schnelleren, effektiveren, mobileren und

den zur wichtigen Quelle für WEF-Teilnehmer, die in Zü-

innovativeren Lösungen für jedes Problem leisten kann

rich leben. Leider ohne Erfolg: Der Zeitaufwand für

als der Staat. Wir bitten ihn um eine Körperhaltung oder

Theaterproben ist zu hoch für berufstätige Top Shots aus

Geste, die ihm typisch erscheint für das WEF oder die

der Wirtschaft.

Postdemokratie. Ihm fallen für eine Machtelite, die denkt „Wer, wenn nicht wir …“, verschränkte Arme ein.

3. November 2017, Zürich Margit Haberreiter ist Sonnenspezialistin am „World Ra-

17. November 2017, Zürich

diation Center“. Wenn sie vom Energiezentrum Sonne

Der Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik

spricht, von ihren „unkalkulierbaren Massenauswürfen“

und Prävention verweist auf Otto Brändli. Der 76-jährige

und den dunklen, aber doch heißen Flecken mit über

Lungenarzt widmet sich neben seinen Patienten vor

fünftausend Grad Kelvin, eröffnet sich eine neue Paral-

allem der Wiederkehr der Tuberkulose weltweit – ein

lelperspektive auf das WEF. Wir beginnen später gemein-

Thema, das auch das WEF auf seiner Agenda hat.

sam mit ihr zu proben, bis wir merken, dass die Sonne

Brändli ist Präsident der Schweizerischen Stiftung für Tu-

zu weit entfernt ist vom thematischen Kreis des sehr ir-

berkuloseforschung, die ihrerseits auf Drittmittel aus der

dischen WEF.

Wirtschaft angewiesen ist. Er kann die Geschichte der Tuberkulose als Davoser Geschäftsidee beleuchten. Mit

6. November 2017, Zürich

Otto Brändlis Zusage endet die Recherchephase. Zum

Die ehemalige WEF-Mitarbeiterin Corine Blesi bildet sich

Probenbeginn treffen sich Darsteller und Team. In Einzel-

zurzeit als Journalistin weiter und wäre aus dieser Per-

und Gruppentreffen beginnt jetzt die Entwicklung des

spektive sehr am Projekt interessiert. Letztendlich schei-

Stücks.

tert die Zusammenarbeit an der geplanten London-Reise der Familie, die leider punktgenau auf das Premierendatum fällt. 16. November 2017, Zürich Der englische Politikwissenschaftler Colin Crouch, dessen Essay Postdemokratie weltweit kritisch diskutiert wurde, antwortet auf eine Anfrage zu einem Gespräch: „Ich habe immer von Postdemokratie-T-Shirts und Spielzeugen geträumt, die ein bisschen Geld einbringen wür-

166 | Staat 4


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STÜCKAUSZUG

1.

Woran denken Sie heute, wenn Sie Davos hören?

Einlass mit informeller persönlicher Begrüßung

An das World Economic Forum.

durch Hans Peter

Nach der Entdeckung eines Antibiotikums räumten die Geheilten Davos und das World Economic

2.

Forum zog in die Stadt. Die neue Mission lautet:

Musik: Ouvertüre

„committed to improving the state of the world“! Die Welt ist jetzt ein Patient, dessen Zustand ver-

Zürcher Fassung Hans Peter: (Mundart) Als Bub hat mir meine

bessert werden soll!

Mutter die Geschichte vom Wolf und dem Fuchs

Bei Weltzustand Davos sitzt das Publikum auf einer runden Arenabühne und die fünf Darsteller spielen in ihrer Mitte. Jeder Zuschauer nimmt eine Identität eines WEFBesuchers an und informiert sich über dessen Biographie mit Hilfe eines Büchleins, das am Platz ausliegt. Manchmal sprechen die Spieler gleichzeitig, jeweils zu einem Sektor der Zuschauerreihen.

erzählt: „Der Fuchs und der Wolf sind durch ein

3.

kleines Loch im Fenster in den Keller des Bauers

Sofia: I am somebody who wants to improve the

hineingeschlüpft und haben dort Fleisch gefressen.

state of the world. My name is Sofia. I have studied

Der Wolf konnte gar nicht genug bekommen. Der

International Business, economics and neuro-

Fuchs ist immer wieder durch das Loch hinaus –

science in Russia, Malta, France, England and Ger-

und wieder reingeschlüpft. Da fragt der Wolf den

many. I have two bachelor degrees and three mas-

Fuchs: Warum rennst du so aufgeregt hin und her?

ters. I have visited 67 countries and lived in eleven.

Und der Fuchs sagt: Ich schau nur nach, ob der

Currently I live in Zürich. I work in the tech industry.

Bauer nach Hause kommt. Aber das stimmte nicht.

But this is only a part of what I do. I also founded

Er schlüpfte rein und raus, um zu überprüfen, ob

Aspire four years ago to help female entrepreneurs to

er noch durch das Loch passt und noch nicht zu

realize their potential, and to set up their business.

fett geworden war. Und als dann schließlich der Bauer kam, ist der Fuchs – im Gegensatz zum Wolf –

And this is what I will do with you tonight. Jetzt ver-

durch das Loch in die Freiheit entkommen.“

suche ich auf Deutsch zu sprechen! Ich werde Sie

Schönen Guten Abend. Herzlich willkommen! I am

heute zu Unternehmerinnen und Unternehmern

the mayor of Davos.

machen. Und dazu brauchen wir Ihre Energie!

Mein Name ist Hans Peter Michel, in meiner Rolle

170 | Staat 4

als Landammann durfte ich im Jahr zwischen ein-

Kennen Sie die Welle? La Ola? Wie im Eishockey-

hundert und 120 Veranstaltungen eröffnen: den

Stadion!

Lungenärzte-Kongress, Apotheker-Kongress, Davos

Hans Peter, hilf mir. Zeig uns die Welle!

sounds good, Swiss 78-Kilometer-Marathon und

Wir fangen hier an, auf mein Zeichen. Und dann

Ende Dezember den Spengler Cup … Bei diesen

geht es weiter bis hier!

Reden habe ich gerne solche Fabeln verwendet.

3, 2, 1 und: oooooohaaa.

Woran hätten Sie vor einhundert Jahren gedacht,

Zürich, you could do better! Und noch einmal.

wenn Sie Davos gehört hätten? An Tuberkulose.

3, 2, 1 und: oooooohaaa.


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Gut! Diese Energie werden Sie in Davos brauchen!

Und genau so werde ich jetzt Sie auf Ihre Rolle

Letztes Jahr kamen 1750 Wirtschaftsvertreter

vorbereiten! Aber Sie sind kein Global Shaper. Sie

nach Davos. So viele haben hier keinen Platz. Des-

Ich bin die erste Vize-Präsidentin vom Zürich Hub

sind heute ein Top Shot! Ein Manager eines multi-

halb haben wir für Sie eine repräsentative Stich-

der Global Shapers Community vom WEF. Wissen

nationalen Konzerns.

probe von 184 Identitäten gemacht. Prozentual

Sie, was Global Shapers sind? Siebentausend in-

Unter Ihrem Sitz gibt es eine Konferenzmappe.

stimmen Sie in Branche, Land und Geschlecht mit

novative Entrepreneurs und Game Changers wie

Nehmen Sie sie heraus. Finden Sie sie! Blättern

der Summe der zahlenden Gäste überein.

ich. Aus 376 Hubs, rund um die Welt. Junge Men-

Sie auf Seite zwei. Und zeigen Sie mir den Namen

Auf Seite drei sehen Sie eine kurze Biographie.

schen, die die Welt verändern wollen – und die

Ihrer Rolle auf Seite zwei!

Das ist die offizielle Davos-Biographie von Ihrer

vielleicht bald zur Elite gehören. We are the power

Sie sind eines der WEF-Mitglieder aus der Wirt-

Rolle. Also: Finden Sie heraus, wer Sie sind!

of youth. Deshalb dürfen jedes Jahr 25 Frauen und

schaft. Ihre Gruppe bildet die Hälfte vom WEF.

25 Männer zum WEF nach Davos. Und wir vom Zü-

Die andere Hälfte sind: Wissenschaftler, Vertreter

4.1.

rich Hub organisieren ein „PRE-Davos“ für die

von NGOs, Journalisten, Künstler und vor allem

Cécile, Ganga und Otto kommen rein.

fünfzig Shapers, um sie vorzubereiten. I am actu-

Politiker. Die müssen nicht zahlen! Sie hier, Sie

Alle kommentieren unterwegs Profile.

ally working on this right now …

sind die Financiers des privaten Think Tanks.

4.2. Otto:

4.2. Ganga:

4.2. Cécile:

4.2. Sofia:

4.2. Hans Peter:

Michael Goltzman,

Philipp Hildebrand,

Stéphane Richard,

Nadja Swarovski,

Iqbal Survé, Sekunjalo

The Coca Cola Company

BlackRock

CEO Orange

D. Swarovski

Investment Holdings

Das größte Getränkeunter-

Guten Abend, Philipp Hilde-

Guten Tag. Sie spielen heute

Good evening! Tonight you

Sie spielen die Rolle von

nehmen

Ihre

brand. Sie sind der Vice-

Stéphane Richard. Schön,

have the role of Nadja Swa-

Iqbal Survé. Ich hab ihn vor

Firma behauptet auf ihrer

weltweit.

Chairman von BlackRock,

Sie hier begrüßen zu dürfen!

rowski. Do you all know the

drei Jahren am WEF kennen-

Homepage, sie gebe mehr

dem größten Anlagenma-

Sie sind seit 2011 CEO von

Swarovski company? You

gelernt und war von seiner

Wasser an die Natur zurück

nager der Welt. Und zwar

Orange Frankreich.

are an Austrian business-

menschlichen

als sie in ihren Produkten

auch

Sie

Seit Sie am Ruder sind, hat

woman. You

the

beeindruckt. Unternehmer,

verkaufe? Wie sauber ist die-

Staaten beraten. Schulden

Orange in die Fieberglas-

Swarovski family firm in

Philanthrop und Arzt. Sie

ses Abwasser? Woher neh-

und Finanzkrisen sind Ihr

Technologie investiert. Sie

1995, 100 years after it was

waren sogar der Leibarzt

men Sie diese doppelte

Geschäft! Die USA, Grie-

sind

founded by your great-

von Nelson Mandela. Sie

Menge an Trinkwasser in den

chenland, Zypern, Spanien

ihrem

great-grandfather

gelten als einer der erfolg-

ärmeren Ländern, das Sie

… das sind Ihre „Kunden“.

neue Bereiche einzustei-

Swarovski 1895 in Wattens,

reichsten

dann viel teurer verkaufen?

Ein Werbespruch von Black-

gen: ins Bankengeschäft,

Austria. You are the first fe-

reichsten Geschäftsmänner

Als Arzt stört mich aber vor

Rock lautet: „Wir sind res-

die Künstliche Intelligenz

male member of the execu-

Afrikas. Sie sind Gründer

allem der hohe Zuckerge-

pektvoll

und Digitalisierung der Ser-

tive board. You grew up

der Sekunjalo-Gruppe mit

deshalb,

weil

antibürokratisch.“

gerade

dabei,

Unternehmen

mit in

joined

Daniel

Intelligenz

und

einfluss-

Staat 4 | 171


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 172

4.2. Otto:

4.2. Ganga:

4.2. Cécile:

4.2. Sofia:

4.2. Hans Peter:

halt: Ein Liter über hundert

Das ist hübsch, wenn man

vice-Branche. Ihre Verbin-

hearing family stories of

zweihundert Unternehmen

Gramm Zucker entspricht 25

vor allem an Staaten ver-

dungen in die Politik sind

how your great-great-grand-

auf dem afrikanischen Konti-

Würfel Zucker, dem vierfa-

dient.

sehr gut:

father Daniel supplied Swa-

nent.

chen Tagesbedarf an Zucker,

Philipp Hildebrand ist Ihnen

Sie waren einst Stabschef

rovski crystals to embellish

News Agency gegründet mit

und über vierhundert Kalo-

ja ein Begriff als Präsident

von Christine Lagarde, als

Queen Victoria’s

dresses,

über zehn Millionen Lesern

rien in einer Flasche!

der Schweizerischen Natio-

diese Finanzministerin unter

how your grandfather work-

im Print-und Online-Bereich.

Ihre Produkte sind mit daran

nalbank. Dort hat er wegen

Nicolas Sarkozy war.

ed with Christian Dior to

Er hat mich auch menschlich

schuld, dass in der Schweiz

seiner damaligen Frau den

Und Sie waren befreundet

create the aurora borealis

sehr beeindruckt. Er hat ge-

vierzig Prozent der Erwach-

Hut nehmen müssen.

mit Bernard Tapie, einem ex-

crystals figurines.

sagt: „Manager denken in

senen und zwanzig Prozent

Das WEF ist für Sie nicht nur

travaganten Geschäftsmann,

You are a supporter of cau-

sehr kurzen Zeitabständen.

der Kinder übergewichtig

ein wirtschaftlicher Match-

ehemaliger Minister unter

ses including „Films Without

Sie entscheiden richtig für

sind und die Zuckerkrankheit

Maker. In Davos lernten Sie

François Mitterand sowie

Borders“ and the „English

den Moment, aber nicht für

auch hier weiter zunimmt.

auch Ihre heutige Frau ken-

ehemaliger Präsident des

National Ballet“, as well as

die Zukunft. So werden die

Werden

den

nen: Margarita Louis-Drey-

Fußballclubs Olympique de

charities. You received the

Reichen immer reicher ohne

Zuckergehalt weiter reduzie-

fus, Präsidentin des Roh-

Marseille. Mit Ihrer Hilfe ist

„Making a Difference Award

Nachhaltigkeit.“

ren, zum Beispiel sechs Pro-

stoffkonzerns Louis Dreyfus.

es ihm gelungen, vor Gericht

2012“

zent, wie dies Nestle ankün-

Sie ist heute ebenfalls unter

404 Millionen Euro zu kas-

Women International“. To-

digt, oder größer auf die

uns. Ihr Unternehmen ist

sieren.

