Eine Puppe packt aus. Dokumentarroman

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Theater der Zeit

aus t k c a p Eine Puppe Klaus Thaler tar Dokumen

Roman



Klaus Thaler

Eine Puppe packt aus Dokumentarroman

Theater der Zeit


Die Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im UrheberrechtsGesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de © 2023 Theater der Zeit Korrektur: Sophie-Margarete Schuster und Harald Müller Satz und Gestaltung: Bertram Schiel Printed in Germany 1. Auflage 2023 (1000 Exemplare) ISBN 978-3-95749-481-8 (Paperback) ISBN 978-3-95749-485-6 (ePDF) ISBN 978-3-95749-488-7 (ePUB)


Autor: Klaus Thaler, Jahrgang 1965, lebt und schreibt in der Uckermark Mentor: Peter Wawerzinek (Die Romanidee der erzählenden Puppe schenkte der Mentor dem Autor während der Schreibideenwerkstatt 2012 am Oberlin College, Ohio, USA) Zeitzeugenflaschenpost: Nina Hagen, Fränki Schäfer, Sabine von Oettingen, Dome Hollenstein, Robert Paris, Tatjana Besson, André Greiner-Pol, Key Pankonin, Gunter Franze, Leo Kondeyne, Dr. S.c.Happy (Peter Wawerzinek), Christian Grashof, Jonas Biermann Soubeyrand Alle Briefeschreiber sind autorisiert, mit diesem Buch Lesungen zu veranstalten. Fotos: (siehe Bildnachweis) Roger Melis, Frieda von Wild, Helga und Robert Paris, Thomas Starck, Kuno Rudolph, Hartmut Beil, Peter Wawerzinek, Frank Müller, Christiane Roewer, Frau Janosch, Jonas B. Soubeyrand, Jürgen Hohmuth (Schrat) Zeichnungen/Siebdrucke: Martin Krönert, Mita Schamal, Bertram Schiel, Johanna Martin, Hacki Ginda, Walfischdruck



Widmung

Für alle Puppen dieser Welt, für meine Mutter, die Erde, für meine vielen Väter, das Land, für meine Freunde und Feinde und für dich, dich und dich …


Inhalt

0. Zinnober der guten Vorsätze

10

1. Zorro der Bär

13

2. Die Vertreibung des Hanswursts

28

3. Auf der Mauer auf der Lauer

37

4. Spannung und Widerstand

50

5. Paris, Paris Ecke Winsstraße

56

6. Der Mob läuft um die Ecke

72

7. Stillgestanden!

86

8. Super-8-Mann nimmt kein Trinkgeld

93

9. Die T-Shirt-Manufaktur

100

10. Die Scharlatarne

118

11. Der Zauberring und das traurige Blauhemd

132

12. Wir sind das Volk

143

13. Die Flugblätter von Gethsemane

151

14. Der wilde Affe von Rummelsburg

159

15. Die Rakete vom Alexanderplatz

171


16. Das gemeine Feeling beim Mauerfall

182

17. Heiligabend in Amsterdam

192

18. Rendezvous im Rosenthal

202

19. Hätte popette

222

20. Charly, das Huhn und die Taube Europa

227

21. Tacheles oder Tach Less

237

22. Das fliegende Ohr

251

23. Alles im Eimer

267

24. Key, der Schlüssel zur Ichfunktion

279

25. Herr Spinner und der Lügendetektor

286

26. Kasbär und der Balast der Republik

301

27. Excalibur im portugiesischen Exil

315

28. Nachsätze mit Viren, Vorsicht

319

29. Hinweise zur Sekundär-Rezeptur

326

30. Bildnachweis

327

31. Werbung in eigener Sache

328

32. Zu guter Letzt: Ablassbriefe

331

33. Abspann

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0. Zinnober der guten Vorsätze Die kleine miefige DDR-Diktatur war im Rückblick viel bunter und freier als wir dachten, es gab viel zu lachen bei all dem real existierenden Irrsinn. Die Gleichstellung der Frau war fortgeschrittener denn je, FKK und das Recht auf Abtreibung waren normal. Erich Honecker küsste nicht nur Gorbatschow links und rechts, sondern auch den Papst in Rom. Räuber-und-Gendarm spielen macht Spaß, solange man nicht erwischt wird und in den Knast kommt. Bombenleger, Geldsorgen, Drogen und bezahlter Sex waren in der Zone weitgehend unbekannt. Die Waffen der friedlichen Revolution von 1989 hießen Kunst und Phantasie. Ein anarchistisches, äh Pardon nein, ein sozialistisches Chaos. Jeder kannte mindestens zwei Sprachen: eine in den vier Wänden der Familie und eine in der Öffentlichkeit. Das Teekesselspielchen (Worte raten mit zwei Bedeutungen) und das „Ich sehe was, was du nicht siehst“-Spiel waren beliebt und verbreitet. Dieses Buch will euch verleiten, alte Spiele wiederzuentdecken, zu schmunzeln und zu lachen, denn Totlachen ist besser als Totschießen. Widersprüche sind eine Laichzeit des Lachens. Schon immer.

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Achtung, dieses Buch ist verpuppt und entpuppt sich als Puppe in der Puppe in der Puppe, bitte nicht mit Matroschkas verwechseln, die immer kleiner werden. Dieses Buch wächst und du bist mittendrin. Heidewitzka und Halleluja – die jüngsten Gerüchte.

Wieso Matthias BAADER 1989 den Startschuss zum Mauerfall gibt, weshalb die Firma die Stasi an der Nase herumführt, warum des Herrn Korruptus Treuhand nicht in Beugehaft sitzt, wer seinen Esel nicht kämmt, hat die Wende verpennt, nicht sein oder doch bleiben und Tacheles reden, frag(t)mente deutsch-deutscher Verwicklungen, bleibt unten oben, muss Mephisto toben, dumm gelaufen – 1990 – Berlin im Eimer.

Ein Orakelbuch, das mit Z anfängt, jedoch mit A aufhört und demzufolge nicht von A - Z erlogen sein kann. Es passt zum absurden Theater der Zeit! Vorhang auf – das Spiel beginnt!

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Zorro und die Zeitmaschine

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist hinter den Kulissen.

1. Zorro der Bär Willkommen in der Zeitmaschine des ehrenwerten Herrn Mephistopheles, liebe Leser, steigt ein in das Luftschiff des Lügenbarons und macht es euch auf dem Sofa gemütlich, haltet euch gut fest an einer wohlschmeckenden Schale Tee, einem guten Glas Wein oder einem Becher Wasser. Geht vorsichtshalber noch einmal auf die Toilette, stellt eure Handys auf Flugmodus. Steigt ein in unsere Höllenmaschine, keine Angst, ich hab sie dem Teufel persönlich abgeluchst, wir müssen vorsichtig sein, damit Baron Lefuet uns nicht bemerkt, festhalten, wir starten. Mein Name ist Zorro. Zorro der Bär. Wir schreiben das Jahr 2019. Ich bin eine Handpuppe und knapp dreißig Zentimeter groß. Auf den ersten Blick bin ich ein stinknormaler Teddy zum Reinschlüpfen, doch wenn ihr genau hinschaut, bin ich ein Löwe. Das bleibt auf ewig mein Geheimnis und ihr vergesst es am besten gleich wieder. Mit diesem Etikettenschwindel muss ich bis heute leben. Es ist oft so bei euch Menschen, dass nicht das drin ist, was draufsteht. Seht euch nur die Kirchen dieser Welt an, sie sind nachts geschlossen, der Schutzsuchende schläft unter der Brücke, und hat er Hunger, bekommt er vom Pfaffen ein Stückchen Jesu Christi, also ein Stück Oblate auf die Zunge gelegt. Inszenierter Kannibalismus im Namen des Herrn. Ob das zum Sattwerden reicht, ist fraglich. Zum Glück bin ich eine Puppe und habe so gut wie nie Hunger. Meine Feinde heißen Maus und Motte, Einsamkeit und Vergessen. Dagegen kämpfe ich mit all den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Ich habe ein ockerfarbenes Fell, trage inzwischen eine Maske vor den Augen und verdecke mit meinem schwarzen Hut meine angehende Glatze. Ich spiele einen der Helden in der Truppe einer Puppenbühne. Jonas, der Puppenspieler, denkt, er erwecke mich bei jeder seiner Aufführungen zum Leben, allerdings hat er immer noch nicht begriffen, dass wir ihn, nicht er uns spielt und wir nebenher auch noch ein Eigenleben führen. Wir sind ungefähr fünfzig Puppen im Ensemble und wohnen, je nachdem, welches Stück auf dem Spielplan steht, in dem einen oder anderen alten Koffer.

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Auf der inneren Rückseite des Buchumschlags kann man uns sehen. Frauen natürlich auch. Ich versuche, beim Einpacken meistens in die Nähe der süßen, kleinen Prinzessin Mary Filou zu gelangen. Das passt unserem siebenköpfigen, echt feuerspuckenden Drachen überhaupt nicht. Er drängelt sich immer wieder zwischen mich und die Blondine. Am liebsten will unser Drachenspuk sie mit Haut und Haaren auffressen. Wie oft habe ich unserem Puppendirektor schon erklärt, dass er den Drachen in eine extra feuerfeste Kiste sperren soll, damit wir in Ruhe unseren Feierabend und die Winterpause genießen können. Ich spiele seit über zwanzig Jahren die Hauptrolle im Drachenmärchen „Excalibur“ und wenn alles gut läuft, wird das auch weiterhin so bleiben. Die Kinder lieben es, wenn ich Prinzessin Mary Filou aus den Fängen des kleinsten Drachens der Welt befreie. Mit Hilfe des Magiers Merlin ziehe ich während der Vorführung das Zauberschwert aus dem Stein und obwohl mir fast jedes Mal das Herz vor Angst in die Hose rutscht, gewinne ich den Kampf, schlage dem Untier alle sieben Köpfe ab. An manchen Tagen meckert unser Prinzesschen nach der Show mit mir, meint, dass ich aus dem Mund stinken würde und mir endlich mal die Zähne putzen soll. Dazu müsste unser nichts ahnender Puppenspieler allerdings erst einmal ein Bad in unseren Koffer einbauen. Dies ist aus Platzgründen schier unmöglich, im Gegenteil, es ist eng, zappenduster und riecht nach Bärendreck und Drachenfurz. Inzwischen gibt es über zehn Koffer für uns und meistens sind die Puppen aus zwei verschiedenen Stücken in ein und derselben Behausung untergebracht.Viele meiner Kollegen aus dem Actionstück „Excalibur“ werden immer wieder besetzt. Der König und die Königin glänzen auch in Stücken wie „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ oder „Der Soldat und das blaue Wunder“. Wenn wir Glück haben und Jonas nicht zu faul ist, bekommen wir sogar neue Kostüme. Der Obermacker in unserer Truppe ist natürlich der Kasper, oder auch Hanswurst genannt. Mary Filou liebt ihn und somit also auch mich, denn wir zwei sind eigentlich einer. Ihr werdet euch sicher fragen, wie geht das, was für ein grober Unfug? Die Lösung ist ziemlich einfach: Ich bin in der Geschichte Zorro der Bär, also der Kasper im Bärenfell und unsere blonde Prinzessin erlöst mich von dem bösen Fluch der Neuberin, indem sie drei Fragen richtig beantwortet.

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Meist hilft ihr das Publikum dabei, damit nichts schiefgeht. Mit einem großen Donner und nach Silvester riechendem Rauch verwandle ich mich zurück in den Kasper. Die meisten Kinder erliegen dieser Illusion und merken nicht, dass wir zwei verschiedene Puppen sind, aber die gleiche Seele besitzen. Oft müssen wir dem Puppenspieler eintrichtern, was wir sagen wollen. Da ich bisher nur bei „Excalibur“ mitspielen darf, muss ich manchmal zu Hause bleiben. Dann fehlt mir etwas, ich bin still und es kommt vor, dass mir eine Träne über die Bärenwange läuft. Nicht gebraucht zu werden, ist schwer zu verkraften, erst recht, wenn Jonas, der Puppet-Master, zu mir sagt, ich solle mich nicht so wichtig nehmen. Dabei kennen wir uns schon eine Ewigkeit und wie oft schon habe ich diesem Kerl das Leben gerettet. Undank ist der Puppen Lohn. Seid ihr bereit, liebe Leser, euch in das Innenleben und die Gedankenwelt einer Puppe zu versetzen, die Grenzen zwischen phantastischer und realer Welt zu überwinden? Ja? Fein, dann seid ihr genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort! Kommt, kommt! Schnell, husch husch steigt ein, die Zeitmaschine hebt in drei Sekunden ab, wer den Anschluss verpasst, bleibt in der Gegenwart hängen und kann das Buch ungelesen weiterverschenken. Haltet durch beim Aufwickeln des roten Fadens der Geschichte, wer die Sprache zwischen den Zeilen versteht, hat doppeltes Vergnügen. Vorwärts, äh nein, rückwärts marsch und vor allem: Nichts vergessen! Ich scheitere 1968 jämmerlich bei meinem ersten Versuch, die Berliner Mauer einzureißen. Ich sollte üben, mich beim Heldentaten vollbringen und beim Wünsche aussprechen mehr zu konzentrieren und genauer auszudrücken. Allein gegen das Böse zu kämpfen ist sinnlos, daher bitte ich unseren Magier um Hilfe. Ich rufe ihn mit all meiner Energie: „Meeerlin!“ Es dauert keine fünf Sekunden und er steht neben mir: „Na Teddy, was gibts?“ – „Du musst mir helfen, die Mauer muss wieder weg!“ „Wieso, weshalb und … vor allem warum?“, fragt er. „Für Jonas und die Großmutter …“, antworte ich kleinlaut. „Mach dir keine Sorgen, Zottelbär, es wird geschehen!“, und schwupp, ist er wieder weg. Eine Woche später bekommt Jonas, der grade mal fünfjährige Rotzlöffel aus dem Ostteil der Stadt, einen Reisepass und dass, obwohl der Betonzaun um West-Berlin schon sieben Jahre steht. Blutbeklebtes Moos wächst an seinen Rändern.

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Puppenbaader bei der Arbeit

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Instrumentalisiert

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Märchenbrunnen von König Friedrich II.

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Caroline Friederike Neuber, genannt die Neuberin (1697 – 1760)

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Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781)

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Hä? Einen Reisepass, wo weder Katz noch Maus ein Schlupfloch durch den eisernen Vorhang finden? Wie kann das sein? Ganz einfach. Wolf Biermann ist der Vater des Kleinen und gleichzeitig der Ziehbruder von Margot Feist, der späteren Ehefrau von Erich Honecker. Die spätere First Lady arbeitet fleißig als Ministerin für Volksbildung und hält die schützende Hand der Partei über das lautstark provozierende Brüderchen. Ihr Mann Erich, also der mit dem Panamahut, ist darüber nicht amüsiert und ahnt damals schon, dass er einst über den frechen Sänger stolpern wird. Wolfs Mutter lebt in Hamburg und will endlich den Enkel für mehrere Wochen auf ihrem Schoß sitzen haben. Also stiefelt sie bei einem Besuch in Ost-Berlin ins Büro ihrer Ziehtochter. Die alte Kommunistin liest Frau Margot gehörig die Leviten, die tätigt daraufhin ein Telefonat und fertig ist der Lack. Der geliebte Enkel bekommt ohne Probleme seinen ersten Reisepass zur Ein- und Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland. Brigitte, die Mutter des Jungen, fährt Jonas mit dem Trabbi zum Flughafen Schönefeld und übergibt ihn in die Hände einer reizenden Stewardess. Die schenkt dem drolligen Kind einen Lutscher, um beim Start den Druck auf seinen Ohren zu mildern. In Hamburg gelandet, steht Oma am Ausgang und empfängt ihr Apfelbäckchen mit Zuckerstangen. Sie küsst ihn ab und weint vor Freude riesengroße Krokodilstränen. Das war es, was die meisten DDR-Bürger wollten: frei reisen. Leider ist dies dem größten Teil des Volkes verboten und wer trotzdem über die Mauer klettert, wird unter widrigen Umständen erschossen. Jonas landet, unversehrt vom Klassenfeind, zurück in Ost-Berlin, was nicht ganz stimmt, denn er kommt bepackt mit einem Rucksack voller Lego-Bausteine und einem Dutzend geiler Matchbox-Autos nach Hause. Ab sofort mag er das sozialistische Spielzeug im Kindergarten nicht mehr und die Kindergärtnerinnen wundern sich über die schicken Billigklamotten, Marke West. Es dauert eine Weile, eh ich begreife, dass die Mauer immer noch steht und ich meinen Wunsch falsch formuliert habe. Ich hätte nur zu unserem Zauberer sagen müssen: „Die Mauer soll ganz weg, für alle!“ Pustekuchen, mal wieder alles falsch gemacht, beim nächsten Versuch bin ich schlauer, versprochen, ihr werdet es erleben. Ich fühle mich einsam in meiner Bärenhaut und schaue schweigend aus dem Fenster. Ich blicke auf den Märchenbrunnen im Friedrichshain, ein wunderschöner Brunnen im Herzen Berlins. Jonas spielt häufig in seinem

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Märchenbrunnen, er liebt das Wasser, er liebt das Märchen, er liebt das Leben. Jahrzehnte später behauptet der Junge, er habe als Kind zu oft im Märchenbrunnen gebadet und hätte daher nichts anderes als Geschichtenerzähler und Puppenspieler werden können. Nach der Schule schmeißt das Kerlchen seinen Ranzen in die Ecke und lungert mit Freunden in den Brunnennischen. Er kennt jedes Versteck, jeden Schleichweg und jeden Baum im Park. Es werden Wasserspäße und Mutproben erdacht, die Phantasie kennt keine Grenzen. Die erfrischenden Wasserfontänen der Delphine werden mit dem Druck von Mittel- und Zeigefinger in die gewünschte Richtung gelenkt. Unter viel Gekreische wird sich gegenseitig nass gemacht. Jonas verlebt eine märchenhaft behütete, grimmsche Kindheit zwischen Hans im Glück, Rapunzel, Dornröschen, Aschenputtel, dem Froschkönig, dem liebevoll gestrengen Ziehvater und vielen anderen. Die ersten Ambitionen zum Puppenspieler sind bereits im zarten Alter von drei Jahren unmissverständlich zu verstehen: Während andere Jungs ausschließlich mit Autos, Pistolen und Traktoren spielen, badet mein späterer Theaterdirektor mit Hingabe kleine Gummipuppen in Plastikschüsseln. Erst werden die Objekte seiner Spiellust entkleidet, dann ausgiebig untersucht und anschließend gewaschen, wobei er schnell bemerkt, dass komischerweise immer nur Mädchen unter den Kleidern wohnen. Die Puppen werden natürlich auch auf den großen, roten Laster mit gelber Plastikladefläche und Kippvorrichtung verfrachtet. Unermüdlich zottelt er ihn hinter sich her. Wenn der Knirps damals schon geahnt hätte, dass er später einmal in einem großen, roten LKW wohnt, dass er mit mir und den anderen Puppenkollegen übers Land ziehen wird – er hätte sich schelmisch in die Fäustchen gelacht. Als Biermann, der sangesfreudige Vater mit der Gitarre und dem traurigen Schnauzbart, noch Held des Volkes ist, schenkt er dem Sohnemann zum Geburtstag ein großes, aus einem Schrankunterteil selbstgebautes Puppentheater, hinterlässt den vielsagenden Wink mit dem Zaunpfahl. Dieses Puppenhaus ist nicht nur die perfekte Bühne für kleine Darbietungen, es wird von Stund an auch beliebtester Ort des Versteckspiels. Zeitweilig muss es auch als königliches Schlafgemach herhalten. Jonas entwickelt sich prächtig und ist drollig anzusehen. Und ich, sein geliebter Teddy? Ich soll nach wie vor Heldentaten vollbringen.

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Spitzelbericht aus Biermanns Akte „Lyriker“

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Reisefreiheit mit Beziehungen

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Ich muss den Hero spielen, obwohl mir die Rolle überhaupt nicht liegt. Ich bin der klassische Antiheld, bin furchtsam und habe Angst. Aber ohne Missionen ist auch ein Puppenleben nur halb so wild und da Übung den Meister macht, werde ich von Mal zu Mal besser. Flüche und Verwünschungen muss man aushalten und das Beste daraus machen. Passt bloß auf, liebe Leser, beim Verfluchen ist es oft so, dass es am Ende denjenigen trifft, der den Fluch ausspricht. Ich als Kasbär kann euch ein Lied davon singen. In meinem Falle traf es Friederike Caroline, genannt die Neuberin, die Komödiantin aus Lessings Zeiten. Ab dem Moment, wo sie mich auf dem Scheiterhaufen abfackeln will, wird sie vom Pech verfolgt. Mag sein, dass die Neuberin die großartigste und modernste Komödiantin ihrer Zeit ist, aber dass sie mich, den Hanswurst, Kasper, Liebling der Kinder und der einfachen Leute, von der Bühne verbannt, das werde ich ihr nie vergessen. Rache ist Blutwurst. Sie stirbt einsam und verarmt. Kein Mensch wird sich an sie erinnern. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

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Jonas in seinem ersten Puppentheater

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Ich sehe eine, die ihr nicht seht, und die hat großes Theater gemacht.

2. Die Vertreibung des Hans Wurst Ich bin zwar äußerlich ein verwunschener Bär, aber innen drin, im tiefsten Herzen meines Handpuppendaseins, da bin ich Kasper, Scharlatan und Eulenspiegel. Viele Jahre, bevor der Puppenspieler mich in Besitz nimmt, stecke ich auf dem Hals dieser leeren Weinflasche. Ich gehöre dem großen Bruder des Kleinen und wohne in dessen Zimmer. Die Flasche gibt mir Rückhalt und Sicherheit. In dieser Zeit fühle ich in mir eine unendliche Leere. Ich bin sprachlos. Keiner spielt mit mir. Das stimmt nicht ganz, ein bis zweimal im Jahr kommt Jonas heimlich ins Zimmer geschlichen. Natürlich nur, wenn Manuel außer Haus ist. Er schaut mir tief in die Augen und versucht erfolglos, mich mit seinen kleinen Patschehändchen zu streicheln. Einmal wird er übermütig, nimmt sich einen Hocker und reißt mich von meinem Sockel. Er kriecht mit der Rechten in meinen Körper, doch sein Zeigefinger ist viel zu mickrig. Mein Kopf knickt zur Seite, der Zwerg kann mir noch kein Rückgrat geben. Ich genieße es trotzdem, frage mich allerdings immer öfter, ob Merlins Prophezeiung vielleicht doch nur eine Finte ist, ein übler Schabernack des weisen Mannes oder eine erneute Prüfung des Schicksals. Seit über zweihundertfünfzig Jahren bin ich verflucht, verflucht von dieser verdammten Neuberin, verflucht mit zwei Seelen – ach, in meiner Brust – zu leben. Schizophrenie pur. Jeder Psychiater würde verrückt werden, wenn ich auf seiner Couch liegen und plaudern würde. Ich hoffe, es ist kein Seelendoktor unter euch, wenn doch, so möge er dies Buch beiseitelegen, ich übernehme keinerlei Verantwortung, für das, was passiert, passiert ist und passieren wird. Jeder haftet für sich selbst. Hereinspaziert, hereinspaziert, steigt ein mit mir in die Zeitmaschine, einen Reisepass braucht ihr nicht und die Atemschutzmasken könnt ihr getrost zu Hause lassen. Wir müssen nur zusammenhalten und sehr achtsam sein, denn wenn Baron Lefuet uns erwischt, sind wir verloren. Gut festhalten, wir fliegen im Rückwärtsgang und schwuppdiwupp, dreimal an die Stirn getippt – schon sind wir da! 28


Man schreibt das Jahr 1737. Bitte aussteigen. Wir befinden uns in einer der vielen Komödienbretterbuden in Hamburg. Die Sonne scheint, ich sitze in meinem Narrenkostüm vor der Bude am Fischmarkt. Die Menschen strömen in unser Theater, wollen sich das neueste Schauspiel unserer Truppe ansehen. An der Kasse steht eine lange Schlange. Heute wird die Bude voll. Ich mache nichtsahnend meine derben Späße mit den herbeischlendernden Schaulustigen. Es klingelt bereits zum dritten Mal, die Vorstellung beginnt, wir sind restlos ausverkauft. Unsere Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, im Volksmund die Neuberin genannt, begrüßt mit einer Eröffnungsrede das anwesende Publikum. Ich quatsche wie immer dazwischen, mache blöde Witze, ziehe die Chefin durch den Kakao, furze laut, rülpse was das Zeug hält. Die Leute lachen müde. Madame droht mir auf offener Bühne mit Kürzung der Gage, wenn ich nicht augenblicklich meinen vorlauten Mund halte, mich nicht endlich sittsam benehme. Ihre Wut stachelt mich an, ich setze ihr einen derben Witz nach dem anderen entgegen. Nach zehn Minuten läuft das Fass über. Sie packt mich am Kragen, schmeißt mich lauthals von der Bühne: „Scher dich zum Teufel und lass dich hier nie wieder blicken! Hanswurst, du elender, miserabler Schmierenkomödiant, weg mit dir, du Kasperkopf!“ Und sie gibt mir einen derben Tritt in meinen Allerwertesten. Ich klettere unbeeindruckt die Rampe wieder hoch, bin ganz Sau. Das Publikum tobt, die Leute sind endlich aus ihrer Lethargie erwacht, sie klatschen sich gegenseitig auf die Schenkel, trampeln wie verrückt mit den Füßen im Takt. Keiner kann mehr unterscheiden, ob unser Streit echt ist oder gar zum Spektakel gehört. Sie drängt mich erneut hinter die Kulissen, ich wechsle die Seite und erscheine frohlockend auf der gegenüberliegenden Gasse der Bühne. Sie ist so in Rage, dass sie zum äußersten Mittel greift, sie verurteilt mich vor allen Leuten öffentlich zum Tode. Schon seit Wochen diskutiert sie mit mir, dass ich ihre ernsthaften Tragödienspiele nicht stören, mich benehmen und einfügen soll. Ich setze ihr entgegen, dass ein gesundes Lachen, ein laut tönender Furz, ein frivoler Schabernack nie schaden kann. Ich reime aus dem Stegreif: „Fängt das Zwerchfell an zu rosten – stehst du auf verlorenem Posten“. Die Leute johlen und ich singe lauthals: „Ist das Leben noch so kurz, lass dir Zeit für einen Furz.“ In gewisser Hinsicht verstehe ich ja den Anspruch unserer Chefin.

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Sie versucht seit Jahren, das Theater von meiner pöbelnden, platten und sexistischen Derbheit zu befreien, sie kämpft für die Reinheit der moralischsittlichen Tragödie. Sie ist gemeinsam mit ihrem Freund und Verehrer Gotthold Ephraim Lessing der Auffassung, Theater soll nicht der reinen Unterhaltung, sondern vielmehr der Bildung und Erziehung dienlich sein. Und dabei war die Neuberin dem Komischen keineswegs abgeneigt, kreischte selbst gern bei passender Gelegenheit wie eine Lachmöwe. Nach und nach hetzt sie das gesamte Ensemble gegen mich auf und heute, am 7. Oktober 1737 ist es so weit. Sie hat vor unserer Bretterbude einen Scheiterhaufen errichten lassen. In der Mitte des akribisch aufgerichteten Holzhaufens throne ich als Puppe, symbolisch für alle Hanswürste und Kasperköpfe dieser Welt. Auf meinem Rücken ist ein schweres Tierfell befestigt. Es ist der Bär, den sie dem Volke aufbinden will. Das Publikum steht wie immer erwartungsvoll gaffend im Halbkreis herum. Das Drama beginnt im wahrsten Sinne des Wortes mit Pauken und Trompeten. Die Neuberin schreitet mit einer brennenden Fackel aus dem Haupteingang der Bude. Sie entfacht den Scheiterhaufen in der Mitte, richtet die gespreizten Daumen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand auf mich und ist bereit für den Fluch. Das Publikum hält den Atem an, glotzt mit offenen Mündern, weiß nicht recht, was es von dem Spektakel halten soll. Das Feuer lodert auf, Rauch steigt in meine Nase und wäre eine Puppenspielerhand in mir, ich würde wild gestikulieren, anfangen nach Luft zu japsen und fürchterlich husten. Mein Leben läuft in Sekundenschnelle vor mir ab. Am liebsten würde ich lauthals schreien: „Friederike, die Menschen lieben mich, sie brauchen mich, tu's nicht!“ Aber ich habe keine Stimme, ich bin leer und vor allen Dingen machtlos. Die Neuberin tanzt drei Runden um den Scheiterhaufen und spricht mit fester Stimme: „Hanswurst, du nichtsnutziger Kasperkopf – verdammt sollst du sein bis in alle Ewigkeit! Du wirst so lange Heldentaten vollbringen müssen, bis du vielleicht eine Jungfrau findest, die dich erlöst! Nie wieder sollst du die Bretter, die die Welt bedeuten, betreten. Kein Mensch wird dir nachtrauern, hinweg mit dir!“ Ich habe nur noch einen Gedanken: „Hilfe! Hilfe! Meeeeerliiin, bitte hilf!“ Es blitzt am Himmel und er erscheint. Der Mann mit dem langen, grauen Bart lächelt mir zu, schwingt seinen Zauberstab und schlagartig gießt es in Strömen. Ich schließe ohnmächtig meine Augen und ergebe mich meinem Schicksal.

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Helden werden nicht als solche geboren, sie werden von anderen dazu gemacht. Ein wunderbar erlösender Sommerguss fällt vom Himmel und innerhalb von Minuten steht der Platz unter Wasser. Das Feuer zischelt vor Wut, dass es mich nicht erreichen und auffressen kann, nach und nach wird aus den Flammen glimmende Glut, die langsam erlischt. Wegen des Unwetters flüchtet das zahlreich erschienene Volk panisch in seine Hütten und Häuser. Als ich aus meiner Ohnmacht erwache, liege ich mutterseelenallein in der Wüste. Ich will erst nicht glauben, dass ich den Scheiterhaufen überlebt haben soll. Ich öffne erst das eine, dann das andere Auge, weit und breit kein einziger Mensch. Meine Hände sehen aus wie Tatzen, meine Arme und Beine sind mit goldgelbem Fell überzogen. Mir ist, als wäre ich aus einem furchtbaren Traum erwacht. Ich reibe mir die Augen, um den üblen Alp zu verjagen. Wie schön wäre es, einfach aufzuwachen, mit den Schauspielerkollegen im Wirtshaus am Fischmarkt zu sitzen, zu frühstücken, das erste Glas Bier des Tages hinter die Binde zu kippen. Stattdessen kratze ich mir fast meine Augenlichter aus, Theaterblut tropft auf meinen Schoß, eh ich begreife, dass ich mir mit meinen langen, scharfen Krallen selbst das Gesicht zerschneide. Ich wandere tagelang, bis ich zu einem Fluss komme und mein wahres Antlitz sehe. Die Neuberin hat mir nicht nur einen Bären aufgebunden, nein, sie hat mich in einen Bären verwandelt und ans Ende der Welt geflucht. Wenn ihre Zauberei hält, was sie verspricht, habe ich jetzt mehrere Jahrhunderte Zeit, eine Jungfrau zu finden – eine, die mich aus Liebe erlöst. Was für ein Schicksal. Fortan friste ich mein Dasein als Tierpuppe und beginne, den Traum von der Schönen und dem Biest zu träumen. Es dauert Jahre, bis ich begreife, dass Puppe zu sein nicht das schlechteste Leben auf Erden ist. Kurios – heute findet genau an der Stelle, an der ich in Amerika in meiner Bärenhaut erwachte, das Burning Man Festival statt. Abseits des Mainstreams von Nevada in der Black Rock Wüste feiern die Freaks das Fest des brennenden Mannes. Hanswurst sei Dank. Die Glückshaut, die ich unter meinem Bärenkostüm trage, hat mich nie verlassen. Gottlieb, ein zwölfjähriger Junge, Sohn uckermärkischer Auswanderer, findet mich kurz vorm Verrücktwerden mitten in der Prärie. Der Bursche ist mit seinen Eltern, den acht Geschwistern sowie achtzehn weiteren Familien auf dem Weg ins gelobte Land. Er steckt mich unter seine Jacke, ich höre sein kleines Herz schlagen und atme erleichtert auf.

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Gerettet, in letzter Sekunde. Der Treck, bestehend aus achtundzwanzig Planwagen, besetzt mit zweihundertdreißig Personen, irrt ziellos mehrere tausend Meilen durch die Ödnis. Keiner ahnt damals, dass hier und da später Öltürme wie Windräder aus dem Boden schießen werden. Immer wieder fordern der Goldrausch und die Kämpfe mit den damals noch zahlreichen Indianern ihre Opfer. Wir schrumpfen auf neunzehn Wägen und zweiundneunzig Menschen, mich, Zorro den Bären, nicht eingerechnet. Nach drei Monaten des Umherirrens schlägt die Familie endlich ihre Zelte auf. Der Vater stößt

Zorro in Amerika

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seinen Stab in die fruchtbare Erde und steckt mithilfe der Kinder das eroberte Land bis zum Horizont ab. So nimmt das Schicksal seinen vorgeschriebenen Lauf. Die Winter werden hart und die Sommersonne brennt heiß, als die ersten Uckermärker aus dem kleinen Dorf Wallmow nach Amerika kommen. Noch heute befindet sich in der Nähe der Niagarafälle ein Ort namens Walmore, ein kleines Museum erzählt die Geschichte der deutschen Neusiedler. Die nächsten Jahrzehnte lebe ich glücklich in meiner neuen Familie und sehe zu, wie die Farmer ihr kleines Paradies in der freien Welt aufbauen. Sie roden unermüdlich die Wälder, bauen Häuser, bohren Brunnen und ärgern sich anfangs sehr, wenn sie auf die stinkende, braune Soße stoßen. Keiner hätte damals geglaubt, dass dieses Öl den Untergang der Menschheit beschleunigen wird. Rund zwanzig Jahre später wird aus dem kleinen Jungen Gottlieb einer der reichsten Plantagenbesitzer der neuen Welt. Seine älteste Tochter Jenny verheiratet er mit der Familie der McDonalds, sodass er nach der Hochzeit mit seinem Schwiegersohn über knapp 160 Hektar gerodetes Ackerland und gut bestückte Büffelweiden herrscht. Der alte McDonald hatte aus Irland einen Fleischwolf mitgebracht, sowie seine Vorliebe für Bulette mit sauren Gurkenscheiben im Brot. Damals schmeckten die Dinger noch vortrefflich, leider scheint sein Rezept über die Jahrhunderte verlorengegangen zu sein. Ich vermute, dass es bei der Übersetzung vom Irischen ins Deutsche verwässert und dann ins Amerikanische reduziert wurde. Die ersten drei Generationen von Kindern spielen gern mit mir. Ich lerne den amerikanischen Slang und lebe mehr oder weniger glücklich in einer Holzkiste. Damals pflegte ich eine romantische Liebesbeziehung zu einer wunderschönen, selbstgenähten rothaarigen Puppe. Nach fünfundsiebzig Jahren purzeln aus ungeklärten Gründen eine Stoffgiraffe und ein Frosch aus Holz in unsere traute Zweisamkeit. Die Rothaarige verliebt sich in den langen Hals der Giraffe und ich schaue dumm aus meiner Bärenhaut. Die beiden lassen sich nach drei Wochen pro forma vom Holzfrosch trauen und brennen zu dritt während einer Familienfeier durch. Ich bin wieder allein und trauere einige Jahrzehnte meiner Liebsten nach. Die Kinder der vierten Generation bemerken meine Melancholie und beschäftigen sich lieber mit lustigeren Dingen. Wer will schon mit einem Trauerkloß spielen? Keiner.

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Irgendwann, so etwa im Jahre 1848, lande ich mit meiner Behausung auf dem staubigen Dachboden des Mutterhauses der McDonalds und kämpfe wacker gegen Motten, Mäuse und Schimmelpilze. Hundert Jahre später, kurz vor Weihnachten 1948, beschließe ich, mein Schicksal endlich selber in die Hand zu nehmen. Ich schleiche mich in die Träume der Haushälterin und suggeriere ihr, dass endlich wieder eine gründliche Reinigung des Dachbodens dran sei. Ich schlüpfe ungesehen mit in die Flohmarktkiste ihres jüngsten Sohnes und bin gespannt, was mir das Schicksal bieten wird. Ein Major der U.S. Army kauft mich für zwei Dollar, packt mich in seinen Koffer und fährt zum Flughafen. Ich will endlich raus, raus aus dem Exil, zurück in die Heimat. Ruhelos herumliegen, das ist auch für eine Puppe wie mich nicht leicht, schon gar nicht mit dem immerwährenden Zwiespalt, innerlich deutscher Hanswurst zu sein, äußerlich jedoch amerikanischer Bär. Leider verpasse ich durch diese überstürzte Flucht die wilden sechziger und siebziger Jahre der amerikanischen Hippiebewegung. Aber wer weiß, wozu es gut war? Ich hätte mich unter dem Einfluss von psychedelischen Drogen bei der NASA eingeschlichen, wäre über die Studios von Hollywood mit auf den Mond geflogen und hätte dort mein Z in den Boden gefochten. Heutzutage ist das Z verdammt schwer belastet. Das Ende vom Alphabeten. Unfassbar. Ich, Zorro der Bär, beantrage beim jüngsten Gericht Akteneinsicht in alle Geheimdienste der Welt, inklusive die des Vatikans, ähnlich wie bei der Auflösung der Staatssicherheit der DDR. Ernst beiseite, weiter im Text. Träume werden manchmal wahr. Ich liege zwischen frisch gebügelten Hemden im Koffer des Majors. Wir befinden uns auf dem Flug von Washington nach München. Wir schreiben immer noch das Jahr 1948, der zweite Weltkrieg hat Europa erschüttert und Mephisto freut sich über das angerichtete Chaos. Der Wiederaufbau bringt der Wirtschaft und Herrn Korruptus Jahrzehnte wahrer Wunder und die Haifische wetzen sich gegenseitig die Zähne. Nachdem ich meinen Jetlag verkraftet habe, werde ich neben Kaugummis, Zigaretten und Parfum unter dem Tannenbaum einer schönen jungen Nürnbergerin platziert. Sie wartet schon seit Tagen voller Sehnsucht auf den Vater ihres unehelichen Kindes. Da der Kleine lieber mit Matchbox und Maschinenpistolen spielt, lande ich erneut unbeachtet in einer Kiste unterm Bett. Trotzdem bin ich froh, denn ich kann aus meinem Versteck heraus gespannt den Erzählungen des

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Majors lauschen. Der gute Mann hat drei Jahre zuvor mit seinen Kameraden die Hitlerbande besiegt und wird aufgrund seiner guten Sprachkenntnis erneut nach Deutschland versetzt. Er berichtet seiner Geliebten über die tägliche Arbeit als Dolmetscher während der Nürnberger Prozesse. Er erzählt von den Vernichtungslagern, vom blutenden Chaos, von den Toten. Das Mädchen will ihm nicht glauben, doch als er ihr die Fotos der Leichenberge zeigt, befällt sie Scham und Wut zugleich. Ob der Mensch je begreifen wird? Egal wo Gevatter Tod die Sense wetzt, ob am Little Big Horn, in russischen Gulags oder im chinesischen Kaiserreich. Der Mensch bleibt eine Hyäne und metzelt, meuchelt und mordet. Oft werden die verschiedenen Religionen von raffinierten Herren Korruptussen angestachelt, angezündelt und abgeschmiert. Aus Mangel an Zutaten riecht es an diesem Weihnachten 1948 in Nürnberg nicht nach den berühmten Pfefferkuchen. Dafür brennen drei echte Kerzen, für jede Anwesende Seele eine. Für mich wie immer keine. Meine Seele hat noch keiner gesehen, das soll, das muss, das wird sich ändern. Die junge Frau hat mit etwas Geschick zwei weiße Tauben aus der Ruine von Gegenüber gefangen und kurzerhand geschlachtet. Sie bereitet ihrem Befreier stolz eine weihnachtliche Nachkriegsspezialität und verkauft ihm die Tauben als Wachteln mit Maronenfüllung auf Möhrengemüse. Dazu serviert sie amerikanischen Kartoffelbrei aus der Tüte mit einem Stich echter irischer Butter. Sie steht am Herd, der Braten duftet nach Thymian. Der Major tritt in die kleine Küche, erkennt den Betrug nicht, nimmt sie von hinten in den Arm und säuselt in gebrochenem Deutsch: „Darling, ik liebe Dick.“ Sie dreht sich um, lächelt und nach einem langen Kuss flüstert er abermals: „Nur Dick!“ Und: „Ik werd' für Dick ein Nürnberger!“ Er lässt sich die falschen Wachteln schmecken und lobt sein deutsches Mädel über den vierblättrigen Klee. Nachdem er auch das letzte Knöchlein abgenagt hat, spielt er mit seinem Sohn Hoppe, hoppe Reiter und kriecht auf allen Vieren durchs Weihnachtszimmer. Das heimliche Liebesglück währt drei Jahre, bis der Major nach Korea und später nach Vietnam ausrückt. Der Junge sieht seinen Vater nie wieder und terrorisiert aus Frust darüber seine Mutter. Sie liegt über mir und weint leise. Ich kann ihr nicht helfen, keiner redet mit mir, ich liege einmal mehr achtlos unter einer Couch und warte wacker auf bessere Zeiten.