Hollande

nights meeting is important

Flaschen und Dosen aufdru-

auch

wurde diese Schlichtung vor

for you, this is a time for you

cken lassen? Oder sollten

Forschung.

Sie

selber

Gegenstand

meiner

Unter

from „Women

Sie

haben

African

for

Gericht jedoch angefochten

to meet potential buyers and

Ihre Produkte nicht ganz aus

und jetzt läuft gegen Sie und

business stakeholders. Use

Schulen und Kantinen ver-

Tapie ein Verfahren wegen

your time and enjoy tonight!

bannt werden, als staatliche

organisierten Betrugs. Viel

Präventionsmaßnahme?

Glück damit!

5.

für ein Bett in einem kleinen Zimmer. Und auch

Insgesamt bezahlen Ihre Firmen gegen 100 000

Ganga: Rechnung Nummer eins

das Essen ist Ende Januar in Davos nicht ganz

Dollar pro Person! Zweitausend Mal so viel wie

Hans Peter: Schreib mal mit, Otto!

billig.

ein Schauspielhausticket. Das WEF ist eine private

Jede von Ihren Firmen bezahlt mindestens 60 000

Was macht das alles zusammen, Otto?

Veranstaltung. Die Regeln bestimmt der Gründer:

Dollar pro Jahr als Mitgliederbeitrag. Die Kon-

Otto: 91 500.

Klaus Schwab. Und die Nachfrage ist größer als

gressgebühr ist 27 000 Dollar. Die Unterkunft kos-

Hans Peter: Am WEF rechnen wir mit runden

das Angebot.

tet mindestens sechshundert Franken pro Nacht

Zahlen!

172 | Staat 4


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 173

7.

dung unseres Helis ist vorher angemeldet wor-

Hans Peter: Darin sind auch ihre Spikes. Die ver-

Ganga: Sie sehen: Hier ist die Konkurrenz hart.

den. Sonst würden wir sofort aufgefordert, den

schenkt das WEF, damit bei amerikanischen Mana-

Aber Sie haben einen Platz. Und wir begleiten Sie

Luftraum zu verlassen, abgedrängt oder abge-

gers kein Versicherungsfall entsteht.

auf Ihrer Reise. Ich darf Ihnen Cécile Molinier vor-

schossen.

Sofia: Am wichtigsten ist aber: der Badge. Ohne

stellen: Sie hat ihr Leben lang in unterschiedlichen

Hans Peter: Von hier sieht man: Davos ist der per-

den kommen Sie nicht rein!

Positionen für die UNO gearbeitet. Zuletzt als eine

fekte Ort: nur zwei Zugänge am Boden; Flüelapass

Cécile: Holen Sie Ihre Konferenzmappe heraus.

der Direktorinnen vom UNO-Entwicklungspro-

im Winter nicht zugänglich; das kann komplett ab-

Ganz vorne in der Folie finden Sie Ihren Badge.

gramm UNDP. Sie kann Ihnen helfen, Einfluss auf

geriegelt werden. Das habe ich mit dem Sicherheit-

Nehmen Sie ihn heraus und hängen Sie ihn sich

die internationale Politik zu nehmen.

schef in verschiedenen Szenarien durchgespielt.

um.

Cécile: Und hier steht Ganga Jey Aratnam. Er ist

Und das hat mich von der Sicherheit überzeugt.

Sofia: Der Blick geht in Davos immer zuerst auf

Soziologe an der Universität Basel. Im Moment

Fertig machen zur Landung!

den Badge, und dann ins Gesicht.

forscht er über die Macht der Rohstoff-Firmen und

Wir sind jetzt auf der Seewiese gelandet: Das ist

Cécile: Blättern Sie nun weiter auf Seite vier und

deren politische Verflechtungen. Und er hat – mit

der neue Landeplatz. Weil der Schwiegersohn

zeigen Sie uns Ihre Branche.

seinem Co-Autor – 102 von den reichsten Mana-

vom Bauer der die Wiese da unten sonst für

Sofia: Im Forum sind alle Branchen willkommen.

gern und Privatpersonen der Schweiz interviewt.

10 000 vermietet hat, dieses Jahr 12 000 ver-

Nur nicht Tabak und Waffen. Aber Lockheed Martin

Auch viele von Ihnen. Deshalb kann er Sie gut be-

langte. Da hat man sich für die Wiese von Re-

ist vertreten.

raten, wie Sie am besten in Ihre Rolle finden.

power entschieden, die wollen nur fünftausend.

Welcome Mr. Makoske. Do you know that your

8.

9.

defense contractor. Der größte Waffenhersteller

Hans Peter: Jetzt gehts nach Davos. Hier stehen wir

Otto: Willkommen in Davos. Mein Name ist Otto

der Welt.

auf dem Militärflughafen Dübendorf. Anschnallen!

Brändli. Ich bin Arzt. Als ich 19 Jahre alt war, er-

Cécile: Wer von Ihnen ist aus dem Finanzsektor?

Bitte verstauen Sie Ihre Konferenzmappe Rechts

krankte mein Vater an Lungen-TB und musste für

Genau wie in Davos sind hier 25 Prozent der Anwe-

von Ihrem Sitz in der Ablage. Wir starten gleich.

mehrere Monate in eine Höhenklinik zur Behand-

senden entweder private Investoren oder Banken.

Pilot: Ready for take-off.

lung. Deshalb bin ich Lungenarzt geworden und

Deshalb war es für meine Chefin, also die dama-

Hans Peter: Wir fliegen über die Innenstadt, den

habe mich das ganze Leben für die TB interessiert

lige Leiterin der UNDP, immer wichtig, in Davos zu

company, Lockheed Martin, is the world’s largest

Zürichsee, über dem Walensee brechen wir durch

und bin Chefarzt der Höhenklinik geworden, in der

sein, um Geld für UNO-Programme zu akquirieren.

die Wolken.

mein Vater gelegen hatte. Hier in Davos habe ich

Und für nachhaltige Geschäftsmodelle zu werben.

Pilot: Cloud break.

auch als Chefarzt in einer der beiden noch aus der

Auf der Seite fünf sehen Sie Informationen zu Ihrer

Hans Peter: Churfirsten oberhalb Sargans, Land-

TB-Zeit hier übriggebliebenen Höhenkliniken gear-

Firma! Wer ist alles auf der „Forbes Global 2000“-

quart, Arosa von Westen her über Davos, über den

beitet. Damals hieß sie Zürcher Hochgebirgsklinik

Liste? Welchen Rang haben Sie auf dieser Liste?

Strehlerpass ins Landwassertal … Das ist das

Clavadel. Aber Sie müssen jetzt zur Registrierung.

Wer ist von JPMorgan? Sie sind auf Platz vier der

Mattlishorn, der Dorfberg, der Seehorn.

Sofia: Hier bekommen Sie alles, was sie brau-

Forbes-Liste Und wer ist von Citigroup? Sie sind

Hans Peter: Siebentausend Meter über uns krei-

chen: eine Konferenzmappe, Informationen …

auf Platz zwölf. Aber Top Shots sind Sie alle!! Check

sen zwei FA18-Kampfjets. Keine Angst. Die Lan-

Hans Peter, zeig ihnen die Tasche!

it out!

Staat 4 | 173


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 174

10.2 Otto:

10.2 Sofia:

10.2 Hans Peter:

10.2 Ganga:

10.2. Cécile:

Hugh Grant,

Mrs. Huda Al Ghoson, Saudi

Rolf Dörig,

Christoph Franz,

Vincent Granier,

Monsanto Company

Arabian Oil Company

CEO Adecco

CEO Hofmann-LaRoche

senior adviser Total

Ich bin ein Fan Ihres zwei

You have the role of Huda Al

Wenn wir uns in Davos tref-

Ich kenn ihn nicht, sondern

Ich kenne Sie nicht persön-

Jahre jüngeren Namensvet-

Ghosson.

important

fen, würden Sie sagen: „Was

nur seinen Kollegen Severin,

lich, aber ich habe in Maure-

ters und Schauspielers Hugh

role! She serves as an exe-

machst du, altes Haus? Du

der auch sehr zurückhaltend

tanien mit Ihnen zu tun ge-

Grant! Er hat deutlich mehr

cutive director of human re-

bist auch grau geworden.

ist. Sie sind ein super Netz-

habt. Als ich da war, war das

Haare als Sie und verdient

sources at Saudi Arabian Oil

Gehen wir einen saufen.“

werker. Ich hab Ihnen hier

Land noch sehr arm. Öl

auch mehr (58 statt nur

Company.

Dienstkollegen beim Militär,

Ihr Netzwerk aufgezeichnet.

schien, wie ein Wunder zu

zwanzig Millionen 2017 oder

You are responsible for all

wir waren beide Majors. (Ich

Er erklärt die Zeichnung.

sein. Und Total hatte genü-

2016)! Spaß beiseite.

HRM and HRD programs in

habe ihm schwierige Aufga-

Ihren Flug an die Spitze

gend Bohrtürme in der Ge-

Ihre Firma ist der größte Ver-

the

ben gemacht und er musste

haben Sie bei Lufthansa an-

gend, um das Öl zu fördern.

käufer von Saatgut (und Un-

workforce planning, staffing,

sie

gefangen.

Zwischendurch

Das Problem mit Total und

krautvernichtungsmitteln).

training and development,

durchführen.

haben Sie mit der Deutschen

Afrika ist, dass die meisten

Sie verkaufen jährlich eine

retention, employee and re-

Sie haben eine Zweitwoh-

Bahn

Staatsbetrieb

Erträge aus dem Öl in die Ta-

Million Tonnen Glyphosat!

tirees… services, and legal

nung in Davos und sind wie

geleitet. Bankkontakte und

sche von afrikanischen Füh-

Dieses Pflanzengift, Total-

and labor relations matters

ich FDP-Mitglied!

Avenir Suisse haben Sie zu

rern und von dort in die Par-

Herbizid

tötet

to more than 66 000 em-

Beim WEF sind Sie in ihrer

Swiss gebracht. Und dort

teikassen von Chirac und

sämtliche grünen Pflanzen:

ployees from eighty diffe-

Funktion als CEO der Adecco –

haben Sie auch Ihre ersten

Mitterand flossen statt in die

Es wächst dann sprichwört-

rent nationalities.

genannt,

Very

company,

including

mit

seinen

Rekruten

einen

das ist der weltgrößte Perso-

Kontakte zu Roche geknüpft.

Ursprungsländer.

lich kein Gras mehr! Nur

naldienstleister – und haben

2015 haben Sie am WEF

Hoffentlich wird das unter

noch Ihre gentechnisch ver-

selbst über 32 000 Ange-

Bundesrat

Schneider-Am-

Macron anders. Der war ja in

änderten Nutzpflanzen, Mais

stellte.

mann getroffen. Sie versi-

Davos, und ich glaube, dass

und Soja, die sind resistent

Sie waren auch schon CEO

cherten ihm, die Abwertung

er einen anderen Zugriff hat:

auf Glyphosat. Glyphosat ist

der Swiss-Life-Gruppe und

des

Frankens

Er will ja auch die Energie-

krebserregend für uns Men-

diverser Banken.

durch die Schweizer Natio-

wende vorantreiben. Und da

schen (wie es die Internatio-

Sie gehen gern in die Oper.

nalbank sei richtig.

sollten Sie mitmachen, Herr

nale Agentur für Krebsfor-

Roche ist gut vernetzt mit

Granier.

schung 2015 eingestuft hat).

Regierungen. Das hat die

Sie haben trotzdem, dank

Vogel- und Schweinegrippe

Wer von Ihnen ist Investor?

gekauften Studien, wie kürz-

gezeigt.

Weltgesund-

Machen Sie Druck auf Vin-

heitsorganisation hat Tami-

cent Granier, damit Total/Elf

lich bekannt geworden ist,

174 | Staat 4

Schweizer

Die


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 175

10.2 Otto:

10.2 Sofia:

10.2 Hans Peter:

10.2 Ganga:

10.2 Cécile:

die Zulassung für weitere

flu, das umstrittene Roche-

auf erneuerbare Energien

fünf Jahre in der EU erhal-

Medikament, empfohlen. Und

umstellt.

ten. Ihr Produkt schadet aber

Staaten rund um die Welt

auch der Artenvielfalt unse-

haben Tamiflu gekauft. Mil-

rer Insekten und Vögel. Sie

lionenfach. Für Roche be-

als Biologe können das än-

deutete dies milliardenfa-

dern und nachhaltigere An-

chen Umsatz.

baumethoden fördern!

11.

reden können. Das ist zwar oft nervig, aber auf

zur Eröffnung! Die Vorbereitungen laufen auf

Hans-Peter: Sie sind Klaus Kleinfeld. Wir kennen

Dauer führt kein Weg daran vorbei.

Hochtouren.

uns. Sie waren bis vor kurzem CEO bei Arconic –

Otto: Vor Ihnen liegt jetzt unter dem Schnee

Hier ist das Hotel Flüela –

Arconic macht Metallverarbeitung, unter anderem

Davos. Wir legen jetzt mal die Hauptstraßen frei!

Hans Peter: Der Ministerpräsident von Aserbai-

Fassadenverkleidungen – und kürzlich im Zusam-

Hans Peter: Davos hat 12 000 Einwohner. Beim

dschan hat das oberste Stockwerk gemietet. Er ist

menhang mit dem Brand des Hochhauses in Lon-

WEF sind’s 50 000. Die Kläranlage ist ausgerichtet

nur während dem WEF da, bezahlt aber für das

don in aller Munde. Ich habe Sie interviewt für

auf 70 000 und damit fast an der Leistungsgrenze.

ganze Jahr.

meine Dissertation mit dem Titel „Führung der Zu-

Hier hat das Militär einen Turm, provisorischer

Ganga:Die Parsennbahn?

kunft. / Zukunft der Führung“

Tower. Jetzt sind wir schon in einer der drei Si-

Otto: Die Pisten sind während WEF fast leer, aber

Und er hat ja früher bei Siemens 350 000 Angestellte

cherheitszonen. Auf den Dächern befinden sich

der Betreiber besitzt auch 1500 Hotelbetten und

geführt. Der Sekretär hat vorher gefragt, ob er nach

Scharfschützen.

verdient gut beim WEF

35 Minuten den nächsten Termin planen kann –

Otto: Hier ist der Bahnhof Davos Dorf und ihr

Cécile: Der McDonalds?

dachte ich: Na ja, gut, halbe Stunde … Es kam dann

geht jetzt da die Promenade entlang.

Hans Peter: Früher stand hier der McDonalds.

viel länger. Und zwar wollte ich das aufzeichnen. Da

Otto: Sie ist während des WEFs gesperrt für den

2001 begannen die Proteste damit, dass hier eine

musste ich eine App runterladen. Mit Hilfe der Kredit-

Autoverkehr. Nur die Limousinen der VIPs dürfen

Scheibe eingeschmissen wurde.

karte. Er hat mir dann einen Code gegeben. Da hab

hier durchfahren. Wie im Theater von einem

Cécile: Ist hier das Hotel Hilton?

ich gesehen: Sie sind ein Mensch wie du und ich.

Stück auf das nächste umgebaut wird, wird in

Hans Peter: Da steht der Showroom von Micro-

Mir ist geblieben, dass Sie gesagt haben: Die Dik-

Davos für das WEF die ganze Stadt umgebaut.

soft, die sind heute auch dabei.

tatur der Eliten hätte zwar Vorteile, wenn man zu

Jede verfügbare Fläche wird für Events oder

Otto: Hier befindet sich das Kongress-Zentrum.

ihr gehört, aber sie hätte auf Dauer große Nach-

Showrooms geräumt und zu Höchstpreisen ver-

Davor das ganze Jahr über ein Transparent mit

teile. Die Demokratie ist so angelegt, dass alle mit-

mietet. Es sind nun noch knapp zwei Wochen bis

Staat 4 | 175


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 176

dem WEF-Logo und der Aufschrift: „Where the

Kongresszentrum.

leaders meet!“

Hans Peter: Jetzt sind wir drin. Wir sind unter

Cécile: Das Kirchner-Museum?

uns. Im Kongresszentrum. Das ist die Treppe und

Hans Peter: Davor lässt Facebook ein dreistöcki-

hier gehts zum Plenarsaal. Ich habe das Kongress-

ges Chalet aufbauen – Kostenpunkt: eine Million

zentrum 2010 um ein Drittel erweitern lassen. Ich

pro Tag!

habe mir überlegt, dass das WEF sich an den Kos-

Carolyn Everson von Facebook ist auch hier.

ten beteiligen soll. Ganga, kannst du mal mitrech-

Ganga: Das Hotel Belvédère?

nen.

Hans Peter: Da steigt die legendäre Burda-Party.

Ganga: Rechnung Nummer zwei

Burda Media ist ja auch hier. Davor steht immer

Hans Peter: Bevor ich Landammann wurde, war

das Chalet der Bank of America.

ich ja Bauer, und einem Bauern muss man nicht

Cécile: Ist hier die Buchhandlung?

beibringen, wie er Geschäfte macht. Folgenden

Otto: Die macht in der einen Woche des WEFs

Kuhhandel habe ich versucht, Klaus Schwab

ihren Jahresumsatz. Aber nicht mit Bücherverkauf,

schmackhaft zu machen. „Klaus“, hab ich gesagt,

sondern indem sie alles komplett leerräumen und

„ihr gebt jedes Jahr 500 000 für Annexbauten aus –

die Ladenfläche vermieten.

500 000 auf zehn Jahre gesehen sind fünf Millio-

Hans Peter: Hier die Aula der Schule: Hier findet

nen – Klaus, ihr zahlt mir fünf Millionen jetzt und

das Open Forum statt, das als Maßnahme der De-

garantiert damit, dass ihr die nächsten zehn Jahre

eskalation installiert wurde und Gespräche und

das WEF in Davos abhaltet. Es lohnt sich für euch

Vorträge öffentlich macht.

zu zahlen. Ich denke, das ist eine gute Win-

Ganga: Hotel Pöstli.

Win-Situation.“ Und Schwab hat angebissen.

Hans Peter: Da nächtigt immer der Bundesrat – die Treffen und Empfänge finden dann aber hier im Rathaus in der berühmten „Grossen Stube“ statt. Otto: Das Spital Davos vermietet nichts. Es steht in Bereitschaft für den Krisenfall. Bahnhof Davos Platz. Während des WEFs heißt der schnellste Weg, um von einem Ende von Davos zum anderen zu kommen, die rhätische Bahn.

176 | Staat 4


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WENN AUS UNTERNEHMEN POLITISCHE AKTEURE WERDEN Hannah Trittin

Kann das „World Economic Forum“ (WEF) einen Beitrag zu seiner Zielsetzung „Improving the State of the World“, also zur Verbesserung des Weltzustandes, leisten? Als privatwirtschaftliche Initiative ist das WEF Teil der Global Governance, mithilfe derer staatliche und nichtstaatliche Akteure gemeinsam global Politik betreiben. Das WEF ermöglicht den Dialog zwischen den mächtigsten Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft und bietet ihnen die Gelegenheit, die Lösung von großen globalen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Das Weltverbesserungspotential des WEFs wird allerdings dadurch geschmälert, dass die politische Einflussnahme durch das WEF nicht legitimiert ist. So trägt die Initiative nicht zur Verbesserung des Weltzustandes bei. Beginnen möchte ich mit einer kurzen Bestandsaufnahme des Verhältnisses zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, insbesondere Unternehmen, in Zeiten der Globalisierung (für eine ausführliche Abhandlung vgl. auch Scherer et al. 2015). Der Kapitalismus sieht eine klare Aufgabentrennung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren vor (Friedman 1962): Die Aufgabe des Staates ist es, innerhalb seines Territoriums die „Spielregeln“ für wirtschaftliche Aktivitäten zu bestimmen und für faire Wettbewerbsbedingungen zu sorgen. Unternehmen dürfen, unter Berücksichtigung von staatlichen Regeln und Gesetzen, ihren wirtschaftlichen Interessen frei nachgehen. Der Prozess der Globalisierung stellt diese Rollenverteilung zwischen Politik und Wirtschaft infrage. Globalisierung bedeutet die Intensivierung von grenzüberschreitenden sozialen Interaktionen, die durch sinkende Kosten bei der Überbrückung von geographischen Entfernungen durch Telefonie und den Transfer von Kapital, Waren und Menschen ermöglicht wird (Scherer et al. 2015). Besonders multinationale Unternehmen profitieren vom fortschreitenden Prozess der Globalisierung, da dieser ihnen effiziente Ressourcenallokation über Landesgrenzen hinweg ermöglicht. In einer globalisierten Welt verlegen multinationale Unternehmen ihre Geschäftstätigkeiten dorthin, wo sie für sie am profitabelsten sind. Natürlich wir-

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ken sich gleichzeitig auch die Folgen von unternehmerischen Handlungen, beispielsweise Umweltverschmutzungen, global aus. Grenzüberschreitendes Wirtschaften stellt allerdings eine Herausforderung für einzelne Staaten dar. Denn ihre Kontroll- und Regulationsfähigkeiten sind auf das nationale Territorium beschränkt (Habermas 2001). Einzelne Staaten sind also aufgrund der Globalisierung daher oft nicht in der Lage, die globalen Aktivitäten von Unternehmen zu regulieren. Selbst dann nicht, wenn sie sich, wie im Falle der Europäischen Union, auf supranationaler Ebene zusammenschließen. Gleichzeitig haben multinationale Unternehmen begonnen, Aufgaben zu übernehmen, die traditionell staatlichen Akteuren zugeordnet werden (Scherer u. Palazzo 2011; Crane et al. 2008; Matten u. Crane 2005). Sie engagieren sich beispielsweise im Bildungsbereich oder im Gesundheitswesen, bauen die öffentliche Infrastruktur aus oder setzen sich in gewissen Ländern angesichts von repressiven Regimen für Menschenrechte ein. Darüber hinaus regulieren multinationale Unternehmen ihre Geschäftstätigkeiten freiwillig, beispielsweise im Rahmen von Branchenstandards oder Reporting-Initiativen, wenn staatliche Regulierung (noch) nicht existiert. Diese politischen Aktivitäten von Unternehmen werden unter dem Begriff Corporate Citizenship oder Political Corporate Social Responsibility in der betriebswirtschaftlichen Forschung diskutiert (Matten u. Crane 2005; Scherer et al. 2016; Scherer u. Palazzo 2011). Unternehmen sind heute aber nicht nur alleine als politische Akteure oder Corporate Citizens aktiv. Vielmehr sind

Unternehmen sind heute fester Bestandteil der Global Governance.

sie fester Bestandteil der Global Governance, also den formellen und informellen Strukturen, mithilfe derer staatliche, aber auch nichtstaatliche Akteure wie internationale oder zivilgesellschaftliche Organisationen und Unternehmen zusammenarbeiten, um Lücken der staatlichen Regulation zu füllen und öffentliche Güter bereitzustellen (vgl. auch Held 1995; Scherer u. Palazzo 2011; Kobrin 2008). Die WEF-Initiative kann als Teil dieser Global Governance verstanden werden (Pigman 2007). Einst vom deutschen Wirtschaftswissenschafter Klaus Schwab als Plattform für Top-Manager ins Leben gerufen, versucht die privatwirtschaftliche Initiative heute, laut eigener Aussage, die mächtigsten Akteure der Welt aus Wirtschaft, Politik, und der Zivilgesellschaft zusammenzubringen, um globale Herausforderungen zu adressieren (World Economic Forum 2018). Ziel des jährlichen Treffens in Davos ist es, zwischen den Mitgliedsunternehmen der Initiative und ihren geladenen Gästen ein gemeinsames Verständnis und Empathie für globale Problematiken zu schaffen und, wo angemessen, Handlungen zu initiieren (WEF 2018). 2018 fand das gleichnamige Forum entsprechend unter dem Motto „Improving the state of the world“ statt. Es geht dem WEF also um nicht weniger als die Verbesserung des Weltzustandes. Aber kann diese privatwirtschaftliche Initiative die nötigen Impulse geben, um die Welt zu verbessern? Globale und komplexe Herausforderungen wie der Klimawandel, Armut oder Hunger können nur durch den organisierten Einsatz und die Kollaboration einer Vielzahl von Akteuren gemeistert werden (George et al. 2016). Es müssen fundamentale soziale Veränderungsprozesse initiiert werden, für welche die Zustimmung und der Konsens zwischen einer Vielzahl von gesellschaftlichen Akteuren vonnöten ist. Global-Governance-Initiativen wie das WEF können an dieser Stelle große Wirkungskraft entfalten. Denn sie basieren auf freiwilliger Selbstver-

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pflichtung und der Etablierung von geteilten Werten und Normen (Abbott u. Snidal 2010). Dialog-Foren wie das WEF in Davos leisten also einen wichtigen Beitrag zur Lösung von globalen Herausforderungen, da sie Konsensbildung initiieren. Allerdings ist der Dialog innerhalb des WEFs aufgrund der Vielfalt der Teilnehmer und deren verschiedenen Partikularinteressen eine Herausforderung. Am WEF 2018 nahmen Vertreter von unterschiedlichsten gesellschaftlichen Anspruchsgruppen teil: Politiker, Wirtschaftsvertreter, aber auch Vertreter internationaler Organisationen und Hilfsorganisationen, sowie Künstler, Unternehmensgründer und Akademiker. Das zeigt auch die Inszenierung Weltzustand Davos. Während der Veranstaltung können die Zuschauer erleben, wie unterschiedlich die Perspektiven der WEF-Teilnehmer sein können. Sie sind aufgefordert, sich zunächst in die Rolle eines Unternehmensvertreters einzufühlen, der am WEF teilnimmt. Im Anschluss muss der „Perspektivenwechsel“ vollzogen werden und die Gäste schlüpfen für kurze Zeit in die Rolle eines Staatsvertreters bei den Vereinten Nationen. Diese Übung macht bewusst, wie konträr die Sichtweisen alleine zwischen Politikern und Unternehmensvertretern sein können. Das Stück lässt zudem erahnen, wie schwierig es sein muss, zwischen diesen Gruppen einen Konsens darüber zu finden, wie gemeinsame Handlungen in Bezug auf gesellschaftliche Herausforderungen aussehen könnten und welche Eigeninteressen dieser Konsensbildung möglicherweise entgegenwirken. Für das Weltverbesserungspotential des WEFs spricht auch die (derzeitige) weltweite Popularität des Treffens in Davos. Mehr als dreitausend Teilnehmer aus 110 Ländern waren in diesem Jahr vertreten. Das WEF bringt eine große Anzahl an einflussreichen Akteuren zusammen, die ein Interesse am Fortbestand einer globalisierten Welt haben. Dies lässt hoffen, dass das WEF auch zur Lösung von „alten“ (Hunger, Armut, Klimawandel) und „neuen“ (digitale Transformation) gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit beiträgt, die ihren Ursprung auch in der Globalisierung haben. Unter den Teilnehmern finden sich sogar selbsternannte Globalisierungsgegner wie der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump. Allerdings ist die Teilnahme von Trump keineswegs als Besinnung auf die Vorzüge der Globalisierung und einer gemeinsamen globalen Politik zu verstehen. Stattdessen scheint Präsident Trumps Teilnahme eher durch politisches Kalkül geleitet zu sein: Denn wo sonst können Politiker innerhalb kürzester Zeit in den direkten Kontakt zu so vielen einflussreichen Wirtschaftsvertretern treten und sie von den Standortvorteilen ihrer Länder überzeugen? Und umgekehrt: Wo sonst können Unternehmen so öffentlichkeitswirksam zeigen, dass sie gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, und den Rest der Welt von den Vorteilen einer globalen Wirtschaft überzeugen? Es kann somit argumentiert werden, dass Global-Governance-Initiativen wie das WEF eine Daseinsberechtigung haben, insbesondere vor dem Hintergrund der limitierten Möglichkeiten einzelner Staaten, die Globalisierung zu lenken. Allerdings muss sich das WEF (ähnlich wie andere Global-Governance-Initiativen) den Vorwurf gefallen lassen, Politik abseits demokratischer Prozesse zu betreiben. Denn während die Teilnehmer des WEFs über globale gesellschaftliche Problematiken debattieren und sich gegebenenfalls auf gemeinsame Handlungen einigen, sind die meisten von ihnen nicht durch einen entsprechenden demokratischen Legitimierungsprozess gegangen, wie es Politiker beispielweise in Form von Wahlen tun. Das liberale Demokratiemodell sieht die Übernahme von politischen

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Wo sonst können Politiker innerhalb kürzester Zeit in den direkten Kontakt zu so vielen einflussreichen Wirtschaftsvertretern treten?