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Aus einem spanischen Lexikon von 1967

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Ich sehe was, was du nicht mehr siehst, und das ist schwarz/rot/gold mit Ährenkranz.

3. Auf der Mauer auf der Lauer Eines Tages ergreift mich in der Kiste unterm Bett ein prophetischer dream, ein Traum. Merlin offenbart mir, dass bald meine nächste Mission bevorsteht. Ich soll noch vor 1961, also vor dem Bau der Mauer, zu einem Jungen nach Ost-Berlin. Er heißt Manuel und wird bald einen kleinen Bruder namens Jonas bekommen. Dieser Jonas soll mir bei meiner Erlösung behilflich sein. Merlin beschreibt mir in meinen Träumen genau Tag und Ort seiner Ankunft. An einem Sonntag wird er das Licht der Welt erblicken. Ich habe genug Zeit, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Start meiner Reise zu beschleunigen – genug Zeit, um pünktlich vor der Geburt an Ort und Stelle zu sein. Die Geliebte des Amerikaners hat eine Bekannte in Köln, deren Mann vor dem Krieg eine Weinhandlung besaß. Der üppige Bestand an Weinflaschen reduziert sich über die Jahre des großen Krieges, ersparen ihm jedoch mit einem Job im rückwärtigen Dienst den Einsatz an der Front. Mit dem spärlichen Rest an vollen Flaschen rettet er mehr schlecht als recht die Familie über die Nachkriegszeit. Er tauscht zwei Flaschen gepanschten Wein gegen mich und eine Puppenstube ein. Mein Selbstwertgefühl befindet sich kurz vor dem Zusammenbruch, aber ich bleibe wacker auf der Lauer, ich spüre, der Weg ist mein Ziel. Die Frau des Weinhändlers hat drei Töchter – Inge, Brigitte und die gute Ute. Ich spiele wieder meine mir bekannte Rolle als Statist unterm Weihnachtsbaum. Die drei rheinischen Mädels stürzen sich auf das Puppenhaus, zanken sich, wer welches Zimmer einrichten, wer welches Püppchen an- und ausziehen darf und wer mit wem in einem Zimmer wohnt. Es scheint mein Los zu sein, seit des Fluches der Neuberin unter Betten, auf Dachböden und in verfallenden Kisten zu hausen. Mit siebzehn Jahren verliebt sich Brigitte, die mittlere der drei Schwestern, in ihren französischen Pantomimenlehrer Jean Soubeyran und brennt mit ihm durch. Sie schreibt uns regelmäßig Briefe und schwärmt von ihrem neuen, selbstbestimmten Leben als Komödiantin. Parallelen zur Neuberin sind rein zufällig.

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Jean und Brigitte Soubeyran

Aus dem Programmheft der Truppe

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Ab sofort lebt sie in einer Kommune im Speckgürtel von Paris und lässt sich Brigitt ohne e nennen. Sieben Jahre tingelt die Pantomimentruppe durch Stadt und Land, sie näht Kostüme, spielt und choreographiert. 1956 wird die gesamte Truppe von Bertolt Brecht ans Berliner Ensemble in Ost-Berlin engagiert. Während der Proben stirbt der große Dichter, die Pantomimentruppe Jean Soubeyran zerfällt, die Ehe zerbricht, doch das kölsche Mädel bleibt im Osten. Voller Enthusiasmus stürzte sie sich in die Theaterwelt der jungen DDR, ist beseelt von den Brettern, die ihr ein Leben lang die Welt bedeuten werden. Sie ist fest überzeugt, mit ihrer Arbeit in diesem Teil Deutschlands mehr bewegen zu können. Sie landet vorerst am Deutschen Theater, gründet nebenher 1961 mit ihrem neuen Liebsten und einer Gruppe von Idealisten mitten im Prenzlauer Berg das BAT, was für Berliner Arbeiter-Theater steht, oder besser: Biermanns Arbeiter-Theater. Die jungen Leute mobilisierten ungeahnte Kräfte, um ihren Traum von revolutionärem Theater umzusetzen. Die Wände des alten Kinos „Roxy“ in der Belforter Straße werden eingerissen, es wird laut gehämmert, gemauert, gemalert und gleichzeitig geprobt. Die Truppe argumentiert schlau mit Partei und Behörden. Sie kriegen Rückendeckung und Unterstützung u. a. von hochkarätigen Künstlern wie Hanns Eisler, dem Dichter der ostdeutschen Nationalhymne, von Brechts Witwe Helene Weigel und dem Vizepräsidenten der Akademie der Künste, dem Bildhauer Fritz Cremer. Obwohl die freie Gruppe einen demokratischen Anspruch hat, klebt nach wenigen Tagen das Schild „Intendant“ an Biermanns Bürotür. Das neue Theater soll mit seinem Stück „Berliner Brautgang“ eröffnet werden, einem Stück, das den Mauerbau thematisiert. Dieses Tabuthema schmeckt einigen Bonzen des Apparats überhaupt nicht und trotz mehrmaliger Änderung und Entschärfung der kritischen Textstellen wird das Theater noch vor der Premiere geschlossen. Ich habe ein Exemplar der ersten Fassung gelesen und verstehe die Aufregung der Partei nicht wirklich. Das Stück ist ein wohlmeinender Treppenwitz der Geschichte. Der unbequeme Dichter in Leitungsfunktion wird kurzerhand mit einem Hausverbot belegt und ausgesperrt. Aus Protest gegen diese Fehlentscheidung weigern sich die Mitstreiter unter einem neuen Intendanten weiterzumachen. Das BAT wird geschlossen und später von den Parteibonzen zur Studiobühne der Schauspielschule „Ernst Busch“ erklärt.

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In Brigitt wachsen derweil die Zweifel an der Liebe des frechen Barden mit dem traurigen Schnurrbart, ebenso wie die am real existierenden Sozialismus in der DDR. Sie bleibt trotzdem und arbeitet mit dem Brecht-Schüler Benno Besson, der sich als Regisseur am Deutschen Theater einen Namen macht. Sie spielt in dessen legendärer Inszenierung „Der große Frieden“ von Peter Hacks die Rolle der koketten Dirne Lenzwonne. Das Stück strotzt vor Spielfreude, Leichtigkeit und Systemparodie. Es wird ein Triumph und glänzt durch die Freude des Regisseurs am Komischen. Masken, sowie singende und tanzende Chöre werden sein Markenzeichen. Am Abend der Uraufführung im Oktober 1962 muss der Eiserne Vorhang während des Schluss Applauses fünfzehnmal geöffnet und wieder geschlossen werden. Die Inszenierung entspricht zwar nicht der Parteilinie, wird aber zähneknirschend als Erfolg des sozialistischen Theaters verbucht. Brigitt gründet und lehrt in diesen Jahren an der Berliner Schauspielschule das Fach Pantomime und wechselt in den Siebzigern mit Besson an die Ost-Berliner Volksbühne. Dort angekommen, verwirklicht sie erste Regiearbeiten. Aber halt, wir sind mit unserer Zeitmaschine schon viel zu weit geflogen. Während ich, Zorro der Bär, immer noch im Köln der fünfziger Jahre herumgammle, mache ich Brigittes Mutter, also der Frau des Weinhändlers, klar, dass ich dringend nach Ost-Berlin zu ihrem ersten Enkel Manuel will. Ich bin so neugierig auf den noch ungeborenen Jonas und den roten Osten, dass ich es nicht länger aushalte. Ich bündle all meine Energie und steige eines Nachts in die Traumwelt von Brigittes Mutter. Es dauert nur drei Nächte und ich hab' sie überzeugt. Omas lieben ihre Enkel und wollen sie ständig betutteln und beschenken, zumindest die meisten, die mit den großen Herzen. Sie verpackt mich reisefertig in buntes Krepppapier, verknotet mich mit einer großen, roten Schleife aus Futterseide, legt ein Päckchen Kaffee, Apfelsinen und drei Tafeln billigste West-Schokolade mit ins Paket. Sie rennt zur Post an der Ecke und schickt sicherheitshalber ein Telegramm voraus, damit Brigitte weiß, ob der Ost-Zoll sich bedient hat. Ein letztes magisches, drittes Mal werde ich als Geschenk getarnt unter einem Weihnachtsbaum landen. Diesmal ist die Freude groß. Manuel erspäht mich sofort mit seinen wachsamen Augen. Die kleine Rothaut, geprägt durch die Indianerfilme der DEFA, beginnt, mich zu jagen.

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Er greift mich während eines schnellen Galopps am Schlafittchen und reitet voller Stolz auf seinem Steckenpferd um den Baum. Ich gebe nach, lasse mich durch das Knallen seiner Peitsche beeindrucken und tue, was er verlangt. Ich springe durch Reifen, die zum Glück nicht brennen, stehe mein Männchen, tanze wie ein rechter Tanzbär. Gut dressiert, erhalte ich nach etlichen Proben einen Ehrenplatz in seinem Zimmer. Endlich gute Aussichten. Ich kann jahrelang ohne Staubflusen auf den Augen aus dem Fenster schauen, meinen Blick durch sein Kinderzimmer schweifen lassen. Im Sommer 1965 setzt Brigitte endlich ihren zweiten Sohn in die Welt. Jonas soll er heißen, wie der aus der Bibel. Bist du einmal in Not, so denke an Jona, er kam sogar aus dem Bauch des Walfisches heraus. Was, wie bitte? Jonas? Das soll der Bursche sein, der mir bei meiner Erlösung behilflich sein wird? Pünktlich am Sonntag, dem 13. Juni 1965, genau wie Merlin es prophezeite, höre ich seine Stimme das erste Mal. Der leibliche Vater verzichtet freiwillig auf die Anerkennung der Vaterschaft. Brigitte scheint damit einverstanden zu sein, da sie mit dieser Regelung alleinige Herrscherin über das Kind wird. Sie verbietet ab dem sechsten Lebensjahr den väterlichen Umgang und rächt sich für die erlittenen Liebesqualen. Bis heute weiß Jonas nicht wirklich, wie er die Spielchen der Eltern bewerten soll. Die leidende Mutter meint, der Vater wollte damals Geld sparen und dem Jugendamt zur Alimenten-Berechnung keine Einblicke in seine Einnahmen gewähren. Der Wolfsvater schweigt theatralisch und ist der Meinung, er habe die Vaterschaft gleich nach der Geburt angegeben. Jonas braucht über fünfzig Jahre, um Licht in diese dunkle Angelegenheit zu bringen. Er geht sogar so weit, sich einen neuen Vater zu suchen und findet auf Teneriffa Meister Janosch. Die beiden mögen sich auf Anhieb und Janosch schmunzelt über seinen Josa mit den Zauberpuppen. Eine befreundete Juristin auf Teneriffa wäscht Jonas den Kopf und sagt: „So, mein Lieber, ich kann dein Vater-Gejammere nicht mehr hören. Du gehst jetzt zum Standesamt, beantragst eine Geburtsurkunde und wenn da der Strich in der Rubrik Vater ist, hat er gelogen und ich schreibe ihm einen offiziellen Brief mit der Aufforderung, die Anerkennung innerhalb von drei Wochen anzugeben.“

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Wolf mit Welpe. Wo ist die Antwort auf alle Fragen?

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Chris und Jonas

Janosch und Jonasch

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Der Sohn versucht ein letztes Mal, den Vater zurückzugewinnen, er schreibt: „Lieber Vater, Du hast jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder meine Anwältin zwingt Dich zur Legitimation oder, was mir lieber wäre, Du fährst eine Woche mit mir weg und wir reden über alles und die Sache mit der Vaterschaft ist erledigt.“ Der Wolf schweigt einsam weiter. Ende vom traurigen Lied, Jonas hat mit zweiundfünfzig Jahren immer noch keinen richtigen Vater, leider nur einen amtlichen. Zähneknirschend begibt sich der alte Isegrim mit über achtzig Jahren zum Standesamt und unterschreibt das Formular mit drei Kreuzen. Zeitgleich lässt er über seinen Anwalt verkünden, dass dem Bastard jegliche Kontaktaufnahme per Telefon, E-Mail oder persönlich jetzt erst recht untersagt sei und sich der verlorene Sohn gefälligst fernzuhalten hat. Was für ein Trauerspiel der Liebe. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist zerrüttet, da der Mauerfall politische Gräben zwischen den beiden aufreißt. Der Sohn glaubt an eine Reformierbarkeit des Sozialismus, der Vater mäht alles, was nach DDR riecht ohne Gnade nieder. Sein Refrain „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ gilt nicht für die anderen. Und wisst ihr, liebe Leser, wo die Wahrheit liegt? Ich, Zorro der Bär, weiß es. Merlin hatte seine Finger im Spiel, er musste um Gottes Willen verhindern, dass der Junge in der Jugend Schwierigkeiten mit der Obrigkeit bekommt. Der Junge soll Abitur machen, sich bei der NVA als Aufklärer ausbilden lassen, „die Firma“ aus den Angeln heben und groß und stark werden. Er soll versteckt als Drachentöter-Brut aufwachsen, um dann im richtigen Moment das Schwert des Vaters aus dem Drachen zu ziehen. Das Untier wird jämmerlich verbluten und ich bin meiner Erlösung zum Hanswurst ein ganzes Stück näher. Sorry, ihr beiden Streit- ochsen, das Ding ging nicht anders zu drehen. Die ersten fünf Jahre seines Lebens darf der Sohnemann auch außerhalb der Ferien an jedem zweiten Wochenende im Monat zum geliebten Herrn Papa. Der Kleine lernt Schach spielen und Faxen machen. Biermann ist ein notorischer Weiberheld und liegt bereits während Brigittes Schwangerschaft in den Armen der jungen Schauspielerin Eva Maria Hagen. Diese wird als Marilyn Monroe der kleinen DDR gehandelt und der Wolf lockt deren Tochter Nina zum Gitarrenspiel und lauten Gesang. Zuvor lässt er sich jedoch für seine Brigitt einen Schnauzbart wachsen und

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beginnt, frech frivole Lieder zu dichten. Durch seinen betörenden Singsang zur Gitarre fallen Frauen wie Regentropfen in sein Bett, freie Liebe ist der letzte Schrei vorm jüngsten Gerücht. Brigitt leidet, die Beziehung zerbricht, ich schaue ratlos zu. Ich spiele mal wieder ungefragt die Rolle des kleinen Helden, tröste die beiden Brüder, Manuel, den großen und Jonas, den kleinen. Ein blutjunger Schauspieler aus Karl-Marx-Stadt findet den Weg in das zerrissene Herz der Mutter. Beide Brüder machen dem Neuen das Leben schwer, Kinder sind gnadenlos. Der Wolfsvater holt seine Jungs in den Ferien zu sich. Die drei verleben herrliche Tage auf Usedom, der Insel der verlorenen Glückseligen. Sie schlafen, von Mücken zerstochen, auf einem ausgebauten Dachboden und erleben wahre Abenteuer. Sie rasen fast täglich mit einem Motorboot über das Achterwasser und besuchen Eva Maria. Für beide Jungs bedeuten diese Besuche Tee, oder besser Limo, trinken und abwarten, bis die Geliebte beglückt ist. Der Vater baut zwischendurch lustig zwitschernde Flöten aus frischer Weide und geht mit dem Kleinen auf die Jagd. Mit einem Luftdruckgewehr werden Stare erlegt und der Vater bringt dem Sohn bei, dass man Tiere nur töten darf, wenn man sie auch isst. Also werden die frechen Kirschendiebe erlegt, gerupft, ausgenommen und auf dem Lagerfeuer gedreht, bis sie knusprig sind. Die Stare schmecken köstlich und der Sohn fühlt sich wie ein echter Indianer. Nach diesem wunderbaren Sommer schiebt die Mutter den Riegel vor die Tür der Verletzungen und da der Wolfsvater das Kind nicht anerkannt hatte, kann er seine Rechte auf geregelte Vater-Kind-Zeiten nicht beim Jugendamt einfordern. Selbst dran schuld, der alte Esel. Die Mutter argumentiert mit der wachsenden Angst vor der Überwachung der Privatsphäre des Sängers durch die Stasi, und wenn er schon nicht in ihrem Bett liegt, so will sie auch nicht unter seine Räder kommen. Der Wolf kümmert sich frohen Mutes mit seiner Gitarre um die Eitergeschwüre des Sozialismus, betört mit seinem väterlichen Freund Robert Havemann schöne Fräuleinchen oder aber nimmt seine neue Eva von hinten auf den Arm. Die süße, freche Tochter der Schauspielerin kümmert sich gern um den Kleinen, schaukelt ihn wild und schleppt ihn durch die Wohnung in der Wilhelm-Pieck-Straße. Nina wickelt Klein-Jonas mit Wonne, auch wenn er nicht eingekackt hat. An aus, aus an, an aus.

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Die kleine Mutti freut sich, dass ihr Baby nicht schreit, stattdessen krabbelt, brabbelt und sabbelt. Kommt mit, Ihr Leseratten, wir düsen mal kurz acht Jahre voraus in die Zukunft. Ihr braucht euch nicht sorgen um den Kerosinverbrauch, das obskure Flugobjekt wird nur mit reinster Phantasie betankt und fliegt wie der Wind ohne CO2-Ausstoß. Phantasie ist der ökologischste Treibstoff aller Zeiten. Nina ist bereits die gefeierte Godmother of Punk, lebt in Amerika und schickt dem Sechzehnjährigen ein Tagebilderbuch aus New York. Sie ist inzwischen selbst Mutter geworden, wiegt ihre galaktische Prinzessin aus dem Kosmos auf dem Arm und erinnert sich Schlaflieder singend an Jonas, das Baby ihrer Jugend. Das Tagebuch gelangt auf verschlungenen Wegen durch die verschiedensten Diplomatenkoffer nach Ost-Berlin. Dem Buch beigelegt sind zehn Schallplatten mit zeitgenössischer Musik von David Bowie, den Slits, den Dead Kennedys und Adam & the Ants. Unterwegs wird, bis auf Ninas „NunSexMonkRock“-Scheibe, eine Platte nach der anderen von den Boten abgezockt. Der Tonträger aus Übersee wird ein ultimativer Kick für alle Nina Hagen-Fans. Mein stolzer Besitzer verleiht das Heiligtum an die Punk Gemeinde Ost-Berlins. Das bunte Buch der Ikone dreht seine Runde, von einer Hand in die nächste. Von der Platte wird die Kopie der Kopie kopiert und sie fungiert als mutmachende Grußbotschaft an die nachgewachsenen Jugendlichen der DDR. Nur ich und die Diktatur des Proletariats, wir dümpelten weiter vor uns hin. Festhalten, wir fliegen wieder zurück. Nach dem Abschluss der zehnten Klasse lässt sich Manuel, auf der Flucht vor dem gestrengen Ziehvater No.II, in einem Internat in Mecklenburg zum Cowboy, also zum Melker (Agrotechniker) mit Abitur, ausbilden. Er fährt mit den Kühen auf dem Melkkarussell und lernt marxistisch-leninistischen Mist von A nach B zu karren. Als er aus der elterlichen Wohnung am Café Märchenbrunnen auszieht, gehe ich in den Besitz meines heranwachsenden Puppenspielers über. Endlich hab' ich ihn am Haken, nun gibt es kein Entrinnen mehr, in fünfzehn Jahren wird sich mein Fluch in Luft und Liebe auflösen und ich werde

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als Hans Wurst wieder erscheinen. Vorerst jedoch sammelt Jonas, wie alle Jungpioniere in der DDR, leere Flaschen und Altpapier für den sozialistischen Sonnenaufgang in Mosambik, geht wacker zur Schule und schreibt, wie jeder Schüler, Briefe an die Patenbrigade. Der Kerl stromert mit Vorliebe auf Dachböden, in Kellern und den Abrisshäusern des Prenzlauer Bergs herum. Er sammelt alles, was er findet, nimmt mit, was ihm gefällt. Schlüssel, Emaille-Schilder, alte Uhren, vergilbte Fotos, rostige Büchsen, verschnörkelte Türklinken. Lange Zeit hat die Mutter berechtigte Angst, dass der Pubertierende ein ewiger Messi bleibt. Doch er hat Glück, Künstler wie Salvador Dali, Joseph Beuys, René Magritte und Andy Warhol werden im Haushalt großgeschrieben. Auf ihren Dienstreisen ins westliche Ausland schleust die Mutter heimlich die Bildbände der Surrealisten ins Land der Betonköpfe. Der gesammelte Müll verwandelt sich unter Jonas Händen in phantasievolle Kunstobjekte, in große und kleine Absurditäten, mit denen er Eltern, Freunde und Verwandte zu Feierlichkeiten beglückt.

Rad des Schicksals

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Aus dem Brieftagebuch von Nina

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Ich sehe was, was ihr nicht seht, und das ist Dampf unterm Deckel.

4. Spannung und Widerstand „Komm, wir lassen uns erschießen, an der Mauer Hand in Hand …“, singt Annette Humpe in West-Berlin. Jonas geht bereits im neunten Jahr auf eine Proletenschule im Prenzlauer Berg und hat das Glück, von einer jungen, aufgeschlossenen Lehrerin die Grundlagen der englischen Sprache zu erlernen. Jeder zweite Schüler ist verliebt in die kleine, schöne Frau. Da der Englischunterricht fakultativ, also freiwillig ist, muss die Aspirantin ihre Schüler mit allen Mitteln und Tricks begeistern. Halbwüchsige sind gnadenlos und können den Klassenraum in eine Hölle verwandeln. Sie bringt brandheiße Platten aus dem Besitz ihres Mannes Lutz Bertram mit, der als fast erblindeter Radiomoderator bei DT64 Kultstatus genießt. DT64 wurde, wie der gebildete Leser richtig vermutet, 1964 im Rahmen des Deutschlandtreffens der Jugend gegründet und ist das einzige Radio der DDR für junge Leute, heute vergleichbar mit Radio Fritz. Damals müssen die Schüler noch samstags für vier Stunden in die Schule und meistens ist der Stundenplan so eingetaktet, dass Englisch als letztes Fach auf dem Programm steht. Die meisten Schüler wollen schnell nach Hause, daher ist der Klassenraum nur halb so voll wie unter der Woche. Die Partei ist nicht doof und erreicht mit dieser Anordnung an allen Schulen des Landes, dass kaum einer Englisch sprechen kann. Die große Reiselust der Ossis stößt nach dem Fall der Mauer an Sprachgrenzen, die wenigsten können sich im Ausland ausdrücken und wer Stones und Beatles auch textlich kannte, war mit Englisch besser aufgestellt als andere. An einem dieser öden Samstage packt die Gute eine Platte aus, die nichts, aber auch gar nichts mit der englischen Sprache zu tun hat. Die Band singt scharfe Texte auf Deutsch. Jonas ist begeistert und beschriftet 1981 seinen ersten Knopf mit dem Wort „Ideal“. Auf der anderen Seite der Mauer heißen die Dinger Buttons und werden mit speziellen, kleinen, handlichen Maschinen gestanzt. Da keiner der linientreuen Lehrer die Band kennt, gibt es auf dem Schulhof auch keinen Stress, denn Ideal ist ein Wort, das auch im ostdeutschen Duden existiert. Auf dem Schulhof gewinnt man als Träger solcher Button enorm an Bedeutung.

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Die Dinger blitzen wie Orden an der Brust eines Soldaten. Ein Jahrgang unter Jonas quält sich der spätere Rammstein Falke durch die Schulpflicht, doch da man in dem Alter nur zu noch älteren Schülern aufschaut, bewundert Jonas nur Flakes Bruder. Der heißt mit Spitznamen Herr Auge Lorenz, läuft mit einem Hebammenkoffer über den Schulhof und geht in die Zehnte. Auge wird später ein lustiger Musiker und Comiczeichner. Die Wege von Flake und Jonas kreuzen sich Jahre später bei dem Bandprojekt „Magdalene Keibel Combo“ und Flake räumt ein, dass er als Achtklässler den Neuntklässler nicht leiden konnte, da der angeberisch einen heißbegehrten U.S. Army Parka, einen sogenannten Shelly trug. Diese Dienstkleidung der amerikanischen Soldaten ist olivgrün, hat zwei große Taschen, stammt aus dem Koreakrieg und ist im Osten aus ideologischen Gründen nicht erhältlich. Da Jonas Mutter in Tübingen an dem Brecht-Stück „Mann ist Mann“ probt und in diesem Stück Soldaten die Hauptrollen spielen, erfüllt sie den Wunsch des Hippie-Sohnes nach einem echten Secondhand-Shelly. Sie kauft die passenden Uniformen für ihre Schauspieler in einem Tübinger Army-Shop und mogelt das Kostüm für Jonas mit auf die Rechnung des Theaters. Teilweise werden die sackähnlichen Kleidungsstücke während der Invasionen der amerikanischen Truppen von Kugeln durchlöchert und liebevoll von ihren späteren Trägerinnen und Trägern per Hand geflickt und mit Applikationen der Friedensbewegung bestickt. Besonders beliebt ist der Aufnäher „Frieden schaffen – ohne Waffen“, den Jonas später in seiner illegalen Siebdruckerei vervielfältigt. Bevor er sich mit selbstgemachten Ösenknöpfen und T-Shirts schmückt, dekoriert er sich mit Widerständen. Im digitalen Zeitalter weiß keiner mehr, wie ein ohmscher Widerstand aussieht, also gemeint sind die kleinen zweipoligen elektrischen Bauelemente, zu finden in jedem alten Röhrenradio. Es gibt Leistungswiderstände, Spannungswiderstände und Messwiderstände. Die kleinen bunten Dinger kann man aus kaputten Radios ausbauen oder im Bastlerladen auf der Dimitroff Straße für ein paar Aluchips kaufen. Damit der Amateurbastler weiß, welchen Widerstand er gerade in der Hand hält, werden die kleinen zylindrischen, zirka 5 Millimeter langen Elemente farbcodiert. So kann man sie gut unterscheiden, denn sie sind sehr bunt.

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Radio-Widerstände

Bunter Widerstand. Die Drahtenden, die eigentlich dafür gedacht sind, in Leiterplatten gelötet zu werden, kann man wunderbar durch den Stoff seiner Jeansjacke bohren, umbiegen und fertig ist das geheime Parteiabzeichen der Revolte. Die Widerstände werden auch als Ohrringe getragen und an Taschen genietet. Bevor Jonas sich endlich frei wie ein Vögelchen bewegen darf, muss er noch eine Lehre als Reprofotograf in der Berliner Druckerei über sich ergehen lassen. Das an den Beruf gekoppelte Abitur stellt sich für drei Jahre als unendlich scheinende Qual mitten in den Weg. Als auch er mit Achtzehn wie Hänschen Klein davonzieht und seine erste eigene Hinterhofbude erobert, weint die Mutter gar sehr. Der Vater ist schon lange mit seiner Gitarre ausgebürgert, lange, lange bevor endlich die Mauer fällt. Brigitte bricht fast das Herz, der verblüftte Ziehvater hingegen hat ab sofort eine Sorge weniger und ist zu Recht stolz auf die gelungene Erziehung des Zöglings zur Selbstständigkeit. Kreativität kennt keine Grenzen, im Gegenteil: Mangel macht erfinderisch und grauer Beton schreit förmlich nach bunten Gedanken, am besten auf Schwarz/weiß-Material. Jonas wünscht sich von der Mutter zum Geburtstag eine Super-8-Kamera aus dem goldenen Westen. 52


Dort kommen gerade die ersten Videokameras auf den Markt und Super-8 ist Schnee von gestern. Qualitativ hochwertige Optik gibt es im Westen günstig und gebraucht zu ergattern. Die Secondhandläden quellen über, so wie es sich für eine ordentliche Wegwerfgesellschaft gehört. Das Objekt der Begierde ist mit einem großen Zoom, einer Zeitraffer-Funktion und – gaanz wichtig für faule Kameraleute – mit einer automatischen Belichtung ausgestattet. Mein Schalk hat sich durch Beziehungen seine erste eigene Wohnung im Prenzlauer Berg ergaunert. Pünktlich mit Beginn der Sommerferien, einen Monat nach seinem achtzehnten Geburtstag verschwindet er klammheimlich aus den Fittichen der Eltern. Er wartet, bis diese für drei Wochen in den Urlaub fahren und schleppt seinen Krimskrams in die neue Behausung. Dann fährt er zurück, malert sein Kinderzimmer und hinterlässt eine freundliche Nachricht mit WinkeWinke und der herzlichen Aufforderung, ihn im neuen Domizil zu besuchen. Was für ein Gefühl von Freiheit, eine eigene Bude! Ich freue mich mit meinem Schelm, der zwei Zentimeter über dem Boden schwebt und sich in die Fäuste der Generationskriege lacht. Denen hat er es gezeigt. Als er zwei Jahre zuvor mit knappen sechzehn großspurig äußert: „Mit achtzehn zieh' ich aus!“, belächeln ihn die Eltern und meinen: „Jaja, nimm den Mund nicht so voll Junge, ohne unsere Hilfe schaffst du das eh nicht.“ Ha, da kennen sie meinen Träumer aber schlecht. Einpacken, zack und weg. Sich selbst verwirklichen, das hat er bereits begriffen, ist das Nonplusultra und der Schlüssel zum Glück. Er schlüpft legal als Nachmieter in eine Bruchbude in der Immanuelkirchstraße. Ich als Bär, der gerne lange Winterschlaf hält, finde die ruhigen Hinterhof-Wohnungen um vieles attraktiver als die Vorderhaus-Wohnungen. Meist stehen ein paar Bäume im Hof und man hört keinen Autolärm. Im Gegenteil, die Vögel zwitschern munter drauf los. Amseln, Schluckspechte und Nachtigallen singen, fette Tauben gurren und die Berliner Spatzen pfeifen ihr lustiges Lied vom Dach. Schaue ich aus dem Fenster der vierten Etage, sehe ich gegenüber das Vorderhaus mit den Küchenfenstern der ehemals gehobenen Kreise. Jetzt wohnen dort seit über dreißig Jahren die Werktätigen im Volkseigentum.

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Die Miete ist lächerlich gering. Die neue Wohnung meines Schutzbefohlenen hat ein ganz besonderes Karma. Bine reißt bei ihrem Einzug zwei Jahr zuvor kurzerhand die Wand zwischen Zimmer und Küche heraus. Einige Mauerreste ragen noch unverputzt aus der Wand, an der Decke sieht man die Schilfmatten. Die Lücke im Fußboden wird einfach mit Beton ausgeglichen. Die ganze Bude ist ein großes Zimmer, lediglich die kleine Diele dient als Kälteschleuse und Kleiderkammer. Ein breites gemütliches Hochbett mit Fensterblick in den Hof ziert den Raum und schafft direkt unter sich Platz für eine Schreib- und Bastelnische. Jonas ist heiß darauf, mit seiner neuen Kamera einen Film zu drehen. Die ersten Super-8-Versuche startet er mit Chris und Holger, seinen zwei Leidensgefährten aus der Berufsschule „Rudi Arndt“. Diese Berufsschule ist ein Sammelbecken für Kinder der Intelligenzia. Sie lassen sich ausbilden zu Druckern, Schriftsetzern, Buchbindern oder Retuscheuren und die wenigsten bleiben in diesen Berufen. Sie nutzen die Ausbildung eher als Baustein für eine künstlerische Karriere, sie werden Comic-Zeichner, Maler, Autoren oder Fotografen. Die neue Wohnung wird zum Hauptquartier des Film-Trios. Drehorte werden die gute Stube, die Dächer über Berlin und ein stillgelegter Sandbruch, der als Grand Canyon herhalten muss. Ein Irrer bricht aus der Anstalt aus und wird durch die Wüste gejagt. Das Ergebnis ist nebensächlich und nichts vom Rohmaterial wird je geschnitten. Wichtig ist, dass man es macht, man erzählen kann: Wir drehen einen Film, der da ist der Autor, der da der Kameramann und ja, Schauspieler sind wir alle. Als die einschlägige Szene der Ost-Berliner Schmalfilm-Avantgarde mitbekommt, dass mein Abiturient ein Super-8-Schmuckstück am Start hat, wird er prompt in ihre Kreise aufgenommen. Das zweite Projekt meines Hallodris heißt „Jesus – der Film“ und ist eine groß angelegte Kooperation zwischen Ost- und West-Underground. Unter der Regie von Michael Brynntrup wird Jonas als Kameramann und Statist engagiert, gedreht wird in Babelsberg. Ja, lieber Leser, richtig gehört, der ost-west-vernetzte Underground dreht illegal in Babelsberg auf dem Gelände der Filmstudios der DEFA. Robert Paris kennt sich auf Grund seiner Fotografenlehre in der DEFABetriebsakademie bestens auf dem Gelände aus.

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Er weiß, wo die Schlupflöcher im Zaun sind und wann man wo am Wochenende ungestört die Außenkulissen nutzen kann. Es gibt dort ein Gelände, das nach Krieg und Zerstörung aussieht. Zerbombte Häuser und ausgebrannte Militärfahrzeuge dienen als Kulisse für viele DDR-Filme über den zweiten Weltkrieg. Jonas zieht seine schwarze Bundeswehrhose mit den villen praktischen Taschen an und wird vom Regisseur mit einem Theater-Stahlhelm sowie einem echt aussehenden Maschinengewehr ausgestattet. Er darf in dem Streifen eine Tür eintreten und die Knarre im Anschlag halten. Irgendwie taucht dann Jesus auf, gespielt vom Regisseur selbst, und fertig ist die zehn Minuten Sequenz eines zweistündigen Films. Da die echt wirkenden Theatergewehre von befreundeten Requisiteuren aus der Staatsoper geklaut sind und nicht wieder auftauchen dürfen, kann Jonas sie behalten, seinem Fundus einverleiben und später auf der Bühne und in seinen eigenen Filmen einsetzen. Mein Kleindarsteller hat leider nie das fertige Gesamtwerk gesehen, an dem auch die beiden verrückten Ost-Berliner Pfarrerstöchter Mechthild Katzorke und Cornelia Schneider mitwirken. Die beiden sind ein Kreativ-Duo der besonderen Art und gehören mit zu den coolsten und verrücktesten Bräuten der aufkeimenden Punkbewegung Ost. Mein langhaariger Möchtegern-Hippie lernt auf dem Schulhof seinen ersten Punk-Kumpel kennen. Kaiser stellt sich morgens seine schwarzen Haare hoch und hat immer ein Lachen im Gesicht. Kaiser ist Druckerlehrling und findet nach der Lehre einen Job als Kulissenschieber am Deutschen Theater. Menschen mit gleichen Wellenlängen erkennen sich am Äußeren, am Gestus und an der Nasenspitze. Obwohl Jonas ein Langhaariger ist, integriert Kaiser ihn in die Punkszene. Er spielt als Bassist bei der Band Planlos, zusammen mit Bernd Lade, Micha Kobs und Pankow alias Michael Boehlke. Jonas erlebt sie leider nie live, da sie immer planlos spielen und nur wenige illegale Konzerte bis zu ihrer Auflösung geben. Kaiser flüstert Jonas die Namen der angesagtesten Bands aus London, Hamburg und San Francisco ein und der wünscht sich die Platten brandheiß von der dienstreisenden Mutter.

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist schrill und extravagant.

5. Paris, Paris Ecke Winsstraße Die neue Bude wurde von seiner Vormieterin Sabine radikal verändert. Bine ist eine ganz flotte und Jonas himmelt sie an. Er lernt sie über seine Mutter Brigitt kennen. Die junge, ganz schön wilde Frau wird unter den etablierten Theaterleuten jener Tage als Geheimtipp für ungebremste Kreativität der Subkultur gehandelt. Dabei vernäht sie einfach nur das, was da ist, schwarze Erdbeerfolie, Scheuerlappen oder umgenähte Klamotten aus dem A&V (An- und Verkauf). Aus einem 30er-Jahre-Ledermantel zaubert sie für Jonas eine extravagante Hose, bei der sie die Ärmel des Mantels zu Hosenbeinen vernäht. Oberteile für die Damenwelt werden aus Duschvorhängen gezaubert und erhalten hier und da einen Fetzen Tüll, fertig ist ein schrilles, buntes Latex-Design. Sie ist eine der Mitbegründerinnen der Modegruppe ccd, was für „chic, charmant & dauerhaft“ steht. Die Truppe, die sich selbst als „der Mob“ bezeichnet, ist keiner staatlichen Institution untergeordnet. Es ist ein loser Haufen verrückter Freigeister: von der schrägen Esther, der verträumten Dome, ihrem Leibfotografen Sven, den Modedesignerinnen Kathi, Frieda, Katja und Fränki bis zu dem schrillen Friseur mit der Glatze. Die Szene steht bis heute in seinem Frisierstübchen Schlange und lässt sich die Haare färben, schneiden und föhnen. Fränki verdankt Brigitte die Möglichkeit seiner Flucht in den Westen. Was natürlich großer Quatsch ist, denn in erster Linie verdankt er es sich selbst. Der schminkende Exot verfügt über ein saugutes Talent zur Rampe. Madame Soubeyran hegt zusammen mit Heiner Müller eine große Sympathie für Fränki, dem dadurch ein Arbeitsvisum als Maskenbildner genehmigt wird. Der Job wird zwei Tage vor Antritt der Reise wegen Krankheit des Regisseurs abgesagt und Fränki bittet Brigitt händeringend, bis zu seiner Ausreise dichtzuhalten. Sie weiß, dass er abhauen will, versteht ihn bestens und akzeptiert traurigen Herzens seinen Wunsch. Wieder will einer der Besten auf und davon.