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Funktionen seitens nichtstaatlicher Akteure nicht vor (Scherer et al. 2015). In diesem Sinne weisen privatwirtschaftliche Initiativen wie das WEF ein fundamentales demokratisches Defizit auf (Scholte 2002). Auch der Zugang zum WEF erfolgt nicht nach demokratischen Prinzipien. Denn die Auswahl der Teilnehmer findet, anstatt durch einen öffentlichen Wahlprozess, durch die Organisatoren des Events selbst statt. Die Zusammensetzung der Teilnehmer ergibt sich also daraus, wen die Organisatoren für besonders wichtig und einflussreich hal1 Neben der Teilnahmegebühr fallen Kosten für Kost und Logis sowie den Reiseweg nach und von Davos unter

ten. Zudem ist die Teilnahme mit hohen Kosten verbunden1, was für kleinere Unternehmen, aber auch für politische Vertreter von Ländern mit geringen Einkommen eine Hürde darstellt. Daraus resultiert eine Teilnehmerzusammen-

erhöhten Sicherheitsbedingungen an.

setzung des WEFs stark zugunsten von Vertretern von umsatzstarken multinationalen Unternehmen und Politikern reicher Länder. Weltzustand Davos greift diesen Aspekt auf: Das Stück kontrastiert die Teilnehmerzusammenstellung des WEFs mit der Zusammenstellung der Vereinten Nationen. In der internationalen Organisation sind Staaten nach demokratischen Prinzipien nach dem Motto „One country – one vote“ repräsentiert: Jedes Land, egal ob arm oder reich, hat eine Stimme. Internationale Politik scheint also auch demokratisch möglich zu sein. Aufgrund dieser (und anderer) demokratischer Defizite sieht sich das WEF seit Jahren mit Protesten verschiedener Kritiker konfrontiert (Pigman 2007). Die andauernde Kritik kann als ein Indiz für den Mangel an Legitimität von politischen Aktivitäten seitens Unternehmen verstanden werden. Allerdings sind Unternehmen und privatwirtschaftliche Global-Governance-Initiativen wie das WEF darauf angewiesen, als legitim in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, um langfristig ihre Existenz zu sichern (Scherer et al. 2013, 2015). Daher sollten das WEF und seine Mitgliedsunternehmen diese Kritik ernst nehmen. Dies scheint umso dringlicher vor dem Hintergrund des derzeitigen fragilen Weltzustandes. Denn der gesellschaftliche Glaube an die Globalisierung und an die gesellschaftlichen Vorteile einer globalisierten Welt scheint zu schwinden. Das internationale System erlebt derzeit eine Phase der gefühlten politischen Instabilität und Unsicherheit, wie es sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gab (De Jonquières 2017). Weltweit scheinen sich Nationalismus und nationaler Protektionismus durchzusetzen, selbst in Ländern, die am meisten

Die Globalisierung hat nicht für den erwarteten gesellschaftlichen Wohlstand gesorgt.

von der Globalisierung profitiert haben, beispielsweise in Großbritannien, den USA, aber auch in Deutschland. Natürlich gibt es für diesen Zustand eine Vielzahl an Gründen. Einer der triftigsten scheint aber ökonomischer Natur zu sein: Die Globalisierung hat nicht für den erwarteten gesellschaftlichen Wohlstand gesorgt. Die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer, stagnierende Löhne und zunehmende Einkommensdifferenzen zwischen Armen und Reichen führen dazu, dass sich auch in vielen entwickelten Ländern die Bürger zunehmend als Verlierer der Globalisierung sehen (Ghemawat 2017). Im Gegenzug stehen multinationale Unternehmen als Gewinner dar. Eine Veranstaltung wie das WEF, die den Anschein erweckt, hauptsächlich multinationalen Unternehmen dienlich zu sein, kann das gesellschaftliche Misstrauen in die Vorzüge einer globalisierten Welt nur steigern. In diesem Sinne erscheint es essentiell, dass die WEF-Initiative beweist, dass ihr Treffen in Davos einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen schafft, und dass sich die Initiative tatsächlich gesellschaftlichen Belangen widmet. Die Schaffung von Transparenz und Dialogmöglichkeiten für Außenstehende durch vereinzelte Formate wie das „Open Forum“ oder die Übertragungen von Debatten während des Forums mithilfe von Internet-basierten Podcasts kann

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aber nur als erster Schritt in die richtige Richtung angesehen werden. Darüber hinaus müssen die Mitgliedsunternehmen der WEF-Initiative zeigen, dass sie ganzjährig einen Beitrag dazu leisten, dass die Vorzüge einer globalisierten Wirtschaft auch der breiten Bevölkerung zuteilwerden. Nur so kann das WEF schlussendlich zur Verbesserung des Weltzustandes beitragen. Unter den gegebenen Umständen scheint das WEF allerdings genau das Gegenteil zu bewirken.

Literatur: Abbott, Kenneth W./Snidal, Duncan (2010), „International regulation without international government: Improving IO performance through orchestration“. In: Review of International Organizations 5 (3), S. 315–344. Crane Andrew/Matten, Dirk/Moon, Jeremy (2008), „The emergence of corporate citizenship: Historical development and alternative perspectives“. In: Scherer, Andreas Georg/Palazzo, Gudio (Hg.), Handbook of research on global corporate citizenship. Cheltenham, S. 25–49. De Jonquières, Guy (2017), „The world turned upside down: The decline of the rules-based international system and the rise of authoritarian nationalism“. In: International Politics 54 (5), S. 552–560. Friedman, Milton (1962), Capitalism and freedom. Chicago. George, Gerard/Howard-Grenville, Jennifer/Tihanyi, Laszlo (2016), „Understanding and tackling societal grand challenges through management research“. In: Academy of Management Journal 59 (6), 1880–1895. http://dx.doi.org/10.5465/amj.2016.4007. Ghemawat, Pankaj (2017), „Globalization in the age of Trump“. In: Harvard Business Review 95 (4), S. 112–124. Habermas, Jürgen (2001), The postnational constellation. Cambridge, MA. Held, David (1995), Democracy and the global order: From the modern state to cosmopolitan governance. Stanford, CA. Kobrin, Stephen J. (2008), „Globalization, transnational corporations and the future of global governance“. In: Scherer, Andreas Georg/Palazzo, Guido (Hg.), Handbook of research on global corporate citizenship. Cheltenham, S. 249–272. Matten, Dirk/Crane, Andrew (2005), „Corporate citizenship: Toward an extended theoretical conceptualization“. In: Academy of Management Review 30 (1), S. 166–179. Pigman, Geoffrey Allen (2007), The World Economic Forum: A multi-stkaeholder approach to global governance. Oxon. Scherer, Andreas Georg/Palazzo, Guido (2011), „The new political role of business in a globalized world: A review of a new perspective on CSR and its implications for the firm, governance, and democracy“. In: Journal of Management Studies 48 (4), S. 899–931. Scherer, Andreas Georg/Palazzo, Guido/Seidl, David (2013), „Managing legitimacy in complex and heterogeneous environments: Sustainable development in a globalized world“. In: Journal of Management Studies 50 (2), S. 259–284, Scherer, Andreas Georg/Palazzo, Guido/Trittin, Hannah (2015), „The changing role of business in global society: Implications for governance, democracy, and the theory of the firm“. In: Lundan, Sarianna (Hg.), Transnational corporations and transnational governance. London, S. 355–387. Scherer, Andreas Georg/Rasche, Andreas/Palazzo, Guido et al. (2016), „Managing for political corporate social responsibility: New challenges and directions for PCSR 2.0“. In: Journal of Management Studies 53 (3), S. 273–298. Scholte, Jan Aart (2002), „Civil society and democracy in global governance“. In: Global Governance 8 (3), S. 281–304. World Economic Forum (2018), „Why does our work matter“. www.weforum.org/about/why-does-our-work-matter%0D.

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DAS WEF: DIE HYDRA DER GLOBALISIERUNG Ganga Jey Aratnam

Die Weltverbesserung durchlebte verschiedene Krisen und bewegte unterschiedliche Kreise. Einer davon war der Club of Rome in den 1970er Jahren, ein anderer das erste WEF in Davos. 1971 gegründet, überlebte es nicht nur alle seitherigen wirtschaftlichen Krisen, sondern nahm an Bedeutung zu, selbst wenn manche dies gern bestreiten. Eine Buchreihe, die international tätige Organisationen untersucht, stellte bereits vor Jahren fest: Das WEF beeinflusst sowohl die globale politische Zusammenarbeit und Sicherheit als auch die Weltwirtschaft. Und das obwohl – oder vielleicht auch weil – das WEF eine private und keine zwischenstaatliche Institution ist. (Pigman 2007: XI) Im Folgenden eine Annäherung aus der Sicht sowohl des palpierenden Wirtschaftssoziologen als auch des teilnehmenden „Experten“ in der Theaterarena. Polyvalent und anpassungsfähig: Klaus Schwab Betriebswirtschaft als Beruf, globale Wirtschaft als Berufung: Das Verbinden, Assoziieren, das Multidisziplinäre, die Links zwischen ökonomischem, Bildungs- und Sozialkapital – all das zieht sich wie ein roter Faden durch den Werdegang des Klaus Schwab, dem Gründer des WEF. Der Sohn eines süddeutschen Vaters mit Schweizer Verwandtschaft und einer Schweizer Mutter studierte technische Wissenschaften (ETH Zürich) und Wirtschaftswissenschaften (Universität Freiburg, CH). Dieses doppelte Wissen konnte Klaus Schwab anwenden, als es in den späten 1960er Jahren um die Zukunft des Maschinenunternehmens Escher Wyss ging, dessen Ravensburger Filiale Schwabs Vater leitete. Bereits in der Depression der 1930er Jahre drohte dem traditionsreichen Zürcher Industrieunternehmen, das mit seinen Turbinen und Dampfschiffen ein internationaler Player war, das Aus. Die Rettung kam durch eine Art PublicPrivate-Partnership zustande: Die Regierungen von Stadt und Kanton Zürich retteten Escher Wyss zusammen mit Banken und privaten Industriellen. In den 1960er Jahren geriet Escher Wyss infolge des internationalen Wettbe-

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werbs in die Bredouille. Die Zeit der Staatsrettungen von Industrieunternehmen war vorbei. Stattdessen wurde nun, mit Hilfe von Klaus Schwab, fusioniert und Escher Wyss wurde Teil des Maschinen- und Technologiekonzerns Sulzer. Die Schiffbauhallen aus dem späten 19. Jahrhundert hatten ausgedient und konnten mittelfristig ihrer spätmodernen Konversion zugeführt werden. Heute steht der „Schiffbau“ fürs gleichnamige, staatlich subventionierte Theater, wo, was für ein feiner Zufall, Staat 4 seine Uraufführung erlebte. Thinking Big: Harvard, die Europäische Kommission, der Club of Rome „Peace and Prosperity“, gab US-Präsident Donald Trump am WEF 2018 auf die Frage an, was sein Motto sei. Zwischen 1950 und 1973 betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate in Westeuropa 4,06 Prozent. Zum Vergleich: Zwischen 1913 und 1950 waren es durchschnittlich 0,78 Prozent gewesen. (Broadberry u. O’Rourke 2010: 299) Hatten die USA die westeuropäischen Länder nach dem Krieg mit Marshall-Hilfe und logistischem Support wieder aufgebaut und in ihren Handelskreislauf eingegliedert, so erwuchs ihnen von dort mit der Zeit ernsthafte wirtschaftliche Konkurrenz. 1969 schwenkten die USA unter dem republikanischen Präsident Richard Nixon auf eine stärker 1 Dadurch erhält die am WEF 2018 verkündete „America-

unilaterale und teilweise protektionistische Wirtschaftspolitik um. 1 Das internationale Währungssystem, das 1944

First“-Haltung einen historischen Vorläufer.

zur künftigen Stabilisierung der Weltwirtschaft und der Weltpolitik vereinbart worden war, verlangte von den europäischen Regierungen durch die Koppelung ihrer Währungen an den Gold-Dollar-Standard das kontinuierliche Auffangen der Schwankungen der US-amerikanischen Währung. Im Kontext dieser wirtschaftspolitischen Situation organisierte Klaus Schwab zusammen mit seiner Sekretärin

2 Die private Partnerwahl verlief damals für Frauen häufiger

Hilde Stoll ein europäisches Manager-Symposium im winterlichen Davos für mindestens 440 Teilnehmer.2 Dass sich

aufwärtsstrebend. So auch für Stoll, die zu Frau Schwab

sendungsbewusste Intellektuelle, Unternehmer oder Weltverbesserer auf Schweizer Bergen treffen, war nichts

wurde. Eine solche nicht assortative Partnerwahl verringerte die Ungleichheit in der Gesellschaft – und war damit letztlich

Neues. Man denke nur an den Monte Verità im frühen 20. Jahrhundert mit seinen Anarchisten, Künstlern und Le-

auch eine Verbesserung des Zustandes der Welt. (Vgl.

bensreformern oder an den Mont Pèlerin, auf dem der urneoliberale Friedrich Hayek seine Gesinnungsgenossen

Schwartz u. Han 2014) Als Schwab 1998 Vorsitzende der Schwab Foundation for Social Entrepreneurship wurde,

1947 versammelte. Zu denken ist aber auch an die „Davoser Hochschulkurse“, die von 1928 bis 1931 im Hotel Belvé-

förderte sie nicht nur Projekte und Unternehmen, die der

dère stattfanden. Diese von Albert Einstein mitbegründeten Kurse sollten einerseits den vielen tuberkulösen Studie-

sozialen Entwicklung verpflichtet sind, sondern sie vergibt

renden, die in Davos kurten, geistige Nahrung bieten. Anderseits erhielten damit Intellektuelle aus den unterlege-

seitdem auch einen Preis für Künstler, die sich durch ihr Engagement für eine „bessere Welt“ auszeichnen.

nen Nationen des Ersten Weltkriegs, die auf wissenschaftlichen Kongressen nicht mehr erwünscht waren, eine Plattform zum kollegialen Austausch. Das Streitgespräch zwischen den Philosophen Ernst Cassirer und Martin Heidegger von 1929 ging als „Davoser Disputation“ in die Philosophiegeschichte ein. Die Weltwirtschaftskrise machte die Pläne, aus den Kursen eine internationale Universität in Davos einzurichten, zunichte. (Grandjean 2011, Friedmann 2004) Nun, 1971, erhielt der ehemalige Zauberberg und Disputationslokus eine neue Bestimmung. The Spirit of Davos nach Klaus Schwab, das war auch der Spirit of Harvard. Nicht nur hatte die Business School die Idee eines Symposiums wohlwollend unterstützt. Der prominente Harvard-Ökonom John Kenneth Galbraith vertrat sowohl die Wohlstandsgesellschaft als auch die Planungsnotwendigkeit im Kapitalismus und die Annäherung von Ost und West, die mit Modi und Trump bis 2018 anhält. (Whitney 1997; Galbraith 1958 u. 1967)

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Vom Planeten Europa zum Raumschiff Erde (Fuller 1969) Eine andere Vereinigung, der Club of Rome, ein 1968 vom italienischen Fiat-Industriellen Aurelio Peccei und vom schottischen Chemiker und Energieforscher Alexander King initiiertes Netzwerk von liberalen Weltverbesserern, tagte auch in der Schweiz. (Kanninen 2013) Seine Agenda beeinflusste das Davoser Symposium spätestens ab 1973 markant, als er den Bericht Die Grenzen des Wachstums dort vorstellte. Der Club of Rome hatte den von Wissenschaftlern des MIT verfassten Bericht gesponsert und damit, mitten in der internationalen Trendwende hin zu Umweltsensibilität und ökonomischem Abschwung, einen düsteren Bestseller lanciert. (Club of Rome 1972) Zusätzlich zur aufkommenden Erdölkrise schien der auf billigem Öl und seinen Produkten gebaute westliche Wohlstand nicht nur aus ökologischen Gründen in Frage gestellt. Die Engführung von Betriebs-, Volkswirtschaft und Good Governance, verbunden mit markttauglichen ökologischen und sozialen Reformen, wurde zu einem der Markenzeichen der 1971 nach dem ersten erfolgreichen Symposium als „European Management Forum“ eingetragenen Stiftung. Die Situation im Nahen Osten hatte ein ArabischEuropäisches Meeting begünstigt und bald kam ein Lateinamerika-Europa-Symposium hinzu, für welches das Forum unter anderem mit der Weltbank kooperierte, die in den 1980er Jahren zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds umstrittene Umschuldungs- und Strukturanpassungsprogramme für die verschuldeten Staaten des globalen Südens erließ. Improving the State of the World! 1987 vollzog die Umbenennung der Organisation in World Economic Forum das, was faktisch schon länger klar war und einer doppelten, wirtschaftspolitischen und globalpolitischen, Dynamik folgte: Zum einen wurde die Liberalisierung des internationalen Devisen- und Kapitalmärkte eingeleitet, welche die Globalisierung des Handels- und Finanzsystems beförderte. (Vgl. Eich u. Tooze 2016: 190f.) Zum anderen zeigte sich der Beginn von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, die ab 1989 in eine nicht mehr zu kontrollierende Kaskade des politischen Umbruchs in Osteuropa führen würde. Der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama analysierte diese Entwicklung als „Ende der Geschichte“ in einem durchaus marxistischen Sinn: als Ende von Systemgegensätzen, die sich nun in der Durchsetzung eines auf Demokratie und Marktwirtschaft fundierten Gesellschaftssystems zeigte. (Fukuyama 1989, 1992) What About the Vulnerable World? Die Gegenmacht Anfang der 2000er Jahre befand sich nicht nur die Globalisierungseuphorie, sondern auch die Kritik daran auf dem Höhepunkt, die Weltwirtschaftsmacht generierte ihre eigene Gegenmacht. So verstand sich das ab 2001 im brasilianischen Porto Alegre durchgeführte World Social Forum (WSF) explizit als Reaktion auf das und als Alternative zum WEF. (vgl. Zitate des WSF-Aktivisten Whitaker in: De Sousa Santos 2006: 46; Moghadam 2012: 416) In Davos selber trat eine Gegenmacht an, um mit einem „Public Eye on Davos“ eine kritische Gegenöffentlichkeit zu schaffen. (vgl. Public Eye 2018) In Porto Alegre, im WSF oder im „anderen Davos“ war man sich einig: Die wirtschaftliche Globali-

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Anfang der 2000er Jahre befand sich nicht nur die Globalisierungseuphorie, sondern auch die Kritik daran auf dem Höhepunkt.


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sierung muss allen nützen und von den Menschen im globalen Süden mitgestaltet werden. Improving the State of the Vulnerable World. So ließe sich das Credo der Gegenmacht fassen, mit welchem sie Druck auf die Staaten des Nordens machte und gegen die Arroganz der Wirtschaftsmacht vorging. Darin traf sich die Bewegung mit sozialliberalen Ökonomen wie dem ehemaligen Clinton-Berater und Weltbank-Mitarbeiter Joseph Stiglitz, denen ebenfalls an einer gleichmäßigeren Entwicklung lag. (Stiglitz 2002) Zwar nimmt die weltweite Armut ab – ein beliebtes Pro-Globalisierungsargument. Aber die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen ist vielerorts gestiegen und bereitet selbst OECD, Weltbank und Internationalem Währungsfonds Sorge. Auch mit der antihegemonialen Kritik hat das agile WEF längst einen Umgang gefunden: Das „Open Forum“ empfängt die Zivilgesellschaft, es existiert eine Umwelt-, Sozial- und Gender-Agenda und seit 2017 werden für den globalen Wettbewerbsfähigkeitsreport (WEF 2018) gar Kriterien aus dem Human Development Index, von Ökono3 So Klaus Schwab im SRF-Interview vom 16. Januar 2018.

men aus dem globalen Süden entwickelt, integriert.3 Heutige WEF-Reporte können einfach mit Berichten diverser UN-Organisationen verwechselt werden, wenn von „Inclusive Growth“ und „The Future of Jobs and Skills in Africa“

4 So in den WEF-Berichten zwischen 2016 und 2017.

über „Value in Healthcare“ bis zu „The Future of Humanitarian Response“ die Rede ist.4 Seit langem ist das WEF zudem nicht nur eine Art Dating-Agentur zwischen Staaten und Unternehmen, sondern sieht sich auch als weltpolitische Mediationsplattform. Weltzustand Davos erinnert etwa an das Treffen zwischen Palästinas Yassir Arafat und Israels Yitzhak Rabin am WEF 2001. Proteste und WEF-Agenda zeigen: Die Annahme, es stünden sich in „postdemokratischen“ Zeiten ohnmächtige Staaten und eine mächtige Privatwirtschaft gegenüber, ist zu einfach. De- und Renationalisierung des Globalen Das WEF gilt als Beleg dafür, dass sich eine transnationale kapitalistische Klasse herausgebildet habe. (vgl. Carroll u. Carson 2003: 29–57; Robinson u. Harris 2000: 11–54) Diese „Klasse“ hat nun den letzten circa dreißig Jahren an einer „Denationalisierung“ (Huntington 2004) der Weltwirtschaft und der Außenwirtschaftspolitik gearbeitet. Sie

5 Die Clinton-Administration deregulierte im Dezember 2000 den Handel mit Aktienfutures mit dem Commodity Futures Modernization Act (CFMA).

konnte das eigentlich nur gemeinsam mit den Staaten tun, mittels Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung 5 und vor allem durch das Mantra des Freihandels: Improving the State of Global Business. Seit der Finanz- und Schuldenkrise von 2007 bis 2012 erleben wir allerdings eine Renationalisierung des Globalen mit verschiedenen Ausdrucksformen. Einerseits möchten Staaten die Schadenspotenziale mindern, indem sie die Finanz- und Wirtschaftsmacht zu bändigen versuchen und Regulatorien für die Bereiche Börse, natürliche Rohstoffe, Arbeitskräfte,

6 Das schweizerische Bankgeheimnis, an dem sich die Linke jahrzehntelang die Zähne ausbiss, erledigten die US-Behör-

Umwelt oder Steuern aufstellen.6 Anderseits setzen Staaten, wie zum Beispiel Russland oder China, auf die Nähe von Staat und Wirtschaft. In Weltzustand Davos heißt es dazu: „Letztes Jahr war Xi Jinping der WEF-Hauptredner.

den 2008/09 in wenigen Monaten. Sie zwangen die UBS mit dem Vorwurf, sie habe US-Kunden bei der Steuerhinterzie-

Der chinesische Präsident verkörpert in Personalunion den Staat und die Wirtschaft.“ Am WEF 2018 war die Reihe am

hung geholfen, in die Knie. Oder die Abkommen zum Auto-

indischen Premierminister Narendra Modi. Modi ist kein kommunistischer Staatskapitalist wie Xi Jinping und kein

matischen Informationsaustausch in Steuersachen sowie die Kampagnen zur Bekämpfung von Kapital- und Steuerflucht und von Gewinnverschiebung der OECD, der EU und der G7.

Oligarchendompteur wie Putin, sondern Vertreter der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), einer asiatischen Variante der europäischen Identitären. Dass Modi am WEF ausgerechnet Mahatma Gandhi zitierte,

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wurde erleichtert als Ausdruck von Weltoffenheit gedeutet. Es lohnt sich aber, das Zitat bis zu Ende zu lesen: „Ich will nicht, dass die Mauer und Fenster meines Hauses geschlossen sind. Ich will, dass die Winde der Kulturen aller Länder mein Haus durchwehen. Ich werde jedoch nicht akzeptieren, dass diese Winde meine Füße ihrer Wurzeln entreißen.“ (Vgl. Noorani 2013; Frankfurter Allgemeine Zeitung 2018)7 Hier markiert doch einer lächelnd Widerstand

7 Hervorhebung durch G. J. A.

gegen die nationale Entwurzelung durch globale Wirtschaftsmacht. Diese Renationalisierung der Wirtschaftsmacht ist fürs WEF eine echte Herausforderung. Denn hier prallen machtvolle nationalstaatliche und globalwirtschaftliche Hegemonieansprüche aufeinander. Noch verkündet China das Hohelied vom Freihandel und auch Indien stellt sich nicht dagegen. Solche Staaten diktieren aber in Zukunft die Bedingungen des Welthandels. Dass dies stets im Interesse der Bevölkerungen des globalen Südens geschehen wird, ist nicht garantiert, auch wenn man es aus postkolonialer Perspektive durchaus mal interessiert zur Kenntnis nehmen kann. Wer längerfristig den Gastgeber spielt und die anderen wo einlädt, ist auf spannende Weise ungewiss. Das Sommer-WEF im chinesischen Dalian gibt da einen interessanten Fingerzeig. Viele haben gestaunt, dass der America-first-Imperator in die Davos-Arena einlaufen wollte, statt diesen Tempel der Globalisierung wie der Teufel das Weihwasser zu meiden. Doch die aktuelle US-Administration ist trotz protektionistischer Maßnahmen nicht einfach „gegen“ die Globalisierung. Sie will sie aber zu ihren Bedingungen. Improving the State of the Power State, lautet hier das Motto, verbunden mit der Zuwendung zu einer multipolaren statt einer multilateralen Welt. Es findet also kein Abbruch der und Abschied von der Demokratie statt. Vielmehr haben wir es mit einer hallenden Demokratie zu tun, zuweilen auch in einer kakafonischen Kadenz. Nachwirkende Neodemokratie Die Zukunft der Globalisierung lässt sich nicht einfach, wie dies manche Ökonomen tun, auf das Spannungsdreieck multipolare Player, echte (da wirtschaftsliberale) Globalisierung und Antiglobalisierungsbewegung eindampfen. (O’Sullivan u. Subramanian 2017) Auch beim Propagieren ausgreifender Welterklärungskonzepte ist Vorsicht angebracht. Leben wir tatsächlich in Zeiten der Postdemokratie? In einer Zeit, die sich durch eine Ausweitung der nicht demokratisch kontrollierten Konzernmacht und ein Zurückdrängen des Politischen auszeichnet? Und: Argumentiert die schweizerische Juso-Präsidentin strukturell genauso wie der amerikanische Präsident, wenn beide das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) kritisieren? In einer dem WEF gewidmeten Politdiskussion des öffentlich-rechtlichen Schweizer Fernsehens verneinte Jungsozialistin Tamara Funiciello diese Vorstellung heftig. Sie und Trump stünden sich 180 Grad entgegen, worauf der Moderator einwarf, wohl eher 360 Grad. (SRF 2018) Solche Dichotomien und Einteilungen mögen attraktiv erscheinen. Die Welt funktioniert aber komplizierter. Mir scheint, wir haben es vielmehr mit einer nachwirkenden Neodemokratie zu tun als mit einem Zustand nach der Demokratie. Mit Dynamiken, in denen die Demokratie nicht aufgehoben ist, sondern explizit zum Einsatz gelangt und kontroverse Outcomes produziert: die Wahl von Trump, Putin, Orban in Ungarn, Modi in Indien oder Duterte in den Philippinen, Brexit, die Infragestellung der EU-Personenfreizügigkeit. Der Tweet, mit dem Donald Trump das Management des Autokonzerns Ford davon abhielt,

194 | Staat 4

Die Zukunft der Globalisierung lässt sich nicht einfach auf das Spannungsdreieck multipolare Player, echte (da wirtschaftsliberale) Globalisierung und Antiglobalisierungsbewegung eindampfen.