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Fränki tut mit schmalem Gepäck so, als ob er zur Arbeit in den Westen fährt, verabschiedet sich mit seinem überaus freundlichen Lächeln von den Grenzbeamten und bleibt einfach da, um seine steile Karriere als angesagtester Friseur und Maskenbildner Ost-Berlins nun auch im Westteil der Stadt, in Paris und auf der ganzen Welt fortzusetzen. Die Auswirkungen seiner Experimentierfreudigkeit und die gewitzte Art, Medien verrückt zu machen, lösen eine ernstzunehmende Modewelle aus. 2019 sieht man kaum noch Frauen und Männer in Saunen oder an FKK-Stränden, die untenrum natürliches Haar tragen. Verrückte Menschen machen verrückte Mode und nach und nach lassen sich fast alle Menschenaffen tätowieren. Bis an Brigittes Lebensende schneidet Fränki ihr dankbar die Haare. Selbst als sie schon auf dem Land wohnt, darf sie jederzeit ohne lästige Terminvergabe zu ihrem Lieblingsfriseur und Psychologen. Piep. Oh pardon, lieber Leser, ich habe mein Handy nicht ausgeschaltet, ich schau nur kurz nach. Ah, eine Nachricht von Fränki persönlich, sie passt in unser Puzzle der Zeit. lieba klaus thaler, danke für den auszug aus deinem roman. ich denke gerne an brischitt, 1985 war sie, glaube ich, dass erste mal bei mir im Frisierstübchen auf der Greifswalder, ich wusste nicht wer sie war, wir haben eher privat erzählt, die kinder, jonas zum militär oder nicht usw. … sie war damals rot gefärbt und als ich später meinem vater von ihr erzählte, beschrieb er sie als ungeheuer schöne blonde frau, die ende der 50iger jahre in die ddr kam. sie bat mich für das intendantenvorspiel der schauspielschule im BAT zu schminken. sie hatte damals die ganz junge susanne böwe gegen ihren typ besetzt und ich sollte ihr helfen, das fand ich sehr, sehr spannend und bekam mit, was für eine tolle und mutige regisseurin sie war. brischitt nahm mich auch gerne mit auf die probebühne des deutschen theaters in der reinhardstr. und zeigte mir, wie regie funktioniert. wir haben viel zusammen gemacht, ich mochte ihr ungeheuer gerne zuhören.

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sie hatte auch irgendwie eine französische staatsbürgerschaft, jedenfalls konnte sie reisen und erzählte mir von der unbekannten freiheit, die ich bislang gar nicht vermisste. ich wurde, obwohl ich sehr bekannt war, oftmals verhaftet und es war manchmal auch schrecklich, aber ich dachte, es wär' normal und es machte mich ja noch exotischer. brischitt sagte aber, du musst geh'n, die ddr ist zu klein für dich, und ich wurde nachdenklich. unsere gespräche waren immer von einem wahnsinnigen humor getragen, der mich ungeheuer an sie gebunden hat und das ist unvergessen. in meinem friseurladen hängt ein bild von ihr, für mich ist sie dadurch immer da und ich lach mit ihr über ihren esoterischen knall … kussi frank schäfer 22-08-2020, 21:15 So, jetzt aber aus das Ding, Flugmodus. Lesen, einfach weiterlesen. Erstmal in Ruhe Fotos angucken.

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Sabine von Oettingen

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Esther im ccd-backstage, im Hintergrund Frieda

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Kaiser, noch planlos

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v.l.n.r Jonas, Mecki, Ari und Schneidy

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Fränki 2023 in der Rodenberger

v.l.n.r. Robert, Sven und Frieda

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Es gibt Anfang der Achtziger einige wenige großzügige Wohnungen im Kiez, meist geräumige Künstlerwohnungen, in denen sich die Szene trifft. Die jungen wilden Literaten des Prenzlauer Bergs zum Beispiel versammeln sich zu Lesungen in der Keramikwerkstatt von Wilfriede Maaß, Ecke Schönfließer Straße. Hier lesen nicht nur die gestandenen Literaten wie Adolf Endler, Uwe Kolbe, Heiner Müller und Christa und Gerhard Wolf ihre unveröffentlichten Texte, sondern auch die sehr viel jüngeren Nachwuchstalente des Ost-Berliner Untergrunds wie Sascha Anderson, Stefan Döring, Jan Faktor, Johannes Jansen, Detlef Opitz, Bert Papenfuß-Gorek oder Lutz Rathenow. Die Clique der Maler wiederum trifft sich in der Wohnung von Michael Diller, der das schönste Atelier mit riesiger Fensterfront auf einem Hinterhof in der Pappelallee behaust. Robert Paris und Sven Marquardt, Frieda Bergemann und Jürgen Hohmuth, also die nachwachsende Gilde der Fotografen, okkupieren die Wohnungen von Sibylle Bergemann am Schiffbauerdamm und die von Roberts Mutter Helga Paris in der Winsstraße. Helga ist freischaffende Fotografin und die geschiedene Ehefrau des Malers Ronald Paris, der wiederum eng mit Biermann befreundet ist. Jeder kennt jeden und auch wenn sich die Kreise auf Partys und Ausstellungseröffnungen oder sonstigen Events überschneiden, achtet jede Gruppierung sorgfältig darauf, nicht von herumstreunenden Trittbrettfahrern unterwandert zu werden. Gerade obskure Gestalten sind oft inoffizielle Mitarbeiter der Stasi und zwitschern, wenn die Bespitzelten Glück haben, nur langweiligen Blödsinn. Sobald sie ausposaunen, dass sie verhört wurden, sind sie eh unbrauchbar für die Horch und Guck Ag. Das Haus Paris ist offen, aber nicht für jeden. Zum Kreis der jungen Fotoamateure gehören natürlich, ganz wichtig auch ihre Models und die zukünftigen Modedesignerinnen wie Sabine von Oettingen, Esther Friedemann, Kathi Reinwald und Dominique Windisch, die davon träumt, eine vom Hollerbusch zu sein, und es genießt, später eine von Hollenstein zu werden. Dome mit dem schicken weißen Wolga wird meinem Schützling als Pin-up-Girl im Soldatenspind helfen, den Irrsinn von Armee zu überleben.

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Selbst ist der Mann, aus dem Reparaturbuch des 21er Wolga

Hurra, wir haben Post von Dome! Sie hat das Manuskript tatsächlich gelesen.

Pankow 8. März 2023 Soso Herr Thaler, Sie fragten mich neulich am Telefon nach meinen Erlebnissen mit dem 21er Wolga, der weißen Russenkuh, die mit der Dreiersitzbank, dem hellblau leuchtenden Tachometer aus Zelluloid und dem goldenen Gartenzäunchen auf dem Armaturenbrett. Nun gut, wenn Sie meinen, das interessiert die Welt, hier eine meiner Lieblingsgeschichten: Hätte ich damals in den 80er Jahren Herrn Hollenstein, der mir durch unsere Scheinhochzeit die Ausreise nach Paris ermöglichte und somit die ganze weite Welt zu Füßen legte, geheiratet ohne mein heißgeliebtes Auto mitzunehmen? Wohl kaum. 65


Am Vortag meiner Ausreise nach Frankreich beschloss ich noch schnell einen Ölwechsel zu machen, derart weite Reisen brauchen eine gute Vorbereitung. Leider verschloss ich den Deckel am Motorblock nicht fest genug, das Öl drückte bei der Probefahrt heraus und einer der vier Kolben war hinüber. Da keine Zeit für umfangreiche Reparaturen blieb, verschloss mein Schrauber den Zylinder kurzerhand mit einem Holzpflock, sagte schmunzelnd: „Fährste halt uff drei Töppen Puppe, dit schafft die Olga, aber nicht schneller als 80, dit jeht übern Motor.“ Und tatsächlich kam ich nach zwei Tagen wohlbehalten in Paris an. Das alte Schlachtschiff überstand diesen Gewaltakt wohl nur aus reiner Freundschaft zu mir und weigerte sich ab sofort standhaft, auch nur noch einen Meter weiter zu fahren. So musste ich vorerst ohne Auto nach Berlin zurückkehren – diesmal allerdings auf die Westseite der Stadt. Das erste Westgeld, das ich auftreiben konnte, investierte ich in einen alten Ford Kombi. Nachdem der freundliche Verkäufer um die nächste Ecke verschwunden war, fiel die Heckklappe beim Öffnen ab – diese Feinheiten kapitalistischer Geschäftspraktiken würde ich erst noch lernen müssen. Ich lieh mir einen Hänger und machte mich erneut auf den Weg nach Paris, um meinen Dicken wieder nach Hause zu holen. Das gelang soweit recht gut, bis ich ca. 500 Kilometer vor Berlin auf einem Rasthof unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Oh Gott, meine ersten Westbullen: „Na Froileinchen, was haben wir denn da auf dem Anhänger?!?“ Ich antwortete lächelnd, mit großen Augen klappernd: „Na ein Auto Herr Schutzmann.“ Ich versuchte es erst mal mit der altbewährten Masche, mich doof zu stellen, in blond funktioniert das besonders gut. Der eine der beiden Polizisten stellte mit erhobenem Zeigefinger fest: „Junge Frau, ihr verrostetes Monster ist viel zu groß für den mitgeführten Hänger, der ist für so ein Gewicht nicht zugelassen!“ Ich antwortet erstaunt: „Waaaas, das glaub ich nicht, Sie wollen mich doch sicher bloß auf den Arm nehmen?!“ Die Mullekindoof-Taktik schien zu versagen, die Proportionen waren unübersehbar. „Tja, dann fahren wir mal zusammen von der Autobahn runter und suchen uns eine Waage.“ Dabei umrundete er kopfschüttelnd mein Auto. So kurz vor dem Ziel zu scheitern, hatte ich nicht erwartet und ich zog alle Register, indem ich in Tränen ausbrach. Verstört fragte der Beamte: „Und, was haben Sie da noch im Auto?“

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Ich schluchzte: „Nur Koffer …“ Dem Beamten schien langsam der Kragen zu platzen und er begann zu brüllen: „KARTOFFELN?!?!?!?“ Ich weinte immer lauter und der zweite Bulle beruhigte erst seinen Kollegen und dann mich und sagte: „Sehen Sie zu, dass Sie bei der nächsten Abfahrt die Autobahn verlassen und besorgen Sie sich einen anderen Hänger oder verschrotten Sie die Kiste, scheint ja eh nicht mehr zu fahren. Wo kommt die Rostlaube überhaupt her? Noch nie gesehen so ein Model.“ Ich beruhigte mich langsam und sagte schniefend: „Das ist mein 21er, mein Wolga, der kommt aus Gorki, das ist in der Sowjetunion.“ Die beiden schüttelten verständnislos den Kopf und aus Angst, dass ich gleich wieder anfange zu flennen, machten sie sich lieber aus dem Staub. Masche bleibt Masche und manche funktionieren unabhängig vom politischen System. Natürlich ignorierte ich die nächste Abfahrt und die übernächste und die über-übernächste sowieso. Am Abend traf ich wohlbehalten in Westberlin ein. Schon am nächsten Tag machte ich mich auf die Suche nach einem Austauschmotor und mein Freund Bert wechselte ihn mit Hilfe eines abenteuerlichen Gestells aus drei Eisenstangen. Meine Freude dauerte allerdings genau zwei Querstraßen lang, dann spuckte der Wolly das gute Stück kurzerhand aus. Ich hatte endlich verstanden, dass mit meiner Ausreise in den goldenen Westen ein neuer Lebensabschnitt ohne den wilden Osten beginnen soll und suchte einen ruhigen Hinterhof, auf dem mein alter Freund sein Gnadenbrot bekommen konnte. Einige Tage später nistete sich eine sechsköpfige Katzenfamilie in ihm ein, macht es sich auf der Sitzbank gemütlich und verbrachte bestimmt viele faule Fernsehabende vor dem aquariumblauen Tacho. Die Story ist nun vierzig Jahre her – aber ich glaube Herr Thaler, wenn Baron Lefuet mir zwei Wünsche gewähren würde, wäre einer davon mein 21er Wolga, der andere einen passenden Schrauber dazu, am besten einen, der auf lau arbeitet. Seien Sie herzlich gegrüßt und viel Erfolg mit Ihrem etwas komischen Buch. Meinen Sie wirklich, dass Puppen ein Eigenleben führen? Naja, kann schon sein, mein Wolga hatte jedenfalls eine Seele und konnte mit mir sprechen … Bald ist Frühling und dann komm ich mal auf einen Tee vorbei, bis dahin verbleiben wir in alter Frische, Dome vom Hollerbuschstein

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Da junge Menschen frisch halten, liebt Helga es, dass die Freunde ihrer pubertierenden Kinder bei ihr abhängen. Für viele der Protagonisten ist sie wie eine zweite Mutter. Die kleine, zarte Frau ist damals zur Freude der Jugendlichen oft nicht zu Hause und knipst sich mit ihrer Kamera fleißig durch die Fließbänder der DDR. Sie prägt das moderne Bild der emanzipierten Frau im Sozialismus, porträtiert Arbeiterinnen in Großbetrieben, ist unterwegs auf Fotoreisen durch den Hallenser Smog oder auf der Suche nach deutschen Wurzeln im rumänischen Siebenbürgen. Die anerkannte Fotografin ist seit Jahrzehnten eine Busenfreundin von Brigitt und Jonas kennt die Pariser Familie seit Kindertagen. Robert ist zwei Jahre älter und für meinen Schützling unerreichbar. Wenn der Zehnjährige zu Besuch in die Winsstraße darf, spielt er mit Jenny, der jüngeren Schwester von Robert. Jenny entpuppt sich Jahre später zu einer wunderbaren Goldschmiedin und unterhält ihre stilvoll eingerichtete Galerie kurioserweise in der Pariser Straße. Wenn Robert nicht da ist, erfüllt Jenny ihrem Spielkumpan den Wunsch, heimlich in dessen Zimmer zu schleichen. Jonas darf für einen kurzen Moment innehalten und die riesige, legendäre Hamsterstadt bewundern. Roberts Pappkarton-Stadt ist wie viele Städte auf der Welt aus einer Burg entstanden. Erst wohnt ein Hamster darin, dann zwei, damit Nummer eins nicht so allein ist und irgendwann werden es, wie bei Adam und Eva, viele. Inzest, Krankheit, Tod und Wohnungsnot sind vorprogrammiert. Es gibt nur ein Hamsterrad in der Stadt und die Bewohner stehen Schlange, um wenigstens einmal am Tag zu schwitzen. Die Außenseiter der Hamsterherde kommen auf dumme Gedanken und flüchten, um unter den Dielen nach Schätzen zu suchen. Hamster und Menschen ähneln sich, denn alle sind aus demselben Lehm gebaut und mit demselben Atem ins Leben gehaucht. Nach und nach baut Robert in mühsamer Kleinarbeit ein Haus aufs andere. Der Vogelkäfig wird zum Gefängnis umgebaut, ein Hamster-Supermarkt nach dem anderen öffnet, alles wächst wie im wahren Leben. Als die Stadt nach fünf Jahren die gesamte Wandfläche von sieben Metern Länge und zwei Metern Höhe einnimmt, beschließt der junge Architekt, die Straßen aufzureißen und nachträglich eine Metro zu installieren.

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Hamsterburg

Graffito am S-Bahnhof Schönhauser Allee, 13.8.1981

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Zum Glück hat er alle Dimensionen gut berechnet und die Hamsterbibliothek stürzt nicht ein, wie 2009 das Historische Archiv in Köln. In besten Zeiten wohnen zirka vier miteinander verwandte Pärchen mit ihren Kindern in der Stadt und es wird immer schwieriger, die Leichen der Vetternwirtschaft aufzuspüren. Immerhin gab er allen Tierchen Namen und baut die „Straße der Gefallenen“. Jeder tot geborgene Hamster erhält ein kleines Holzkreuz, auf dem mit Tusche und Feder die Sterbedaten festgehalten werden. Sie bekommen ständig Junge und es ist keineswegs ungewöhnlich, dass es plötzlich in irgendeinem Karton der Burg anfängt zu fiepen. Wenige Tage später gibt es neue kleine Einwohner. Meistens verkauft Robert sie für zwei Ost-Mark das Stück im Zoo-Laden um die Ecke. Je älter Robert wird, desto weniger hat er Lust, sich um sein Volk zu kümmern und so manche Hauskatze der Familie Paris spielt mit den kleinen Nagetierchen „Räuber und Gendarm“. An den Wänden der kleinen Stadt klebt ausschließlich Westreklame. So stellt sich ein junger DDR-Bürger das Land der unbegrenzten Möglichkeiten vor. Mars und Camel, Adidas und Coca-Cola und wenn zur Weihnachtszeit das obligatorische Paket vom Onkel aus Kanada kommt, ist Robert scharf auf die Verpackungen und Jenny auf den Inhalt. Immer, wenn Jonas das Zimmer betreten darf, riecht es nach einer Mischung aus Patchouli und Hamsterpisse. Klos sind das Einzige, was der Baumeister der Hamsterstadt nicht in ausreichender Menge eingebaut hat. Die kleinen drolligen Nager scheren sich einen Scheißdreck um Hygiene und machen ihre Geschäfte wohin sie wollen. Robert lebt seit der Jahrtausendwende in Indien und Jonas besucht ihn 2018. Beide stellen schmunzelnd fest, dass es in Indien riecht und aussieht, wie einst in der Hamsterburg.

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Gefangen in der Hamsterburg

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist jung und voller Energie.

6. Der Mob läuft um die Ecke Mitte der achtziger Jahre wird das Land immer leerer. Die kreativsten Köpfe haben die Schnauze gestrichen voll. Schauspieler, Dichter, Musiker, Sportler und Wissenschaftler, aber auch der kleine Mann von nebenan hauen ab. Die einen legal, die anderen illegal, viele über den Umweg der Inhaftierung. Freigekaufte Gefangene bringen dem DDR-Staat Devisen ein, mit denen er das Volk beruhigen kann, also mit Kaffee, Autos und Bananen. Der größte Clou wird ein Wartburg mit VW-Motor. Was jetzt folgt, liebe Leser, ist eine Geschichte, die ich nur vom Hörensagen kenne, aber ich will sie euch trotzdem erzählen. Steigt ein in die Zeitmaschine, wir fliegen zum Vorabend des 13. August 1981. Zwanzig Jahre nach dem Bau der Mauer hat der „Mob“ über Beziehungen eine Bowlingbahn am Friedrichshain geentert. So wie die sieben Freaks aussehen, mit schrägen Lederklamotten, hochgestellten Haaren und teils krass geschminkten Gesichtern, wechselt jede Oma freiwillig die Straßenseite. Sie trinken jeder ein paar Bierchen, als Punker Esthi bei einem Wurf alle neun Kegel auf einmal umwirft und laut sagt, was jeder denkt: „Mann, sone Scheiße, wieso könn wa dit nich mit der Maua och so machen, wieso klappt dit immer nur bein Kegeln? Ick versteh dit nich, wir müssen wat tut, ick will übern Kuhdamm tanzen …“ Esther und Robert, die beiden Ostpunks der ersten Staffel, landen an diesem Abend am Hinterausgang des S-Bahnhofs Schönhauser Allee, Robert steht in einer Telefonzelle Schmiere und Esthi drückt auf den Knopf der Sprühdose. Sie notiert in feinster Schreibschrift: „Wir werden langsam sauer – 20 Jahre Ma … .“ Sie hat die letzten drei Buchstaben noch nicht geschrieben, da hören sie Schritte in der Dunkelheit der Nacht. Klack, klack, klack. Ende vom Lied: Sie werden kurzerhand festgenommen und landen nach endlosen Verhören mehrere Monate hinter Gittern. Oh pardon, lieber Leser, es hat gerade Pling gemacht im E-Mail-Fach unseres Schreiberlings, da schauen wir ihm doch mal über die Schulter, wer bei der Arbeit stört.

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30.7.2020 Indien/Kerala Lieber Herr Thaler! Mit Freude las ich einige Passagen Ihres in Kürze erscheinenden Buches und möchte höflichst anmerken, dass einige Ihrer Zeilen nicht ganz der Wahrheit oder zumindest meinen Erinnerungen als einer der Beteiligten entsprechen. Die Idee, irgendwas hinsichtlich dem Mauerjubiläum im August 1981 zu unternehmen, entstand nicht auf der Kegelbahn, sondern bei Frieda in ihrem Zimmer am Schiffbauerdamm. Zu Gast war der innere Kreis unseres Mobs, Frieda, Micha, Sabine, Esther, Svene und icke. Vielleicht waren noch andere dabei, das weiß ich nicht mehr genau. Ich erinnere mich nur noch an die Situation jenes Tages in Friedas Zimmer: Es gab schön zu trinken sowie die guten Lexington-Zigaretten aus dem Versina-Diplomatenshop und den Plan, im Markthallentunnel unter der Liebknechtstraße den besagten Mauer-Spruch aus dem damals beliebten „Roten Kalender“ anzubringen. Es schien uns eigentlich ziemlich einfach, sollte ja auch nur einige Minuten dauern. Natürlich schön tief in der Nacht – es sollte an jeder Treppe einer von uns Schmiere stehen und mit Kassettenrekorder warnen, falls sich ein Verdächtiger nähert. Die „Täter“ sollten derweil auf beiden Seiten des Ganges die Losung des Tages an die Kachelwand sprühen. Der Ort wurde wegen des tagsüber erheblichen Passantenstromes vom Bahnhof Alex zur Markthalle gewählt. Dann kam der Bowlingabend, auf den Sie sich beziehen. Irgendwer von uns hatte es geschafft, eine ganze Bahn im gerade erst eröffneten Sport- und Erholungszentrum zu reservieren. Wir waren so ca. zehn Leute, auf jeden Fall Frieda, Esther, Svene, Sternal, Micha und Ed (sein Kollege vom Deutschen Theater, der uns später für Allerleirauh die Scheinwerfer besorgte), Katja, meine Schwester Jenny, Laui und icke. So gegen 0:00 war da Schluss und alle gingen ziemlich angetrunken nach Hause. Ich bin mit Esther mit der Straßenbahn bis U-Bahnhof Dimitroffstraße gefahren, im Zug entspann sich der Gedanke, unseren Plan einfach allein umzusetzen. Immerhin war schon der 12.8. und es wurde höchste Zeit. Wir sind dann zu mir in die Stargarder, die Sprayflasche holen, mit der Farbdose runter über den Hof.

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Esther übte schon mal ein großes A im Hausflur, alles funktionierte. Mittlerweile war es mindestens zwischen 1:00 und 2:00 Uhr als wir die Greifenhagener Brücke erreichten. Ich bat Esther, kurz zu warten, da in einem nahen Hauseingang ein öffentlicher Fernsprecher hing. Nachts waren die Telefonleitungen freier und ich wollte die Gelegenheit nutzen, meinen Freund in West-Berlin anzurufen. Die Gebühren waren hoch, deshalb fertigten einige von uns Spezialgeldstücke an. Für Westgespräche war es ein normales Markstück, welches mit einem feinen Loch und dünner Angelsehne versehen war. Wenn man nun die Mark langsam in den Münzgang hinabließ, wurde, nachdem sie die Sperre erreichte, eine minimale Spannung der Sehne aufgebaut. Das Ganze mit einem Kaugummi festgeklebt und man konnte endlos telefonieren, denn die Mark blieb an ihrem Platz und suggerierte dem Apparat Nachschub. Ich sprach eine ganze Weile und bemerkte überhaupt nicht, dass Esther den sich anbietenden Blechzaun nahe der Brücke kurzerhand auswählte und todesmutig den Spruch anbrachte. Ich kam nach Gesprächsende aus dem Telefonhauseingang und war begeistert. Es war übrigens keine Schreibschrift, Herr Thaler, wie es das Stasifoto von der Aktion belegt. Im selben Momentes hörten wir ein verdächtiges Knacken hinterm Zaun und rannten los. Esther gab mir dabei die Flasche, da ich eine Jacke mit Taschen hatte und sie dann nicht hinderlich beim Rennen war. Ab über die Brücke, runter auf den Bahnsteig. Dort, logisch – am Vorabend des 13.8. reichlich Trapo (Transportpolizei), verlief doch in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes die Grenze. Also zurück, wieder hoch und den schmalen Gang seitlich des Bahnhofes lang bis vor zur Schönhauser. Mir taten die Füße weh, ich war seltsamerweise barfuß. In Höhe des Café Nord, jagte ein Polizei-Lada auf den breiten Bürgersteig, die Genossen sprangen raus, nahmen uns in den Würgegriff, stießen uns in einen Hausflur und legten uns Handschellen an. Dann rein ins Auto und ab zum Revier am Senefelder Platz. Von Anbeginn wurden wir beide getrennt transportiert, um nichts absprechen zu können. In einer Kellerzelle schlief ich im Suff etwas ein, wurde dann aber hochgerissen und es wurden weitere Maßnahmen durchgeführt, wie: Protokoll schreiben, Geruchsprobe für Fährtenhunde nehmen, Fotos von allen Seiten anfertigen und mit einer schicken, neuen Polaroid-Kamera entstanden sogar Farbfotos. Der Apparat war derart neu, dass die Kollegen damit überhaupt noch nicht klarkamen und ich ihnen als gelernter Fotograf dabei behilflich war,

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die entsprechenden Fahndungsfotos von mir herzustellen. Mein Vorschlag, die Wand von der Schrift wieder zu reinigen und nicht so ein Gewese darum zu machen, wurde von den Herren der VP abschlägig beschieden. Was ich mir denn einbilde, ob ich nicht wüsste, wo ich hier sei! In den nächsten Tagen wurden die anderen unseres Mobs verhaftet und tagelang verhört. Frieda wollte, um uns zu entlasten, alle Schuld auf sich nehmen und sagte aus, dass die Idee von ihr stamme. Jeder von unserer Gruppe wurde in diesen nervenden Gesprächen angeworben, für die Stasi zu arbeiten. Keiner knickte ein. Der Staatsanwalt traf mit der Einschätzung, wir bildeten eine „lose Gruppierung anarchistischen Charakters“, den Nagel auf den Kopf. Schließlich wurden wir am 18.11.1981, genau an Esthers 18. Geburtstag, verurteilt. Der Richter wartete auf den Tag genau, bis das Jugendstrafrecht für Esther nicht mehr anwendbar war. Sie erhielt acht Monate Haftstrafe, ich sechs, beide zunächst ohne Bewährung. Robert mit Schellen an der Hand

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Unsere Eltern, parteilich und künstlerisch in höheren Positionen organisiert, erwirkten unsere vorfristige Entlassung am 26. November des selbigen Jahres, die mit einjähriger Bewährung einherging. Somit blieb uns nach etwas mehr als 100 Tagen Untersuchungshaftanstalt der gefürchtete Vollzug erspart. Unsere Gruppe traf sich natürlich weiter und kämpfte mit legalen, künstlerischen Mitteln gegen die Unfreiheit. Unsere Fotos und Modenschauen wurden als Signal zum Aufbruch inszeniert und abgefeiert. Soweit meine persönlichen Erinnerungen an die inzwischen ferne Zeit, an Sie gesandt aus dem fernen Indien. Der Wunsch, zu reisen, war die Grundidee unserer Tat. Herzliche Grüße aus dem fernen Indien und weiterhin gutes Gelingen! Ihr Robert Paris Tja, lieber Leser, da hat unser Autor sich wohl etwas vertan, aber ich kann euch versichern, es geschah nicht in böser Absicht. Doch eins kann man sehr gut an diesem und an folgenden Beispielen sehen: So entstehen Legenden, so entstehen Bibeln, Korane, Stasiakten, Wikipedia und Fake News. Jetzt das Ganze noch ins Arabische übersetzen, dann ins Englische und hundert Jahre später wieder ins Deutsche. Metaphern, Redestile und Moden ändern sich und fertig ist die Geschichtsfälschung, die keiner bezweifelt. Vielleicht war die Erde doch eine Scheibe und hat sich nur durch Zeit, Gravitation und den Mann im Mond zu einer Kugel geformt. Oder Eva stammt doch aus der Rippe des Mannes und die Menschheit ist ein Haufen Inzest. Wer weiß das schon, ich nicht. Kurios ist, dass der Brief aus Indien am 2. Juni 2020 bei uns landet. Kennt jemand von euch da draußen noch die anarchistischen Gruppierungen Westdeutschlands? „Bewegung 2. Juni“, „Rote-Armee-Fraktion“, „Revolutionäre Zellen“ oder die „Rote Zora“? Diese anarchistischen Gruppen wurden Anfang der siebziger Jahre im sogenannten „Deutschen Herbst“ gegründet und bekannt durch Bombenattentate, bewaffnete Banküberfälle, erpresserische Geiselnahme, Mord und Entführungen von Politikern, Staatsanwälten und Wirtschaftsbossen. An der großen Brutalität ihrer Aktionen kann man aus heutiger Sicht die extrem große Wut, die Resignation und den viel größeren Zwiespalt der jungen Menschen der damaligen BRD erkennen.

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Dagegen waren eine Umweltbibliothek, illegale Zeitungen und Rockkonzerte oder die oben beschriebene Graffiti-Aktion der DDR-Jugend ein Witz der Geschichte. Die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft sind größer denn je. Es wird Zeit für die Öffnung der geheimen Aktenberge des BND. Immerhin haben die westdeutschen Spione im Gegensatz zu ihren ostdeutschen Kollegen dreißig Jahre mehr Zeit, das wirklich heiße Material verschwinden zu lassen. Die Ost-Schlapphüte werden 1989 nach dem Zusammenbruch der DDR zum Aderlass gebeten und haben sich definitiv mehr gereinigt als andere Geheimdienste. Es geht dabei nicht um eine Entschuldung, eher um Gerechtigkeit und Bewertung von Geschichte. Ich als Teddybär kann darüber nur brummend mit dem Kopf schütteln. In unserem Koffer gibt es auch mehr als einen Spion. Baron Lefuet will alles wissen und merkt nicht, dass Agenten oft ihre Dienstherren an der Nase zum Schafott führen. Bestes Beispiel wird Armeegeneral Erich Mielke und sein unüberschaubares Heer von inoffiziellen Mitarbeitern. Jeder misstraut jedem, bis keiner mehr Angst hat, weil die Krake zu fett geworden ist, um die Bewegung aufzuhalten. Im Gegensatz zum Westen hat die Ost-Jugend keine Geldsorgen. Es gibt zwar die Handelsketten HO und Konsum, um Waren des täglichen Bedarfs zu kaufen, aber mit dem westlich geprägten Begriff von Konsum, Kaufrausch, Wegwerfgesellschaft und Schlussverkauf hat das wenig zu tun. Im Osten wird bei der Entwicklung von Geräten, also vom Auto bis zum Toaster, darauf Wert gelegt, dass sie immer wieder repariert werden können. Konsum und Konsum wird zwar gleich geschrieben, aber unterschiedlich betont und bewertet. Diese Doppeldeutigkeit machte sich eine Kapelle jener Tage bei der Wahl ihres Bandnamens zunutze. Sie nannten sich „Der demokratische Konsum“. Die Hamburger Punkband „Slime“ presst zeitgleich ihre Scheibe „Yankees raus“ und Jonas ist begeistert. Harte schnelle Gitarrenanschläge, ausgefeilte eingängige Melodien und am allerwichtigsten: verständlich gesungene Systemkritik am linken und rechten Spektrum des westdeutschen Spießbürgertums. Die ebenso deutlichen Songs von Rio Reiser und seiner Band „Ton Steine Scherben“ lernt Jonas erst ein Jahr später kennen. Sie gelten als geistige Paten von „Slime“ und beide Bands beeinflussen den Keimling Ostpunk.

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Punk und vor allem Punkmusik ist in Erich Mielkes (Minister für Staatssicherheit) Arbeiter- und Bauernstaat unerwünscht und soll, wie heutzutage das Coronavirus, im Keim erstickt werden. Manche Viren und Krebse werden erst recht verrückt, wenn man sie anfängt zu bekämpfen und einzusperren, das Anti-Ur-Gen fühlt sich beachtet, herausgefordert und dadurch gestärkt. Zurück zum Mode-Mob. Zwei Jahr nach der ersten Show in der Wohnung der Familie Paris Ecke Winsstraße wird aus dem ccd-Mob die Legende Allerleihrauh. Die Modedesignerin Angelika Kroker stößt dazu, die phantastischen Kostüme werden 1997 sogar vom Deutschen Historischen Museum in Berlin aufgekauft und hätten dreißig Jahre später fast eine Ausstellungsreise rund um die Welt angetreten. Leider sind sich die Modemacher von früher uneins und die Shows mit den alten Kostümen finden nicht statt. Die Truppenstärke vor und hinter der Bühne verdreifacht sich und aus der einstigen, charmanten Spaß-Modenschau wird ein wunderbar bizarr-morbides Bildermusiktheater. Die Musiker der staatlich anerkannten Gruppe Pankow heben das Spektakel endgültig aus dem sagenumwobenen Prenzlauer Berger-Untergrund in einen offiziellen, exquisiten Status. Untergrund heißt inzwischen Underground und alles dreht sich ums Geld. Die Proben werden immer schwieriger und folgerichtig verliert das Projekt seinen Chic und die dauerhafte Leichtigkeit. Streit, Neid und Konkurrenzdenken der einzelnen Models und Designerinnen führen am Ende dazu, das langjährige Freundschaften zerbrechen und die Protagonisten sich in alle Welt zerstreuen. Immer wieder und überall das gleiche Theater hinter den Kulissen. Na warte Korruptus, wir kriegen dich. Jonas wird für die Truppe in seiner „Walfisch“-Siebdruckwerkstatt Eintrittskarten und Buttons auf Wildleder drucken und sie mit Masken und Brustpanzern unterstützen. Volkseigentum, das er während seiner Arbeitszeit in den Theater Werkstätten der Staatsoper tiefzieht, in Polyester arbeitet und mit sozialistischen Grüßen umlagert. Die kreativen Modemacherinnen bekleben die Rohlinge mit feinstem Leder und schon sehen die Masken wild und verrückt aus. Die letzten der furios gefeierten Shows finden mitten im Prenzlauer Berg statt, im stillgelegten Stadtbad Oderbergerstraße.

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Jonas darf die Masken nach der Auflösung von Allerleihrauh behalten und sein Fundus wird größer. Armer Messi, da hat er im Alter was zu tun. Aufräumen und Wegschmeißen sollte man frühzeitig lernen. Bine Oettingen wird von Jonas Mutter als Bühnen- und Kostümbildnerin für die große Studenten-Inszenierung „Die schöne Helena“ von Peter Hacks engagiert. Diese offizielle Arbeit trägt mit dazu bei, dass die junge Autodidaktin 1985 vom Ministerium für Kultur ihren ordentlichen Berufsausweis als Kostümbildnerin erhält. Endlich kann sie für ihre Arbeiten offizielle Rechnungen stellen und von der Kunst leben. Für eine vollwertige Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler ist sie leider zu jung und hat vor allem nicht studiert. Durch die Verschmelzung der verschiedenen darstellenden Künste, drapiert mit den Kostümen der dem Punk zugewandten, tapferen Schneiderin, wird die Studio-Inszenierung ein beachtlicher Erfolg.

Brigitte bei der Probenarbeit

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Erste „ccd“-Modenschau 1983 im Schaufenster des Brecht-Clubs in der Chaussee Straße mit Sven, Turmchen, die Knorrn, Dome, Renate, Kathi, Fränki, Sylvie, Esthi, Till, Constantin, Katja, Bine, Maria und Frieda

Halt. Intergalaktische Vollbremsung, vorwärts zurück, zurück zu Mecky und Schneidy. Die beiden Punk-Ladys gehen auf ein katholisches Mädcheninternat. Regelmäßig verschickt das Duo „IGW“ Fanpost, natürlich ohne Absender. Kleine, aufmunternde Kuriositäten im Alltagsgrau der DDR, jede Postsendung ist ein Unikat. „IGW“ steht für Intershop Gemeinschaft Wixert und ist der Name ihrer Zwei-Frau-Band. Sie schreiben mit ihren geheiligten Eddings flotte Sprüche, schneiden Foto- und Papierschnipsel aus und malen und kleben alles übereinander. Sehr beliebt bei den beiden ist der neu aufkommende Liniencode. Die Verpackungen der Westprodukte aus dem Intershop oder von der lieben West-Verwandtschaft werden radikal skalpiert. Der Strichcode für ihre Collagen ist wichtiger als das Stück Seife oder der Kaugummi. „IGW“ ist eine Band, die nie probt, geschweige denn jemals ein Konzert gibt. Alle, die in der Szene etwas auf sich halten, kennen sie und sind voller Überzeugung Fan ihrer nicht vorhandenen Musik.

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Des Kaisers neue Kleider lassen grüßen. Das Schrägste, das mein langhaariger Punk mit den beiden erlebt, trägt sich wie folgt zu: Jonas Mutter hat einen westdeutschen Komponisten zu Gast, mit dem sie ihre Inszenierung „Mann ist Mann“ in Tübingen bespricht. Der junge Musikus heißt Wolfgang Siuda, hat ein Arbeitsvisum für eine Woche und ist heiß auf die jungen Wilden der DDR. Er ist bereits zum zweiten Mal da und findet es spannend, wenn der Sohn seiner Regisseurin von der damals noch überschaubaren Punkbewegung schwärmt. Jonas darf sich zwei Platten wünschen und so schmuggelt der gute Mann in seinem Koffer die zweite „Dead Kennedys“-Scheibe und die „Alle gegen Alle“-Platte von „Slime“ in die Zone. Wolfgang ist cool und Jonas verspricht, ihn mal mitzunehmen, wenn irgendwo Pogo getanzt wird und die Szene sich trifft. Freitagabend 1983. Wir befinden uns auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station Klosterstraße direkt in Berlin-Mitte. Es riecht so wunderbar nach Bremsklötzern. Kennt Ihr das laute Quietschen beim Einfahren des Zuges und den Geruch im U-Bahn-Tunnel? Für meinen Schlendrian, der jetzt auf dem Land wohnt und Auto fährt, ist dieser Duft ein Hauch von Heimat, Jugend und Bewegung. Mecky, Schneidy, Wolfgang und Jonas sind auf dem Weg ins Haus der jungen Talente, kurz HdJT genannt. Am Ende des zweiten Weltkriegs wird der 1704 gebaute ehemalige Adelspalast des Grafen von Podewils durch mehrere Bomben zerstört und nach Beseitigung der Kriegsschäden durch die FDJ (Jugendorganisation der DDR) ab Mitte der fünfziger Jahre als „Zentrales Klubhaus“ genutzt. Das ist lebendige Kulturpolitik der Diktatur der Arbeiterklasse: Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend bau auf … kaputte Paläste für das kaputte Volk. Hier finden die besten offiziellen Angebote für die DDR-Jugend im Bereich Kultur statt. Im Alter von dreizehn Jahren geht Jonas für ein Jahr zu einem Zeichenzirkel im Kulturtempel und er würde heute behaupten, dass die Malerei dort frei von System-Doktrin war. Er muss weder im Blauhemd erscheinen noch Waffenbrüder oder Panzer des Friedens malen, im Gegenteil: Kreativität wird gefördert durch freie Wahl des Themas, des Papiers, der Farben, Pinsel und Stifte. Es mag sein, dass die Dosis der Erziehung zum vorbildlichen Sozialisten so klein oder gut verpackt ist, dass manch ein Jugendlicher sie nicht bemerkt oder gar im Alter positiv bewertet. Jonas denkt nicht darüber nach, da das

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Angebot und die Materialien kostenlos sind und jeder Interessierte teilnehmen darf. Es macht Spaß und das ist wichtig. „Neu, neu, neu – neues ist wieder neu …“ wird die Band „Ichfunktion“ hier eines Abends im großen Saal kurz vor dem Mauerfall singen und Jonas wird beim Performen dem Sänger Key Pankonin aus Versehen die Nase blutig schlagen. Key wird so tun, als ob es zur Showeinlage der Performance gehört und das echte Blut genussvoll ausspielen, das Publikum wird geschockt sein und der Techniker des Hauses stinksauer, denn getrocknetes Blut klebt zäh am Mikrophon. Alles Zufälle? Ja, Zufälle, die im Buch des Schicksals festgeschrieben sind. Der in „Haus der jungen Talente“ umbenannte Palast dient bis zu seiner endgültigen Schließung 1991 als Heimstätte zahlloser Veranstaltungen. Es gibt über vierzig Clubs und Zirkel im Haus. Es finden Rockkonzerte, Hausfeste, Folkstanz, Liedermacherabende und Jazztage statt. Der von der Szene verlachte Oktoberklub Klub OKK probt linientreu im Keller für die Sache des Friedens.