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seine Produktion nach Mexiko auszulagern, seine Strafzölle auf dem Import von Solarpanels und Waschmaschinen – das ist letztlich nichts anderes als die Einlösung des Wahlversprechens America first. Und Trump rüttelt damit an der Verfügungsgewalt der Konzerne, zumindest dann, wenn sie nationale Interessen bedrohen. Die Aufgabe der Bewegungen, die für eine inklusive und global gerechtigkeitsorientierte Demokratie stehen, hat sich damit keineswegs erschöpft. Nicht nur die Wirtschafts-, sondern auch die hegemoniale Staatsmacht hat ein Korrektiv verdient. Allerdings darf sich die antihegemoniale Bewegung auch nicht überschätzen. Denn als Gegenmacht ist sie ein Produkt der Mächte, gegen die sie anrennt – und verhält sich auch meist so. Das zeigten Botschaften wie 8 Unter diesem Titel initiierte die Schweizer NGO Campax eine Petition. (www.campax.org/de/petition/trump-not-welcome)

„Trump not welcome“8 bis zu „Kill Trump with his own weapon“ (vgl. Persio 2018), mit denen man sich mit einer trotzig-martialischen Negierung der hegemonialen Staatsmacht begnügt. Staatliche Wirtschaftstreffen wie der G8-Gipfel in Genua 2001 wurden zu Magneten des Globalisierungsprotestes. Besser in Erinnerung ist wohl das sprichwörtliche Protest-Aufflammen am G20-Gipfel in Hamburg 2017. Diese antihegemonialen Kräfte waren am WEF 2018 als Demonstrierende nicht erwünscht. Public Eye verzichtet seit 2015 auf eigene Gegenveranstaltungen vor Ort. Damit bleibt das WEF-eigene „Open Forum“ als kanonischer Ort für den Dialog auch zu kritischen Fragen. Aus wirtschaftssoziologischer Sicht könnte man dem WEF attestieren, dass es als allumfassendes Forum geschafft hat, gleichermaßen liberale, nationalistische und antihegemoniale Kräfte der Globalisierung zu brechen und zu bündeln. 2018 war in Davos die Verbandelung von wirtschaftsliberalen und politisch-

9 Dafür stand etwa der französische Präsident Emmanuel Macron, der sich von den französischen Sozialisten löste und

(links)liberalen Kräften deutlich erkennbar.9 Mit der Präsenz von siebzig Staatschefs und 340 Ministern und „political leaders“ erreichte das Forum 2018 zudem einen vorläufigen politischen Höhepunkt.10 Das Zusammentreffen der un-

eine eigene sozial- und wirtschaftsliberale Bewegung gründete. Und die Verteidigung von TTIP übernahm in Davos der

terschiedlich gepolten Staatsmächte erhöht die Vielfalt der wirtschaftspolitischen Perspektiven an diesem einstigen

linksliberale kanadische Premier und Hoffnungsträger Justin

Managersymposium, aus dem effektiv ein globales Forum geworden ist. Trotz national-konservativer Misstöne und

Trudeau.

10 2016 waren es „erst“ vierzig „heads of states“ (Saez 2018).

antihegemonialer Zwischentöne ist die Funktion des WEF als Institution für die liberale Wirtschaftsmacht seit Beginn intakt. Damit bleibt das Weltwirtschaftsforum die Hydra der Globalisierung.

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ANHANG Autoren und Fotografen

letzt erschienen u. a. Nach der Revolution. Ein Bre-

und Gregor Schneider, wo er Meisterschüler in der

vier digitaler Kulturen (2017, mit Jörg Metelmann

Fachrichtung Video und Experimenteller Film

und Claus Pias); Performing the Digital: Perfor-

wurde. 2008 studierte er Bildende Kunst an der

mance Studies and Performances in Digital Cultu-

Iceland Academy of the Arts Reykjavik. Er beteiligt

res (2017, mit Martina Leeker und Imanuel

sich an zahlreichen internationalen Projekten für

Schipper); „Colour and Organization Studies“ (Or-

Theaterarbeiten, die Video- und Rauminstallatio-

ganization Studies 38, 2017).

nen beinhalten. Er arbeitete unter anderem zusammen mit Elmgreen & Dragset, Rimini Proto-

Lukas Bärfuss lebt als Schriftsteller in Zürich und

Mathias Fuchs ist Künstler und Medienwissen-

koll und Lola Arias. 2013 erhielt er das Elsa-Neu-

Paris. Er schreibt Romane (Hundert Tage, 2008,

schaftler. Er studierte Computerwissenschaften in

mann-Stipendium des Landes Berlin. Seine eige-

Koala, 2014, und Hagard, 2017) und Theaterstücke

Erlangen und Wien, sowie elektroakustische

nen Arbeiten wurden unter anderem im Kiasma

(unter anderem Die sexuellen Neurosen unserer

Musik in Wien und Stockholm. 2010 promovierte

Museum of Contemporary Art Helsinki, Dumbo

Eltern, 2003, und Alices Reise in die Schweiz,

er mit einer Arbeit zu „Sinn und Sound“ an der

Arts Center New York, Future Gallery Berlin und

2005), die weltweit gespielt werden. Von 2009 bis

Humboldt-Universität zu Berlin. Nach der Auf-

Goethe-Institut New York gezeigt. Sein Dokumen-

2013 war er außerdem als Dramaturg und Autor

tragsproduktion für die Spieleausstellung „Syn-

tarfilm The Great Fortune erhielt 2016 den Haupt-

am Schauspielhaus Zürich tätig. Hier entstanden

real: The Unreal Modification“ begann Fuchs, sich

preis beim Belgrade International Documentary

seine Stücke Malaga (2010) Zwanzigtausend Sei-

immer stärker mit dem Thema Game Art zu be-

Film Festival und wurde auf zahlreichen Festivals

ten (2012) und Frau Schmitz (2016). 2015 erschien

schäftigen. Er hat Pionierarbeit auf dem Gebiet

gezeigt.

der Essayband Stil und Moral; 2018 folgt Krieg

der künstlerischen Nutzung von Spielen geleistet

und Liebe. Seine Werke wurden vielfach, darunter

und ist ein führender Theoretiker zu Game Art und

Dominic Huber arbeitet als Bühnenbildner und

mit dem Berliner Literaturpreis 2013 und dem

Games Studies. Er leitete und entwickelte an der

Regisseur an der Ausweitung von Realitätserfah-

Schweizer Buchpreis 2014, ausgezeichnet. Lukas

Universität Salford drei Masters-Studiengänge.

rungen in theatralen Zusammenhängen. Nach sei-

Bärfuss ist seit 2015 Mitglied der Deutschen Aka-

Seit 2012 leitet er im Innovations-Inkubator an der

nem Architekturstudium an der Eidgenössischen

demie für Sprache und Dichtung.

Leuphana Universität Lüneburg das Forschungs-

Technischen Hochschule Zürich entstanden neben

projekt „Art & Civic Media“ und gründete dort das

Ausstellungsprojekten zahlreiche Bühnenräume

Timon Beyes ist Professor für Soziologie der Or-

Gamification Lab im Centre for Digital Cultures.

in Zürich, Basel, Berlin, Aachen, Frankfurt, Mün-

ganisation und der Kultur an der Leuphana Uni-

Seit 2016 ist er Professor am Institut für Kultur und

chen, Bochum, Hamburg, Bremen, Brüssel und

versität Lüneburg und am Department of Manage-

Ästhetik Digitaler Medien an der Leuphana Uni-

Lausanne. Eine regelmäßige Zusammenarbeit be-

ment, Politics and Philosophy der Copenhagen

versität Lüneburg.

steht mit Lola Arias, Sebastian Nübling und Toshiki

Business School sowie Direktor des Lüneburger

Okada. Eigene Theaterinstallationen waren unter

Centre for Digital Cultures. Er arbeitet zu Prozes-

Mikko Gaestel lebt und arbeitet als Installations-

anderem Hotel Savoy in New York und am Hebbel

sen, Räumen und Ästhetiken der Organisation in

und Videokünstler in Berlin. Er studierte von 2004

am Ufer Berlin, Forever Yours sowie House, eine

den Feldern der Medien- und Stadtkultur, der Ge-

bis 2011 Kunst und Medien an der Universität der

Arbeit, die in Buenos Aires und Jerusalem zu

genwartskunst und der universitären Lehre. Zu-

Künste Berlin bei Heinz Emigholz, Maria Vedder

sehen war. Seit 2008 arbeitet Dominic Huber mit

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Stefan Kaegi und Rimini Protokoll an Projekten

deren künstlerische Praxen sich als quasi-soziolo-

beit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wis-

wie Heuschrecken, Situation Rooms und Weltkli-

gisches Vorgehen beschreiben lassen. Derzeit

senschaften setzt sie seit Jahren inhaltliche

makonferenz sowie zuletzt Nachlass. Er unterrich-

forscht sie als Doktorandin am Graduiertenkolleg

Schwerpunkte bei stadtsoziologischen Fragestel-

tet an der Zürcher Hochschule der Künste und war

„Kulturen der Kritik“ der Leuphana Universität

lungen, bei transskalaren Prozessen gesellschaftli-

2015 Mitglied der Internationalen Jury bei der Pra-

Lüneburg zu Organisations- und Arbeitsweisen

chen Wandels als Folge der Urbanisierung sowie

gue Quadriennale für Szenografie und Perfor-

freier Theatergruppen.

lebensweltlichen Perspektiven der Sozialraum-

mance Design.

analyse. Dieter Läpple ist Professor emeritus für Interna-

Ganga Jey Aratnam forscht am Seminar für So-

tionale Stadtforschung an der HafenCity Universi-

Wilma Renfordt studierte Theaterwissenschaft,

ziologie der Universität Basel. Seine Schwer-

tät Hamburg. Viele Jahre leitete er das Institut für

Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft an der

punkte reichen von Arbeits- über Reichtums- bis

Stadtökonomie an der Technischen Universität

Freien Universität Berlin; Abschluss mit einer Ar-

zu Musiksoziologie. Ursprünglich absolvierte er

Hamburg und lehrte und forschte als Dozent und

beit über Theater im öffentlichen Raum der Stadt.

ein Medizinstudium mit Spezialisierung in Com-

Gastprofessor unter anderem in Berlin, Amster-

Von 2008 bis 2013 war sie Dramaturgin der Thea-

munity Medicine und führte internationale For-

dam, Paris, Aix-en-Provence/Marseille und Leiden.

tergruppe copy & waste sowie von 2009 bis 2013

schungseinsätze durch. In der Schweiz schloss er

Er war Fellow der Brookings Institution in Wa-

künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin im

ein weiteres Studium in Soziologie, Philosophie

shington und Research Fellow am Institut d’Études

Projektbüro Friedrich von Borries in Berlin. Wei-

und Volkswirtschaft ab. 2010 war er Mitverfasser

Avancées de Paris. Er ist er Advisor des Urban-

tere Zusammenarbeiten unter anderem mit Daniel

einer Studie zu Reichtum (Wie Reiche denken und

Age-Progamms der London School of Economics

Hellmann (seit 2014), Kiriakos Hadjiioannou (2016)

lenken); 2012 publizierte er zu Hochqualifizierten

und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des

und der Theorie- und Praxisgemeinschaft Dr. Fa-

mit Migrationshintergrund auf dem schweizeri-

Singapore-ETH Centre „Future Cities Laboratory“

himi am Kottbusser Tor in Berlin (von 2009 bis

schen Arbeitsmarkt. Aktuell forscht er zu Musik im

in Singapur. 2007 erhielt er den Baukulturpreis des

2013). Sie verfasste unter anderem einen Begleit-

glokalen Kontext Basel, ebenso zu Verflechtungen

Bunds Deutscher Architekten Hamburg.

band zur Ausstellung Wohnungsfrage am HKW in

vom Rohstoffhandelsplatz in Zug und Sambia

Berlin (2015) und einen Band zu künstlerischer For-

(vgl. „Glencore oder die Rhizome der Macht“, in:

Gabriela Muri ist Architektin und Kulturwissen-

schung (Klimakunstforschung, 2011). 2016/17 war

macht.ch – Geld und Macht in der Schweiz, 2015).

schaftlerin. Sie befasst sich seit zwanzig Jahren in

sie Dramaturgin beim steirischen Herbst in Graz.