Mecki und Schneidy

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Viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene verbringen ihre Nachmittage, Abende und sogar manche gemeinsame Nacht im Haus. Da das HdjT für DDR-Verhältnisse relativ offen ist, dient es den jungen Ostlern während der Veranstaltungen zum „Festival des politischen Liedes“ als Kontaktmöglichkeit zu ausländischen Jugendlichen. Das HdjT verfügt über zahlreiche Veranstaltungsorte wie den großen Saal, den Hof und die hauseigene Kneipe. Meistens bilden sich zu Veranstaltungen lange Schlangen vor den Treppen und es ist gut, wenn man den Einlasser kennt oder den Mut hat, über den Zaun zu klettern. Wenn man clevere Kumpels hat, gibt's mit ein wenig Trickserei die beliebten Pausenkarten zum Reinkommen. Der Kulturpalast ist einer der wenigen Orte in Ost-Berlin, in den gelegentlich sogar Punks reingelassen werden. Liebe Zeitreisende, bitte haltet eure Tarnkappen fest, keinen Mucks will ich hören, haltet gelegentlich den Atem an beim Lesen, denn werden wir von den Vieren gesehen oder gehört, verändert sich die Vergangenheit und die Gegenwart wird eine andere Zukunft. Beim Verlassen des U-Bahnsteigs zieht Schneidy an dem grauen Papierende des Fahrschein-Halbautomatens. Ältere Leser aus der ehemaligen Zone werden sich voller Freude an diese grünen, einarmigen Banditen erinnern. Banditen ist falsch, sie waren eher das Gegenteil. Jeder Fahrgast wirft seine zwanzig Pfennig Obolus ein und wer gerade pleite ist, tut nur so oder nimmt einen Pfennig, Sechser oder Groschen und stopft ihn in den Geldschlitz. Knöpfe, Unterlegscheiben oder Zlotys tun es auch. Hauptsache es klimpert für die Ohren der anderen in der Box. Dann zieht man schnell mehrmals an dem Hebel mit dem schwarzen Knauf, damit das Fahrgeld möglichst schnell von der Zahlscheibe fällt und reißt den Fahrschein von der Rolle ab. Wenn man allerdings wie Schneidy den Fahrschein festhält und einfach volle Kanne die Treppen hoch rennt, rollt sich die gesamte Rolle von der Rolle. Wolfgang aus Hamburg bekommt große Augen und versteht die Welt nicht mehr. Das blonde Punk-Mädchen schenkt ihm frech grinsend den zwanzig Meter langen Fahrschein und er? Er traut sich nicht, das Geschenk anzunehmen, da er Angst hat, dass jeden Moment der Schaffner kommt und die Bezahlung des endlosen Rattenschwanzes verlangt. Er ahnt, dass er spätestens bei der Grenzkontrolle schwerwiegende Probleme bekommt.

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Das Konzert der Gruppe „Keks“ ist restlos ausverkauft und da Geyer, der vom Punk infizierte Ober-Einlasser und Sänger der Band „Komakino“ heute keinen Dienst schiebt, gibt es keine legale Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Der Komponist traut sich nicht mit uns über den Zaun zu klettern, da er befürchtet, seine Wiedereinreise und die geplante Theaterarbeit zu gefährden. Die jungen Wilden haben Verständnis für den ängstlichen Wessi und so endet der Abend mit einem Spaziergang von Mitte nach Prenzlauer Berg. Die beiden Mädels haben ihre Eddings dabei und malen große Anarcho-A's und IGW‘s an die Wände. Wolfgang zittert beim Schmierestehen am ganzen Leibe und ist heilfroh, als er im Bett liegt. Am nächsten Tag berichtet er Jonas Mutter mit glühenden Augen von seinem Ausflug, von den Punks, von dem Fahrschein und von seiner Angst. Wolfgang ist noch heißer auf den grauen wilden Osten als vorher. Natürlich nur zu Besuch. Immerhin – als er das nächste Mal kommt, bringt er ein Dutzend Lackmalstifte mit, natürlich die extra dicken.

DDR-Fahrkartenautomat

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Oh, wir haben schon wieder Post in unserem E-Mail-Fach, eine der Beteiligten meldet sich zu Wort. Mal sehen, was Bine Oettingen zu erzählen hat. Halle, am Frauentag den 8. März 2023 Hallo Herr Thaler, Hochkonzentriert las ich zu später Stunde alle Auszüge Ihres Werkes, danke für die Zusendung. Mit großer Freude bin ich in der Passage über das HdJT hängen geblieben. Das HAUS der Jungen Talente war seit 1975 auch meine erste kulturelle Anlaufadresse. Ich begann mit einem Malkurs und belegte nach und nach alle Zirkel, die mir spannend erschienen: Emaillezirkel, Aktzeichnen, Batikkurse und nicht zu vergessen: Keramikzirkel bei Armin Rieger. Später ging ich runter zu den Akrobaten trainieren und montagabends in den Jazzclub. Dort lernte ich Baby Sommer, Uli Gumpert und Co. kennen, eine krasse und inspirierende Welt, die sich mir da mit 15 Jahren eröffnete. Jeden Donnerstag gab es Live-Konzerte im großen Saal, den wir später selber eroberten mit unserer ersten Allerleihrauh Show, dem Ding aus Licht, Raum, Klang und Leder. Bereits 1983/84 verzauberten wir das Publikum im Foyer und im Hof mit drei CCD-Shows. Das Haus der Jungen Talente war ein echtes Auffanglager und ein phantastischer Ort zum Abhängen. Ich glaube, ich war da sechs Tage die Woche und natürlich auch zum Festival des Politischen Liedes. Ich durfte da sogar Joan Baez erleben, ich kam immer irgendwie rein, kannte jeden Hintereingang, bin überall durchgeflutscht. Das Beste am HdJT war, dass man alle nur denkbaren Zirkel und Kurse für einen lächerlichen Monatsbeitrag von 2,70 Ost-Mark belegen konnte. Krass!!! Schade, dass es so etwas nicht mehr gibt – was war das doch für ein Schlaraffenland. So, genug für heute, ich bin gespannt auf die Veröffentlichung und hoffentlich sortiert das alles noch jemand so, dass einem beim Lesen nicht zu schwindelig wird. Viel Erfolg und beste Grüße aus Halle an der Saale Sabine von Oettingen

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Ich kenne was, was ihr nicht kennt, und da herrscht Zucht und Ordnung.

7. Stillgestanden! Für mich heißt es immer noch warten, warten und nochmals warten. Obwohl ich mich langsam ans Bär-Sein gewöhnt habe, ist Warten nicht mein Ding. Ich kann es bis heute nicht leiden, wenn jemand zu spät kommt. Aber Fluch ist Fluch und ich will mich demütig in mein Schicksal fügen. Ich lebe anderthalb Jahre allein im Hinterhof der Immanuelkirchstraße 22, denn Jonas wird zum Grundwehrdienst eingezogen und als Kanonenfutter in ein Schützenpanzer-Regiment rekrutiert. Er soll in der Nähe von Torgelow, dem Land der drei Meere – Sandmeer, Waldmeer, Nichtsmehr – glattgeschliffen werden. Es wird die sinnloseste Zeit seines Lebens. Mein Schützling wird umsorgt von brüllenden Offizieren, schikanierenden Gefreiten und dummen Unteroffizieren. Er spielt auch in diesem Kollektiv die Rolle des Klassenkaspers, die des Aufwieglers. Er findet unter den Leidensgefährten einige gute Freunde. Die ersten sechs Monate der Grundausbildung zum Aufklärer verbringt er den wohlverdienten Feierabend mit dem Putzen von Klobecken. Bewaffnet mit einer Rasierklinge zum Abkratzen der Urin- und Kotreste, lernt er die Ruhe dieses Örtchens zu lieben. Glücklicherweise ist er schon so süchtig und voller Vorfreude auf das Leben danach, dass er die Rasierklinge nicht zum Suizid nutzt. Da Jonas, so wie ich, mit einer Glückshaut auf die Welt geworfen wurde, kann ihm keiner dieser machtgeilen Idioten etwas anhaben. Seine Seele kommt unbeschädigt und fürs Leben gewappnet davon. Mein Held sticht beim Krieg spielen und Befehle ausführen nicht besonders hervor. Im Gegenteil: er genießt gezwungenermaßen eine Ausbildung zum Schauspieler unter erschwerten Bedingungen. Nach einem Sturz aus dem zweiten Stock wird er als Regiments-Bibliothekar abgestellt. Was war geschehen? Beim Abschluss-Manöver der Grundausbildung überquert er in voller Montur, unter Gasmaske und Ganzkörperschutzanzug die verhasste Sturmbahn. Der gemeine Soldat wird zum Zwecke des Trainings noch mit Ausrüstungsgegenständen behangen, dazu gehören

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Maschinengewehr, kurzer Klappspaten, Magazintasche, Rucksack und natürlich der Stahlhelm. Alles drückt und hängt im Weg. Die zweihundert Meter lange Sturmbahn ist mit den verschiedensten Hindernissen drapiert. Sie fordert auf zum Robben, Kriechen, Springen und Klettern. In der Mitte der Sturmbahn gibt es eine Haus-Attrappe mit zwei Fenstern, eines in der unteren und eines in der oberen Etage. Der auszubildende Aufklärer übt, dieses Haus zu erobern, das heißt hochklettern, durchs Fenster einfallen, Haus besetzen. Diese Taktik wird Jonas Jahre später nutzen, um mit seinen Bandkollegen Freiräume zu schaffen und nach dem Mauerfall leerstehende Häuser zu erhalten. Aber Stopp, Zeitmaschine nicht zu schnell, wir dürfen den Leser nicht verlieren, noch sind wir in der NVA. Im Normalfall gibt es in Häusern mit mehreren Stockwerken Zwischendecken, auf denen der Aufklärer langschleicht, das Gewehr im Anschlag hält, Raum für Raum durchsucht und wehrlose männliche Gefangene erschießt. Bei diesen Attrappen fehlen jedoch nicht nur die Gefangenen, sondern vor allem die Zwischendecken. Der Rekrut muss aus vier Metern Höhe auf den Erdboden springen, abrollen und zack, die Kalaschnikow im Anschlag, wieder stehen. Mein braver Soldat Schwejk bleibt beim Absprung mit dem Spaten am Fenster hängen, fällt wie ein nasser Sack heraus, landete auf allen Vieren im Dreck und denkt, bis hierher und keinen Schritt weiter. Die Offiziere rechneten nicht mit mir. Ich, Zorro der Bär, halte unsichtbar meine schützende Hand über ihn. In Bruchteilen von Sekunden sende ich ihm den rettenden Plan. Er schreit und wälzt sich im Staub, Sanitäter eilen hinzu, reißen dem Rekruten die Gasmaske vom Gesicht und sehen einem scheinbar Irren ins Gesicht. Er gibt vor, fürchterliche Schmerzen zu haben und den Hals nicht mehr drehen zu können. Die anwesenden Offiziere bekommen es mit der Angst um ihren Schutzbefohlenen zu tun, befehlen den sofortigen Abtransport ins Lazarett nach Ueckermünde. Sobald der Regimentsarzt den Kopf auf dem Hals drehen will, wimmert, lallt und stöhnt der eingebildete Kranke aus Leibeskräften. Der Arzt röntgt ordnungsgemäß Kopf und Hals, stellt keine Brüche fest, sieht mit einer Lupe nebst Taschenlampe in die Augen des Halbtoten. Der Weißkittler sieht mit Erschrecken in eine große und eine kleine Pupille.

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Arztprotokoll NVA

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Der auffällig sichtbare Unterschied ist für den Mediziner deutliches Indiz eines Hirn-Gerinnsels erster Kajüte. Der Stabsarzt bekommt es mit der Angst zu tun, das Spektakel wirkt echt. Dem Delinquenten wird umgehend eine steife Halskrause, Schmerztabletten und absolute Bettruhe verschrieben. Als sich nach drei Wochen die Halsstarre und die angeblich andauernden Kopfschmerzen nicht bessern, wird überlegt, den unnötigen Esser aus den Kraken-Armen der Armee zu entlassen. Leider kommt der Regimentskommandeur auf die glorreiche Idee, dass so einer doch gut in der Bibliothek aufgehoben sei. Einige der Offiziere wussten um die Herkunft meines Schauspielers und die Vermutung liegt nahe, dass es Order von oben gab, das Kuckuckskind Biermanns dazubehalten. Abkommandiert in das etwas muffige Reich der Bücher, schiebt er fortan als Bücherwurm seinen Dienst. Er kocht ohne Ende Tee und Kaffee, knabbert Hansa-Kekse und plaudert mit dem Oberbibliothekar über das Leben. Der Zivilangestellte ist schwul und verliebt in meinen Jüngling. Jonas hält ihn auf Abstand, liest viel und fängt an zu rauchen. Als der Chef der Aufklärer-Einheit Oberleutnant Hackbarth mitbekommt, dass sein Rekrut Amateurfilmer ist, erlaubt er ihm, seine Ausrüstung von einem Kurzurlaub mit in die Kaserne zu bringen. Die West-Schmalfilmkamera und der Ost-Fotoapparat werden begutachtet und in den Tresor geschlossen.

Schützenpanzer mit Besatzung

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Akt mit Gasmaske

Der beflissene Offizier träumte davon, Major zu werden, selbst die Hauptrolle in einem Karate-Ausbildungsfilm zu spielen, um sich damit beim Regimentskommandeur einzukratzen. Mein Hilfsbibliothekar erhält den Befehl, ein Manöver zu dokumentieren. Die Szenenfotos werden pottenlangweilig, die Negative zum Glück nie entwickelt und die Schmalfilmkamera gelangt gar nicht erst zum Einsatz. Im Nachhinein vermute ich, dass der Staatsapparat unbewusst klug handelte, denn eine Kamera im Tresor der Armee war sicherer als draußen in den Händen der Freunde meines braven Soldaten Schwejk. Jonas nutzt seine Ausrüstung nach Feierabend, knackt beim Putzen der Schreibstube das Siegel des Panzerschranks und knipst Fotos von Kameraden in unmöglichen Aufzügen, nackt mit Gasmaske, Entlassungskandidaten mit ausgerollten Messbändern. 90


Am Tage der Entlassung kommt es während des Appells zu einem letzten Eklat. Jonas lehnt vor dem versammelten Bataillon die Beförderung zum Unteroffizier ab. Der Regimentskommandeur bebt vor Wut, als der Bibliotheksgehilfe die Ehrung versagt. Puterrot und nach Worten japsend, degradiert er ihn umgehend vom Gefreiten zum Soldaten und bestraft ihn mit einer letzten Toilettenreinigung. So darf mein in Ungnade gefallener Scharlatan erst drei Stunden später als der Rest der Truppe zurück in die Heimat. Endlich. Er wird nie wieder von diesen Leuten belästigt, auch nicht von den Geheimen der Staatssicherheit. Endlich beginnt das lang ersehnte freie Leben einer Boheme. Als mein Degradierter wieder in seiner Hinterhofbude landet, hatte sich sein alter Freundeskreis nahezu in Luft aufgelöst. Fränzi, seine langjährige Jugendliebe, lebte inzwischen in West-Berlin, Mechthild und Schneidy, die beiden Pfarrerstöchter, waren nach England ausgereist, Kaiser und Bine durch Heirat nach Italien und Amerika entfleucht. Von den zwei Leidensgefährten aus Berufsschulzeiten lebt der eine inzwischen in Leipzig und der andere studiert fleißig Medizin, um später ein Leben in gediegenem Wohlstand zu führen. Aus den Augen aus dem Sinn. Ein letztes Mal mischen sich die Eltern in den Werdegang des jungen Mannes ein. Sie sind der Meinung, dass in dem Jungen ein guter Bühnenbildner stecke, da er in der Kindheit viel gemalt und in der Pubertät surreale Objekte gebaut hat. Die Mutter bekniet ihn, sich doch für ein Studium in dieser Richtung zu bewerben, oder wenigstens für ein halbes Jahr an der Basis in den Beruf zu schnuppern. Widerwillig stimmt der Sohn zu. Es werden alle Fäden der guten Beziehungen gezogen und ein Aushilfsjob in den Theaterwerkstätten der Staatsoper am Nordbahnhof in BerlinMitte ergattert. Hier werden sämtliche Dekorationen und Requisiten für Berliner Theater und Opernhäuser gebaut. Kreative Bühnenbildner überwachen gelegentlich die Umsetzung ihrer ach so großartigen Kulissen. Jonas landet in der Polyester-Abteilung, in der es fürchterlich stinkt und sehr giftig zugeht. Alle Angestellten arbeiteten sehr entspannt und nutzen einen Großteil ihrer Zeit, um in die eigene Tasche zu wirtschaften. Der Begriff des Volkseigentums wird wörtlich genommen.

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Es werden Surfbretter, Schachfiguren und Kotflügel für alle gängigen Ost-Autos in Polyester getuppelt. Jeder Angestellte hat seine Privatform im Spind, der Meister der Abteilung wird heimlich umgangen. Sobald der Alte aus dem Haus geht, wird auf Gedeih und Verderb schwarzgearbeitet. Das gleiche Schema funktioniert in der Schlosserei, in der Tischlerei, in der Näherei und bei den Dekorationsmalern. Die ganze DDR basierte auf diesem Prinzip – kein Wunder, dass sie wirtschaftlich untergehen muss. Die Losung der Partei, „aus unseren Betrieben ist noch mehr herauszuholen“, wurde wörtlich genommen und ließ das soziale Geflecht des Tauschhandels erblühen. Im Osten hatten die meisten Bürger sehr saubere Hände, da jede Hand die eines anderen wusch. Jonas fühlt ziemlich schnell, dass es für ihn auf Dauer keine Lösung ist, Ideen anderer Künstler umzusetzen, einem Chef zu gehorchen und zu geregelten Zeiten anzutreten. So lässt er den Vertrag auslaufen und erklärt den Eltern, jetzt nur noch Dinge zu tun, die ihm Spaß machen. Learning by doing – das war ab sofort seine Devise. Die Mutter braucht Jahre, um diese Absage an ihren Plan zu verdauen.

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist nicht nur schwarz/weiß.

8. Super-8-Mann nimmt kein Trinkgeld Mein junger Hirsch ist immer noch angefixt von der Filmerei und will so bald als möglich einen eigenen Streifen drehen. Er hat einen guten Freund, der gerade an der Berliner „Ernst Busch“-Schule das Fach Puppenspiel studiert. Dieses Studium war einst auf einem international hohen Level und sehr beliebt. Generell wurde im Ostblock nicht nur das Genre Zirkus und Schauspiel, sondern auch das Puppenspiel staatlich gefördert. Die Kulturfunktionäre wissen um die Magie, die von uns Puppen ausgeht, und nutzen sie für die Beeinflussung und Bildung der heranwachsenden Jugend. Lutz, so heißt der junge Mann, fährt einen alten, roten VW Käfer. Dem verwunderten Leser sei erklärt, dass es im kleineren Teil Deutschlands einige hundert zugelassene Fahrzeuge dieses Modells gab. Die meisten von ihnen sind vor dem Bau der Mauer, also vor 1961, legal in der DDR gelandet und befinden sich teilweise in erbärmlichen Zustand. Mit viel Enthusiasmus wird an den Rostlauben geschraubt und Ersatzteile sind noch rarer als für die gängigen Ost-Autos. Lutz hat eine faszinierende, gesichtslose Gelenkpuppe zu Hause auf seinem Schreibtisch zu stehen. Diese Puppe, sein geliebter, roter Käfer, Jonas' ebenso alte russische Limousine der Marke Wolga M21, ein Plastikskelett und die Theatergewehre geben den Anstoß für ein passables Skript. Die beiden Jungfilmer lassen sich von dem Gruselklassiker „Frankenstein“ von 1931 inspirieren. Sie beschließen, die künstliche Erschaffung eines Menschen zu adaptieren und in den Mittelpunkt der Story zu stellen, jedoch mit dem Unterschied, dass der Tod einer Puppe Ausgangspunkt der Geschichte „Super-8-Mann nimmt kein Trinkgeld“ wird.

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Kamera läuft, I. Szene: Lutz sitzt an seinem Schreibtisch, in der linken Hand die Puppe. Mit einem letzten Kraftakt übergibt sie dem Spieler einen leeren Zettel mit ihrem Vermächtnis, atmet tief aus und stirbt. Dieser Anfang gefiel mir sehr, denn er vermittelt dem Betrachter, dass wir Puppen nicht nur leben, sondern genauso gut auch sterben können. Lutz mimt Trauer, Verzweiflung und Ratlosigkeit über den schweren Verlust. Lutz hält das leere Testament in den Händen, spielt Verwunderung. Urplötzlich fällt ihm ein, dass es sich auf dem Vermächtnis um eine Geheimschrift handeln müsse. Er hält den leeren Zettel über eine Kerze und ein Schriftzug erscheint. Bevor er komplett verbrennt, kann der Zuschauer gerade so entziffern: „Erschaffe Carl Moritz Bartels“. Unsere beiden Effekthascher bedienen sich eines simplen Tricks, sie präparieren den unscheinbaren Zettel vorher und kritzeln den Text mit einer Tuschfeder voll Zitronensaft aufs Papier. Dieser Name wird nur aus einem einzigen Grund gewählt: Jonas besitzt ein altes Dokument, welches in alter schnörkeliger Schrift gesetzt ist und einem Herrn Bartels die königliche Ehrendoktorwürde verleiht. Lutz, der trauernde Protagonist, denkt ausgiebig nach, beginnt im Telefonbuch nach der Adresse eines Herrn Bartels zu suchen und wie es das Drehbuch will, findet er auf Anhieb einen Nachfahren des Besagten und das, obwohl die wenigsten Bürger der DDR ein Telefon besitzen. Er besucht den Mann, der sich als Blinder entpuppt und von Jonas gespielt wird. Der hat allerdings einen angeklebten Vollbart, da er später noch ohne Gesichtsfell die Rolle des Homunkulus spielen soll. Herr Bartels Junior erzählt von seinem Großvater, der einst Puppenspieler gewesen sei und auf dem Friedhof da und da begraben ist. Das war die wichtige Information. Der Erschaffer bedankt sich höflich und verabschiedet sich. Da Lutz sehr stolz auf seinen selbst restaurierten Käfer ist, gibt es nun eine lange Sequenz mit seinem Schmuckstück. Er fährt zu besagtem Friedhof, findet das Grab und beginnt den Sarg auszubuddeln. Natürlich sind die beiden Filmschaffenden in echt keine Grabschänder, es gibt einen Filmschnitt und die Buddelei findet auf einem privaten Gartengrundstück statt. Der Drehort ist bewachsen mit wilden Bäumen, an denen von unten bis oben Efeu rankt. Er eignet sich hervorragend als Friedhofskulisse.

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Die beiden nageln einige Holzbretter zusammen, beschriften sie und stellen sieben Holzkreuze auf. Lutz gräbt im Schweiße seines Angesichts ein tiefes Loch. Kamera aus und Schnitt. Die geliehene, schön verzierte Holzkiste, die eher einem Kindersarg ähnelt, wird in das fingierte Grab gelegt, dann eine Handbreit Erde darüber geworfen und die Kamera wieder eingeschaltet. Etliche Szenen müssen wiederholt werden, da Jonas nicht bemerkt, dass die Fünf-Minuten-Rohfilme schon wieder belichtet sind. Das passende Filmmaterial, allerdings ohne Tonspur, gibt es im Osten problemlos zu kaufen. Es wird munter drauflos gefilmt – was das Zelluloid hält. Ein fünf Minuten Streifen kostete knapp vierzehn Mark, was für ostdeutsche Verhältnisse eine ganze Menge Kohle ist, aber da Jonas und Lutz an den Wochenenden selbst bedruckte T-Shirts verkaufen, spielt Geld keine Rolle. Viel schwieriger war und ist es bis heute, sich eine coole Story auszudenken, um damit in der Szene zu Ruhm und Anerkennung zu gelangen. Die Parodie soll eine Mischung aus Horror, Gangster und Autostunt-Film werden. Nach dem dritten Anlauf ist die Szene im Kasten. Lutz wuchtet die schwere Kiste aus dem Loch, öffnet sie mit einem Beil und siehe da: Ein Haufen Knochen nebst Schädel grinsen die Zuschauer später von der Leinwand an. Die beiden haben ein spaßiges Wochenende und sind Feuer und Flamme für ihren Gruselfilm. Der Grabschänder verstaut die Überreste in seinem Rucksack, steigt in den tollen Käfer und fährt in sein Labor. Die Laborszene wird im Bad meines Schützlings gedreht. Dieses Bad ist besonders, denn es befindet sich nicht in der Wohnung, sondern direkt darüber auf dem Dachboden des Hauses. Jonas hat mehr Glück als Verstand, denn die clevere Bine Oettingen kannte Hinz und Kunz und hatte die Waschküche im 5. Stockwerk mit einer gusseisernen Badewanne und einem Achtzig-Liter-Elektro-Boiler ausgestattet. Der Raum hat zwei Dachfenster in der Schräge, man kann beim Baden auf die Dächer des Prenzlauer Bergs schauen oder in die Weite des Himmels über der Hauptstadt. Ein Heizlüfter wärmt den Raum, und da die Waschküche sehr groß für ein Badezimmer ist, passt neben dem Equipment einer Dunkelkammer auch noch ein Gästebett hinein. Dieser Raum wird zur Filmkulisse umdekoriert.

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Die beiden Filmproduzenten bauen einen Tisch auf, bestücken ihn mit Reagenzgläsern, Erlenmeyerkolben, dicken alten Büchern und einem Bunsenbrenner. Achtung! Ruhe!! Bitte nicht stören!!! Kamera läuft, VI. Szene: Der Grabschänder packt seine Knochenbeute in die leere Badewanne, verstöpselt diese und lässt das lebenspendende Wasser ein. Vorher werden natürlich durch einen Kamerastopp die Knochen entfernt. Lediglich ein Plastikbein bleibt im Badewasser, da es im Verlaufe des Schöpfungsaktes noch eine wichtige Nebenrolle bekommt. Der Alchimist liest in einem geheimen Buch über die Erschaffung des Menschen und misch eine Mixtur aus verschiedenfarbigen Flüssigkeiten an. Dass man die Farben der Badezusätze in grün, hellblau und rosa auf einem Schwarzweißfilm eh nicht erkennt, ist den beiden nicht wirklich bewusst. Manche Dinge sind bei Filmaufnahmen wichtig fürs Gefühl und die Spiellaune der Akteure. Die Wanne ist halbvoll und Lutz kippt mit dem irren Grinsen eines Besessenen das Lebenselixier hinzu. Da die Kamera über einen Zeitraffer-Effekt verfügt, entwickelt sich in kürzester Zeit extrem viel Schaum, und als sie fast überzulaufen droht, wird die Kamera erneut angehalten. Jonas steigt vorsichtig in die Wanne, ohne die Schaumberge zu zerstören, taucht unter und hält die Luft an. Lutz drückt auf Aufnahme, und der Homunkulus erscheint wie von Zauberhand geschaffen aus dem Schaum. Das Wunder ist vollbracht. Ach nein, nicht ganz, Jonas schiebt mit der Hand das Gerippebein über den Wannenrand, der Alchimist stukt panisch seine Schöpfung wieder unter und kippt noch einen ordentlichen Schuss Tinktur hinzu. Nun stimmt die Chemie, und Homunkulus entsteigt komplett zu Fleisch geworden dem Bade. Den belebenden Stromschlag, den es im Original-Frankenstein-Film gibt, haben die beiden schier vergessen. Jonas greift sich ein Handtuch und verhüllt etwas prüde seine Blöße, da der Film nicht auch noch das Genre Porno bedienen soll. Nächste Einstellung: Homunkulus steht vor einem Kleiderschrank und weiß nicht, was er anziehen soll. Er entscheidet sich für einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege, schlägt seinen Erschaffer mit einigen Fausthieben und Fußtritten zu Boden und flieht.

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Ist der Mann am Boden tot oder nur bewusstlos? Die Zuschauer werden mit einem Gefühl von äußerster Spannung zurückgelassen und lesen auf handgeschriebenen Blättern: Ende I. Teil, Fortsetzung folgt. Mir fällt auf, dass der erste Film „Ein Irrer auf der Flucht“, gedreht mit den zwei Schulkameraden, gut hinter den Gruselfilm passt. Dass die beiden ein Filmprojekt am Start haben, spricht sich schnell herum. Hartmut Beil, der Fotografen-Freund aus der Knaackstraße 90, lässt sich nicht lange bitten, die Kamera während eines Autostunts zu führen. Jonas fährt damals einen alten Wolga, eine Russen-Limousine Baujahr 1965. Die Kiste ist groß, sauschwer, rund und blau. Diese Automarke besitzt einen der schönsten Tachos der Welt, er sieht aus, als ob ein Aquarium auf dem Armaturenbrett steht, es fehlen nur die bunten Fische darin. Der alte Wolga ist Kult. Die Karre ist zugelassen für sechs Personen, vorn ausgestattet mit einer durchgehenden Sitzbank für drei, kann man aus Vorund Rücksitz eine große Liegewiese zaubern und auf Reisen bequem darin schlafen. Das Modell verfügt über einen zusätzlichen Handgashebel, so dass man während langer Fahrten durch die Tundra die Beine auf das Armaturenbrett legen kann und es trotzdem rollt. Bei modernen Autos heißt das heutzutage Tempomat, und wenn diese hochkomplizierte Elektronik nicht funktioniert, weiß niemand mehr, wie das Problem behoben werden kann. Bei Wolgafahrern heißt die Parole: „Mit Hammer, Zange, Klingeldraht – komm'n wir bis nach Leningrad“, was so viel bedeutet wie: Man kann mit etwas Sachverständnis alles selber reparieren. Jonas liebt dieses benzinfressende Monstrum und ist natürlich, genau wie Lutz, darauf bedacht, dass die Kiste eine tragende Rolle bekommt. I. Szene, zweiter Teil: Der Grabschänder, der die Attacke überlebt hat, wartet in einem Wald mit einem der beiden Theater-Gewehre auf den Homunkulus. Lutz sieht den Nichtsahnenden daherkommen, zieht sich seine schwarze Wollmütze als Tarnung übers Gesicht und fällt mit vorgehaltener Maschinenpistole über seine Schöpfung her. Rache ist Blutwurst, diesmal darf er Jonas zusammenschlagen. Der Meister fesselt dem künstlichen Menschen die Hände, bindet das Ende des Stricks

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an die Hängerkupplung des Wolgas und fährt los. Hartmut stellt die Kamera auf Zeitraffer und im Film sieht es nach enormer Geschwindigkeit aus. Homunkulus soll zu Tode geschliffen werden. Die Idee zur Szene ist aus einem der Indianerfilme der DEFA geklaut. Gojko Mitic, der jugoslawische Oberindianer wird, an den Händen gebunden, hinter einem Pferd her geschliffen, bis er sich unter größter Anstrengung aufrichtet, schneller als das Pferd rennt und den fiesen weißen Cowboy aus dem Sattel reißt. Jonas muss aufpassen, dass der Zuschauer beim Aufrichten nicht bemerkt, dass das Seil durchhängt, da natürlich in echt alles im Schritttempo stattfindet. Der Homunkulus zieht sich am Seil bis zum Auto, springt auf, klettert über den Kofferraum aufs Dach des fahrenden Autos und zieht, wie es das Drehbuch vorschreibt, eine Pistole aus der Brusttasche. Er hält sie dem verdutzten Lutz durch das rein zufällig geöffnete Fahrerfenster an die Schläfe und übernimmt wieder die Macht des Handelnden. Der Alchimist muss gezwungenermaßen bremsen, wird aus dem Auto gezerrt und erneut zusammengehauen. Der Homunkulus setzt sich ans Steuer, fährt freudestrahlend davon und lässt seinen Erschaffer im Straßenstaub liegen. Ende II. Teil und wie immer – Fortsetzung folgt … Was für ein blödsinniges Skript, aber immerhin, der Film wird eine Parodie auf sämtliche westliche Action- und Horrorfilme und glänzt vor allem dadurch, dass er kaum eine wirklich tragende Handlung hat. Da beide Akteure keine Lust auf eine aufwendige Vertonung haben und eine Synchronisierung von Bild und Ton schier unmöglich erscheint, wird lediglich, aber sehr passend zum Genre Stummfilm, Live-Musik mit einem Koffer-Harmonium eingespielt. Es gibt 1988 zwei Voraufführungen mit handverlesenen Freunden und dann die langersehnte Premiere in Rosenwinkel. Die beiden Newcomer folgen einer Einladung von Mario Achsnick, der seit Jahren illegale Schmalfilm-Feste organisiert. Rosenwinkel befindet sich in der Prignitz und ist eine der ersten Landkommunen in der untergehenden DDR. Hier werden prächtige Partys gefeiert und Mario ist einer der Gurus der Schmalfilm-Szene. Aus heutiger Sicht müsste mein Puppenspieler diesen Film endlich vollenden, die Geschichte weiterspinnen und aus dem

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Homunkulus den Puppenspieler der Klausthaler Puppenbühne werden lassen. Das wäre ein interessanter Bogen zur Gegenwart und zur ersten Szene, in der die Puppe stirbt. Vielleicht macht er das noch und ich krieg doch noch eine Hauptrolle im dritten Teil des Films. Das größte Dilemma der Super-8-Szene ist, wenn der Film schlecht zusammengeklebt wurde, er bei der Aufführung reißt, oder beim Abspulen ins Stocken gerät und das Zelluloid vor den Augen der Zuschauer verbrennt. Das Licht im Saal wird eingeschaltet, die Gäste grölen und wettern gegen die Stümper, und wenn die Macher die Nerven behalten, wird die Klebepresse gezückt und innerhalb von wenigen Minuten die Filmenden wieder zusammengeklebt. Diese peinliche Situation erwischt unser Team bei der Premiere gleich dreimal und wird vom Veranstalter mit einer gewissen kleinen Schadenfreude fotografiert und szenisch festgehalten. Die Chance, dass sein eigener Filmbeitrag Gewinner des Abends wird, ist gestiegen, denn das Publikum ist gleichzeitig die Jury. Alle anwesenden Filmemacher springen auf und wollen Jonas beim Kleben helfen. Lutz überbrückt die Pause mit dem Koffer-Harmonium, und der Gruselfilm gewinnt leider nicht den Wanderpokal von Rosenwinkel, da Jonas nach dem dritten Riss die Nase voll hat. Künstlerpech.

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Ich sehe was, was du nicht siehst, denn Mangel macht erfinderisch.

9. Die T-Shirt-Manufaktur Zum Brötchen-Erwerb produziert Jonas halblegale Mangelware in Form von Sweatshirts mit selbst bedruckten Siebdruck-Motiven. Der große Altberliner Dachboden über seiner Hinterhof Bude in der Immanuelkirchstraße wird zur Siebdruckerei umfunktioniert. Er kupfert fauchende Löwenmäuler, Micky Maus und den provokanten Slogan „Holiday in New York“ auf selbstgenähte Klamotten.

Löwenmotiv auf Bettlaken-T-Shirt

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Diese unförmigen T-Shirts mit Fledermausärmeln sind Jahre vor dem Mauerfall der Renner für das Volk. Am Verkaufsstand bildet sich eine Schlange und die Dinger gehen weg wie warme Semmeln. Ich bin froh, dass er nie auf die Idee kam, mich als Zorro den Bären auf diesen Shirts zu verewigen. Das Sortiment besteht aus rosa, hellblau, weiß und gelb eingefärbten Bettlaken. Als Bündchen an Arm, Hals und Saum werden gerippte Männer-Unterhemden in Streifen geschnitten und einfach angenäht. Der Schnitt wird aus einem einzigen Stück Stoff geschneidert und ist sehr variabel, was die unterschiedlichen Größen anbelangt. Die Winterkollektion hat den gleichen Schnitt und wird aus kuscheligen Molton-Bettlaken gezaubert. Durch Jonas und Konsorten entsteht eine Mode, die es nicht im sozialistischen Handel zu kaufen gibt. Mein Noch-Nicht-Puppenspieler schämt sich insgeheim für diese Mode, da er selbst so etwas nie im Leben tragen würde. Immerhin ist der Siebdruck waschmaschinenfest, es gibt keine Reklamationen. Sobald der Frühling erwacht, verkauft er seine heiße Ware auf Wochenendmärkten. Bereits im Herbst 1988 perfektioniert er dieses Geschäft auf ein Optimum. Er findet unter den ehemaligen Kolleginnen der Theaterwerkstätten drei fleißige Näherinnen und organisiert sich eine Lizenz für die Hobbytätigkeit als Modemacher, eine legale Erlaubnis zur Konsumgüterproduktion in der Freizeit. Dazu muss ein Musterstück genäht werden, das von einer siebenköpfigen Kommission begutachtet und unter die Lupe genommen wird. Am liebsten hätte ich damals schon mein Schwert geschwungen und diesem Auswuchs an Bürokratie seine sieben Köpfe abgeschlagen. Doch meine Zeit ist noch nicht reif. Sehr wichtig für die Bewertung des Musters war, dass der verwendete Stoff sehr teuer, der Schnitt kompliziert und die Herstellung viel Arbeitszeit in Anspruch nimmt. So kommt es zu einem Endverbraucherpreis von einhundertzwanzig Ost-Mark. Sobald Jonas mit dem Musterstück alle Prüfungen bestanden hat und ihm das Zertifikat ausgehändigt wird, kann er wieder die billigen Bettlaken benutzen. Dies steigert den Gewinn auf das Vierfache. Auf dem Berliner Alexanderplatz entsteht vor dem großen Centrum-Warenhaus ein Markt für Hobby-Kunsthandwerker. Hier werden, um das staatliche Sortiment zu erweitern und das Volk zu beglücken, Bilderrahmen, Keramik, Klamotten, selbstgebauter Schmuck und vieles mehr angeboten.

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Grundlage dieser legalen Hobbytätigkeit ist ein Hauptberuf, um den Behörden nicht aufzufallen. Sogenannte Elemente ohne festen Job werden von den Staatsorganen gern wegen asozialen Lebenswandels abgeurteilt und weggesperrt, oder noch schlimmer: zu inoffizieller Mitarbeit als Spitzel des Geheimdienstes gepresst. Jonas ist nicht doof, sondern mit allen Wassern des Märchenbrunnens gewaschen. Bei einem treuen Freund pro forma als Haushaltshilfe eingestellt, bekommt mein Schlawiner nie Stress mit den Offiziellen, geschweige denn mit den Schlapphüten der Geheimen. Er muss lediglich formlos beim Finanzamt den angeblich mageren Gewinn angeben und seinem fingierten Arbeitgeber die monatlichen Unkosten der Sozialbeiträge in Höhe von fünfzig Ostmark zurückerstatten. Diese lächerliche Summe ist bei einem Umsatz von zehntausend Mark pro Woche ein Witz. Das einzig unangenehme an der ganzen Geschichte ist, dass die Menschen in der Provinz keine Bettwäsche zu kaufen kriegen, da ein Großteil der Ware von Modemachern wie Jonas zerschnitten und vernäht wird. Die Herstellung der Mangelware ist in jener Zeit das Geheimnis seiner finanziellen Sorglosigkeit. Für mich hat mein Traumtänzer immer noch keine Augen. Ich höre in meiner Bärenhaut das Gras zwischen den Grenzposten wachsen und sehe den Schimmel auf der Mauer erblühen. Kurioserweise habe ich letztes Jahr, also dreißig Jahre später, eine ältere Dame auf Usedom getroffen, die mit ihrem Löwenkopf-Shirt über den Boulevard flanierte. Ich dachte, ich sehe nicht recht, aber der Druck war so gut wie nicht verblasst – nur das Rosa, das sah schon etwas schäbig aus. Ich bin weiterhin oft allein an den Tagen und Abenden, denn mein angehender Puppenspieler ist jetzt immer häufiger mit den verrückten Chaoten des Musik-Undergrounds unterwegs. Die DDR-Avantgarde, bestehend aus Malern, Fotografen, Dichtern, Musikern, Puppenspielern, Performance Künstlern, Keramikern, Modeschöpfern und Super-8-Filmern, findet im maroden Kiez des Prenzlauer Bergs einen äußerst nährreichen Boden. Entweder werden gleich die eingerichteten Wohnungen der Ausgereisten übernommen oder heimlich leerstehende Wohnungen aufgebrochen und mit Möbeln aus dem Sperrmüll vollgestellt. Zuvor erkundigt man sich bei Bekannten, die auch im Haus wohnen, wie hoch deren Miete sei und überweist eine ähnlich hohe Zahlung auf das Konto der KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung).

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Ein halbes Jahr später kann man die Bude auf dem Amtswege legalisieren, indem man anhand der Einzahlungsquittungen nachweist, dass man die Wohnung zu Recht behaust. Dieses Prinzip funktioniert sehr gut und lassen Ost-Berlin, Halle, Dresden, Leipzig, Erfurt, Jena und andere Städte zu Gärten voller Wildwuchs erblühen. Es gibt illegale Punkkonzerte auf Dachböden und Hinterhöfen, in den Seitenflügeln wird geprobt, auf den Dächern des Prenzlauer Bergs gefrühstückt. Es fühlt sich großartig an und riecht an allen Ecken und Enden nach Rebellion der Jugend. Für meinen Schützling beginnt sich das Leben grundlegend zu ändern, als Paul Landers, der damalige Gitarrist der Punk-Formation „die Firma“ ihn fragt, ob er die Band zu einem Gig nach Eisenach kutschieren kann. Fellbacke, der damalige Manager, der gleichzeitig als Fahrer und gelegentlicher Feuerspucker fungiert, ist erkrankt. Sein Auto steht ebenfalls nicht zur Verfügung und so stellt sich mit dieser Frage die Weiche der Zukunft. Mein Siebdrucker fängt an, die Macht der Bühne zu spüren und folgt unweigerlich ihrem Ruf. Er verdingt sich mehrere Jahre aus reinem Spaß am Vagabundieren und beginnt das Leben auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu studieren. Das erste Konzert der „Firma“ erlebt Jonas ganz normal, wie jeder angereiste Freak aus dem Blickwinkel des Zuschauerraumes. Er sieht auf der Bühne das glühende Feuer des Aufruhrs. Tatjana Flamminger ist die Speerspitze der Formation, ein vor Kraft und Energie nur so sprühendes, rothaariges, weibliches Wesen. Sie singt so eindrucksvoll mit tiefer, durch Mark und Bein gehender Stimme, dass der ganze Saal tobt. Bei einem „Firma“-Konzert in der Zionskirche überfällt eine Horde rechter Glatzen die Besucher. Die etwa zwanzig Mann starke Truppe schlägt gnadenlos zu und prügelt die Punks zusammen. Die Polizei greift nicht ein und reibt Herrn Korruptus die Hände. „die Firma“ gelangt in der Szene schnell zu Ruhm und zu einer treuen Fangemeinde, die sich rasch gegenseitig vermehrt. Beim nächsten Konzert der Band sitzt Jonas schon im Backstage herum, bis ihn plötzlich ohne vorherige Absprache die fuchsrote Königin und Sängerin der Kapelle an die Hand nimmt, ihn nach der Pause wie eine Puppe auf die Bühne stellt, ihm einen Stups gibt und seinem Schicksal überlässt. Er beginnt sich sofort zur Musik zu bewegen und ekstatisch herumzukaspern.

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Leider – oder vielleicht auch Gott sei Dank – gibt es zu jener Zeit noch nicht so viele Fotoapparate, Kameras oder gar iPhones, so dass es wenig authentisches Anschauungsmaterial gibt. Fortan reist er als Performancekünstler, Fettnäpfchentreter und Faxenmacher umher. Seine Markenzeichen sind bis heute mitgeführte alte Koffer, in denen Kostüme, Masken, bedeutungsvolle Requisiten, Pyrotechnik und vieles mehr wohnen. Die Wochenenden der kommenden Jahre 1988-92 stehen im Zeichen der Bands „André und die Raketen“, „Tacheles“, „Freygang“, „die Firma“ und „Ichfunktion“. Jonas ist fasziniert von Paul und Flake, die mit der Magdalene Keibel Combo das wohl lustigste Experiment ihrer Karriere starteten. Der Name ist bestes Beispiel ihrer beliebten Wortspielereien, er setzt sich aus Magdalenenstraße, wo sich die Stasi-Hauptzentrale befand und aus Keibelstraße zusammen, dem Hauptquartier der Ost-Berliner Volkspolizei. Mein Puppenspieler und ich warten noch heute voller Hoffnung darauf, dass diese Combo noch einmal aufspielt und wir davon rechtzeitig Wind bekommen. Sie haben sich niemals aufgelöst und existieren somit noch immer im Verborgenen der ruhmreichen Steine aus dem Osten. Das Messietum von Jonas kennt keine Grenzen, was andere wegschmeißen, nimmt er mit nach Hause. Esther Friedemann liebt Schuhe und rangiert ca. zwanzig Paar aus, um Platz für neue zu schaffen. Große Frauenschuhe, meist mit spitzem Absatz, für meinen Kerl unbrauchbar, aber als Kulisse großartig. Das Trio dreht den Schuhfilm. Flake ist Hauptdarsteller, Paul übt sich als Kameramann und Jonas agiert als Requisiteur und Fahrer eines dreißig Zentimeter großen Autos. Er wirft Flake einen Schuh nach dem anderen an den Kopf, bis der wie Till Eulenspiegel vor einem Schuhberg steht. Plötzlich schießt aus dem Nichts ein ferngesteuertes Auto und jagt den staksigen Keyboarder. Der hüpft wild von einem Bein aufs andere, um von dem kleinen Ding nicht überfahren zu werden. Und wieder einmal ist das Machen wichtiger als das Ergebnis. Pauls Leitspruch „Machen ist immer besser als Nicht-Machen“ nimmt Jonas sich bis heute zu Herzen und impft auch seinen Nachwuchs mit dieser Weisheit. Manchmal macht Impfen Sinn. Paul wird offiziell Haushaltshilfe bei Jonas' Eltern und kann dadurch unbehelligt Musik und anderen Blödsinn veranstalten. Die Szene hilft sich und das, wie man sieht, generationsübergreifend.

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Nächtelang tüfteln Paul und Jonas gemeinsam in der Siebdruckwerkstatt meines Scharlatans an ausgefallenen Unikaten. Sie entwerfen subversiv-doppeldeutige T-Shirts und drucken kleine Serien von drei bis fünf Stück. Ein Motiv wird zum Beispiel aus dem Schulatlas kopiert, es lautet: „Intensives Erleben fremder Länder mit kartographischen Nachschlagewerken von Haack Gotha“. Die Verarscher verarschen, den Hohn verhöhnen und den Druck erhöhen. Zwischen den Zeilen dieses Siebdrucks steht eigentlich schwarz auf weiß: Reisefreiheit! Paul trägt es stolz auf seiner Brust und da er damals schon ein hochkarätiger Bühnen-Mensch ist, sehen es viele Fans und denken sich innerlich grinsend ihren Teil. Der Gitarrist freut sich spitzbübisch über den gelungenen Streich, den Apparat vorzuführen. Auch ein Steckbrief auf Stoff und Papier wird gedruckt, auf dem die Mitglieder der Magdalene Keibel-Combo gesucht werden. Der Clou des Steckbriefes ist, dass unten rechts die Telefonnummer vom Ei zu sehen ist. Das Ei war die kleine Bühne im Friedrichstadtpalast und die zwei haben sich diebisch gefreut, dass da dann vielleicht Leute anrufen, um Angaben über die Combo zu machen und sich das Ei meldet und die Petzen merken, dass sie einer Finte auf den Leim gegangen sind. Dieser Druck erzeugt Verwirrung und erfüllt somit seinen Zweck. Paul erfindet die lachende Bombe der Magdalene und Jonas druckt sie als Kassettencover, Aufkleber und T-Shirt. Die Bands jener Tage elektrisieren die Jugend, sie motivieren, sich nicht alles gefallen zu lassen, und das flächendeckend von Rostock bis Suhl, von Magdeburg bis Frankfurt an der Oder. Die drei großen FFF's und das kleine i spielen jeden Freitag und jeden Samstag vor fünfhundert bis tausend Gleichgesinnten. Mit FFFi sind „Freygang/Firma/Feeling B“ und die „Ichfunktion“ gemeint. Auftrittsorte gibt es genügend, vom privaten Open Air bei Uwe Hager in Steinbrücken, über Dorfkneipen mit Tanzsaal bis hin zu mutigen Kulturhäusern in Potsdam und Klein Posemuckel. Der Untergrund brodelt über und über und wird immer frecher und öffentlicher. Die wenigsten wollen damals den sogenannten Sozialismus stürzen. Alle, die etwas mehr Entengrütze im Kopf haben, wollen das System ändern und ihre kleine, piefige DDR reformieren. Schade drum, wenn man die heutige Entwicklung sieht – alles dreht sich ums liebe Geld.

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Doch Geld ist nicht lieb und spielte damals eine untergeordnete Rolle, da Lebensmittel und Wohnraum vom maroden System subventioniert wurden. Trötsch, der Keyboarder der „Firma“, ist der uneingeschränkte KifferBaron von Ost-Berlin. Er versorgt einen großen Freundeskreis mit Hanfsamen oder gleich mit fertigem Gras, wobei er nie eine Gegenleistung verlangt. Im Gegenteil: Trötsch freut sich höllisch, wenn er mit einem frischen Opfer seiner Kräuter-Destillate Tonaufnahmen machen kann. Er ist ein besessener Klangsucher und experimentiert mit etlichen Musikern jener Zeit in seinem Tonlabor. Seine Ernte wird in wilden Ecken von privaten Gärten an der Ostsee angebaut. Der Apparat interessiert sich nicht für den Drogenkonsum seiner Jugend, oder aber kriegt es gar nicht erst mit, weil letztendlich doch alle dicht halten. Voller Freude denkt Jonas an Key Pankonin zurück, den Retter der Beschissenheit. Key wächst in Marzahn auf, dem Neubaughetto Ost-Berlins, geht sein Leben lang regulär arbeiten und schreibt die vielzitierten „Firma“-Songs „Kinder der Maschinenrepublik“, „Europa“ und „RGM“. Alle Lieder kann man inzwischen auf YouTube hören. Es sind zeitlose Songs, zu denen Jonas ab Herbst 1988 auf der Bühne rumhampelt und provokantes Bildertheater performt. Da der Sänger, genau wie Jonas, aus feiger Dummheit den Dienst bei der NVA antritt, verlässt er nach seiner Wiederkehr aus Gewissensbissen seine Band, da die „Firma“ mit dem Song „… verweigert Krieg, Gewehr!“ inzwischen ein antimilitaristisches Image pflegt. Er gründet zusammen mit dem Gitarristen Tschaka, der Bassistin Evi (Trötschs Schwester) und dem Trommler Jens Uwe Haupt die „Ichfunktion“. Es ist ein Paradies voll schräger Vögel und mir, Zorro dem Bären, bin mittendrin. Tschacka lebt und Eva liebt ihn.

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Reisefreiheit zum Totlachen

Druckmittelverkauf im Dorf-Saal

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Tatjana on stage

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Trötsch im backstage

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Die Firma im Eimer

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v.l.n.r. Trötsch, Tatjana, Jonas (Gast), Faren Mattern, Christoph Schneider, der Guitarrist Richard Kruspe is' grad auf'm Klo

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Paul

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und Flake in der Prenzlauer Allee 188

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Steckbrief

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André Greiner-Pol, Tacheleskonzert im Jojo Club „Das Chaos muss in eine tosende Ordnung gebracht werden“

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Key

Evi

Tschaka

Jens

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Ichfunktion-Aufkleber

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist grober Unfug.

10. Die Scharlatarne Zu jener Zeit trifft mein angehender Bandkasper auf den Stegreif-Poeten Peter Wawerzinek, der im Volksmund S.c.Happy, Doktor der Fröhlichkeit, oder kurz und knapp Schappy gerufen wird. Diesem Mann verdanke ich zwanzig Jahre später in meiner Rolle als verwunschener Bär ein großartiges Comeback in Amerika, aber dazu später mehr in einem der folgenden Bände meiner Lebensgeschichte. Peter und Jonas verbindet bis heute die Lust am Improvisieren. Mit einer Mischung aus Improvisationskomik und gesellschaftspolitischer Provokation agieren sie auf der Bühne mit Utensilien aller Art: Fahnen der deutsch-sowjetischen Freundschaft, FDJ-Hemden, Klopapier, Gasmasken, ein Emaille-Schild bedruckt mit Bananen. Auch benutzen sie symbolträchtige Handzeichen, mit denen man beim Betrachter Verwunderung und Irritation erzeugt. Die Scharlatarne legen sich ungern fest, mal tauchen sie bei der „Firma“ auf, dann wieder bei der „Ichfunktion“, ein Wochenende später als Raketen von Käpt'n Flint alias André Greiner-Pol. Da sie nie einen Anteil an der Beute der Raubzüge verlangen, werden sie auch nie fester Bestandteil jener legendären Bands. Nach einigen Monaten druckt Jonas ein Scharlatarne-Plakat (siehe Buchcover Innenseite), das zugleich als T-Shirt-Motiv fungiert. Allem Darwinschen Affentheater zum Trotze entwickelt sich auf dem Druck der Mensch aus einem Frosch. Mit diesem, vom berüchtigten französischen Kupferstecher Grandville (1782) geklauten Material, bestätigt er die Geschichte des Grimm'schen Froschkönigs. Jonas schreibt Scharlatarne statt Scharlatane, da er der Meinung ist, dass er sich tarnen muss, um keinen Ärger mit der Macht zu bekommen. Man sieht ihn so gut wie nie ohne Maske auf der Bühne. Die Scharlatarne treten immer öfter aus der Dunkelheit ins Rampenlicht. Die beiden Spaßmacher nutzen nach Lust und Laune jede Gelegenheit, um Bühnen, Bands und deren Publikum zu erobern. Legendär ist ein Auftritt in Radebeul mit Matthias BAADER Holst und seiner Band „Frigitte Hodenhorst Mundschenk“.

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Peter und Jonas dürfen als Gäste mit auf die Bühne und lassen ihrer Phantasie freien Lauf. Sie werden von den mitreisenden Fans verwundert begutachtet, von manchen verehrt, von anderen gehasst, in einem Wort: Hanswurst im Doppelpack. Sie werden von Konzert zu Konzert besser, ausgeklügelte Pointen kommen zum Zuge, aus einstigen Peinlichkeiten entsteht DADA-Schock-Theater. Inzwischen werden auch die angefixten Musiker von Jonas maskiert, geschminkt und verkleidet. Aus unbedruckten Restrollen der Zeitung Neues Deutschland werden lange, papierne, ein Meter breite Teppiche quer durch's Maulaffen feilhaltende Publikum gerollt. In diesen Gassen heißt es, sich austoben, ekstatischen Ausdruck tanzen, mit Farbe und Pinsel herumsauen. Einmal begibt es sich, dass mein nun anerkannter Band-Narr einen Hefeteig ansetzt und während laufender Bühnenshow dem Freygang-Sänger eine Gesichtsmaske abnimmt. Die Teigmaske wird sogleich auf offener Bühne in einem herkömmlichen DDR-Toaster gebacken, um dann bröckchenweise das hungrige, nach Abwechslung gierende Volk zu füttern. Brot und Spiele im besten Sinne. Dieser aufklappbare Toaster wird in vielen Wohnungen der Republik als Heizung benutzt, allerdings nur, wenn man auf trickreiche Art den Stromzähler drosselt, zeitweise abklemmt oder vor dem Zähler die Leitung anzapft. Verkleidet mit Gasmaske im Schlafsack, Stahlhelmen, den beiden Theatergewehren aus dem „Jesusfilm“ und einbandagiert in Toilettenpapier für den Song „Biomasse marschiert“ treffen sie vielerorts auf die Grenzen des herrschenden Geschmacks. In der untergehenden DDR groben Unfug anzustellen und darzubieten, war den beiden Freunden, die bis heute behaupten, sich eigentlich nicht leiden zu können, eine willkommene Abwechslung. Im Juli 1989 touren die Scharlatarne zusammen mit dem Comiczeichner Bernd Friedrich nach einem Raketenkonzert in Radebeul durch Nester wie Weixdorf, Radeberg, Aschersleben und Altenburg, bis hin zum legendären Open Air auf der Freilichtbühne Nauen. Unterhalb der Woche tingeln sie auf Dorffesten, in Kneipen, auf Hochzeiten und über Zeltplätze. Gipfel dieser Tour ist der Auftritt in einem Krankenhaus. Der mit Requisiten voll bepackte, ockerfarbene Lada Kombi der Scharlatarne fährt langsam durch Altenburg, eine thüringische Kleinstadt. Der fast nagelneue Wagen, bezahlt mit T-Shirt-Geld, entspricht dem arg entstellten Traum vieler DDR-Bürger.

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Publikum

Scharlatarne interviewen das Publikum

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Open-Air Nauen, Jonas und Schappy

Fans mit Theatergewehren

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Die Scharlatarne

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BAADER, Schappy und Flake

Jonas mit Puppe

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Das Auto ist innen von oben bis unten mit Lackmalstiften bekritzelt. Die Motorhaube ist überzogen mit Siebdrucken des verrückt-genialen Comiczeichners Martin Krönert. Manche Spießbürger des untergegangenen Volkes sind über diese Auswüchse des Sozialismus sehr verärgert und zu Recht verschreckt. Ein Radler fährt vorbei. Auf dem Bürgersteig läuft eine junge Frau. Sie erweckt das Interesse der drei Autoinsassen. Der Puppenspieler wird seiner Funktion als Wahrsager gerecht, fragt die junge Dame mit einem Bluff, ob sie vielleicht Krankenschwester sei und wisse, wo denn hier das nächste Fest, eine Hochzeit oder sonstige Menschenaufläufe stattfänden. Die junge Hübsche fragt keck zurück, woher er denn wisse, dass sie Krankenschwester sei, und dass wir doch auf ihrer Station für die Kranken etwas Unterhaltung aus dem Hut zaubern könnten. Die Herren Spaßmacher lassen sich nicht lange bitten, das Mädchen steigt in die Gauklerkiste und sie fahren gemeinsam zur Spätschicht. Als die Scharlatarne in ein Zimmer der Intensivstation treten, rutschen ihnen fast die Herzen in ihre Hosen. Der Raum ist das Sterbezimmer. Fünf alte Herren warten teilweise apathisch auf den Tod, der vor der Tür die Sense wetzt. Der Porträtzeichner Bernd, dritter im Bunde, setzt sich an eins der Betten und beginnt, einen plötzlich ganz verzückten und aufrecht sitzenden Mann zu malen.

Dr. S.c.Happy bei der Arbeit

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Als dessen Frau später zu Besuch kommt, ist sie tief gerührt über das gelungene Porträt. Dr. S.c.Happy in schwarzem Frack und mit Zylinder auf dem Kopf mimt den Zauberer. Er schafft es wirklich, den vielleicht letzten Wunsch eines Sterbenden nach Bier zu erfüllen, indem er ihm ein Rezept auf ein Bierflaschen-Etikett schreibt. Mit diesem Rezept in der alten, zitternden Hand ruft der Mann sogleich nach unserer Spätschicht-Schwester und wenn das mal kein Zufall ist: Im Kühlschrank befindet sich das ersehnte, letzte Bier. Die Schwestern erlauben, das alkoholhaltige Getränk zu kredenzen, der Mann nippt glücklich einige Schlucke und schläft selig ein. Es würde mich nicht wundern, wenn jener Mann in dieser Nacht mit einem Lächeln im Gesicht für immer entschlafen ist. Der ganz in Bunt gekleidete Narr vergnügt die Kranken mit Kartentricks und wohlwollenden Wahrsagereien aus einer großen Glaskugel. Die Kugel dient in ihrem ersten Leben als Fischerboje im Meer und ist ungefähr so groß wie ein Fußball. Rundum eine gelungene Aufführung, die damit endet, dass Peter vor der Klinik den grölenden, Zigarette rauchenden Gelbsucht-Patienten die Funktion von kuriosen, grellbunten Kondomen aus einem Beate-Uhse-Porno-Shop erläutert. Grellbunte Kondome? Beate Uhse? Die gab's doch gar nicht im Osten! Richtig, aber Jonas konnte sie besorgen. Er ist zu jener Zeit, also ein Jahr vor dem Mauerfall, im Besitz eines gültigen Reisepasses. Er kann problemlos nach West-Berlin und in die BRD aus- und viel wichtiger: wieder einreisen. Wie das ging? Eigentlich sehr einfach. Wie in jedem Land, in jedem Verein oder in jeder Hierarchie gab es auch in der DDR Privilegien. In seinem Falle ist es so, dass beide Eltern, also Mutter und Ziehvater, anerkannte Theaterleute sind, die fest oder sporadisch an Theatern im Westen arbeiten. Der erste offizielle Antrag für eine Reise zum 80. Geburtstag der WestOma in Köln wird von den Behörden wie erwartet ordnungsgemäß abgelehnt. Daraufhin schreibt Jonas unter der Obhut seiner prominenten Eltern einen Beschwerdebrief an Günter Schabowski, den ersten Sekretär der Ost-Berliner SED. Schabowski galt damals schon als gemäßigt und reformwillig. In dem Brief kann man sehr gut sehen, wie doppelzüngig der gemeine DDR-Bürger sich den Spielregeln unterwarf. Der erste genehmigte Pass gilt für drei Wochen, und da Jonas zurückkommt, wird ganz frech ein Jahrespass für die mehrmalige Ein- und Ausreise hinterher beantragt; und siehe da, er wird prompt genehmigt.

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Diese Privilegien für einzelne DDR-Bürger und deren Familien, es betrifft hauptsächlich Künstler, Sportler und Wissenschaftler, also die Intelligenzia, sind mit schuld am Untergang des verschwundenen Landes. Mein Eulenspiegel nutzt den Pass, um Mikrofone, Leerkassetten und ein Vierspur-Gerät in die graue Zone zu schmuggeln, also eine Maschine zum Aufnehmen von Musik, mit der man mehrere Spuren extra aufnehmen kann, um sie dann nach Lust und Laune zu mischen. Trötsch finanziert er ein nagelneues Keyboard „Prophet 2000“, Paul und Flake sind glücklich und experimentieren mit dem Professional-Walkman herum, der von Jonas als Aufnahmegerät für Filmprojekte angeschafft wurde. Irgendwann leidet Jonas unter dem Privileg des Reisepasses und wirft ihn bei einem Konzert der Experimental-Band Tacheles im Lindenpark zu Potsdam ins Publikum. Er will mit dieser Aktion demonstrieren, dass jeder Bürger dieses Recht haben soll. Nach drei Tagen übergibt ihm sein Freund Hartmut Beil, der Fotograf, den Pass, der ihm wie ein Bumerang zurück an den Schädel fliegt. Welche verschlungenen Wege der Pass in diesen drei Tagen durchläuft, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Es dauert noch einige Monate und die Mauer fällt tatsächlich. Wer hätte gedacht, dass ein Funktionär der Partei durch einen Formfehler die Mauer überstürzt, öffnet und sich und seinen Apparat für immer verschwinden lässt – nicht einmal ich in meinem Koffer! Während ihrer Tour geben sich die Scharlatarne tagsüber als Recherche-Team der beliebten Sendung des DDR-Fernsehens „Außenseiter – Spitzenreiter“ aus und machen die wohl lustigsten Recherchearbeiten aller Zeiten. Das Format der echten TV-Sendung besteht darin, außergewöhnliche Hobbys und Begabungen, nicht alltägliche Erfindungen oder ungewöhnliche Rekorde der Republik für die Zuschauer zu dokumentieren. Die Moderatoren klingeln unangemeldet bei den betreffenden Personen, welche meist heimlich aus dem Bekanntenkreis per Postkarte an den Sender empfohlen wurden. Nicht einmal gab es Zweifler, jeder der genarrten Protagonisten gibt stolz Auskunft und spreizt sich vor dem falschen Kamerateam. Leider war fast nie ein Film in der guten alten Super-8-Kamera und in dem Walkman nie eine Kassette, wenn Dr. S.c.Happy die Menschen interviewt und Jonas sie filmt. Das Gegenteil von versteckter Kamera – so tun, als ob man dreht. Jeder Mensch soll sich laut Andy Warhol wenigstens einmal im Leben für einige Momente als Star fühlen.

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Es wird für den Fährmann auf der Fähre von Sandau und für die Affen im Zoo von Aschersleben gegaukelt, es wird der Bauer mit der größten Sau der DDR gekürt und ganzjährig nachwachsende Erdbeertorten in Kühlschränken vermutet. Das selbstgedruckte Tourplakat kann man auf der Innenseite des Buchcovers sehen, sogar in Farbe. Die beste Story fand wie folgt statt: Die Scharlatarne landen zur Nachmittagszeit in einer Kleinstadt. Sie parken unauffällig ihr buntes Auto im Abseits und schlendern voll ausgerüstet mit Kamera und Micro zum Marktplatz. Mal sehen was passiert. Plan A: das Unvorhersehbare einfangen. Sie treffen auf den gut frequentierten Eisladen und da eine große Linde vor dem Eingang wächst, heißt der Laden folgerichtig „Café zur Linde“. Man kann drinnen und draußen schlemmen, die Sonne scheint, an der Luke für den Straßenverkauf steht eine lange Schlange. Auf der Terrasse stehen vier Tische, alle besetzt, der Baum spendet wohltuenden Schatten. Die drei haben Appetit auf Eis, aber keine Lust, sich an das Ende der Schlange zu stellen. Jonas kommt auf die Idee, sich als Filmteam zu outen und gleich am Kopf der Schlange zu hinterfragen, ob es denn auch ein Lindenblüten-Eis gäbe, um dabei dann gleichzeitig ein schnelles Eis zu bestellen. Peter ist begeistert, Bernd wird die Sache langsam zu albern, er beobachtet die Szene lieber aus dem Abseits. Jonas: „Schönen Guten Tag, dürfen wir kurz stören? Außenseiter – Spitzenreiter, wir haben Post bekommen und hätten da mal eine Frage.“ Wie von Zauberhand weicht die Schlange neugierig beiseite, macht Platz und verwandelt sich in eine Traube, keiner murrt gegen die Drängler. Verkäuferin: „Ach wie nett, Sie hatten wir ja noch nie in unserer Stadt, ich verpasse keine Ihrer Sendungen! Wo ist denn der Herr Moderator, ist er krank?“ Peter pariert ohne zu zögern: „Nein nein, dem Herrn Wolfram geht es gut, wir sind nur das Recherche-Team mit kleinem Besteck, der Übertragungswagen kommt in drei Wochen mit den großen Kameras.“ Jonas verkneift sich das Lachen. Verkäuferin: „Ja, was kann ich für sie tun?“ Peter: „Nun, wir haben letzte Woche eine Zuschrift bekommen, uns wurde mitgeteilt, dass es bei Ihnen demnächst Lindenblüten-Eis geben soll.“

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Die gute Frau stutzt für einen Moment und Jonas setzt nach: „Wir vermuten, dass es gut gegen Erkältungen sein soll, wir würden das gern testen, koste es, was es wolle, wir sind extra aus Berlin gekommen.“ Die Verkäuferin zweifelt für den Bruchteil einer Sekunde, sieht aber die Schmalfilmkamera auf sich gerichtet und das Mikrofon vor ihrer Nase und antwortet: „Oh das tut mir leid, heute haben wir leider nur Schoko, Vanille und Erdbeereis, aber sagen sie, wer hat Ihnen das verraten?“ Peter: „Das dürfen wir Ihnen leider nicht sagen, sie kennen ja unsere Sendung, das muss geheim bleiben, aber ich darf Ihnen verraten, der Hinweis kommt von einem Ihrer Kunden.“ Jonas: „Können sie uns denn jetzt schon etwas über das Rezept verraten?“ Die Frau will nichts falsch machen und sagt: „Warten sie einen Moment, ich frag mal meinen Mann, ich bin bloß für den Verkauf zuständig.“ Sie verschwindet aufgeregt in ihrem Häuschen. Die zur Traube mutierte Schlange wispert, murmelt und die Geschichte nimmt unweigerlich ihren Lauf. Bernd behält mit seiner Sonnenbrille die Fluchtwege im Auge. Sie kommt wieder und sagt: „Ja, wir sind dabei, ein Eis aus dem Extrakt der Lindenblüte zu entwickeln und wie sie schon richtig bemerkt haben, es soll unsere Bürger vor Grippeerkrankungen schützen.“ Die Schlange ist inzwischen doppelt so lang, gafft mit offenem Mund und schlackert mit den Ohren. Peter: „Hm, was können wir denn dem Herrn Moderator ausrichten, wann sind sie denn soweit?“ Die arme Frau windet sich: „Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber wir bleiben dran, sie sehen ja selbst, wie viel Arbeit vor der Luke steht, da bleibt wenig Zeit für Experimente. Möchten sie vielleicht erst einmal ersatzweise unsere anderen Sorten probieren?“ Peter und Jonas strahlen und wie aus einem Munde sagen beide: „Ja, aber sicher doch gute Frau, könnten wir bitte je drei Portionen verkosten, ach und ihr Kaffee soll ja auch spitzenreitermäßig sein.“ Die Frau entkrampft sichtbar und ist froh, wenn der Spuk vorbei ist, der Ruf gerettet, das Geschäft weiter boomt: „Aber gerne doch, Günther, macht doch mal Platz da, ihr seid doch bestimmt schon fertig!“ Eine Familie mit zwei Kindern räumt ihr Geschirr ab und macht widerwillig Platz. Jonas zückt sein Portemonnaie und will zahlen: „Lassen sie nur, das geht auf's Haus, lassen sie's sich schmecken und nichts für ungut, das mit dem Lindenblüten Eis dauert noch ein paar Wochen.“

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Mein Schalk bedankt sich höflich im Namen der Truppe und nimmt Peter das Mikro aus der Hand, damit der das vollbeladene Tablett tragen kann. Bernd traut sich an unseren Tisch und Peter ruft laut: „Ah, da kommt ja auch schon der Herr Produktionsleiter, kommen sie Herr Friedrich, es gibt Kaffee und Eis, leider ohne Lindenblüten, aber das wird noch.“ Die Schlange ist inzwischen auf das Dreifache angewachsen und tuschelt, was das Zeug hält. Eine mutige Zwölfjährige kommt an den Tisch und lässt sich ein Autogramm geben. Peter malt ihr ein Bildchen auf die Serviette und alle drei Ganoven unterschreiben. Sie lassen sich das freundliche Bestechungsmahl schmecken und interviewen im Anschluss die umherstehenden Kinder, ob sie denn bei Schnupfen Lindenblüten-Eis essen würden. Die Kinder schütteln den Kopf und damit die Sache nicht doch noch auffliegt, verlagert Peter das Thema auf Bier. Er fragt, wieder mit seinem Mikro bewaffnet die Männer am Nebentisch, ob sie grünes Bier trinken würden, es gäbe da gerade in Berlin eine Testproduktion, die in den Kaufhallen angeboten wird. Die Männer steigen ernsthaft ins Gespräch ein, diskutieren darüber, ob normales Bier besser aus braunen oder grünen Flaschen schmecke und nein, sie hätten noch nicht von der neuen Sorte gehört und es gäbe ja heutzutage alles Mögliche, wie zum Beispiel Apfel-Cola und Apfel-Shampoo. Einer der Vieren sagt: „Wenn es das Zeug umsonst gibt und es nicht nach Apfel (lautes Gelächter) schmeckt, würde ich's probieren, immer her damit, Hauptsache es dreht“, und er ruft zur Eisverkäuferin: „Helga, mach mal ein paar Kurze klar für uns und die Jungs vom Fernsehen.“ Die anderen drei winken ab, tippen sich mit dem Finger an die Stirn und meinen: „Watt die da oben sich nur wieder ausdenken, nichts als Unfug!“ Recht haben sie und die Zeit gerät wie im Fluge noch weiter aus der Fuge. Waoh, ich glaub es nicht, ich scheine einen heißen Draht ins Jenseits zu besitzen. André meldet sich persönlich zu Wort.

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Jenseits, 24.12.2022 Hallo Herr Thaler, hey Zorrobär, Leider bin ich schon gestorben, ich hoffe, ihr Schwätzer da unten hört trotzdem noch meine Songs. Ich habe von hier oben gute Einblicke in euer Treiben und will auch eine kleine Episode beitragen, schreibt sie einfach ab aus meinem Buch „Peitsche Osten Liebe“, ist 2000 bei Schwarzkopf erschienen, Seite 177, da steht 'ne lustige Story drin. Zitat: „Schappi und Jonas waren eine Zeitlang ein Duo. Schappi Wawerzinek kommt aus Rostock und ist mir auf diversen Partys in Berlin bekannt geworden. Wir begegneten uns das erste Mal um 1987. Das war auch die Zeit, als ich Jonas Soubeyrand kennenlernte. Jonas ist ein Filou. Er war oft mit uns auf Achse und umrahmte unsere Auftritte mit ausgeflippten Shows. Im Sommer '90 machte er mit Schappi eine Rundreise durch die DDR. Sie sangen als Wanderschauspieler in Kneipen und Altersheimen fröhliche Lieder oder unterhielten die Bauern als Gauklerduo mit derben Späßen. Die folgende Anekdote finde ich besonders beeindruckend. Schappi und Jonas traten im Bezirk Schwerin in irgendeiner Bauernkneipe auf. Nachdem sie ihre Nummern durchgezogen hatten und die Leute richtig heiß waren, holten sie eine Pornogummipuppe aus dem Koffer. Schappi hat mir das so plastisch geschildert, dass ich die Traktoristen förmlich vor mir sehe, wie sie zu Kindern werden und der Reihe nach zum Wettbewerb antreten. Wer schafft es, Baby Doll zum Zerplatzen zu bringen? Die Kandidaten bliesen also einer nach dem anderen, voller Eifer in die Puppe. Vor Anstrengung traten ihnen die Adern und Augen aus den Gesichtern. Einer musste von zwei Kollegen festgehalten werden, weil ihm schwindelig wurde. Ein anderer stolperte, schlug sich den Kopf am Kachelofen auf. Die Probanden wurden von dickbusigen Bäuerinnen angefeuert. Da kam von hinten ein Hüne mit stählernem Blick und meldete sich zum Kampf. Er setzte das Ventil an, ohne die Miene zu verziehen. Die Meute verstummte, als die Puppe auf das Doppelte ihres Volumens anschwoll und die Gestalt eines unförmigen Klumpens annahm. Gleich musste sie platzen. Da unterbrach der Hüne.

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Er drückte das Mundstück mit Daumen und Zeigefinger zusammen und verschnaufte. Über sein puterrotes Gesicht rann der Schweiß. Dann holte er noch einmal tief Luft, bückte sich und pumpte mit voller Kraft seine Lunge in die Gummipuppe. Er strengte sich so sehr an, dass die Naht seiner blauen Arbeitshose platzte. Da löste sich das Ventil von der Puppe und sie flog kreuz und quer durch die Kneipe. Schließlich landete sie als schlaffe Haut auf dem Tresen. Der Hüne stieg mit Siegerpose auf einen Tisch und spuckte lässig das Ventil in die Menge. Sicherlich zehrte die Dorfgemeinschaft noch lange von diesem Ereignis.“ (Zitatende) Unser Tacheles sieht ja inzwischen ziemlich nach Yuppie-Scheiße aus, ich wünsche euch noch viel Spaß beim Tanz auf dem rollenden Fass. Rock ‘n‘ Roll und bis bald hier im Jenseits – wir treffen uns alle wieder! Hier ist Platz ohne Ende und Zeit und Geld spielen keine Rolle mehr, aber sag mal dem nächsten, der geht, er soll mal 'ne Pulle Whiskey mitbringen, so was gibt's hier kaum, sitze mit Aljoscha und Trötsch auf dem Trockenen. Nein Quatsch, war ein Scherz, hier braucht man nichts, wir schweben in Luft und Liebe … André Greiner-Pol

Andrés Visitenkarte in Geheimsprache

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist die Magie des Moments

11. Der Zauberring und das traurige Blauhemd Jonas' Ziehvater Christian Grashof dreht Mitte der siebziger Jahre bei der DEFA den Fernseh-Mehrteiler „Broddi“. Es geht in dem Film um die deutsch-sowjetische Freundschaft, um Aluminium, Dreiecksliebe und sozialistische Planwirtschaft. Drehort ist im dritten Teil der heiß umstrittene Berg Ararat in Armenien. Nein, halt! Stopp, keine falschen Lügenmärchen über heißumstrittene Grenzregionen! Der Ararat liegt heute in der Türkei und ist dennoch das Nationalsymbol des ehemals sowjetischen Nachbarlandes. Mit dem Völkermord von 1915 wurden die Armenier nicht nur fast ausgerottet, ihnen wurde auch gleich noch ihr Berg gestohlen. Der Ararat war im Staatswappen der Armenischen SSR und ist auch heute noch im Wappen Armeniens abgebildet. Die Türkei protestierte mit dem Hinweis, dass der Berg auf türkischem Territorium liege und deshalb nicht von Armenien vereinnahmt werden dürfe. Verrückt. Beide Völker bestehen aus Menschen, die die Erde bewohnen. Sie streiten sich bis heute um die Hoheit. Wieso, weshalb, warum? An diesem Berg soll laut Bibel nach der großen Sintflut die Arche Noah gelandet sein. Wenn man sich die Satelliten Aufnahme des Bergs von oben ansieht, könnte man der Geschichte glauben. Während der Dreharbeiten wird für eine Filmszene ein großes Gelage der Genossen eingerichtet und abgelichtet. Zum Feierabend werden die Reste gegessen und nicht nur Wasser getrunken. Es wird mit den armenischen Kollegen gefeiert. Feiern am Abend, erquickend und labend. Irgendwann nach der dritten Flasche Wodka beginnt die glückselige Verbrüderung des Alkohols. Gregori Aram, einer der Beleuchter, nimmt mit schwerer Zunge seinen dicken Silberring vom Finger und schenkt ihn Broddi, dem Protagonisten des sozialismuskritischen Dreiteilers. Er sagt nur: „Это кольцо Нoa, кольцо Нoa!“, was so viel heißt wie: „Das ist Noahs Ring, Noahs Ring!“ und der Georgier steckt ihn dem verdatterten Schauspieler auf den Finger. Der Ring sieht sehr alt aus und umfasst einen wertvollen Edelstein.