Forschung und Lehre mit raum- und zeittheoreti-

Sie ist seit 2015 Dramaturgin für das Impulse

Anna Königshofer studierte Kunstvermittlung

schen sowie alltagskulturellen Fragestellungen. In

Theater Festival.

und Performative Kunst bei Carola Dertnig an der

ihren interdisziplinär angelegten Forschungspro-

Akademie der bildenden Künste in Wien. Nach di-

jekten und Lehrveranstaltungen am Institut für So-

Imanuel Schipper arbeitete als Dramaturg unter

versen Hospitanzen und Assistenzen, unter ande-

zialanthropologie und Empirische Kulturwissen-

anderem am Schauspielhaus Hamburg und am

rem bei Milo Rau und dem International Institute

schaft der Universität Zürich, an der Dozentur

Schauspielhaus Zürich mit Künstlern wie William

of Politcal Murder, setzt sie sich zunehmend mit

Soziologie, Eidgenössische Technische Hochschule

Forsythe, Jérôme Bel und Luk Perceval. Zahlreiche

dokumentarischen Formen des Gegenwartsthea-

Zürich sowie am Institut für Vielfalt und gesell-

Kollaborationen mit Rimini Protokoll seit 2002,

ters und deren Herstellungsweisen auseinander,

schaftliche Teilhabe am Departement Soziale Ar-

beispielsweise bei Deadline, Wallenstein, Das Ka-

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pital und Weltklimakonferenz. Langjähriger Do-

sonalmanagements. Seit vier Jahren arbeitet

Hannah Trittin mit der sozialen Verantwortung von

zent und Wissenschaftler an der Zürcher Hoch-

Benno Tobler als freiberuflicher Fotograf in Ham-

Unternehmen. Sie ist zudem Expertin für CSR-

schule der Künste. Seine Forschungstätigkeit um-

burg. Dort wohnt er mit seiner Familie und ist als

oder Stakeholder-Kommunikation.

fassen neue Konzepte der Dramaturgie, die

Hausmann und ehrenamtlicher Koordinator für

Performativität digitaler Kulturen und Funktionen

Flüchtlingskinder einer Folgeunterkunft tätig.

Ioanna Valsamidou ist Theater- und Sozialwis-

der Künste für die urbane und globale Gesell-

Seine fotografischen Vorlieben sind Portraits von

senschaftlerin. Zusammenarbeit mit Rimini Proto-

schaft. Seit 2017 hat er die Vertretungsprofessur

Menschen, Bühnenproduktionen und Panorama-

koll, unter anderem an Evros Walk Water I & II

für Performance Studies und Dramaturgie an der

aufnahmen aller Art.

(Dramaturgie)), Odos Lithis und Brain Projects (Re-

Medical School Hamburg am Departement Arts &

cherche). Weitere Mitarbeit bei Prodromos Tsiniko-

Change inne und leitet den Studiengang Art &

Karolin Trachte ist seit 2013 Dramaturgin am

ris, Anestis Azas und Lola Arias für die Onassis

Critical Thinking (in Akkreditierung). Zuletzt erschie-

Schauspielhaus Zürich, wo sie unter anderen mit

Stiftung. Ionna Valsamidou ist Mitbegründerin und

nen: Performing the Digital: Performance Studies

Viktor Bodó, Alexander Giesche, Bastian Kraft, Se-

künstlerische Leiterin des Langzeit-Workshops

and Performances in Digital Cultures (2017, ge-

bastian Kreyer, Kornél Mundruczó, René Pollesch,

Mind The Fact, das Projekte, die auf wahren

meinsam mit Martina Leeker und Timon Beyes).

Rimini Protokoll, Christopher Rüping und Alize

Geschichten basieren, realisiert und auf dem

Zandwijk arbeitete. Sie studierte Kultur- und Kom-

gleichnamigen Festival zeigt. Sie ist Co-Regisseu-

Martin Schwemin arbeitet in Berlin, Riga und in

munikationswissenschaften und Dramaturgie unter

rin von Ich/Der Spieler (2016) und Roulettenburg

seinem Atelier bei Bernau an Objekten, auf Büh-

anderem bei Hans-Thies Lehmann, Dirk Baecker und

(2017).

nen, für Projekte und in Kollektiven. Als Lichtde-

André Eiermann. Nach dem Studium war sie Refe-

signer hat er unter anderem für Karl Kutter/Fusion,

rentin im Bereich Öffentlichkeitsarbeit am Schau-

Julia Weinreich studierte nach ihrer Ausbildung

Berghain/Panorama Bar, Schaubühne am Lehni-

spiel Frankfurt, assistierte am Thalia Theater Ham-

zur Diplom-Maskenbildnerin Kunstgeschichte und

ner Platz, Sophiensaele und MS Stubnitz gearbei-

burg und Teatre Romea, Barcelona, sowie bei den

Theaterwissenschaft an der Freien Universität Ber-

tet. Außerdem tourt er seit 2014 mit Rimini Proto-

Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin.

lin und am Trinity College Dublin. Ihren Master in

koll in mehreren Produktionen, etwa mit Situation

Dramaturgie legte sie 2011 an der Goethe-Univer-

Rooms und Evros Walk Water. Seine Installation

Hannah Trittin ist seit März 2018 Juniorprofesso-

sität Frankfurt am Main bei Hans-Thies Lehmann

Diskom t, 44 motorbetriebene Spiegelprismen in

rin für BWL, insbesondere Unternehmensethik, an

ab. Seit 2010 ist sie Dramaturgin am Staatsschau-

Sphäre (2017), ist zu zahlreichen Musik-Festivals

der Leuphana Universität Lüneburg. Zuvor war sie

spiel Dresden und hat hier unter anderem mit Bar-

eingeladen.

Postdoktorandin an der Universität Zürich, wo sie

bara Bürk, Jan Gehler, Friederike Heller, Tilmann

von 2011 bis 2016 promovierte. Von 2009 bis 2011

Köhler, Wolfgang Engel und René Pollesch gear-

Benno Tobler lebte fünfzig Jahre lang in der

war sie als Projektmanagerin an der Universität

beitet. Seit 2017 leitet Julia Weinreich gemeinsam

Schweiz. Nach seiner Ausbildung zum Gartenbau-

Erlangen-Nürnberg tätig und arbeitete für eine

mit dem Schauspieler Philipp Lux die praxisbezo-

Ingenieur war er zwanzig Jahre als Projektleiter

Kommunikationsagentur in München. Von 2004

gene Ausbildung der Schauspielstudierenden der

bei der Stadt Zürich tätig. Er arbeitete als Straßen-

bis 2009 studierte sie an der Universität Erlangen-

Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendels-

baumspezialist, im Immobilen-Management und

Nürnberg Politikwissenschaft und Wirtschaftswis-

sohn Bartholdy“ Leipzig am Staatsschauspiel

als Spezialist in allen Facetten des modernen Per-

senschaften. In ihrer Forschung beschäftigt sich

Dresden.

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ferenz als Simulation eines UN-Gipfels für jeweils 650 Zuschauer, aufgeteilt in 196 Länderdelegationen. Von ihren Stücken wurde Shooting Bourbaki 2003 mit dem NRW-Impulse-Preis ausgezeichnet, Deadline (2004), Wallenstein – eine dokumentarische Inszenierung (2006) und Situation Rooms (2014) wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen, Schwarzenbergplatz (2005) für den Österreichischen Theaterpreis Nestroy nominiert. Mnemopark wurde mit dem Jurypreis beim Berliner Festival Politik im freien Theater 2005 ausgezeichnet und Karl Marx: Das Kapital, Erster Band (Haug/ Wetzel) gewann 2007 beim Festival Stücke sowohl den Publikumspreis als auch den Mülheimer Dramatikerpreis 2007. Im November 2007 erhielten Haug/Kaegi/Wetzel einen Sonderpreis des Deutschen Theaterpreises DER FAUST, im April 2008 wurde ihnen in Thessaloniki der Europäische Theaterpreis in der Kategorie Neue Realitäten verliehen. 2008 erhielten Helgard Kim Haug und Daniel Wetzel den Hörspielpreis der Kriegsblinden für Rimini Protokoll

Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. 2011 wurde das Gesamtwerk von Rimini Protokoll mit dem Sil-

Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel

klären Haug/Kaegi/Wetzel eine Daimler-Haupt-

bernen Löwen der 41. Theaterbiennale Venedig

Wetzel bilden seit 2000 ein Autoren-Regie-Team.

versammlung zum Theaterstück oder inszenieren

ausgezeichnet. 2014 erhielten Helgard Kim Haug

Ihre Arbeiten im Bereich Theater, Hörspiel, Film,

unter anderem in Berlin, Zürich, London, Mel-

und Daniel Wetzel den Deutschen Hörspielpreis

Installation entstehen in Zweier- und Dreier-Kon-

bourne, Kopenhagen und San Diego mit hundert

der ARD und 2015 den Deutschen Hörbuchpreis

stellationen sowie Solo. Seit 2002 werden all ihre

statistisch repräsentativ ausgewählten Bürgern

der ARD. 2015 erhielten Stefan Kaegi und Rimini

Arbeiten unter dem Label Rimini Protokoll zu-

100% Stadt. In Berlin und Dresden entwickelten

Protokoll den Schweizer Grand Prix Theater/Hans-

sammengefasst und angekündigt. Im Mittelpunkt

sie begehbare Stasi-Hörspiele, in denen die Ob-

Reinhart-Ring.

ihrer Arbeit steht die Weiterentwicklung der Mit-

servationsprotokolle per Androidtelefon abhör-

Seit 2003 haben Rimini Protokoll in Berlin ihr

tel des Theaters, um ungewöhnliche Sichtweisen

bar wurden. Oder inszenierten für das Deutsche

Hauptquartier aufgeschlagen und ihr Produktions-

auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen. So er-

Schauspielhaus in Hamburg eine Weltklimakon-

büro im Hebbel am Ufer.

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Mitwirkende der Produktionen

Top Secret International (Staat 1) Konzept, Text, Regie: Helgard Kim

John Brennan, Kate Doyle, Amir F.,

von „Sensible Daten“, einem interna-

(Fotograf), Xenia Kounalaki,

Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel

Michael George, MdB Dr. André

tionalen Langzeitprojekt des Goethe-

Gundega Laivina (Riga), Vee Leong

(Rimini Protokoll)

Hahn, John Kiriakaou, Max M.,

Instituts und anderen Partnern.

(HK), Monia Mazigh (human rights

Dramaturgie: Imanuel Schipper

Thomas de Maizière, Bill Marczak,

Stimmen Deutsch: Katja Bürkle,

Avi Primor, Eric Rabe, Anne Roth,

Dank an: Bertchen/Kohrs

(Utrecht University), Hakem Naeem

Peter Brombacher, Anna Drexler,

Andor Šándor, Gerhard Schindler,

(environmental activist), Kathryn

(Alexandria), Anna Nemtsova

Wiebke Puls

James Shortt, Gwenyth Todd, Kosta

Bolkovac (UN Peacekeeping force in

(Journalistin), Jason Q Ng

Stimmen Englisch: Damian Rebgetz,

Tsetsos, Ben Wizner, Jannis X., ein

Bosnia), Magnus Braten (Journalist,

(University of Toronto’s Citizen Lab),

Mona Vojacek Koper

Anwalt, ein Überwachungsexperte

Oslo), Chicago Review Press, Citizen

Elma Noor (Journalistin, Teheran),

Recherche, Interviews, Überset-

und eine Dissidentin aus China, ein

Lab, University of Toronto, B. C. Civil

Jean Peters (Peng!Kollektiv), Ivan

zung, Textmitarbeit: Shahab

Kadermitglied der kommunistischen

Liberties Association, Gergana

Pavlov (Rechtsanwalt, Russland),

Anousha, Kefei Cao, Timothy

Partei Kubas.

Chervenkova, Marsha Coleman-

Gerganga Pirozowa (theatre critic,

Adebeyo (Board of Directors of the

Sofia), Daniel Popov (environmental

Carlson, Uwe Gössel,

activist, Ottawa), Sigrid Merx

Alexander Manuiloff

Uraufführung: 10.12.2016

National Whistleblower Center),

activist, Sofia), Mariola Przewlocka,

Interaction-Design:

Münchner Kammerspiele,

Wilhelm Dietl (Autor, Ex-BND-

Navin Rai (World Bank’s advisor on

Steffen Klaue

Spielort: Glyptothek München

Agent), Feodor Elutinev (Moskau),

indigenous issues, Nepal), Rimantas

System-Development:

US-Premiere: 5.1.2017

Hans Jörg Geiger (Ex-BND-

Ribaciauskas (Vilnius), Angela

Stefan Curow, Martin Ohmann

The Public Theater’s Under the

Präsident), Michael German

Richter (Berlin), Jörg Schindler (Der

Technische Leitung: Hans Leser,

Radar Festival, New York; Spielort:

(Ex-FBI-Mitarbeiter), John Goetz

Spiegel), Laila Soliman, Diaa Hamed

Sven Nichterlein

Brooklyn Museum

(Dokumentarfilmer), Amitesh Grover

(Kairo), Morton Storm (Ex-CIA-

(New Delhi), Simon H. (Software-

Agent), Emmanuel Thaunay (Paris),

Ausstattung: Dido Govic, Lena Mody, Katharina Schütz

Eine Produktion von Rimini Protokoll

entwickler, Hacker, Whistleblower),

Ioanna Valsamidou (Athen), Ver-

Ton: Martin Sraier-Krügermann

und den Münchner Kammerspielen,

Ben Hayes (statewatch, London),

teidigungsministerium Vilnius,

Produktionsleitung: Jessica Páez

in Koproduktion mit dem Haus der

Jochen Hollmann (Leiter Ver-

Tim Weiner, Markus Wessendorf

Kulturen der Welt, dem Goethe-Insti-

fassungsschutz Sachsen-Anhalt),

(Hawaii), Assen Yordanov (Journalist,

Mit den Stimmen von:

tut und mit Unterstützung des Mel-

Homegrown Company (London),

Sofia), Ksenia Yurkova, Christina

Jacob Appelbaum, Kai Biermann,

bourne Festival. Staat 1 wurde vom

Diana Ivanovna (Sofia), Kostis

Zintl (Stückemarkt Berlin).