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Broddi kommt nach einigen Wochen wieder nach Hause geflogen, da die Szene nur kurz und somit schnell im Kasten ist. Er hat einen dicken Pelzmantel mitgebracht, den dicken Ring und eine halbwegs dicke Gage. Jonas ist von Anfang an scharf auf den Ring, er bettelt mit den Augen und irgendwann schenkt ihm Chris das Objekt der Begierde. Jonas hütet ihn über zehn Jahre wie seinen Augapfel. Er versteckt ihn in seiner Schatzkiste. Ich beobachte den Pubertierenden dabei, wie er ihn ab und an rausholt, ihn poliert und durch den Edelstein in die Sonne schaut. Als ob er ahnt, dass dieser Ring aus feinstem Silber ein magischer ist. Uckermark, den 1.Mai 2023 Sehr geehrter Herr Thaler! Vielen Dank, dass Sie mir Ihren Debütroman vorab zum Lesen gaben. Ich hatte bisher nur eine vage Ahnung, was Jonas rund um den Mauerfall erlebt hat. Was meine Dreharbeiten zu „Broddi“ anbelangt, muss ich Sie leider korrigieren, scheinbar haben Sie bei unserem letzten Gespräch nicht alles richtig notiert. Der Mann, der mir den Ring schenkte, war nicht Georgier, sondern hieß einfach nur Gregori und war Armenier. Eigentlich ist es aber unwichtig, lassen Sie es einfach so, wie Sie es geschrieben haben. Wodka haben wir übrigens auch nicht getrunken, da die gesamte Filmproduktion von russischen Apparatschiks überwacht wurde und die hatten kein Interesse daran, dass die Armenier mit uns in persönlichen Kontakt kamen. Dass Gregori den Ring vom Finger nahm, mir schenkte und etwas von Noah erzählte, kommt allerdings nah an die Wahrheit. Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen und freue mich über ein Belegexemplar. Mit freundlichen Grüßen Christian Grashof

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Im Herbst 1988 ist es soweit, ich habe Jonas in seinen Träumen instruiert, habe ihm erklärt, dass es an der Zeit ist, den Ring zu verschenken, an einen Meister, der seiner wert ist. Bevor Jonas ihn dem Freygang-Sänger überreicht, kommt der alte, weise Zauberer persönlich vorbeigeflogen. Es donnert und es blitzt am Traumhimmel und Merlin erscheint: „Hey Bärchen, zeig mir den Ring!“ Und ich renne los und hole ihn aus der Kiste: „Hier Merlin, hier ist er.“ Der Zauberer nimmt den Ring, hält ihn unter sein Auge wie unter eine Lupe und sagt: „Gott sei Dank, er ist es, es ist der Ring von Noah!“ Er hebt seine Arme, schwingt den Zauberstab und blubbert murmelnd vor sich hin: „Uwagalaweia, uwagalaweia, drei Wünsche leg ich in den Ring des Noah, wer reibt am Stein, der legt den Keim! Sim salah bim Ara ara Ara-rat nichts läuft ohne Quaksalat!“ Man kann sich das als moderner Mensch wie folgt erklären: Der Ring ist wie ein USB-Stick, er ist nur das Medium, auf dem Leute wie Merlin Zaubereien speichern können. Auch diese Zeremonie darf Jonas im Traum mit durchleben, immerhin soll der Bursche wissen, wovon er reden wird. 12. Mai 1988 – André hat Geburtstag und wird sechsunddreißig, bestes Alter, um vom Leben noch was zu wollen. Jonas ist eingeladen zu einer Geburtstagsrunde im engsten Kreis. Er steckt seinem Idol das Zauberwerk an den Ringfinger der rechten Hand und sagt: „Hier Majestät, mein Geschenk an Euch, dieser Ring kommt vom Ararat, einem magischen Berg in Armenien, aber Vorsicht, er kann drei Wünsche erfüllen! Nicht mehr und nicht weniger. Reibt einfach an dem Stein und sprecht in Gedanken den Wunsch aus, überlegt aber genau, wofür ihr ihn nutzt und passt auf, dass die Wünsche klar formuliert sind.“ André lacht ungläubig, die Angelegenheit ist ihm nicht geheuer. Er weiß, dass Kinder und Narren oft die Wahrheit sprechen. Der echte Klopper gefällt ihm, er fühlt sich gut an und passt wie angegossen. „Sieht nach was aus“, meint Tatjana. „Besser als der ewige Totenkopf des Rock 'n' Roll.“ Das mit den Wünschen nimmt André erst nicht ernst, mit der Zeit entwickelt der Ring jedoch eine Eigendynamik, manche Menschen reagieren achtungsvoller auf den Sänger als sonst.

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André wird gerade von den staatlichen Stellen mit einem endgültigen Berufsverbot belegt. Bis an sein Lebensende soll er nicht mehr auf die Bühne dürfen. Im Herbst desselben Jahres äußert der König seinen ersten Wunsch und reibt an dem Stein: „Ich will Musik machen, meine Lieder singen, mit meiner Band auf der Bühne vor meinem Publikum stehen!“ Prompt kommt am nächsten Tag ein Anruf von Uwe aus Steinbrücken: „Du, André, wir brauchen dich hier dringend, die Leute wollen nur dich, die anderen Combos werden ignoriert, mir ist egal, ob du verboten bist, denk' dir 'nen neuen Namen aus, Steinbrücken ist 'ne Privatparty, kannst kommen, mit wem du willst.“ Da freute sich der König und gründet die Band „André und die Raketen“. Mit dabei: Tatjana am Bass, Trötsch am Keyboard, ein Saxofonspieler, wechselnde Trommler und ganz wichtig: die Scharlatarne als Performer zur Untermalung der Show. Kein Kulturfunktionär greift ein, die Raketenband geht bis zum Mauerfall voll ab. André findet Gefallen an dem Gedanken, sich im richtigen Moment was wünschen zu können, er überlegt hin und her, was ihm und den anderen Menschen helfen könnte. Auf diesen Moment wartete ich seit Wochen. Ich steige in seinen Traum und flüstere ihm ins Ohr: „Mein zweiter Wunsch lautet: Die Mauer soll weg! Für alle!“ André reibt unbewusst an dem Stein seines Ringes, als er das denkt, was er gestern träumte. Die Staatsorgane genehmigen ihm prompt den Besuch zu seiner Mutter, die schon vor Jahren in den Westen geflohen war. Herr Korruptus und seine Bande hoffen, der Störenfried bleibe da und melde sich künftig beim Arbeitsamt, um den größeren deutschen Staat doch noch in die Knie zu zwingen. Er schaut sich zwei Wochen den bunten Westen an und ist froh, als er wieder in der Zone ist. „Das ist da drüben nicht so geil wie hier, glaubt mir, die sind alle steif und gelangweilt und ohne Kohle macht es überhaupt gar keinen Spaß“. Jonas mit seinem Pass weiß nur zu gut, wovon sein König redet. André wird von der Szene noch schiefer als sonst angesehen. Das Motto der Trittbrettfahrer und ewigen Neider heißt: „Der Pol war im Westen und ist wiedergekommen, wie blöd kann man nur sein“ – Andrés „Ihr könnt mich mal“-Aufkleber hängen bereits an vielen Türen der Szene, in Kneipenklos und an Laternenmasten, für Schwätzer und für Staatsdiener.

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André ist schlau, er erfindet ein Alphabet aus geheimen Zeichen und Jonas druckt ihm Visitenkarten: P steht für Peitsche, O für Osten und L für Liebe. So buchstabiert der Sänger fortan seinen Nachnamen und veröffentlicht unter dem Titel „Peitsche Osten Liebe“ im Jahr 2000 seine vergriffene Biografie. André wird vorsichtiger mit dem Ring, zumal nur noch ein Wunsch frei ist, zumindest wenn es stimmt, was der Narr ihm gesagt hat.

André mit Zauberring

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Er überlegt, Geld interessiert ihn nur soviel, dass es zum Leben reicht, das schafft er auch ohne Zauberei. Ewiger Ruhm ist ihm auch sicher, mit ein paar Schallplatten, einem Buch und immerhin neun CD-Scheiben feinster Musik. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach und die Angst vor dem Tod. Den letzten der drei Wünsche löste er unerwartet ein paar Jahre zu früh ein. Er weiß genau, er will kein dahinsiechender Alter werden, kein Museumsstück des DDR-Undergrounds, lieber einfach so aus dem Leben gerissen werden, ohne Vorankündigung sterben, bevor man ein Sozialhilfefall wird. Und genauso kommt es. André stirbt mit sechsundfünfzig, einfach so von heut' auf morgen, kurz und schmerzlos an einem Herzinfarkt, in einer Zeit, als die Säle des Rock 'n' Roll immer leerer werden und Techno die Straßen Berlins erobert. Die Menschen haben keine Zeit, kein Geld und keinen Bock mehr auf Livemusik. Die Trauer, das Leid und die Last seines frühen Todes trägt nicht nur Delia, die hinterbliebene Liebste und seine Tochter, sondern auch die Musikerkollegen und vor allem seine treuen Fans. Andrés steile und geile Lieder leben weiter. Ihr solltet sie auch einmal hören, das Netz ist voll mit kleinen und großen Fischen, mit kleinen und großen Songs von Freygang. Zurück nach Nauen zum Open Air 1989. Die Scharlatarne erscheinen pünktlich wie verabredet um vierzehn Uhr zum Soundcheck auf der großen Freilichtbühne. Die Kleinstadt liegt in der Nähe von Potsdam und ist vom Prenzlauer Berg aus nur zu erreichen, indem man komplett um West-Berlin herumfährt, also eine halbe Weltreise für die Kollegen. Die Musiker und seine Majestät André der I. trudeln nach und nach ein. Die Bands laden ihre Verstärker aus, bauen auf und verstöpseln das Wirrwarr ihrer Kabel. Jonas und Peter erholen sich von ihrer anstrengenden Extratour und schlafen auf einer Wiese hinter der Bühne. Das Konzert soll um 18 Uhr beginnen, ab 17 Uhr ist Einlass. Erste Band des Abends ist die „Ichfunktion“ und da sie die jüngste Band im Boot ist, bekommt sie die Rolle des Vorheizers. Key, Evi, Jens und Tschaka kämpfen sich mit großer Spiellaune durch ihre Songs. Der harte Kern der Fans tanzt schon, ein Großteil sitzt noch auf den Bänken, die sich wie in einem Amphitheater aufsteigend im Halbkreis vor der Bühne befinden. Am Getränkeausschank formieren sich lange Schlangen, die Fans kennen sich und man fällt einander freudetrunken in die Arme, die Sonne scheint, Bombenleger-Wetter.

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Die haben sich mit Masken dekoriert und flanieren durch die friedliche Masse, die aus einer Mischung aus Hippies, Punks und normalen Bürgern besteht. Dass keine der anwesenden Gruppierungen sich gegenseitig die Fresse poliert, ist übrigens einer der großen Verdienste seiner Majestät André. Das Rezept ist simpel, aber funktioniert: Mische den Blues mit etwas Punkrock, nimm dir eine junge wütende Punkband dazu, am besten gleich zwei, und alle sind glücklich. André erhält von seinen Spöttern den Beinamen Punker-Pol und liegt voll im Trend der Zeit. Die anwesenden Musiker der Großfamilie sind Feuer und Flamme, heiß auf ein geiles Konzert, bereit für eine schmale Gage und ein paar Getränke-Bons drei Zentimeter über dem Boden zu schweben. Die Ordnungshüter tragen wie immer bei solchen Veranstaltungen das ungeliebte blaue Hemd der FDJ, am Arm eine rote Binde, darüber die aufstrebende Sonne. Die meisten der Angereisten folgen jedes Wochenende ihrer Band und kennen die beiden Maskierten bereits und wissen, da gibt es heute neben ihren Lieblingssongs noch gut was zu sehen. Die Konzerte der Bands funktionieren auch ohne die beiden Spaßvögel, aber mit ihnen ist die ganze Nummer noch einen Zacken schärfer. Der Rocker-König bestimmt, dass die beiden heute nur in seinem Set mitspielen und nicht schon vorher ihr Pulver verschießen. Umbaupause. Als nächstes spielt die Raketenband und Andrés unsichtbare Krone ist zu jener Zeit eine schwarze Melone, er sieht gut aus, gekleidet wie ein Rock 'n' Roll-Clown mit einer bunten, von Tatjana selbst genähten Jacke, seiner gestreiften Lieblingshose und einem Walfisch-T-Shirt. Die Stilisierung zum Piratenkapitän, zu der er nach dem Fall der Mauer einen Dreizack auf der Bühne trägt, ist noch nicht reif. Die Umbaupausen sind relativ kurz, da die Großfamilie sich ihr Equipment teilt, oder besser gesagt, alles, was da ist, auf der Bühne steht und bei Bedarf benutzt werden kann. „André und die Raketen“ ist ein Projekt, das es nur ein Jahr gibt und wechselnde Musiker vereint. Die Scharlatarne sind fast immer dabei, da sie als Raketen zum Gesamtkonzept des Spektakels gehören, Tatjana zupft wacker mit ihrer Hexenmaske den Bass und selbst Trötsch, der Muffel, lässt sich bereitwillig von Jonas hinter seinem Keyboard maskieren. Die Trommler wechseln häufiger, heute ist Antek, der König aus Hermsdorf, am Schlagzeug. André als Frontschwein singt seine Freygang-Songs. Wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, spielt er sogar auf seiner Teufelsgeige.

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Während des Soundchecks hat Jonas mit Hilfe der Band die große handbemalte Leinwand in den Hintergrund der Bühne gehängt. Das Ding ist ca. vier mal acht Meter lang und aus schwarzem Stoff. Auf ihr sieht man ein Comicbild. Ein Raketen-Raumschiff schwebt über der Erde, auf dem lauter bekloppte Affen herumrennen und sich wundern. Das Bild wurde von Martin Krönert auf speziellen Wunsch der Band gemalt und in einer Wochenendaktion in mühseliger Kleinarbeit per Hand vergrößert und abgekupfert. Der staatlich verbotene Freygang-Sänger hat das Talent, wie ein Dirigent das Chaos und die unterschiedlichen Strömungen zum Toben zu bringen, das gierige Publikum frisst ihm begeistert aus der hohlen Hand und das, obwohl er es oft wütend als Schwätzer und Weicheier beschimpft. Am liebsten performen die Scharlatarne den Song „Das rollende Fass“. Sie wickelten sich gegenseitig in Klopapier ein, stülpten sich eine Gasmaske über den Kopf und marschieren mit Maschinenpistole im Gleichschritt über die Bühne, sie schießen heiße Luft ins Publikum und die Punks rasten aus. Höhepunkt eines jeden Raketen-Konzerts, das im Freien stattfindet, ist natürlich eine echte Rakete. Jedes Jahr zu Silvester kauft Jonas vorsorglich Böller, Raketen und Fontänen ein, allerdings nicht um sinnlos mit den anderen Knallköpfen das alte Jahr zu verjagen, sondern um für den Kampf gegen das System gewappnet zu sein. Das macht er übrigens heute noch so und jedes Mal, wenn ich das magische Schwert aus dem Stein ziehe, fliegt mit viel Getöse eine Rakete in den Himmel. Schappy, also Peter, hat in Nauen eine Badekappe auf, die er sich bis über die Augen zieht. Die Badekappe ist bedruckt mit der DDR-Fahne und stammt – Gott weiß woher – aus dem Leistungssport. Jonas tritt in Gasmaske dazu und entzündet die Lunte mit einer Kräuterzigarette. Das Ding geht hoch und das Volk jubelt begeistert. Was der ganze Quatsch bedeuten soll, liegt in der Phantasie des Betrachters. Beim Lied „Biomasse marschiert“ stolziert Jonas mit einem FDJ-Hemd über die Bühne. Das Publikum ist irritiert und fragt sich, was will der blöde Typ da auf der Rampe. Die Menge buht und mein Spieler, der mit dieser Reaktion gerechnet hat, zieht es mit spitzen Fingern aus, kletterte mit dem Ding in die Traverse, um es dort mit angeekelter Miene aufzuhängen. Armes blaues Hemd. Ein echter Ordner wird losgeschickt, den Verrückten runterzuholen, da der Veranstalter denkt, das könne nur ein betrunkener Mann seiner Leibgarde sein.

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Über den Köpfen der Musiker beginnt eine beachtliche Verfolgungsjagd, die damit endet, dass der Verunglimpfer sich an der Leinwand langhangelt und plötzlich mit dem gesamten Kunstwerk herabgleitet. Die Band spielt weiter, sie merken nicht, was über und hinter ihnen passiert. Wie in Zeitlupe löst sich das Raketenbild aus seiner Verankerung und unser Hanswurst landet auf dem zusammengefallenen Stoffhaufen, genauer gesagt: auf dem Boden der Realität. Er bleibt einen Moment liegen, fühlt, ob noch alle Knochen beieinander sind, springt wieder auf und verschwindet sicherheitshalber über die Bühnenrampe im Publikum. Der Ordner trollt sich unverrichteter Dinge von den Brettern, das FDJ-Hemd hängt den Rest des Abends geschändet über der Bühne und weint lautlos. Der Veranstalter versucht nach der Show die Band zur Verantwortung zu ziehen, doch die kann sich gut rausreden und dem guten Mann verklickern, dass sie die Typen mit den Masken kaum kennen und es nicht in ihrer Macht steht, die Fans im Zaume zu halten. Jonas vermeidet den Rest des Abends, auffällig zu werden, legt sich befriedigt in sein Auto und hält Siesta. Das Tagespensum an Scharlatanerie ist übererfüllt, nur Peter versucht die Mikrofone in den Pausen zu entern, um auch endlich mal zu singen. Er kriegt seine zehn Minuten als Solist und ist happy, wie es sich für einen guten Doktor der Fröhlichkeit gehört. „Die Firma“ ist der Hauptakt des Abends, Tatjana und Faren wechselnd sich an Bass und Mikrofon ab, Trötsch singt mit seiner schnarrenden Stimme am Keyboard, Herr Schreiber bearbeitet das Schlagzeug und Paul hüpft lustig an der Gitarre. Der spielt zu jener Zeit in erster Linie bei „Feeling B“, aber da Aljoscha, der Sänger, sich mit seinem Schweizer Pass in Indien rumtreibt, haben er und Flake viel Zeit für andere Projekte. Manchmal, wenn sich Termine überschneiden, kriegt Paul ein echtes Problem, das irgendwann so gelöst wird, dass Scholle aus Schwerin, der heute Richard Kruspe heißt, seinen Job übernimmt. Das interessante an der „Firma“ ist, dass sie von Anfang an mit drei Sängern auftritt: erst mit Trötsch, Tatjana und Key, später mit Faren Matern. Durch diese Taktik wird das Event für den Zuschauer nicht langweilig, denn jeder Sänger ist maximal dreimal hintereinander dran. Es ist eine große Musikerfamilie und wenn Trötsch mal keinen Bock hat, springt Flake mit seinem Casio ein. Jeder kennt die Songs der anderen in- und auswendig und da diese Bands zu Ostzeiten keine Platten machen dürfen, brauchen sie sich auch nicht so oft neue Songs ausdenken und proben.

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Eigentlich sehr praktisch. Das Neue, das das Publikum einfordert, wird durch Gäste improvisiert. Jedes Konzert liefert aktuellen Gesprächsstoff, was wichtig ist, um die Fans bei der Stange zu halten. André war ein Meister des inszenierten Skandals, immer wieder hat er neue Ideen, um die Leute aus der Reserve zu locken. Eine davon ist, die Scharlatarne mitzunehmen, improvisiertes Theater zuzulassen. Nichts wird vorher geprobt, sie können sich aufeinander verlassen, sie haben alle dieselbe Wellenlänge. Als letzte Band des Open Air spielt Herbst in Peking, kurz H.I.P. genannt. Sie stricken ihr Programm auch mit sehr heißen Nadeln und gehören zur Großfamilie. Wenn die Scharlatarne mit Silvesterraketen nach den Oberen schießen, regnet es Beifall; wird es brenzlig, tauchen sie wieder unter die Oberfläche des rollenden Fasses.

A.G.P., Open Air Nauen

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Schappy mit Raketen, Open Air Nauen

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist ein rollendes Pulverfass.

12. Wir sind das Volk Einen Tag bevor laut Wikipedia die Wutbürger der DDR bei den Leipziger Montagsdemos „Wir sind das Volk …“ skandieren, entspringt der Slogan bereits am 1. Oktober 1989 in der Berliner-Werner-Seelenbinder-Halle. Einen passenderen Namen hätte es nicht geben können. Es findet ein von der FDJ organisiertes Konzertwochenende der sogenannten „anderen Bands“ statt. Erstmalig dürfen Punkbands wie „die Firma“ und die polnische Formation „Anti Armia“ den aus der gesamten Republik angereisten Blauhemden ihre provozierenden Songs um die Ohren hauen. Nur zwanzig Prozent der Tickets sind im freien Verkauf erhältlich. Die echten Fans, also die Punks aus Halle, Dresden, Jena, Berlin und Klein Posemuckel müssen vor den Toren der mehrere Tausend Menschen fassenden Sportarena verharren. Diese Situation wird vom überzähligen Volk nicht wirklich als störend empfunden. Die Fans sparen das Eintrittsgeld von sieben Ost-Mark und fünf Pfennigen Kulturbeitrag und können die dröhnende Musik wunderbar auf der Wiese liegend an der frischen Luft genießen. Schnaps und Weinflaschen machen die Runde, es kann geraucht und gekotzt werden, ohne dass einen die Ordner mit ihren roten Armbinden zur Rechenschaft ziehen. Am Vorabend dieses legendären Konzertes braut sich auf einem Dachboden im Prenzlauer Berg in der illegalen Siebdruckwerkstatt meines Mister X ein kleiner Skandal zusammen. Die Gründung einer demokratischen Plattform, mit der die systemkritischen Intellektuellen der DDR Reformen à la Gorbatschow durchsetzen wollen, steht kurz vor dem Durchbruch. Es war durchgesickert, dass Mitte September in allen Bezirken der Republik bei den staatlichen Stellen unter dem Namen Neues Forum die Legalisierung dieses Bündnisses beantragt werden soll. Der Flüchtlingsstrom über Ungarn nimmt täglich an Fahrt auf und beunruhigt langsam selbst die Amerikaner.

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Der Untergrund ist hochelektrisiert, endlich passiert etwas. Die Menschen, die ihre kleine, marode DDR trotz ihrer massiven Mängel lieben, spüren einen aufkeimenden Hauch von Hoffnung. Jonas macht sich an die Arbeit. Er malt per Hand auf ein Blatt Pergamentpapier den Schriftzug „Neues Forum 1989“, beschichtet einen Siebdruckrahmen mit lichtempfindlicher, giftiger Emulsion und stellt ein Sieb her, von dem später bei Bedarf bis zu 5000 Drucke gezaubert werden können. Es klopft am Werkstattfenster und Jonas bekommt es einen Moment mit der Angst zu tun – was, wenn jetzt die Stasi vor der Tür steht und ihn verhaftet? Zum Glück ist es Gunter, der Manager der „Ichfunktion“, er grinst meinen Schützling an und fragt: „Na du Kasper, kann ich was helfen?“ Kann er. Jonas quetscht die schwarze Farbe mit einer Rakel auf zehn weiße T-Shirts und auf ca. zwanzig gelbe, rosa und türkisfarbene Stoffreste seiner Klamotten-Manufaktur, Gunter nimmt sie ihm mit sauberen Fingern ab und legt sie auf die Trockenrahmen. Zwischen Idee und Fertigstellung vergehen keine zwölf Stunden. Die beiden verabschieden sich im Morgengrauen und mein Druckerzeuger fällt müde und erfüllt vom Sonnenaufgang in der DDR ins Bett. Am nächsten Tag unterbreitet Jonas Tatjana Flamminger den Vorschlag, die Band während des bevorstehenden Auftritts in der Seelenbinder-Halle mit den frischen T-Shirts zu kostümieren. Die Sängerin der „Firma“ ist skeptisch und will sich ungern vor den Karren spannen lassen, beide diskutieren, ob die Aktion mit den Shirts der Sache dienlich oder einfach nur idiotisch sei. Am Ende des Gesprächs wird sich darauf geeinigt, dass die Performance zu provokant sei und die vorsichtige Öffnung und den Umbau der Gesellschaft gefährden könne. Jonas kann mit dieser Lösung nicht gut einschlafen und so startet er am Tag darauf beim Einladen der Musikanlage einen erneuten Versuch, diskutiert weiter, diesmal mit den anderen Musikern der „Firma“ und ihrem Paten André alias Käpt'n Flint. Flint ist System-Provokateur erster Kajüte und nach seinem erneuten Auftrittsverbot auf Krawall gebürstet. André hat „die Firma“ bereits überzeugt, dass er mit seiner Geige heimlicher Bestandteil des Konzerts sein müsse und betrachtet voller Begeisterung die nach Verdünnung riechenden Druckmittel. Er spürt förmlich das Prickeln des bevorstehenden Abenteuers auf der Haut und trifft Kraft seiner natürlichen Autorität eine Entscheidung. Leute, wir machen das und wie Rio Reiser so schön singt: „Lasst uns das Ding drehen.“

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Kopiervorlage auf Pergamentpapier

Plakat von Krönert „Freiheit“

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Da freuen sich Gunter und der Narr, dass ihre Arbeit nicht in der Makulatur-Schublade der Geschichte landet. Jonas klatscht vor Freude in die Hände und hüpft auf einem Bein um Andrés schwarzen Wolga-Kombi. Um nicht sofort nach den ersten zwei Songs vom Veranstalter und den anwesenden Sicherheitskräften der Bühne verwiesen zu werden, beschließen die Bandmitglieder die Parolen-T-Shirts vorerst drunter zu lassen und erst beim letzten Lied blankzuziehen. Gunter und Jonas befinden sich während des Konzertes im Saal und verteilen alle bedruckten Stoffreste an eingefleischte Fans mit der Bitte, sie zu gegebenem Zeitpunkt mit beiden Händen in die Höhe zu halten. Endlich ist es so weit, der vorletzte Song ist ausgespielt, die Musiker legen ihre Instrumente beiseite und pellen sich zeitgleich, wie heiße Kartoffeln. Gunter zieht auch sein Shirt aus und wird augenblicklich von zwei Zivilen eingehackt und abgeführt. Wie sich später herausstellt, wird der arme Kerl vom Mixer aus direkt auf das Polizeirevier in die Keibelstraße transportiert und erfolglos verhört. Ein Raunen geht durch den Saal, das Volk applaudiert, jubelt, pfeift und schreit vor Begeisterung über das, was sie schwarz auf weiß lesen. Die Bannerträger im Publikum schießen hier und da wie Pilze aus der Masse, die Stimmung heizt sich auf wie in einem Kessel, der zu explodieren droht. Die Band hat große Mühe, ihr letztes Lied zu zelebrieren, und sobald der letzte Ton verklungen ist verschwinden sie stolz von der Bühne. Mein Narr schleicht sich auf Umwegen in den Backstage und beglückwünscht seine Helden. Der Saal tobt, das Publikum verlangt nach mehr, bildet einen mächtigen Chor von nicht enden wollenden Zugabe-Rufen. Die Musiker verharren in einem Gefühl aus Euphorie und Angst darüber, was nun passieren wird. Doch es gibt niemanden, der die Provokateure zur Rechenschaft zieht. Die Zugabe-Rufe nehmen kein Ende. Nach sieben Minuten kommt der Veranstalter in den Backstage, um die Band erneut auf die Bühne zu bewegen. Aus der Aufforderung wird eine Bitte und da die Band keine Anstalten macht, den Backstage zu verlassen, gar meint, sie seien keine Dienstleister, wird aus der Bitte ein Betteln. Da Trötsch, der Keyboarder, zuckerkrank ist und sich auf der Toilette ein Insulinschub verpasst, können sich die restlichen Bandmitglieder darauf herausreden, dass sie nicht mehr komplett sind. Eine Zugabe scheint unmöglich. Jonas schleicht sich wieder in den Saal, er will sich nicht entgehen

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lassen, wie der Veranstalter den aufgebrachten Massen die Entscheidung der Band mitteilen muss. Der arme Mann, der schon allein mit dem Engagement der „Firma“ seine Karrire aufs Spiel gesetzt hat, wird ausgebuht, ausgepfiffen und mit überflüssigen Gegenständen beworfen. Der Mob will und kann ihm nicht glauben, dass die Musiker bereits nach Hause gefahren sind und wirklich, wirklich nicht von der Staatssicherheit weggesperrt und verhört werden. Und plötzlich ist er wieder da, der jahrhundertealte, immer wiederkehrende Spruch „Wir sind das Volk“ – die berühmten vier Worte, die die gesamte bisher bestehende Weltordnung bis heute auf den Kopf stellen. Auch Sprüche wie „… Neues Forum jetzt!“ und „… Lasst die Firma frei!!!“ werden skandiert. Eine hundert Mann starke Rotte von Blauhemden schlängelt sich in Form einer Polonaise durch den Saal. Sie positioniert sich mit eingehakten Armen vor der Bühne, um klare Fronten zu schaffen. Die Ordnungshüter sind beauftragt, eine mögliche Erstürmung der Bühne und des Backstages zu verhindern. Die Blauhemd-Träger werden vom Publikum verhöhnt, verlacht und mit Kleingeld beworfen. Und immer wieder „Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!!!“ Der Apparat, also die Oberen, betrachtet das unfassbare Spektakel durch eine dicke Glasscheibe auf der zweiten Empore. Trotz seiner Hilflosigkeit handelt der Veranstalter sehr klug und bedacht. Er schickt nach zehn Minuten die Mauer aus Blauhemden wieder in ihre Aufenthaltsräume, setzt sich auf die Bühnenrampe und versucht durch beruhigende Worte das Publikum zu besänftigen. Nun schnappt die Falle endgültig zu. Mein Druckmittel-Erzeuger geht direkt zu ihm, hält ihm die Unterschriftenliste des Neuen Forums unter die Nase und drückt ihm einen Stift in die Hand. Ob er will oder nicht, er unterschreibt und das Publikum jubelt. Auf der Stelle bildet sich eine lange Schlange von Befürwortern, die ihre drei Kreuze auf die Liste kritzeln. Der Druck der Situation entweicht langsam, eine explosionsartige Eskalation ist verhindert. Nach und nach verlassen Teile des Publikums den Saal. Die einen brauchen frische Luft, andere wollen endlich an der Garderobe ihr Blauhemd ausziehen, manche müssen zum Bahnhof, um ihren Zug nicht zu verpassen. Die jungen Menschen machen sich bei wunderbar sternenklarer Nacht auf den Heimweg, bringen den Virus in die entfernten Winkel der Republik und verbreiten die frohe Botschaft.

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Die circa tausend verbleibenden Fans platzieren sich in kleineren Grüppchen auf dem Fußboden, treten in den Sitzstreik und werfen umherirrenden Ordnern Worte wie „… keine Gewalt!“ und „… ihr könnt nach Hause gehen!“ an den Kopf. Erst bei Sonnenaufgang gegen fünf Uhr morgens verlässt das letzte Grüppchen die Seelenbinder-Halle. Ich, Zorro der Bär, bin stolz und glücklich über den gelungenen Streich meines kleinen Traumtänzers und bewache geduldig seinen Schlaf der Gerechten, der über die Mittagszeit hinaus andauert. Am 19. September 1989 meldet das Neue Forum seine Gründung in elf von fünfzehn DDR-Bezirken an. Zwei Tage später wird über die staatliche Nachrichtenagentur ADN verbreitet, das Neue Forum sei als verfassungsund staatsfeindlich einzustufen. Zu diesem Zeitpunkt haben bereits 3.000 Menschen den Aufruf unterschrieben. Am 25. September wird der Antrag auf Zulassung offiziell abgelehnt. Begründung: Es besteht keine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine derartige Vereinigung. Das Fiese an dieser Geschichte ist die Legendenbildung. Bei Wikipedia hat irgendein sich überaus wichtig nehmender Trittbrettfahrer folgenden Eintrag gepostet: „die Firma“ (Rockband) erntete im Nachgang besonders viel Kritik, da sie in der Vorwendezeit bei einem Konzert vor 6000 Zuschauern in Absprache mit der Stasi als eine Art Agent-Provokateur fungiert hatte, indem sie ein T-Shirt mit einem Aufdruck der DDR-Bürgerrechtsbewegung Neues Forum trug. Was für ein grober Unfug, ihr Denunzianten unter den Lesern, ihr solltet euch was schämen. Was für einen Sinn sollte das für Mielke und Korruptus machen? Sich selbst abschaffen? Mit verdorbenem Plan das Volk gegen sich aufputschen? Blödsinn! Wenn diese Wikipedia-Lüge wenigstens logisch wäre – ich sag euch – ich, Zorro der Bär, hab mir die T-Shirt-Aktion ausgedacht und habe Jonas und seine Freunde überzeugt, mitzumachen. Und das alles, um endlich diese beschissene Mauer wegzubrechen. Langeweile. Mein Leben besteht lange, lange Zeit aus Langeweile. Warum die Neuberin mir nur diesen Bären auf den Rücken binden musste? Ich hätte mich viel lieber in einen Vogel verwandelt, wäre hoch über den Wolken geflogen, hätte mir die Welt von oben angesehen.

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Oder ein Frosch, ich hätte goldene Kugeln emporgehoben und mich an Königstafeln sattgefressen. Wenn ich die ganzen Kerben zählen würde, die ich Tag für Tag in meinen Wanderstock geschnitzt habe, so müssten die zweihundertfünfzig Jahre bald vorbei sein. Langsam wittere ich meine große Chance, ich muss in das Leben des Mannes eingreifen, der mir bald behilflich sein soll, diese Bärenhaut loszuwerden, damit ich endlich wieder meine wahre Gestalt als Kasper annehmen darf. Ich habe einen Bericht im Radio gehört, der besagt, dass Parasiten das Verhalten ihrer Wirte beeinflussen. Der kleine Leberegel zum Beispiel befällt Ameisen und bringt sie dazu, über Nacht auf die Spitzen von Grashalmen zu klettern und sich dort festzuklammern. So werden sie morgens leichter von weidenden Schafen oder Rindern gefressen, in deren Körpern der Egel sich vermehren kann. Offenbar ruft der Gast in den Gehirnen der Wirte Reaktionen hervor, die sie zu willigen Opfern machen und den Gast ans langersehnte Ziel bringen. Soweit mein Plan, entworfen in den langen Jahren des Wartens: ich als Gast im Hirn dieses jungen Mannes, der sich immer noch auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft befindet. Peter, der mit Nachnamen eigentlich Runkel heißt, beginnt immer öfter, im Suff nicht nur die Pausen zu füllen, sondern auch während der Show das Mikrofon zu entern, was den jeweiligen Sängern der Bands mehr und mehr ein Dorn im Auge ist. Irgendwann darf er nicht mehr mitfahren und der Mantel des Mitreise-Verbotes wird über den Doktor der Fröhlichkeit verhängt. Zwanzig Jahre später wird Schappy ein gefeierter Schreiberling, sammelt Preise und Stipendien wie manch einer Pfifferlinge und Butterpilze. Er findet die Pilze, anstatt sie zu suchen. Da mein Puppenspieler von diesen Reibereien nicht betroffen ist, fährt er fortan allein mit den Musikern über Stadt und Land der Noch-DDR. Schappy widmet sich wieder mehr dem langen Baader, seinem skandalumwobenen Punk-Poeten aus Halle. Nachdem Dr. S.c.Happy von Bord geht, ist es ein leichtes Spiel, mich in die Gedankenwelt des jungen Mannes zu schleichen. Ich muss Jonas nur klarmachen, dass er mich, Zorro den Bären, auf der Bühne braucht, eine Puppe braucht, um nicht ausgeliefert und allein zwischen den Musikern und Sängern den rock 'n' rollenden Mob zu unterhalten.

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Eines Nachts beschließe ich, während er schläft, mich in seinen Traum zu begeben, ihm zu suggerieren, dass ich etwas Wichtiges auf der Bühne zu suchen habe. Zuerst lege ich sein Angstzentrum, im Mittelpunkt zu stehen, lahm, dann aktiviere ich mit stetig steigender Dosis sein Rampensau-Gen. Während der nun folgenden „Firma“-Konzerte treffe ich, von seiner rechten Hand gespielt, die kleine süße Blondine Mary Filou, die mir, geführt von seiner linken, kokette Blicke zuwirft. Im nächsten Song tanzt eine Pfauenfeder und buhlt nach wilder Punkmusik um eine Rose. Die Rose ist Ausdruck meiner erblühenden Liebe zu dieser blonden Puppe. So blaue Augen – was ich da so fühlte, ist nicht mehr normal. Ich fühlte mich ideal besetzt, wie in dem Film „Die Schöne und das Biest“. Sie: das zarte, liebende, weibliche Wesen. Ich: das verunstaltete Geschöpf mit den langen Krallen. Sie hat anfangs große Angst und vermutet den wilden Bären in mir. Sie hält mich auf Abstand, besonders wenn wir wieder in dem großen Koffer verschwinden. Sie achtet sorgsam darauf, dass wir uns nicht zu nahekommen oder gar berühren. Im Dunkel des Koffers erzähle ich ihr die wahren Hintergründe meines verwunschenen Daseins. Nach und nach verliert sie ihre Angst, im Stück gefressen zu werden, und uns verbindet zunächst zärtliche Geschwisterliebe. Eines Tages soll mehr daraus werden. Damit der Puppenspieler beim Hantieren nicht gesehen wird, spannt er hinter oder neben dem Schlagzeuger der Kapelle ein buntes Tuch. Dieses Stück Stoff ist die erste Zeit meiner Bühnenkarriere der Strich, mein Highway, auf dem ich mich von nun an fortbewegen werde.

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das hat keine Angst.

13. Die Flugblätter von Gethsemane Jonas fällt eines Tages auf der Straße eine Kiste vor die Füße. Ein Karton, der im wahrsten Sinne des Wortes von einem LKW gefallen sein muss. Dieser Ausdruck wird weltweit für Dinge verwendet, die illegal verschwinden. In der DDR sind Materialien aller Art nützliche Tauschobjekte, sie werden von den Besitzern, also dem Volke, als sozialistisch umgelagertes Volkseigentum behandelt. In Baubetrieben fallen ganze Paletten mit Steinen oder Zement vom Hänger, im Bereich Feinkostwaren gibt es überdurchschnittlich viele Pannen. Kleine Betrügereien, bei denen der Gabelstaplerfahrer scheinbar etwas rammt. Büchsen mit Ananas und Pfirsichhälften oder Schnapsflaschen werden als angeblich beim Transport verbeult und zersplittert abgeschrieben und verhökert. Der Inhalt der Kiste, die Jonas findet, ist für den Normalbürger dermaßen uninteressant, dass man nur vermuten kann, dass sie durch echte Schusselei aus dem Gleichgewicht kam und den freien Fall auf den Rinnstein suchte. Der relativ kleine Pappkarton ist bis zum Anschlag gefüllt mit Bieretiketten. Wozu kann man die gebrauchen ohne Bier und Flaschen? Jonas weiß es noch nicht, findet aber die Menge von ca. tausend gleichen, einseitig bedruckten Zettelchen bemerkenswert und schleppt die Beute in seine Wohnung. Er steckt fortan einen Packen in seine Umhängetasche und nutzt sie für Notizen, zum Malen und zum Papierflieger falten. Es gibt noch nicht viele Telefone und schon gar keine Anrufbeantworter, daher ist es üblich, an den Wohnungstüren Stifte und Notizblätter zu befestigen, um diese dann zur Kommunikation zu nutzen. Viele Wohnungen sind unter Freunden so gut wie offen, man braucht nur einen Dietrich oder weiß, wo sich dieser krumm gebogene Nagel befindet. Vorzugsweise wird er unter den Fußabtreter oder den Fenstersims des Treppenhauses gelegt. Immer häufiger schwirren die Bieretiketten durch die Hausflure von Ost-Berlin oder werden bei anstehenden Konzerten bündelweise von der Bühne geworfen. Sie irritieren die anwesenden Mitarbeiter der Sicherheit. Sobald Zettel das Fliegen erlernen, wittert die Behörde der geheimen Überwacher Zersetzung.

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Die Ausbeute der Statisten bleibt gering, sie halten nichts weiter in der Hand als ein gewöhnliches Stück Papier, auf dem schwarz auf grün „Berliner Bier EVP 0,61 Pfennige“ gedruckt steht. So ein Mist, denkt manch einer der Detektive und versteht den Sinn der Aktion nicht, der lediglich darin besteht, so zu tun, als ob da Flugblätter von der Bühne fliegen. Dass gerade Biermanns Ableger diese Etiketten verteilt, ist ein Treppenwitz der Geschichte oder besser gesagt ein ausgebuffter Schachzug des Universums. Die Mahnwachen an der Gethsemanekirche werden immer häufiger Ziel der abendlichen Spaziergänger. Die Bürger brauchen die Bewegung und die Bewegung braucht die Bürger. Die Kirche befindet sich in der Stargarder Straße, mitten im Herzen des Prenzlauer Bergs. Dr. S.c.Happy ist zu jener Zeit mit mehreren Kneipenverboten belegt, da er im Suff gern auf Tischen tanzt und den Anwesenden seine teils genialen Wort-Attacken um die Ohren haut, singt, schreit oder bellt. Peter Runkel überredet nach einem ausgiebigen Katerfrühstück mit Ei, Tee, Toast, Käse und Marmelade unseren Schützling zu einem Ausflug. Er lockt ihn ins Leben und nimmt ihn für den Rest des Abends ins Schlepptau. Die beiden setzen sich in das von oben bis unten bemalte Kasper-Auto und fahren direkt in die Stargarder. Eigentlich nur ein Fußweg von 15 Minuten, aber da es damals mehr Parkplätze als Autos gibt und man nie weiß, ob der Abend mit einem morgendlichen Ausflug an den Liepnitzsee endet, beschließen die zwei Scharlatarne einstimmig, den Lada Kombi durchzustarten. Ein Bewusstsein für die eigene Gesundheit oder gar die Umwelt gibt es damals nur spärlich, obwohl bereits seit Jahren die Umweltbibliothek im Keller der Zionskirche existiert. Überhaupt verhält sich die evangelische Kirche in der DDR sehr schlau. Sie öffnen ihre sinnentleerten Gotteshäuser, um sie mit jungem, rebellischem Blut zu füllen. Mutige Gemeindepfarrer erlauben Blues- und Punk-Konzerte, organisieren systemkritische Ausstellungen und bieten Gesprächsrunden aller Art ein offenes Forum. Von Jena über Halle, von Rummelsburg bis nach Vitte am Kap Arkona, die Kirche bietet vor allem den jugendlichen System-Zweiflern Freiräume. Interessant ist, dass überwiegend Ungläubige die Treffpunkte der jungen Gemeinden nutzen. Hier wird Tischtennis gespielt, geknutscht, Musik gehört und abwartend Tee getrunken. Diese Räume dürfen von der Polizei nicht betreten werden. Einen Volltreffer landet die Stasi, wenn sie einen dieser Pfarrer zur Mitarbeit zwingen kann.

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Vor der Gethsemanekirche treffen sich seit Wochen leise tuschelnde Menschen mit brennenden Kerzen. Schweigender Widerstand ist die sich verselbstständige Parole. Ein Bettlaken ist ausgerollt und provisorisch am Kirchenzaun befestigt. Rot auf weiß ist zu lesen: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Der Untergrund ist schlau, gegen ein Zitat von Rosa Luxemburg können die DDR-Oberen nichts sagen. Ausreisewillige sind bereits in Massen auf dem Weg in die BRD-Botschaften Ungarns, der ČSSR und Polens. Alle anwesenden Protestler stehen sich die Beine in den Bauch. Wir treffen auf die gleichen Strickmützen mit Kerze wie gestern, nur sind es heute schon doppelt so viele wie vorgestern. Die friedliche Szenerie vor der schweren Eichen-Pforte der Kirche ist unserem Doktor der Fröhlichkeit zu trocken, er will lieber einkehren, bei einem vernünftigen Bier über die Zukunft schwadronieren, pro Schnäpschen einen, zwei oder besser gleich drei Pläne schmieden. Heute hat Runkel seine Sucht gut im Griff und ist immer noch unternehmungslustiger und fröhlicher als viele seiner Nachbarn. Die Scharlatarne treffen in einer randvollen Kneipe in der Nähe der Kirche auf Bert Papenfuß. Der Lyriker gehört neben Sascha Anderson zur selbstverliebten Elite des Prenzlauer Bergs. Er belächelt Schappys Texte und ist dessen Ost-Berliner Gegenspieler. Papenfuß ist in der Szene bekannt für schwer anarchistisch angehauchte Lyrik, hat einige gute Songs wie „Der Blues muss bewaffnet sein“ geschrieben und gilt als einer der Hauptakteure des organisierten Widerstands um das Schriftstellerehepaar Christa und Gerhard Wolf. Beide Wolfs unterzeichneten die Resolution gegen die Ausbürgerung des heulenden Namensvetters, worauf ein Parteigewitter vom Feinsten aufzog und sich der Himmel teilte. Da sie zu diesem Zeitpunkt jedoch schon zu den auch im Ausland bekannten Schriftstellern gehören, ist es für den Apparat schwierig, sie mundtot zu machen oder gar von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Christa und Gerhard wagen immer wieder, den Reformwilligen Mut zu machen und fördern die heranwachsenden Autoren der DDR. Papenfuß veröffentlicht unter ihrer Deckung und mit ihrem Wohlwollen halblegale Zeitschriften. Nebenbei tingelt der Szene-Literat seine Texte zelebrierend mit der Band „Ornament und Verbrechen“ durch den wilden Osten. Nach dem Mauerfall eröffnet er kultige Treffpunkte wie das „Kaffee Burger“ in der Torstraße und die „Rumbalotte“ in der Metzer Straße.

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Nach der Wende dienen seine Kneipen vielen ehemaligen Widerständlern und Mitläufern als zweites Wohnzimmer. Zurück in die Vergangenheit. Die beiden Scharlatarne quetschen sich auf einen Fenstersims, bestellen zwei Bier, rutschen nach auf freiwerdende Stühle am Tisch des inneren Zirkels der Szene. Jonas ist schnell gelangweilt vom bierseligen Gequatsche und beginnt seine Einhei(t)z-Zettel zu bemalen. Und da der Mensch instinktiv immer noch wie ein Affe tickt: Fängt einer an, machen die anderen Affen nach, oder besser mit. Passend zum Thema gibt es ein beliebtes, ostdeutsches Fernsehformat für sportbegeisterte Pioniere: „Mach mit, mach's nach, mach's besser.“ Die Berieselung der DDR-Medien hinterlässt Spuren, ob man will oder nicht, Sozialisation ist ein Teil der Bildung eines jeden Menschen. Gottseidank bin ich schon mehrere Jahrhunderte als Bär unterwegs und immun gegen solcherlei Art der Beeinflussung. Auch hatte ich das Glück, selten in Fernsehzimmern gehaust zu haben. Meine Vorlieben sind Dachböden, Kinderzimmer und andere Nischen. Die Kneipentische der Glückseligen entwickeln sich binnen Minuten zur Malwerkstatt. Mindestens sechs Akteure zeichnen flotte Bilder und Sprüche auf die Rückseiten der Bieretiketten – ein gelungener Kreativabend im Herzen des Prenzlauer Bergs. Als der Wirt gegen Mitternacht seinen Laden dicht machen will, muss er wohl oder übel eine letzte Runde auf Kosten des Hauses schmeißen. Die Spaßguerilla ist durstig und nur so auf friedlichem Wege loszuwerden. In drei Stunden sind circa hundert Flugblättchen entstanden, jeder Bierzettel ein Unikat, der eine oder andere heute sicher viel wert. Vor der Kneipe wird sich lauthals verabschiedet und man beschließt, die Kunstwerke auf dem jeweiligen Nachhauseweg in fremde Briefkästen zu werfen, für Verwunderung und Verunsicherung zu sorgen. Die Revolte wird im wahrsten Sinne des Wortes angezettelt. Drei Hauseingänge weiter stehen zwei auffällig unauffällige Gestalten. Hätte mein angehender Puppenspieler damals schon Texte für seine Theaterstücke geschrieben, so hätten ich, Zorro der Bär, sie ihm so oder so ähnlich suggeriert.

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Arbeitstitel: „Auf der Mauer auf der Lauer liegt 'ne kleine Wanze“ 3. Akt, 1. Szene Ein Hausflur, spärliches Licht, zwei Männer im Trenchcoat. Schlapphut 1: „Sie sind weg! Ab nach Hause, meine Alte wartet.“ Schlapphut 2: „Erst schauen wir nach, zwei waren dort in dem Hauseingang.“ Schlapphut 1: „Ach lass doch, die waren nur pissen …“ Schlapphut 2: „Jetzt nicht schlapp machen Heinzi, Dienst ist Dienst.“ Schlapphut 1: „Schau mal da am Briefkasten, was sind das für Zettel, Horst?“ Schlapphut 2: „Bier! Mann – du Heinz!“ Schlapphut 1: „Zeig mal her, Tatsache! Bier! Mann, der schon wieder, das ist bestimmt subversiv.“ Schlapphut 2: „Ich mach' sofort eine Meldung an Korruptus … und andere Seite? Dreh mal um!“ Schlapphut 1: „Sind Schweinereien drauf gekritzelt, Wortfetzen, sinnlos …“ Schlapphut 2: „Pack ein Horst, hey, du Depp, pass auf, keine Fingerabdrücke verwischen!“ Schlapphut 1: „Da ist noch einer und noch einer!“

Peter und Jonas

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Bieretiketten, Vorderseite

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Einhei(t)z-zettel, Rückseite

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Autoscheinwerfer blenden aus der Dunkelheit. Reifen quietschen, ein dunkelblauer Lada mit getönten Scheiben bremst scharf auf der menschenleeren Straße. Aus dem Wagen steigt ein Mann. Herr Korruptus: „Sehr gut, Genossen Schlapphüte, wir haben den Vorgang unter Kontrolle, alle Bierzettel einsammeln, das riecht nach Beförderung, ich beglückwünsche Sie im Voraus.“ Er steigt zu seinem Chauffeur, der Lada fährt davon, eilt zum Rapport in die Magdalenen Straße. In der Zentrale erweist sich ein Dechiffrieren als unlösbares Problem, keine der Botschaften und keine der Handschriften ähnelt der anderen. Erich Mielke, der Chef der Geheimen, dreht und wendet die kleinen grünen Zettel und denkt: „Verdammt, da kann nur der Biermann hinter stecken, hätten wir den bloß eingebuchtet, alles nur wegen Margot.“ Horsti und Heinzi klopfen sich gegenseitig auf die Schultern und gehen nach Hause zu ihren nichts ahnenden Ehefrauen. Die Frauen lassen sich zwei Jahre nach der Wiedervereinigung von ihren arbeitslosen Trinkern scheiden und suchen schleunigst das Weite. Pech für Heinzi und Horsti, sie begreifen bis heute nicht, was sie falsch gemacht haben.

Raketenplakat von Krönert

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist Theater hinter Gittern.

14. Der wilde Affe von Rummelsburg Jonas ist ein großer Verehrer der Sesamstraße und liebt die Stars der Muppet Show. Er hat Glück in Ost-Berlin aufzuwachsen, denn da kann man im Gegensatz zu Dresden (Tal der Ahnungslosen), Greifswald und der Oberlausitz ausgiebig West-Fernsehen konsumieren. Damals, bevor Bernd das Brot die ganze Nacht Blödsinn quatscht, gab es gegen ein Uhr morgens noch einen Sendeschluss – hüben wie drüben kann der gemeine Fernsehsüchtige das Testbild bis zum Mittag anstarren. Es dauert noch einige Jahre, bis es rund um die Uhr Verblödung vom Feinsten gibt. Am meisten liebt Jonas den frechen Ernie, den Kumpel vom schrulligen Bert. Auf einem seiner Abstecher in den ummauerten Westteil der Stadt landet er auf einem Flohmarkt in Kreuzberg. Er wühlt in einer mülligen Kiste und hält plötzlich Ernies berühmtes Quietsche-Entchen in der Hand. Er wird sich schnell mit dem Händler einig, zahlt zwei Taler und die Gute fängt vor Freude an zu Quietschen. Die gelbe Badepuppe mausert sich zum Obertalisman und macht mir ernstzunehmende Konkurrenz. Ich muss immer öfter zu Hause bleiben, sie aber erquietscht sich Rechte, von denen unsereiner nicht mal zu träumen wagt. Sie darf an seinem Tisch sitzen, von seinem Tellerchen essen und in seinem Bettchen schlafen. Ok, sie ist kleiner, bekannter und spricht von selbst, wenn man sie drückt, aber ist das Grund genug, sie so zu bevorzugen? Ich beklage mich bei Mary Filou über den kleinen Verrat unseres Scharlatans, wobei die Süße meint, ich soll nicht so egoistisch denken und dass Teilen Spaß macht. Vielleicht hat sie recht. Die Story, die ich in diesem Kapitel erzählen will, habe ich nicht selbst miterlebt, ich kenne sie nur aus den Erzählungen meiner gelben Konkurrentin. Ich öffne einen Koffer der Erinnerungen und packe aus. Wir sind in der Nacht vom 6. zum 7. Oktober, also der Nacht vor den großen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR. Der Prenzlauer Berg rund um die Gethsemanekirche brodelt seit Tagen, immer mehr Menschen strömen zu den Mahnwachen und die Polizei beginnt, Präsenz aufzufahren.

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Die Komparsen in Uniform sollen die Massen auseinandertreiben, Ansammlungen auflösen, die Bürger verunsichern und Ängste schüren. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking ist erst vier Monate her. Auslöser der gewaltigen Studentenproteste sind neben dem Tod eines reformwilligen chinesischen Parteikaders der Besuch Michail Gorbatschows in Peking. Der sowjetische Staatschef will auch hier für Glasnost (Öffnung) und Perestroika (Umgestaltung) werben und wird unter dem Beifall von vierhundert hungerstreikenden Studenten und annähernd einer Million Sympathisanten euphorisch auf dem, seit Wochen besetzten Platz begrüßt. Einige Tage, nachdem Gorbatschow und die internationalen Medien wieder fort sind, wird das Areal mit Wasserwerfern, Panzern und scharfer Munition geräumt. Es kommt zu mehr als zweitausendsechshundert, teilweise wahllosen Erschießungen. Die Riege der „reformwilligen“ DDR-Politiker wie Hans Modrow, Günter Schabowski und Egon Krenz besuchen China, um damit die Unterstützung der SED für das chinesische Regime zu dokumentieren. Zur gleichen Zeit flüchten mit dem Beginn der Sommerferien täglich tausende DDR-Bürger in Richtung Ungarn, schleichen über die grüne Grenze oder besetzen die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau. Krenz, der als Honeckers schmieriger Kronprinz gehandelt wird, äußert sich im Juni 1989 mit den Worten: „Genossen! Was auf dem Platz des himmlischen Friedens getan wurde, ist zwar bedauerlich, war aber notwendig, um die Ordnung im Land wiederherzustellen.“ In der Bürgerbewegung sickert die Befürchtung durch, die Staatsführung der DDR könne sich ebenfalls für eine „Chinesische Lösung“ entscheiden. Sämtliche Kampfverbände sind bis an die Zähne bewaffnet und stehen in erhöhter Alarmbereitschaft. Zum Glück lenkt Krenz rechtzeitig ein und erlässt den Befehl, bei Demonstrationen keinen Gebrauch von der Schusswaffe zu machen. Er verhindert damit ein Massaker und das massenweise Desertieren von Uniformierten in die Illegalität. Soweit die Lage der Nation am Vorabend des 7. Oktobers. Jonas und Schappy sind am Nachmittag wieder gemeinsam spazieren und lassen hier und da Bieretiketten fallen. Die handbemalten Zettel sind schon lange verteilt, Nachschub herzustellen ist aufwendig. Es sind nicht mehr nur vereinzelte Menschengruppen unterwegs, sondern Massen.

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Sie treffen auf Gunter, der um die Ecke wohnt. Die Stargarder Straße ist kurz vor der Schönhauser Allee bereits gesperrt. Uniformierte lassen nur Bewohner, die sich ausweisen können, in Richtung Gethsemanekirche passieren. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, die angeblichen Räuber werden von den ewigen Gendarmen gejagt und weil diese Jagd sehr laut und lustvoll mit flotten Sprüchen über die Bühne der Straße geht, vervielfacht sich die Menge bis zum Abend zu einer kritischen Masse. Der unzufriedene Mob marschiert im Zickzack durch den Kiez und teilt sich bei jeder neu errichteten Polizeisperre in zwei Gruppen, die weiterziehen und sich in kurzer Zeit wieder verdoppeln. Alle haben Kurt Hagers Satz im Ohr: „Wenn Freunde tapezieren (gemeint sind die Reformen in der Sowjetunion), müssen die anderen ja auch nicht renovieren …“ Das Volk ist zu Recht empört über so viel Ignoranz des Ideologie-Chefs. Die mobilisierten Einsatzkräfte können das Volk nicht mehr aufhalten, in vielen Fenstern stehen brennende Kerzen als Symbol des stummen Widerstands. „Bürger lasst das Warten sein, kommt herunter, reiht euch ein!“, wird skandiert und wer laufen kann, schnappt sich seine Jacke und reiht sich ein. Es sind schon lange nicht mehr nur Hippies und Punks unterwegs, Otto-Normalverbraucher und Lieschen-Müller haben auch langsam die Nase voll. Von allen Seitenstraßen strömen die Menschen auf die Schönhauser Allee, der Verkehr im gesamten Kiez ist lahmgelegt, das Volk kurz davor, sich in Richtung Palast der Republik zu bewegen, um ihn zu stürmen. Plötzlich kommen Wasserwerfer und Mannschaftswagen aus Richtung Fernsehturm und beginnen mit Hilfe von zahlreichen zivilen Mitarbeitern der Staatssicherheit, einzelne Anstifter und Rädelsführer aus der Masse zu ziehen und auf die grünen LKWs zu schmeißen. Ist einer der Laster mit zirka zwanzig Räubern voll, geht's ab in die Untersuchungshaftanstalt nach Rummelsburg. Jonas, Gunter und Schappy haben sich bereits seit einer geraumen Weile aus den Augen verloren und mein Scharlatan hat zum Glück seine Quietsche-Ente zum Festhalten in der Hand. Die Ente ist mutig und kämpft in vorderster Front. Jonas hält sie in der rechten Hand, hoch über die Köpfe der brodelnden Masse. Sie quietscht aus voller Kehle im Chor der Räuber und Jonas schreit: „… ich bin eine Ente, quietsch, ich bin das Ente, quietsch …“

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Der lange Arm des Gesetzes packt die beiden aus der Menge und wirft sie zu Boden. Die Ente entgleitet seiner Hand und landet in der Gosse. Augenblicklich ist ihr das Quietschen im Halse steckengeblieben und sie schaut mit panischen Blicken, was um sie herum passiert. Jonas wird der Arm auf den Rücken gedreht und er schreit vor Schmerz, kann aber mit der linken noch schnell das Entchen greifen. Die beiden werden von einem Uniformierten und zwei zivilen Gendarmen abgeführt und in einen der Bereitschaftswagen der Polizei gestopft. Jonas beruhigt die schweißgebadete Ente und sieht von der geöffneten Ladefläche aus zu, wie ein besonnener Mann versucht, Frauen und Kinder in Hauseingängen in Sicherheit zu bringen. Jonas erkennt ihn: Es ist André Krüger, der Barkeeper aus dem Sophienclub. Man kann von Glück reden, dass die Haustüren damals noch offen sind, das Zusperren von Häusern an der Eingangspforte wird später eine der negativen Errungenschaften der Wende. Es werden hauptsächlich Männer eingefangen und nach wenigen Minuten ist der LKW voll. Am Ausgang der gegenüberliegenden Bänke sitzen bewaffnete Schergen und befehlen den verängstigten Verbrechern gefälligst das Maul zu halten. Einer versucht, seine Freilassung zu verlangen: „Herr Wachtmeister, bitte verzeihen sie mir, ich wohne hier in der Schönhauser, dort oben im dritten Stock, meine Kinder sind allein zu Hause und weinen bestimmt vor Angst, da auch meine Frau nicht daheim ist. Ich bin nur runtergegangen, um den Mülleimer zu leeren und hab kurz auf die Straße geschaut, was hier los ist.“ Kein Erbarmen, die Aufpasser schweigen mit grimmiger Miene. Die anderen Insassen solidarisieren sich mit dem Mann, der kurz vor einem Herzinfarkt ist: „Hey Büttel, habt ihr überhaupt kein Herz und keine Ehre, lasst den Mann raus, es reicht doch, dass ihr uns habt, was soll überhaupt der ganze Terror? Wollt ihr nicht auch, dass sich in unserem Land etwas verändert, so kann's doch nicht weitergehen, das sieht doch jeder Idiot!“ Die Ente hat sich vom ersten Schreck erholt und untermalt die Forderung mit aufgeregtem Gequietsche. Einer der Gendarmen schaut ihr traurig in die Augen und Jonas bildet sich ein, mehrere Tränen über sein Gesicht rollen zu sehen. Man muss nicht Polizist werden, wenn man nicht will. Die ersten zwei LKWs fahren los und Jonas hört die eingepferchten Räuber im Chor singen: „Vorwärts und nicht vergessen, die Solidarität …“

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Die Plane wird geschlossen, der Motor springt an, das Fahrzeug wendet und ab in den Untersuchungsknast. Es wird leise unter den Mitgefangenen getuschelt, doch sobald es lauter wird, schreit der anwesende Oberfeldwebel im klassischen Militär-Ton: „Schnauze halten, sonst gibt's richtig Ärger!“ Jonas hält sich an der Ente fest und hat ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Mit den Gendarmen scheint Anfang Oktober nicht gut Kirschen essen zu sein. Nach zwanzig Minuten rumpelnder Fahrt legt der Fahrer eine Vollbremsung aufs Parkett und alle rutschen noch mehr zusammen. Man hört ein quietschendes Rolltor und die Ente denkt, dass ein Vetter sie warnt, aufzumucken. Der LKW passiert das Tor, die Plane öffnet sich, die Bewaffneten springen ab und scheuchen die Neuankömmlinge von der Ladefläche: „Na los, runter, das geht schneller, zack zack, da an die Wand, Hände nach oben, Beine auseinander, Schnauze halten.“ Der Innenhof ist bereits vollgestopft mit Menschen, die alle Angst und Panik in den Augen haben. Sechs Polizisten springen wieder auf, die Klappe wird geschlossen und der Laster fährt zurück zur Schönhauser Allee, um die nächsten Räuber und Verbrecher einzusammeln. Jonas wird der Pass abgenommen und er wird, wie alle, nach Waffen durchsucht. Er steht zirka eine Stunde an der Wand und immer neue LKWs kommen an, um die nächsten Demonstranten abzuladen. Als der handelnde Beamte Jonas' Pass in der Hand hält, fragt er unsicher: „Warum haben sie keinen Personalausweis dabei?“ Jonas antwortet: „Weil ich eigentlich jetzt schon auf einer Geburtstagsparty in West-Berlin sein wollte, Genosse Diensthabender, aber wie sie sehen, geht das gerade nicht.“ Der Mann schaut sich den Stempel im Reisepass an und ahnt, dass der Typ Schwierigkeiten machen wird, er eventuell seiner Karriere einen Knick verpasst, wenn er zu unfreundlich rüberkommt. Er ist plötzlich wie ausgewechselt und zeigt sein nettes Gesicht: „Tut mir leid, sie müssen sich gedulden, sie werden gleich verhört und können dann vielleicht wieder gehen.“ Er legt den Pass obenauf und verschwindet mit Schweißperlen im Gesicht. Aus dem Inneren des Gebäudes hört man die verzweifelten Schreie einer Frau. Ein älterer Mann kann nicht mehr stehen und setzt sich auf den Boden. Sofort kommen zwei Polizisten und befehlen ihm, sich wieder mit dem Gesicht zur Wand hinzustellen. Er weigert sich, sie greifen ihm links und rechts unter die Arme und schleifen ihn unter müdem Protest ins Innere der Anstalt.

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Jonas wird mulmig zumute, wie wird die Geschichte ausgehen? Er denkt an den Pinochet-Putsch 1973 in Chile, bei dem in den ersten Tagen der Militärdiktatur mindestens viertausend Bürgerrechtler erschossen wurden. Zwei Beamte kommen und fordern zirka zwanzig Gefangene auf, sich in Reih und Glied aufzustellen. „Im Gleichschritt – Marsch! Mir nach ohne Gesang!“ Die Rotte bewegt sich wie eine humpelnde Schlange mit Kreuzschmerzen, vorbei an überfüllten Zellen, die, wie im schlechten Western, mit dicken Eisenstangen vom Fußboden bis zur Decke gesichert sind. Zelle Nummer 7 ist leer und wird für die nächsten Stunden zu Jonas' Zwangs-Wohngemeinschaft. Der vier mal fünf Meter kahle Raum wird von einer Neonröhre beleuchtet und hat harte Holzbänke an den Wänden. Einer der zwei Uniformierten bleibt an der sperrangelweit geöffneten Tür stehen und befiehlt: „Hereinspaziert die Herren, machen sie's sich gemütlich, maximal alle fünfzehn Minuten darf einer von euch auf's Scheißhaus, ist das klar? Rührt euch, setzen!“ Hinter den Verdächtigen fällt die Tür ins Schloss, der dicke Schlüssel dreht sich zweimal um seine eigene Achse, Ende Gelände, aus die Maus, kein Entkommen. Die Bewohner stimmen sich ab, wer wann am nötigsten pinkeln muss, die Scheißer dürfen zuerst. Die Männer sind solidarisch miteinander und jeder erzählt seinem Nachbarn die Umstände seiner Verhaftung. Es stellt sich schnell heraus, dass alle direkt von der Schönhauser Allee kommen. Wenige versuchen im Sitzen zu schlafen, aber dafür ist es zu unbequem, zu laut und die Lage zu angespannt. Alle viertel Stunde kommt der Schließer und holt einen der Notdürftigen ab. Jonas muss nicht, obwohl die Ente nach einem Schluck Wasser quietscht. Im Gegenteil, Jonas wird wieder frech und jedes Mal, wenn einer der Wärter durch den Gang kommt, um einzelne Täter aus benachbarten Zellen zu Verhörzimmern zu eskortieren, springt er wie ein Affe ans Gitter vom Zoo und gebärdet sich wie ein Orang-Utan. Er springt am Gitter hoch: „… uuh uuh uuh …“ und spielt für seine Leidensgefährten die beste Affenshow seines Lebens. Der Affe hält in der linken Hand seine quietschende Ente, mit der andere bettelt er durch die Gitterstäbe nach fiktiven Bananen. Die Truppe lacht sich kringelig und das hilft, mit der prekären Situation klarzukommen. Mit einem privilegierten Reisepass in der Tasche, bildet unser Affe sich ein, kann man was riskieren. Er wird mit dieser Annahme Recht behalten, denn Jonas kennt inzwischen uniformierte Pappenheimer aller Art. Gegen drei Uhr morgens kommt

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ein Küchenwagen durch den Flur und allen, denen bis hierher der Appetit noch nicht vergangen ist, bekommen eine lauwarme Bockwurst mit einer Scheibe pappigen Toast ohne Senf. Jonas hat eine Idee. Er sammelt die leer gefressenen Pappen ein, falzt sie, reißt sie in jeweils sechs gleichgroße Stücke und ritzt, da keiner einen Stift mithat, mit dem Fingernagel Zeichen ein. K D steht für Kreuz-Dame, A H für Ass-Herz, 8 K für Karo-acht und so weiter, bis ein komplettes Skatblatt improvisiert ist. Zwei Mitspieler finden sich schnell und so wird am frühen Morgen in Zelle 7 Skat gekloppt. Nach zwei Spielen kommt der Schließer und fragt nach unserem Scharlatan. Jonas hat gerade ein Bomben-Blatt auf der Hand: Herz-sieben, -acht und -neun plus Herz-Bube und das Ass, Pik-sieben und die -neun, Kreuzacht und die -neun und um den Kohl endgültig fett zu machen: die Karo-acht. Er sagt: „Moment Wachtmeister Schließdietür, ich hab gerade ein Null-Ouvert auf der Hand, ich komme gleich.“ Wachtmeister Schließdietür bleibt die Spucke weg. Die anderen Gefangenen verkneifen sich das Lachen und beobachten gespannt das Geschehen. „Gibt's denn sowas, wenn sie nicht sofort, auf der Stelle antanzen, mach ich Ihnen einen Einlauf.“ Jonas will gerade kontern, dass er, wenn er auf der Stelle tanzt, nicht vom Fleck kommt, da quietscht das Entchen los und gibt ihm zu verstehen, den Bogen nicht zu überspannen. Jonas hört auf sie und lenkt ein. Er steht auf, legt die Karten offen auf seinen Platz und sagt zu seinem Nebenmann: „Du, ich glaub, das ist sogar 'ne Revolution, hier, spiel mal zu Ende.“ Revolution ist eine Variante des Null-Ouverts im Skat, die bei Turnieren, Meisterschaften und in der Politik nicht erlaubt ist. In Kneipen, in privaten Runden und auf der Schönhauser wird sie jedoch gespielt, allerdings sind oft die Regeln unklar, da sie selten passiert. Der Skat bleibt dabei unberührt und der Revolutionär muss seine Karten offenlegen. Das Besondere an dem Spiel ist, dass die Gegenspieler ihre Handkarten beliebig austauschen können. Der Schließer kriegt den Mund nicht zu: „Los Beeilung, das geht schneller, wir sind hier nicht auf der Fritz Heckert!“ Dem geneigten Leser sei an dieser Stelle erklärt, dass die Fritz Heckert das einzige in der DDR für die DDR gebaute Luxus-Kreuzfahrtschiff ist, welches 1960 vom Stapel gelassen wird und wegen Konstruktionsfehlern zwölf Jahre später bis zum Ende der DDR als Arbeiterwohnheim umgenutzt wird. Jonas geht zur Gittertür, wird ausgeschlossen und verabschiedet sich von den Leidensgefährten.

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Er macht ihnen Mut: „Jungs, falls ich nicht zurückkomme, lasst euch nicht unterkriegen, alles wird gut und versaut mir nicht die Revolution.“ Wachtmeister Schließdietür wundert sich, wie die Räuber mit weißen Pappen Skat spielen können und gibt dem komischen Vogel einen kräftigen Schubs in den Rücken. Jonas dreht sich um und sagt: „Das gibt ein Nachspiel.“ Alle denken, der Kasperkopf landet bestimmt drei Jahre in Einzelhaft. Jonas wird dem Kriminaloberkommissar Leugnenistzwecklos zugeführt, welcher in Zimmer 007 residiert. Sein Reisepass liegt auf dem Tisch, daneben mehrere Dutzend Personalausweise. „Guten Morgen, setzten Sie sich, möchten Sie eine Zigarette?“ Jonas denkt: „Ah, ein Kratzefuß, der mich nicht einordnen kann“, und sagt: „Nee danke, ich bin todmüde und möchte lieber so schnell wie möglich nach Hause.“ Der Kommissar schleimt weiter: „Vielleicht einen Kaffee, dann werden Sie wieder munter, mein Kollege meint, dass Sie den Oberaffen in der Verwahrungszelle gespielt haben?“ „Tja, was soll ich sagen, ohne Humor ist das ganze Spektakel ja nur zum Heulen oder verrückt werden.“ „Was haben Sie gestern Abend auf der Schönhauser Allee gemacht?“ „Ich war spazieren und sie?“ „Das steht hier nicht zur Debatte, was haben Sie sich dabei gedacht?“ „Ich wollte meine Ente zum Baden ausführen und eigentlich zum Märchenbrunnen, aber plötzlich war alles voller Menschen und keiner der Gendarmen hat mich durchgelassen. Kann ich jetzt gehen? Ich hab noch 'ne Verabredung in West-Berlin, die warten auf mich und machen sich Sorgen.“ Jonas holt die Ente aus der Jackentasche und stellt sie mit einem kleinen Quietsch auf den Schreibtisch. Kommissar Leugnenistzwecklos verschlägt es die Sprache, ihm fallen keine superschlauen Fragen mehr ein, da er als gelernter Psychologe merkt, dass er nur dumme Antworten bekommt. Er blättert in dem Pass, der sich inzwischen wie ein buntes Stempelbuch liest. Er kombiniert, dass er höchstwahrscheinlich einen der besten Top-Agenten vor sich hat. Hat er auch: Abitur mit Beruf, ausgebildet in der NVA-Bücherei zum Aufklärer, wahrscheinlich nur gut getarnt als Freak. Er denkt: Den ent-scharlatarnt keiner als einen von uns, bloß die Finger von dem lassen. „Also gut junger Mann, ich glaube Ihnen, hier ist ihr Pass, Sie können gehen.“ „Und die anderen?“ „Das lassen Sie getrost unsere Sorge sein.“ „Ich würde gern noch eine Beschwerde loswerden. Der Wachtmeister Schließdietür hat mir im Flur in den Rücken getreten und ihre Kollegen auf der Schönhauser

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Skatblatt aus Bockwurstpappe

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haben uns alle wie Scheiße behandelt. Wo soll das hinführen, wir wollen doch unsere DDR reformieren, oder kennen Sie nicht die Reden des Genossen Gorbatschow?“ „Lassen wir das, bitte gehen Sie jetzt, umso eher kann ich die anderen Fälle unter die Lupe nehmen und wer nichts auf dem Kerbholz hat, kann vielleicht unbeschadet entlassen werden.“ Es reicht, nichts wie weg, bevor er es sich anders überlegt. Jonas darf sich seinen Pass nehmen und will sich verabschieden. Der Kommissar nimmt den Hörer seines grauen Diensttelefons in die Hand und dreht an der Wählscheibe. Früher hatten Telefone noch Wählscheiben, machten tolle Geräusche, wenn man den Finger aus dem Loch zog und sich die Scheibe wieder zurückdrehte. Ein Wachmann erschien und Kommissar Leugnenistzwecklos sagt: „Bringen Sie den Mann hier nach draußen, der nächste bitte und Ihnen viel Glück, wiedersehen.“ „Nee, lieber nicht!“, kann Jonas sich nicht verkneifen. Er wird an die frische Luft gesetzt, das eiserne Tor fällt hinter ihm ins Schloss, er ist wieder frei und schaut dem Morgenrot entgegen. Erste Menschen eilen zur Arbeit, keiner von ihnen weiß, was hinter den Kulissen geschehen ist. Jonas macht einen Luftsprung und jauchzt, nimmt die Beine in die Hand und rennt zum S-Bahnhof Rummelsburg. Plötzlich fällt ihm schlagartig ein, dass die Ente noch auf dem Schreibtisch des Kommissars steht. Er überlegt kurz, ob er zurückeilen und sie befreien soll, doch nach reiflicher Überlegung kommt er zu dem Schluss, dass jede Revolution ihre Opfer braucht. Jonas stellt sich vor, wie sie auf dem Schreibtisch Zeugin der nächsten Verhöre wird und zum Feierabend in der Aktentasche des Offiziers verschwindet, um am nächsten Tag mit dessen Tochter zu baden. Ich, Zorro der Bär, bin froh, dass Jonas ohne sie nach Hause kommt und wir das nervende Gequietsche nicht mehr hören müssen.

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13. August 2020, 21.30 Uhr Lieber Herr Thaler, Heute auf den Tag genau ist der Mauerbau sechzig Jahre her und ich danke Ihnen für die Übersendung des Manuskriptes. Ich lese es gerade mit Spannung und Freude, muss allerdings einige Details richtigstellen. Es betrifft hauptsächlich das Kapitel „Der wilde Affe von Rummelsburg“ und „Die Rakete vom Alexanderplatz“. Sie haben diese entscheidenden Tage der friedlichen Revolution und die dazu gehörenden Ereignisse kräftig durcheinandergebracht. Ich bin mir, trotz einiger Gedächtnislücken, sehr sicher, dass es folgendermaßen ablief und bin gespannt, ob es das eine oder andere Mal funkt bei Ihrem Puppenspieler. Am 7. Oktober 1989 trafen wir uns (Jonas, Schappy und meine Wenigkeit) in irgendeiner Kneipe im Prenzlauer Berg. Von dort aus marschierten wir schnurstracks zur Volksbühne, da dort irgendeine Aktion im Rahmen des Widerstands stattfinden sollte. Wir unterhielten uns vor der Volksbühne mit ein paar Leuten und erfuhren, dass nicht die Volksbühne, sondern der Alexanderplatz der Ort wäre, an dem heute etwas passieren sollte. Also marschierten wir schnurstracks zum Alex. Dort stießen wir auf eine ungefähr tausendköpfige Menschenmenge, welche dicht gedrängt im Kreis stand, umlagert von Stasileuten und Kamerateams aus aller Herren Länder. Wir gesellten uns dazu und standen so ziemlich am Rand – für ca. eine Zigarettenlänge, denn dann hatte Jonas die glorreiche Idee, dass das jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, um eine mitgebrachte Silvesterrakete aufsteigen zu lassen. Er holte die Rakete raus und ich zündete sie an. Das war dann auf irgendeine verrückte Art so etwas wie eine Initialzündung. Der Kreis begann sich zu drehen, öffnete sich nach einer Weile und verwandelte sich in einen Demonstrationszug, am Roten Rathaus vorbei zum Palast der Republik. Und mit einem Mal waren wir drei- oder viermal so viele Leute. Als die brodelnde Masse lauthals am Spreeufer gegenüber des Palastes ankam, erwartete uns eine Sperre von FDJlern und Volkspolizisten. Wir warfen ihnen Kleingeld vor die Füße, mit entsprechenden Bemerkungen. Von dort aus ging es die Karl-Liebknecht-Straße runter bis Ecke Mollstraße. Dort teilte sich der Zug und einige zogen Richtung Grenzübergang Invalidenstraße. Wir wurden Ecke Greifswalder Straße eingekesselt und probten den ersten Sitzstreik unseres Lebens.

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Die Polizei ließ eine Öffnung Richtung Greifswalder Straße und so zogen wir unter Skandieren verschiedenster Sprechchöre von Sperre zu Sperre durch den Prenzlauer Berg bis zur Gethsemanekirche. Dort dachten dann fast alle, dass die Demonstration hier zu Ende wäre und wir drei hatten ordentlich zu schreien, um die Leute wieder auf die Straße zu bekommen. Wir führten den Zug über einen Umweg um eine Polizeisperre herum auf die Schönhauser Allee und diese runter bis kurz vor die Raumer Straße, wo die nächste Polizeisperre auf uns wartete. Erfahrung macht klug, also forderten wir die Leute zu einem weiteren Sitzstreik auf. Da Schreien bekanntlich durstig macht, meinten wir, uns einen Gin Tonic im nahen Wiener Café verdient zu haben. Wir tranken, klopften uns gegenseitig auf die Schultern und als wir wieder rauskamen, waren alle weg. Wir rannten schnell hinterher und wieder ging es kreuz und quer durch den Prenzlauer Berg, bis zur Greifswalder Straße, Ecke Heinrich Roller. Dort wartete schon die jetzt zu allem entschlossene Staatsmacht auf uns. Die Beamten ließ sich nicht lange bitten und schon fing das „lustige“ Treiben an. Knüppel aus dem Sack und immer gib ihm. Das war dann der Moment, in dem ich Jonas und Schappy verlor. Ich schaffte es in irgendeinen U-Bahnhof. Am nächsten Tag befand ich mich dann mit Trötsch, dem Sänger der „Firma“, auf dem Alex, der aber vollständig von Stasileuten okkupiert war. Nach einer Tasse Kaffee schlichen wir von dannen und ich ging abends zur Gethsemane Kirche. Dort traf ich Jens, den Trommler der „Ichfunktion“. Da alles komplett abgeriegelt war, standen wir etwas verloren rum. Die Polizei öffnete dann eine Sperre Richtung Schönhauser Allee. Dort sickerten immer mehr Menschen durch und ruckzuck war die Schönhauser blockiert. Dieses Mal war die Staatsmacht besser vorbereitet. Wir waren vielleicht 5000 Leute und standen sehr, sehr vielen Polizisten, Schäferhunden, Wasserwerfern und Räumfahrzeugen gegenüber. Es gab unschöne Szenen und ich erinnere mich noch sehr gut an ein abgerissenes Ohr. Ein Inferno. Jonas traf ich erst zwei Tage später wieder und er erzählte, dass er dort auf der Schönhauser verhaftet wurde und die Nacht in Rummelsburg verbracht hat. Wo waren Sie an diesem Tag eigentlich, auch vor Ort oder gemütlich vor dem Fernseher? Beste Grüße aus dem sommerlichen Stolzenhagen Ihr Gunter Franze Manager der „Ichfunktion“

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das riecht nach Lunte am Stiel.