William Binney, Jonathan Bloch,

Goethe-Institut mitinitiiert als Teil

Kallivretakis, Martin Lukas Kim

202 | Staat 1–4


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 203

Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)

Konzept, Regie, Text: Stefan Kaegi

ges Bauen, Karlsruhe Institute of

bilien Projekt Management Düssel-

Bundesministerium für Verkehr und

(Rimini Protokoll)

Technology KIT), Ilias Abawi (Pres-

dorf), Otto Huber (Polier, Zechbau),

digitale Infrastruktur), Martin Reuter

Mit: Sonja-Verena Breidenbach,

sesprecher, Emschergenossen-

Jean-Pierre Kaegi (Bauingenieur von

(Architekt, Ingenhoven Architects

Dieter Läpple, Fang-Yun Lo, Alfredo

schaft), Thomas Aders (Projektleiter,

Tunnelprojekten in Saudi-Arabien,

GmbH), Denisa Richters (Journalis-

di Mauro, Jürgen Mintgens, Marius

Emschergenossenschaft), Dirk

China, Georgien und Malaysia),

tin, Rheinische Post), Dirk Schaper

Ciprian Popescu, Andreas Riegel,

Baackmann (Abteilungsleiter, Stadt-

Claudia Kalender (Leiterin Objekt-

(Geschäftsführer, Hochtief Vicon),

Reiner Pospischil

planungsamt Düsseldorf), Irene

marketing, Deka Immobilien), Heiko

Andrá Schewcow (Sprengmeister,

Szenografie: Dominic Huber

Baumbusch (Architektin, Stadt Wup-

Kirchhain (wissenschaftlicher Mitar-

Deutsche Spreng), Hans Schmitz

Video: Mikko Gaestel

pertal), Gregor Bonin (Beigeordneter

beiter, EBS Real Estate Management

(Polier, Zechbau), Ulrich Schreiber

Musik: Fabian Schulz

für Planen, Bauen, Mobilität, Um-

Institute), Rolf Knie (Architekt, Ger-

(Geologe, Universität Duisburg-

Licht: Konstantin Sonneson

welt, Stadt Mönchengladbach), Gil

ber Architekten), Jochen Köhn (Ar-

Essen), Reinhard Steffen (Gewerk-

Dramaturgie: Robert Koall

Bronner (Immobilienentwickler und

chitekt, Gmp Architekten von Ger-

schaftssekretär, IG BAU), Bernd

Third Eye, Dramaturgie Staat 1–4:

Kunstsammler, Sammlung Philara),

kan, Marg und Partner), Michael

Timmers (Bauingenieur, ehemals

Imanuel Schipper

Christian Bruns (Immobilienmakler,

Krass (Projektentwickler, Pandion),

Züblin), Ferdinand Tönnis (Techni-

Recherche: Wilma Renfordt

Düsseldorf), Wolfgang Eckart (Bera-

Heinrich Labbert (Geschäftsführer,

scher Leiter, Zechbau), Yasemin Utku

ter), Stefan Engstfeld (MdL, Bündnis

IPM Immobilien Projekt Manage-

(Stadtplanerin, Technische Universi-

Uraufführung: 12.5.2017

90/Die Grünen), Eckhard Gerber (Ar-

ment Düsseldorf), Andreas P. Lienig

tät Dortmund), Günter Vornholz (Im-

Düsseldorfer Schauspielhaus,

chitekt, Gerber Architekten), Klaus

(Journalist, Deal Magazin), Carsten

mobilienökonom, EBZ Business

Central, Große Bühne

Grewe (Berater, Klaus Grewe Pro-

Machentanz (Projektleiter, Emscher-

School/Deutsche Hypo), Harald Wel-

gramme Management), Dirk E. Haas

genossenschaft), Guido Maes (Bera-

zer (Soziologe, Europa-Universität

Eine Produktion von Rimini Protokoll

(Stadtplaner, REFLEX architects_ur-

ter, Maes Consulting), Andreas

Flensburg), Ludger Wennemann (En-

und dem Düsseldorfer Schauspiel-

banists), Catalina Guia (Beraterin,

Mauska (Vertriebsleiter, Grafental),

tomologe, Pflanzenschützer, Garten-

haus.

Arbeit und Leben DGB/VHS NW),

Stefan Mühling (Geschäftsführer, die

bauingenieur).

Lena Hocke (Stadtplanerin, Astoc

developer), Alexander Paech (Ver-

Dank an: Catalina Guia (Arbeit und

Architects and Planners), Christian

gabe- und Submissionsstelle, Stadt

Leben DGB/VHS NW e. V.), Reinhard

Hoffmann (Architekt, Gmp Architek-

Düsseldorf), Michael Rathgeb (Archi-

Steffen (IG BAU Rheinland), Prof.

ten von Gerkan, Marg und Partner),

tekt, Ingenhoven Architects GmbH),

Dirk E. Hebel (Fachgebiet Nachhalti-

Jörg Hogrefe (Prokurist, IPM Immo-

Iris Reimold (Regierungsdirektorin,

Staat 1–4 | 203


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 204

Träumende Kollektive.

Weltzustand Davos

Schlafende Schafe (Staat 3)

(Staat 4)

Konzept, Text, Regie: Daniel Wetzel

und 13, Athena Research & Innova-

sche Bildung), Hagen Schönrich (In-

Konzept, Text, Regie: Helgard Kim

(Rimini Protokoll)

tion, Giorgos Apostolakos, Philipp

stitut für Geschichte, TU Dresden),

Haug, Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)

Mit: Kostis Kallivretakis, Vassilis

Borgers, Bernhard Bannasch (Stell-

Gabriel Sakellaridis, Spyros Sakella-

Mit: Ganga Jey Aratnam, Otto

Koukalani

vertretender Sächsischer Daten-

ridis (Intrakom), Maria Saridaki, Ro-

Brändli, Hans Peter Michel, Cécile

Bühnenbild: Magda Plevraki

schutzbeauftragter), David Bovill

land Schwarz (Technische Sammlun-

Molinier, Sofia Sharkova

Co-Autorin: Ioanna Valsamidou

(fortyfoxes), Aris Chatzistefanou (In-

gen Dresden), Maria Seiragaki,

Bühne: Dominic Huber

Software-System-Design und

fowar), Chaos Computer Club Dres-

Katerina Sergidou, Liene Šilde, Ste-

Musik: Tomek Kolczynski

-Implementierung: Dimitris Trakas

den, Martin Christian, Nico Geyso,

phanie Hankey und Marek Tuszynski

Video: Mikko Gaestel

(ViRA)

Fredy Gizas, Benny Hapke, Sandra

(Tactical Technology Collective),

Dramaturgie: Imanuel Schipper,

Musik, Sound-Design: Lambros

Horn (Geschäftsführerin IBH IT Dres-

Panos Tsagarakis, Charalambos Tse-

Karolin Trachte

Pigounis, Peter Breitenbach

den), Herr Beck und Herr Mitschke

keris (Academy of Athens), Prodro-

Licht und technische Leitung:

(Angestellte IBH IT Dresden), René

mos Tsinikoris, Dimitris Tsironis, An-

Uraufführung: 12.1.2018

Martin Schwemin

Jahn, Eileen Jerrett, Giorgos Karam-

gela Varela, Ulrich Wolf (Sächsische

Schauspielhaus Zürich,

Regieassistenz und Recherche:

belias (Enallaktikes Ekdoseis), Mary

Zeitung).

Schiffbau, Box.

Andreas Andreou

Karatza (Politeia 2.0), Athena Karat-

Dramaturgie: Julia Weinreich

zogianni, Manos Karatzogiannis,

Eine Produktion von Rimini Protokoll

Third Eye, Dramaturgie Staat 1–4:

Nikos Katsiaounis (Ekdoseis Exar-

und dem Schauspielhaus Zürich.

Imanuel Schipper

chia), Zoe Konstantopoulou, Dr.-Ing. Stefan Köpsell, Stefanos Loukopou-

Dank an: Cezmi A. Akdis (Direktor

Uraufführung: 23.9.2017

los (Vouliwatch.gr), Gretta Miller,

Swiss Institute of Allergy and Asthma

Staatsschauspiel Dresden,

Allan Mills, Sven Nichterlein, Katrín

Research), Simon Bärtschi (Mitglied

Kleines Haus.

Oddsdóttir, Sabine Oster-Miller, Ilias

der Chefredaktion, Tagesanzeiger),

Pantazis (Big Olive), Peng!, Jean Pe-

Ruedi Baur (Atelier intégral), Thomas

Eine Produktion von Rimini Protokoll

ters, Elias Pigounis, Anthony Ragu-

Bernauer (Politologe ETH), David Ber-

und dem Staatsschauspiel Dresden.

sis (King’s College London), David

net (Journalist), Timon Beyes (Leitung

Van Reybrouck, Dr. Annette Rehfeld-

Summerschool), Sonja Bichsel

Dank an: Abraxas, Akademie für be-

Staud, Dr. Amm und Andreas Tietze

(Coach), Nikola Biller-Andorno (Medi-

rufliche Bildung Dresden, Klasse 12

(Sächsische Landeszentrale politi-

zinethikerin), Corine Blesi (langjährige

204 | Staat 1–4


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 205

Bildnachweis

WEF-Mitarbeiterin), Liam Ó Cahasaigh

(Global Shaper), Moritz Leuenberger

Abkürzungen: R = Reihe, l = links,

(Head of Video Content WEF),

(Alt-Bundesrat), Ueli Mäder (Sozio-

r = rechts, m = Mitte, o = oben,

Matthias Catón (langjähriger WEF-

loge), Jörg Metelmann (Leitung

u = unten

Mitarbeiter),Tarzisius Caviezel (Landam-

Summerschool), Andy Mettler (Foto-

man Davos), Oliver Classen (Medien-

graf), Michèle Mischler (Head, Swiss

Mikko Gaestel (76, 79 R3m); Ben

koordinator, Public Eye), Colin Crouch

Public Affairs and Sustainability WEF),

Gancsos (56 R1); Kevin Fuchs (57 ol);

(Politologe), Melina Cutinha (VP Regu-

Steffen Mohrenberg (Politologe ETH),

Helgard Kim Haug (4–5, 40 R3r, 57 r,

latory Initiatives Credit Suisse), Laura

Bernhard Müller (Kommandant

169 R3r); Sebastian Hoppe (56 R2, 57

de Wolf (Director Conferences and In-

Schweizer Luftwaffe), Lars Müller

ul); Dominic Huber (80 R1m, R2, R3m,

ternational Projects GDI), Matthias

(Verleger), Lukas Nigg (Aufbauer Kon-

169 R3l); Stefan Kaegi (10 u, 15 ol, 31,

Dettling (Chef Kultur und Bildung im

gresszentrum Davos), Esther Schau-

41 R3r, 75, 79 R1lm, R2mr, R3lr, 81

Schweizer Generalkonsulat New York),

felberger (Internationales Komitee

R2l); Steffen Klaue (35); Imanuel

Dr. Jürgen Dunsch (Autor), Franz Egle

vom Roten Kreuz), Werner Schmutz

Schipper (8–9, 15 or, ul, 16 ol, 32, 38,

(Berater), Peter Flury (Präsident Medi-

(Physikalisches-Meteorologisches Ob-

39 R1, R2, R3lm, 40 R1, R2, 41, 77, 79

zinmuseum Davos), Marc Gianola

servatorium Davos), Constantin Seibt

R1r, R2l, 80 R1lr, R3lr, 81 R1, R2mr, R3,

(Chef Spengler Cup), Markus Glarner

(Journalist), Maximilian Stern (Global

128 R2lr, 129 R1lm, R2lm, R3, 160 u,

(Medienchef des HCD), Roman Gut-

Shaper), Christian Thomann (Physika-

163 o, 165, 167 R1mr, R2r, R3mr, 168

zwiller (Global Shaper), Beat Hedinger

lisches-Meteorologisches Observato-

R1, R2, R3lr, 169 R1, R2, R3m, 201);

(Hubschrauberpilot, Leiter SPHAIR),

rium Davos), Christoph Toggenburg

Rimini Protokoll (11–12, 16–17); Martin

Jon Herbertsson (Manager of Creative

(langjähriger Mitarbeiter WEF), Ernst

Schwemin (121, 122, 127 R2mr, 128

Community Outreach Initiative, UNO),

Wyrsch (Hotelier), Yann Zopf (Head of

R2m, 129 R2r, U2); Benno Tobler (18–

Jonathan Imme (Global Shaper),

Media Operations and Events WEF),

19, 21, 26–27, 48–55, 58, 68–69, 82, 96–

Maria Francisca Izé-Charrin (ehema-

Alois Zwinggi (Vorstandsmitglied

99, 105, 116–117, 138–145, 154–155,

lige Direktorin des High Commissio-

WEF). Außerdem den Studierenden

177–183, 189, 197, U1, U3, U4); Karolin

ner for Human Rights, UNO), Nicole

der Copenhagen Business School und

Trachte (15 ur, 160 o, 163 u, 164, 167

Joller (Immunologin Uni Zürich),

der Universität St. Gallen sowie ganz

R1l, R2l, 168 R3m); Natacha Tsintikidi

Thomas Kehl (Klinikdirektor), Samson

herzlich Margrit Haberreiter.

(155 u); Daniel Wetzel (10 o, 37, 125 o,

Kidane (Ingenieur), Hannes Klöpper

126, 127 R1, R2l, 128 R1)

Staat 1–4 | 205


TdZ_Rimini Protokoll_2018_fin.qxp__ 15.02.18 16:46 Seite 206

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„Ein neues Theaterralphabet in Form eine es Lexikons. Humorvoll, ironis sch, voller Geschichten.“ WDR

Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel haben ein ABCDarium entwickelt, eine Form, die dem vernetzten und stets in Bewegung befindlichen Denken und Arbeiten des Kollektivs entspricht. Rimini Protokoll tritt hier erstmals als Experte seiner selbst auf und definiert Begriffe der eigenen Arbeit: von A wie Applaus und Authentizität über Präsenz, Publikum, Repräsentation bis hin zu Z wie Zugabe, Zweifel und Zukunft.

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