15. Die Rakete vom Alexanderplatz Halt! Maschinen-Stopp!! Aussteigen nicht vergessen!!! Vorwärts! Vorsicht – Uwaga – Attention – es riecht nach Revolution … Unsere Zeitmaschine hält am denkwürdigen 4. November 1989 in OstBerlin. Wir befinden uns in Jonas' Wohnung in der Prenzlauer Allee 188. Gegen elf Uhr treffen sich hier drei Querulanten, der Schreiberling Dr. S.c.Happy, sein Skandal Kollege, Matthias BAADER Holst und Jonas, mein zukünftiger Puppenspieler. BAADER ist Punk-Poet und ein extrem schräger Vogel unter den zugezogenen Ost-Berliner Bohemiens. Der Zwei-Meter-Mann kommt ursprünglich aus Halle, ist spindeldürr, rasiert sich die Augenbrauen und schreibt das System und die Welt anklagende Gedichte. Er ist wie viele im Osten unwissender Sympathisant der Roten Armee Fraktion und klaut sich passend zu seinem Vornamen Matthias den Nachnamen des Obermackers der RAF. Der Ost-BAADER ist wie sein Namensvetter ein getriebener Selbstzerstörer, seine radikalen Texte sprechen von düsterer Einsamkeit und sind geprägt von einer tiefgründigen Melancholie. Er stolpert im Mai 1990 des Lebens müde oder einfach nur volltrunken vor eine Straßenbahn in der Oranienburger Straße und verstirbt an den Folgen des Unfalls. Die Legende besagt, dass er nach einer durchtanzten Nacht in der Tachelesruine dem knatternden Motorgeräusch eines Trabbis ausgewichen ist und dabei im Suff die leisere Straßenbahn überhört hat. Wäre zum Zeitpunkt seines Todes noch der alte DDR-Apparat an der Macht gewesen, alle hätten wie in Stammheim an Mord geglaubt. BAADER und Schappy haben Ende der Achtziger eine sehr produktive Phase, sie sind ein geliebtes und gleichzeitig gefürchtetes Anarcho-Duo in der Szene.

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Sie nutzen jede Chance, laufende Lesungen von ungeliebten Kollegen wortreich zu torpedieren, gnadenlos Ausstellungseröffnungen und ähnliche Veranstaltungen zu entern. Sie zelebrieren ihre Texte und stiften Aufruhr und Verwirrung. Die beiden saufen gerne was das Zeug hält, haben in den seltensten Fällen Geld für die Zeche dabei. Sie schnorren sich gut gelaunt von Party zu Party und von Kneipe zu Kneipe, immer bereit, aus dem Stegreif eine zweistündige Show aus dem Ärmel zu schütteln. BAADER kennt seine Texte auswendig und Schappy kann, falls er seine Manuskripte nicht dabei hat, das Neue Deutschland rückwärts singen und dabei Kniebeuge machen. Der kleine Dicke und der lange Dünne, die zwei erinnern mich immer wieder an Pat und Patachon, die wunderbaren Helden der Stummfilmzeit. Für den Vormittag des 4. November ist durchgesickert, dass eine offiziell genehmigte Demonstration auf dem Alexanderplatz stattfinden soll. Die Initiative geht von den Ost-Berliner Theatermachern aus. Keiner von ihnen will die gewalttätigen Ausschreitungen der Staatsmacht zum 40. Jahrestag der DDR länger hinnehmen. Endlich rührt sich die alte Garde der gestandenen Schauspieler, viele von ihnen haben rebellierende Kinder in der Spätpubertät, die in der Nacht vom 6. zum 7. Oktober auf der Schönhauser Allee verhaftet und in den Knast nach Rummelsburg verfrachtet wurden. Eine Woche nach den Ausschreitungen findet in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine Versammlung von achthundert Theaterleuten statt. Auf dieser Konferenz entsteht die glorreiche Idee, eine Veranstaltung für eine wirklich demokratische DDR anzumelden. Mitte Oktober stellen sie den Antrag auf Zulassung der Demo, die verblüffender Weise bereits eine Woche später genehmigt wird. Als offizielle Veranstalter fungieren die Künstler der Berliner Theater, der Verband der bildenden Künstler, der Verband der Film- und Fernsehschaffenden und das Komitee für Unterhaltungskunst. Eigentlich gruseln mich solche Massenaufläufe, aber meine Mission heißt nach wie vor: „Die Mauer muss weg!“ und so bleibt selbst einer Puppe wie mir nichts anderes übrig, als auch in saure Äpfel zu beißen. Die Demo startet planmäßig um 10 Uhr an der Mollstraße, Ecke Prenzlauer, direkt vor dem ADN-Gebäude, dem einzigen zugelassenen Nachrichtendienst der DDR. Von dort aus spaziert der Menschenzug über

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die Karl-Liebknecht-Straße zum Palast der Republik und wieder zurück bis zum Alex. Hier soll pünktlich um 13 Uhr die Abschlusskundgebung stattfinden. Die Theaterleute haben eine Bühne improvisiert, es darf mit prominenten Rednern gerechnet werden. Mit der Zeit strömen rund eine Million Menschen auf den Alex. Zahlreiche Teilnehmer tragen selbst gemalte Transparente mit mehr schlecht als recht gereimten Losungen wie: „Wir sind keine Fans von Egon Krenz“, „Glasnost und Perestroika“ oder „Freie Wahlen statt falscher Zahlen“, „Links gegen oben“ und „Rücktritt ist Fortschritt“. Spätestens 14.30 Uhr soll nach Wunsch der Parteibonzen der Spuk vorbei sein, so die offizielle Genehmigung, da pünktlich um 15 Uhr im Palast der Republik die Gala zu Ehren des Generalsekretärs der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) Michail Gorbatschow stattfinden soll. Unsere drei Querulanten putzen sich heraus und schmücken sich in der Wohnung meines Schützlings für das Straßenfest der Demokratie. Dr. S.c.Happy wird zum rechtmäßigen König gewählt und bekommt von Jonas, dem Ober Requisiteur, aus einem der vielen Performance-Koffer Krone, Zepter und einen samtroten Umhang verpasst. BAADER rasiert sich lediglich seine nachgewachsenen Stoppeln auf den Augenbrauen ab und verweigert jegliche weitere Maskerade. Jonas lässt sich vom König einen Riss schminken, eine Mauer quer durchs Gesicht mit angedeuteten roten Blutstropfen. Er befestigt auf seiner Schulter eine kleine, weiße Taube mit echten Federn, der Rumpf geformt aus Pappmaché. Sie soll brav als Symbol für den gewaltfreien Charakter der Veranstaltung dienen. Als die drei fünf vor zwölf aus der Haustür treten, eilt Jonas noch einmal die drei Stockwerke in unsere Behausung hoch und stopft sich drei Silvesterraketen in den Ärmel seiner Lederjacke. Als er wieder unten ist, sind der König und sein Untertan schon weg, aufgesaugt vom Menschenstrom, der sich in Richtung Alex bewegt. Jonas, der sich mit seiner Taube auf der Schulter wie ein Friedensrichter fühlt, stellt sich auf eine Blumenrabatte, um irgendwo im Getümmel den langen BAADER oder die Krone von Peter dem Ersten zu entdecken. Keine Chance. Es gibt nichts zu sehen außer Bürger in Karnevalsstimmung, die mit festem Schritt und ausgesprochen guter Laune ins Zentrum pilgern. Die Sonne scheint und die Spatzen pfeifen Revolte von den Dächern. Aufgrund der sich endlich bewegenden kritischen Masse liegt keine Angst mehr in der kühlen Novemberluft.

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Vereinzelt hört man wieder die Sprechchöre aus der Nacht des 7. Oktober: „Bürger, lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!“ Die Demo ist bereits vor Stunden losmarschiert. Der seit frühester Kindheit halbwaise König Peter hat im Vorfeld seine beiden Untertanen angewiesen, sich im Falle des Verlierens direkt an der berühmt-berüchtigten Weltzeituhr am Alex oder abends im Choriner Krug wiederzutreffen. Ohne diese Sicherheitsmaßnahme hätten sich die drei an diesem denkwürdigen Tag vermutlich nie wiedergesehen. Als die Weltzeituhr in Berlin dreizehn schlägt, trifft Jonas auf BAADER. Seine Glatze leuchtet wie eine Boje im Menschenmeer. Er steht direkt unter der Neunzehn, der Lieblingszahl des Königs. Die Neunzehn zeigt gerade die aktuelle Zeit in Neu-Delhi an. Der Lange berichtet dem Friedensrichter, dass er den kleinen König vor zehn Minuten an der improvisierten Tribüne zurückgelassen habe, da dieser weinend auf der Erde sitze und wütend sein Zepter in Richtung Bühne schwinge. Als Redner treten neben engagierten Theaterleuten wie Jan Josef Liefers und Ulrich Mühe auch der Staranwalt Gregor Gysi, Generaloberst a.D. Markus Wolf, der als Mann ohne Gesicht der Abteilung Aufklärung in die Geschichte eingeht, sowie die Riege der etablierten Schriftsteller wie Stefan Heym, Heiner Müller, Christa Wolf und Christoph Hein in Erscheinung. Alle Promis sind mit ihren Redebeiträgen schon durch. Keiner nimmt den kleinen König wahr, obwohl dieser trotz Krone bereit ist, sich an der Schlange der Redner hinten und nicht vorn anzustellen. Diese Taktik entpuppt sich für seine Majestät im Nachhinein als strategischer Fehler. Peter der Erste wettert vor sich hin, will er doch endlich seine Rede an das zu erobernde Volk halten. Drei Minuten am Mikrofon hätten dem verkleideten Doktor der Fröhlichkeit gereicht, um einen phonetischen Satz aus Ä, Ö und U so zu intonieren, dass dem mündig gewordenen Volk vor Lachen die Ohren abgefallen wären. Aber es soll nicht sein, nicht jetzt und vor allen Dingen nicht hier. Während der gesamten Veranstaltung ist kein einziger Beamter in Uniform auf dem Alexanderplatz zu sehen. Die aus Berliner Schauspielern zusammengestellten Ordnungskräfte sind mit ihren grünen Schärpen gut erkennbar dekoriert und stehen als Zeichen für die Sicherheitspartnerschaft mit der Polizei. Der Aufdruck „Keine Gewalt“ lässt dunkel erahnen, wie die schlimmste anzunehmende Katastrophe aussehen könnte. Mir kommt sofort wieder die blutige Erinnerung an das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking hoch.

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Pünktlich um 14.30 Uhr verkündet der Moderator, ein Bühnenbildner des Maxim Gorki Theaters, das Ende der Veranstaltung und bittet das Publikum, auf friedlichen Wegen nach Hause zu gehen. Bühne und Technik werden eilig abgebaut, alle offiziellen Redner klopfen sich auf die Schultern, insbesondere die Gründer des Neuen Forums. König Peter der Erste erspäht unter den abbauenden Roadies einen Bühnenarbeiter der Volksbühne und versucht ihn mit Tränen in den Augen zu überzeugen, ihm doch nochmal das Mikro für nur drei Minuten einzustöpseln. Die Krone sitzt vor lauter Erregung schon schief auf seinem Kopf, sein Gesicht ist puterrot. Vergeblich versucht er seinem Kantinenkumpel zu erklären, auf dem Rednerplan übersehen worden zu sein und dass, obwohl er doch der König sei und gewisse Rechte habe. Der Saufkumpan lacht ihn breit an, klopft ihm kameradschaftlich auf die Schulter und sagt in feinstem sächsisch: „Männö Schabby, jetze hörr uff, sei ni' sauer, heude geht's nisch, die Nummor hieor steht uff dünn'm Eis, mier könn' hior außorhalb vom Brodogoll nüschte riskieorn. Des kann richt'sch'n Ärgor geben, mier sehn uns heude Oabend uff ne Pilsledde im Metzer Eck, ogay?!“ BAADER sieht relativ schnell ein, dass es kein Durchkommen zum Mikrofon geben wird, er hat Durst und das königliche Gejammere satt. Er lässt seine Majestät einfach sitzen und schwimmt durch die Massen zur Weltzeituhr. Dort wartet er voller Hoffnung auf meinen Eulenspiegel, von dem er weiß, dass der die dicke T-Shirt-Marie, sprich Bargeld, im Portemonnaie hat. Er fuchtelt heftig mit seinen schlaksigen Armen, so dass Jonas mit seiner Taube keine Chance hat, ihn zu übersehen. Die beiden beschließen, ihrem König ein eindeutiges Zeichen zu senden, damit dieser den Weg zur Weltzeituhr findet. Jonas zaubert eine der drei Silvesterraketen aus dem Ärmel und hält sie dem Langen auffordernd unter die Nase. Der zögert nicht lange, holt sein Feuerzeug aus der Hosentasche und entzündet, ohne mit der abrasierten Augenbraue zu zucken, das Signalfeuer. Es zischt an der Lunte und riecht höllisch nach Schwefel. Jonas lässt die Rakete im Moment des größten Vortriebs los, ohne Umschweife fliegt das Ding kerzengerade in den blauen Himmel. Ich versuche, einen Blick aus der Hosentasche meines Besitzers zu erhaschen und denke dabei an den alten russischen Stummfilmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“, an den Startschuss der „Aurora“ und die große sozialistische Oktoberrevolution. Ein Raunen geht durch die Menge.

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Jonas verspürt einen Hauch von Angst, von einem der unzählig anwesenden Geheimen identifiziert und verhaftet zu werden. Er taucht kurzerhand unter, krabbelt ca. zwanzig Meter auf allen Vieren durch die Beine der Meute und richtet sich unerkannt wieder auf. Er schreit lauthals: „Vorwärts, auf zum Palast, hoch lebe der König!“ Gelächter. Die Herumstehenden grölen sofort nach: „Ja, auf zum Palast! Wir sind das Volk!!“ Augenblicklich setzt sich ein Pulk von dreißig Menschen in Bewegung und die führungslosen Volksmassen trotten wie eine Herde Schafe hinterher. Eine halbe Million steuert in Richtung Palast. Keiner will nach Hause, der Puls der Zeit schlägt genau hier. Binnen einer Viertelstunde leert sich der Alex. Die Schriftsteller und Schauspieler mit den orangenen Schärpen kriegen ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, was passiert jetzt? Sind wir schuld, wenn geschossen wird? Zurück bleiben tausende Transparente, alles ähnelt dem Ende einer 1. MaiDemo, nur mit dem kleinen Unterschied, dass diesmal die Euphorie echt und nicht gespielt ist. Jonas liebt als Kind diese 1. Mai-Feiern der Theaterschaffenden, denn nach dem offiziellen Akt auf der Karl-Marx-Allee gibt es wunderbare Feten in der Volksbühne. Die Eltern betrinken sich Kette-rauchend im Roten Salon, ihre Kinder dürfen die Gänge, das Sternfoyer und den Grünen Salon bespielen. Die Requisite spendiert eine große Kiste mit alten Kostümen, Hüten, Kleidern und Tüchern. Die Kinder verkleiden sich, spielen Theater und äffen die Alten nach. Der absolute Clou war, dass unter dem Intendanten Benno Besson extra für die Kids der Eiserne Vorhang heruntergelassen wird und auch im Zuschauerraum Theater und Verstecke gespielt werden darf. Das waren Zeiten in der Nische des Freiraums Theater, eine eigene Welt, eine große glückliche Familie, die nicht viel mit den Betonköpfen des real existierenden Sozialismus am Hut hatte. Viele dieser Kinder werden später Schauspieler, Regisseure und Bühnenbildner oder zumindest Garderobiere und Kulissenschieber. Zurück zum Tag der friedlichen Revolution von '89. Jonas wandert mit der aufgeputschten Menge vorbei an der Marienkirche, vorbei am trockengelegten Neptunbrunnen und vorbei am sitzenden Denkmal von Marx und Engels. Langsam wird mir in Jonas' Hosentasche die Luft knapp. Ich zwänge meinen Bärenkopf heraus, verliere das Gleichgewicht und falle und falle und falle. Nach Jahrzehnten berühre ich endlich wieder die Erde, die auch mir wie eine Mutter ist. Mein Luftikus hebt mich auf, steckt mich

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auf seine Hand und wir lachen uns an. Ich helfe ihm, nach König Peter und dem Langen Ausschau zu halten. Da hätte er auch eher draufkommen können: Vier Augen sehen mehr als zwei. Kurz bevor die aufgebrachte Meute das Spreeufer auf der gegenüberliegenden Seite des Palastes der Republik erreicht, passiert etwas, womit jeder Anwesende tendenziell gerechnet hat. Dutzende armeegrüne LKWs rauschen heran, Volkspolizei-Kadetten springen ab und bilden eine schützende Kette um den Palast. Der Apparat bekommt es mit der Angst zu tun, der Spieß hat sich endgültig gedreht. Das aufgebrachte Volk verlacht die jungen Würstchen in Uniform. Manche Frauen versuchen, die armen Burschen, die vor Angst am ganzen Leibe zittern, zu umarmen, sie zum Ausziehen der Uniform zu überreden: „Jungs, ihr seid welche von uns, desertiert, lauft über, bevor es zu spät ist!“ In deren Haut wollte keiner stecken. Sie wissen weder vor noch zurück. Die ersten Bürger beginnen, die Leibwächter mit Pfennigen zu bewerfen: „Hier, ihr Pfeifen, euer Lohn, Alu-Chips mit Spott und Hohn!“ Im großen Saal des Palastes startet der Festakt zu Ehren des sowjetischen Staatsoberhauptes. Broilerkeulen, Buletten, russischer Kaviar, kubanische Ananas und andere delikate Häppchen stehen auf dem riesigen Büfett, bereit für das große Fressen. Der Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow ist gerade fertig mit seiner Rede. Er fordert die Genossen auf, die Zeichen der Zeit richtig zu verstehen und dementsprechend zu handeln. Egon Krenz, der frisch gekürte Kronprinz, nickt wie an Fäden gezogen mit einem Kratzfuß und köpft zur Feier des Tages die erste Flasche Rotkäppchen-Sekt. Die Korken knallen und fliegen unter lautem Gelächter an die Decke. Die Staatselite prostet sich zu, Gorbatschow denkt sich seinen Teil und die Kapelle spielt zum letzten Tanz auf dem Vulkan. Erich Honecker, der inzwischen von allen gemobbte Generalsekretär des Staatsrates der DDR, schaut mit einem Seitenblick aus dem Fenster des Glaskastens. Er verschluckt sich, bekommt einen Hustenanfall und will seinen Augen nicht trauen. Das Volk klingelt Sturm. Michail kommt auf ihn zu, klopft ihm kameradschaftlich auf die Schulter und fragt: „Druschba, Genosse Honecker, du hast aber viele Towarischi da draußen, soll ich eine Ladung Krimsekt ordern?“ Erichs Blick sucht verzweifelt den von Mielke, doch der Minister für Staatssicherheit schleimt sich gerade an die schöne Raissa Gorbatschowa.

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Erich winkt mit einer unauffälligen Handbewegung einen der anwesenden Staatssekretäre zu sich und nuschelt in dessen Ohr: „Genosse, fragen sie den Krenz, was das da draußen soll!“, und fast bettelnd zischelt er: „Lassen Sie um Gottes Willen die Uniformierten abziehen, unser Gast darf kein falsches Bild zu sehen bekommen!“ Fünf Minuten später rücken die Uniformierten im Laufschritt ab, setzen sich unter Hohngelächter auf ihre Sitzbänke und werden zurück in ihre Kasernen gekarrt. Jonas nimmt die zweite Rakete zur Hand, zündet sie und ab geht die Post über die Spree, direkt in Richtung Palasthimmel. Dort öffnet sich eines der kupferfarben getönten Fenster. Die Umrisse zweier Gestalten sind zu sehen und vorwitzige Demonstranten vermuten Honecker und Gorbatschow persönlich. Binnen Sekunden skandieren hunderttausende: „Erich – komm raus, Erich – komm raus …!“ und „Gorbi hilf … Gorbi hilf …“ Mein Hallodri zieht die letzte Rakete aus dem Ärmel und entzündet sie am Stummel einer glühenden Zigarette. Feuer frei! Diesmal schießt er direkt auf den Palast, die bunten Kugeln prallen an den getönten Scheiben ab und fallen leuchtend in die Spree. Das Fenster schließt sich und das Volk jubelt. Was für ein Tag. Nach und nach verlaufen sich die Menschen in der Abenddämmerung und plötzlich steht er da, direkt vor seinem Palast, genau da, wo er hingehört – Peter der Erste. Jonas ruft lauthals: „Hurra, hurra, da ist er ja, hoch lebe der König!“ Welch eine Freude! Der König scheint uns nicht zu bemerken, im Gegenteil, er hat sich in Rage geredet, spricht vor ca. zweihundert Schaulustigen in einer unmissverständlich zwischenzeiligen Sprache: „Wenner winner iss willer winner bleim, bleibter winner isser winner bisser nich mehr Eier sagen kann …“ Der Friedensrichter macht sich bemerkbar, indem er erneut ruft: „Der König, der König, hoch lebe der König!“ Alle Anwesenden stimmen ein: „Hoch lebe der König, hoch lebe der König!“ Seine Majestät lächelt heiser als er seinen Freund mit der Taube auf der Schulter sieht. Er sinkt erschöpft zusammen, schläft ein und erwacht erst wieder, als der Spuk vorbei ist. Jonas nimmt ihm die Krone ab, wickelt sie zusammen mit

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dem Zepter und der Taube in den samtroten Umhang und beide spazieren in Richtung Prenzlauer Berg. Dreißig Jahre später kann ich, Zorro der Bär, endlich diese Geschichten erzählen und von Herrn Thaler dieses Buch schreiben lassen, denn es ist lange genug her, als dass irgendjemand weiß, dass es so und nicht anders war. Wer glaubt schon dem Gequatsche einer Puppe, Gorbi ist tot, Erich ist tot, BAADER eins und zwei sind tot, André Freygang ist tot, nur den Doktor der Fröhlichkeit, den könnte man noch fragen, wie das damals war. Doch er ist kaum greifbar und hat immer zu tun, denn er ist ein vielbeschäftigter Schriftsteller geworden. Oh, siehe da, er hat doch Zeit, ein Brief kommt geflogen und setzt sich nieder auf meine Tatze. Rom, 19.9.2019 Sehr geehrter Herr Thaler, lieber Zorrobär, verehrtes Fräulein Mary Filou! Leid bin ich's nach so vielen Jahrzehnten drüber nachzusinnen, was, warum, wieso war, wer zu wem welche Sätze gedacht und gesagt haben will, wozu diese Aussage, jene Tat oder irre Geschichte gezählt werden darf. Nehmen wir BAADER-Holst und seine Glatze. Würde ich schreiben: Er hatte kahle Stellen, graue Haarbüschel oder eine Zehn-Jahres-Wette zu laufen, dass Augenbrauen nicht sein müssen, und würde sie sich deswegen abrasiert, so müsstet Ihr mir alles eins zu eins abnehmen. Da sind ja nur noch seine Eltern. Die könnten meine Klarstellung anzweifeln und berichtigen. Fakt ist, er war einer der wichtigsten Poeten in meinem Leben. Und nehmen wir meine Rede vorm Palast der Republik: Ich weiß den Wortlaut nicht mehr. Ich weiß das Gedicht, das mir während des Appells ans Volk durch mein Hirn schoss, nur noch verschwommen. Ich weiß, ich versuchte alle möglichen Varianten auf die Zeilen zu schaffen. Ich sprach also zu mir selbst in verschiedenen Tönen, ich röchelte die Worte, stotterte absichtlich, ich sang die Zeile rückwärts, vorwärts und seitwärts daher. Ich wollte plötzlich beschwören, statt mich beschweren. Der Voodoo flocht sich von allein ein. Ich sprach wie in den Kosmos hinein, über die Leute hinweg.

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Ich meine, ich stand da mit Krone und Zepter vor dem Palast und da war das Volk, zu dem ich sprach. Meine Rede verlor sich damals im All, Sie aber, Herr Zorro, äh Herr Thaler, können alles erreichen, wenn Sie bei Ihren Darstellungen bleiben. Herzlich, Ihr Dr. sc. Happy alias Peter Wawerzinek Und noch eine Zeitflaschenpost vom Autor persönlich: 13. August 2020 – 23:55 Uhr Sehr geehrter Herr Franze! Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre wichtigen Ausführungen, Sie bringen Licht an eine Stelle, die auch mir unklar war, Genosse Gorbatschow war nicht am 4. November '89 in Ost-Berlin, sondern am 7. Oktober '89, anlässlich des 40. Jubeltages der DDR. Außerdem war Honecker am 4.11.1989 schon entmachtet, so dass sich die Geschichte mit Peter dem Ersten vor dem Palast am 7. Oktober zugetragen haben muss. Ja, es ist nicht einfach, Ereignisse, die schon über dreißig Jahre zurückliegen, korrekt zu beschreiben. Der Mensch glänzt durch Vergessen und Verwaschen und ich möchte nicht wirklich wissen, was in den Religions- und Geschichtsbüchern alles falsch dargelegt wird. Morgen spreche ich Jonas an und werde ihn und sein löchriges Gedächtnis zur Rede stellen. Mit Besten Grüßen und nochmals herzlichen Dank Ihr Klaus Thaler

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15. August 2020 – 7:30 Uhr Lieber Gunter Franze! Ich habe mit dem Herrn Puppenspieler gesprochen und auch er ist froh, dass Sie sich gemeldet haben. Er bestätigt die Richtigkeit all Ihrer Angaben und behauptet nun das Gegenteil seiner Ausführungen. Naja, er ist auch nicht mehr der Jüngste. Er meinte, dass er an mehreren Tagen Raketen dabeihatte, da er ja zu der Zeit mit Wawerzinek bei dieser Raketen-Band des „Freygang“-Sängers agierte. Zumindest ärgert er sich sehr über sein verschwommenes Bild der Erinnerungen und lässt Sie hiermit herzlich grüßen. Auch mit Zorro dem Bären habe ich gesprochen, aber der schiebt alles auf die Quitsche-Ente und will seine Tatzen in Unschuld waschen. Menschen und Puppen, ich sag Ihnen, ein einziges Chaos. Ahoi und volle Kraft voraus, Ihr Klaus Thaler

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Ich sehe was, was du nicht mehr siehst, und das war von einer Seite grau, galt als unüberwindbar und fiel plötzlich um.

16. Das gemeine Feeling beim Mauerfall Mein Ganove ist inzwischen in der Szene bekannt dafür, knifflige Aufgaben rund um den Grenzschmuggel zu bewältigen. Er ist immer noch im Besitz eines gültigen Reisepasses, kann bei Bedarf täglich mit seinem bunt bemalten Lada Kombi nach West-Berlin ein- und viel wichtiger: auch wieder ausreisen. Jonas fungiert in der Szene als Einkäufer und verhilft den befreundeten Musikern zu heißbegehrter Tontechnik. Zum Glück wird er nie von einem Hilfesuchenden gebeten, ihn durch die Mauer zu schleusen, der Kerl hätte sich vor Angst in die Hosen gemacht. In der Zossener Straße in Kreuzberg gibt es damals eine Kneipe Namens Arcanoa. Die Metallkünstler der Dead Chickens haben hier ein sehr schräges Gruselkabinett zusammengeschweißt, über den Tresen fließt ein kleiner Bach und an der Decke hängen Grabsteine und Monster aus Wohlstandsschrott. In dieser neu eröffneten Szenekneipe treffen sich viele der ausgereisten Ossis. Sylvana, die Inhaberin des Ladens, ist geschäftstüchtig und lässt sich von Jonas für ihre Ost-Kundschaft kleine Schmankerl ranschaffen. Sie bezahlt ihm die begehrten Waren 1:1 in Westgeld und beide machen ihren Schnitt. Zigarettenstangen der Marken Karo, Club und Juwel 72, Ost-Liköre wie Kali (Kaffee Likör) Kiwi (Kirsch Whisky) Sambalita (Maracuja Likör), Nordhäuser Doppelkorn und Goldkrone erfreuen die Heimatvertriebenen hinter der Mauer. Genaugenommen sind die West-Berliner die, die eingesperrt leben. Sie können nicht einfach an die Ostsee oder ins Grüne fahren, sie leben „zwischen“ den Mauern. Immerhin war die Mauer auf ihrer Seite bunt und Männer mussten nicht zur Bundeswehr. Manchmal fährt Jonas dreimal die Woche rüber, meistens nutzt er den Übergang Heinrich-Heine-Straße. Manche Zöllner kennen ihn schon vom Sehen und mein angehender Puppenspieler nimmt sich ausgesprochen viel Zeit für das Abenteuer des Grenzübertritts. Zuerst die dummen Gesichter

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der Ost-Beamten. Sie verstehen die Welt nicht mehr, warum hat so eine Type wie der einen Reisepass? Unglaublich. Muss wohl ein Top-Agent der „Firma“ sein. Einmal begibt es sich, dass seine als Geschenke getarnten Waren von beiden Seiten kontrolliert werden. Die Ost-Zöllner beäugen sorgfältig alle Papiere: Reisepass, Führerschein, Kfz-Schein und ganz wichtig: die Zollerklärung. Die Beamten hinterfragen zögerlich den Grund der Reise und sind zufrieden, als er erklärt: „Ich will zu einer Party und habe ein paar Geschenke an Bord, tja Genossen, gute Ware setzt sich durch, die Wessis kommen langsam auf den Geschmack, aber ich sag euch eins Genossen Wachtmeister, ärgert euch nicht, die Mauer ist eh bald weg, dann könnt ihr auch mal über den Ku'damm spazieren oder auf der Reeperbahn nachts um halb eins über die Herbertstraße torkeln.“ Der erste Zöllner grinst breit, der zweite bekommt Ohrensausen und der dritte denkt, er habe sich verhört. Aber mein Gaukler legt nach: „Na seht mal Genossen Grenzwächter, wenn so einer wie ich schon rüberfahren darf, kann es nicht mehr lange dauern, bis alle dürfen, ihr auch, wäre doch 'ne gute Sache, oder? Ich glaube ja, die wenigsten von uns würden abhauen. Die Sache hat nur einen Hacken, ihr habt dann keine Arbeit mehr Jungs, aber keine Sorge, da findet sich schon was anderes.“ Das klingt sehr verlockend und logisch. Der Grimmige: „Haben Sie etwas zu verzollen?“ Jonas: „Nicht, dass ich wüsste, ich habe Zigaretten und ein paar Likörchen dabei für unsere ehemaligen Landsleute, soll ich den Kofferraum öffnen?“ „Nein danke!“ Der Mann mit dem Ohrensausen stempelte widerwillig den Pass ab und der, der meint, er habe sich verhört, schließt lieber gleich die Augen und den offenen Mund. Die Grinsebacke jedoch knallt überdurchschnittlich laut die Hacken zusammen und übergibt unserem Schlawiner ausgesprochen freundlich die Papiere. „Gute Weiterfahrt!“ und mit einem Augenzwinkern flüstert er leise hinzu: „Schön wär's, wenn wir bald alle können, bis zum nächsten Mal!“ Viel misstrauischer dagegen die West-Wegelagerer: „Guten Tag, den Reisepass, die Fahrzeugpapiere und den Führerschein, haben Sie etwas zu verzollen? Finden Sie das etwa gut, wie ihr Auto beschmiert ist?“ Jonas muss den Kofferraum öffnen und da liegen sie, drei Stangen Zigaretten und vier Flaschen Schnaps, Gesamtwert hundertfünfzig Ost-Mark.

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Der erste Uniformierte: „Bürger, warum haben Sie diese Waren nicht deklariert, betreiben Sie illegalen Handel?“ Jonas antwortet: „Aber nein, nicht doch, keineswegs Genosse, äh Kollege Zöllner, das sind Geschenke für eine Party, ich hoffe, dass ist nicht verboten, ihre Kollegen auf der Ostseite sahen bei der Ausfuhr kein Problem …“ Der zweite glaubt ihm kein Wort und riecht den Braten: „Das ist nicht erlaubt, maximal dürfen Sie zehn Schachteln, also zweihundert Zigaretten einführen, sowie einen Liter Alkohol.“ Unser Schalk greift tief in die Trickkiste und stellt sich doof: „Aber meine Herren, das verstehe ich jetzt nicht, im Grundgesetz der Bundesrepublik steht doch, dass wir eigentlich eins sind, wie können Sie mich da des Schmuggels bezichtigen? Selbst wenn es so wäre, transportiere ich doch die Waren nur innerhalb von Deutschland, ach was sag ich, innerhalb von Berlin?“ Die Beamten schauen sich fragend an, der Ranghöchste im Zollhäuschen greift zum Telefon und schildert seinem Vorgesetzten die Sachlage, der ist ebenso ratlos und meint, er muss sich erst schlau machen und er rufe gleich zurück. Auf der Westseite trifft Jonas eins zu eins die gleichen Charaktere, wie fünf Minuten zuvor im Ostteil. Den Grimmigen, den Verständnisvollen und den Taubstumm-Blinden. Der Grimmige: „Fahren Sie an die Seite, stellen Sie den Motor ab, steigen Sie aus, wir müssen den Fall untersuchen.“ Jonas macht es sich gemütlich im Niemandsland, setzt sich auf die Motorhaube und zündet sich eine Fluppe an. Er beginnt die Diskussion von neuem: „Na hier ist ja was los, ich fahre seit Monaten hin und her, nie gab es Probleme. Die ehemaligen Ostler im Westteil sind durstig, die wollen ihre Karo, bringt doch den Ost-Kram einfach in eure Supermärkte, dann spare ich mir einen Haufen Arbeit, unklar, dass da noch keiner drauf gekommen ist.“ Der durchsuchende Beamte spricht doch und verlautet mürrisch: „Machen Sie die Zigarette aus, stellen Sie sich ans Auto, Beine auseinander und die Arme hoch.“ Jonas: „Boh, hier herrscht ja ein rauer Ton, sind Sie immer so drauf?“ Der Mann schweigt und durchsucht Jonas. Mein Schmuggler fragt übertrieben freundlich: „Reden Sie nicht mit mir? Hab' ich was verbrochen?“ Das Diensttelefon klingelt, lange Leitung, der Grimmige nickt mehrmals: „Jawohl, alles klar, verstehe, jawohl, wird ausgeführt, jawohl, Wiederhören.“ Der Blinde durchsucht das Auto, er öffnet das Handschuhfach und am liebsten hätte ich ihm in die Hand gebissen oder ihm mit meinen Tatzen das Gesicht zerkratzt, stattdessen tue ich so, als sei ich tot.

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„Was ist das?“ Mein Besitzer lacht: „Aber Herr Oberwachtmeister, das sehen Sie doch, das ist eine Handpuppe, das ist Zorro der Bär, Vorsicht, manchmal beißt er.“ Der Mann fühlt sich kräftig verarscht und fragt wütend seinen Vorgesetzten: „Die Türverkleidung abschrauben?“ Der Grimmige: „Ja, volles Programm!“ Nach erfolgloser Schikane das Urteil der drei Zöllner: „Hören Sie genau zu, junger Mann, die Einfuhr von Tabak und Spirituosen ist begrenzt. Alles, was drüber ist, wird beschlagnahmt und vernichtet.“ Jonas darauf: „Dann schenken Sie es wenigstens dem nächsten Bettler in ihrer Stadt, ist doch schade drum, kosten Sie ruhig mal nach Feierabend ein Gläschen, oder darf ich es den Kollegen auf der Ostseite zurückbringen, die würden die Pullen zu schätzen wissen, Sambalita ist sogar aus dem Delikat-Laden und schweineteuer!“ Das war gelogen, die Ost-Grenzer hätten insgeheim viel mehr Bock auf einen Kasten Becks, auf Asbach Uralt oder auf eine Schachtel Camel, für die sie meilenweit gehen würden. „Die Ware wird vernichtet, sehen Sie zu, dass Sie Land gewinnen!“ Mein Frechling antwortet: „Land gewinnen, ja, das werde ich tun, Herr Oberwachtmeister, da können Sie Gift drauf nehmen und wenn Sie beim nächsten Mal wieder so unfreundlich sind, werde ich mich bei ihrem Vorgesetzten oder besser gleich beim Innenminister beschweren!“ Den Ton ist der Wegelagerer in Uniform nicht gewohnt, schon gar nicht von Ostlern, er zuckt zusammen, verzichtet jedoch vorsichtshalber auf das letzte Wort. Er denkt, mit dem stimmt was nicht, das ist bestimmt ein Doppelagent. Jonas feixt sich eins und fährt nach zwei Stunden Grenztheater weiter ins Arcanoa. Die Ost-West-Berliner warten schon auf ihre geliebten Karo, aber dieses Mal hat unser Schlendrian nur eine gute Geschichte in petto und das ist oft tausendmal besser als jede Flasche Schnaps. Es brodelt weiter vor und hinter der Mauer, nur im Niemandsland, da wachsen die Mauerblümchen und warten auf ihr Dahinwelken. Schade, dass später aus dem Mauerstreifen kein Park der Erholung für Berlin konzipiert wird, sich stattdessen Sony Center und Deutsche Bank für eine obligatorische Mark ansiedeln. Immer wieder der gleiche Salat. Geld regiert die Welt, überall und das seit Tausenden von Jahren. Zurück nach Ost-Berlin. Wir parken die Zeitmaschine in der Prenzlauer Allee 188, bitte aussteigen und unsichtbar bleiben. Am Vorabend des 9. November klopft es.

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Paul und Flake stehen aufgeregt und strahlend vor der Wohnungstür: „Mensch Jonas, es hat geklappt, Aljoscha hat alles eingerührt, „Feeling B“ darf morgen im „Pike“ in West-Berlin spielen, wir haben nur ein Problem …“ Jonas sagt: „Kommt erst mal rein, beruhigt euch, wollt ihr ein Tee, wat is'n los?“ Paul: „Wir wissen nicht, wie wir unser kleines Besteck rüber kriegen, kannst du uns fahren?“ Kleines Besteck war in Musiker-Kreisen der Ausdruck für kleine Anlage, also Instrumente, Bühnenverstärker, Effektgeräte und Kabelleien. Mein Scharlatan freut sich mit den beiden und sagt sofort zu. Endlich gibt es die begehrten Arbeits-Pässe auch für die Spaß-Punkband. Pünktlich gegen 12 Uhr trifft sich die Band in der Fehrbelliner Straße 7, der damaligen Schaltzentrale von „Feeling B“. Fast das gesamte Haus ist nach und nach von Freunden und Fans der Band bewohnt, teils legal, teils illegal. Damals schleppen Paul und Flake ihre Instrumente noch selber. Ich gönne den beiden ihren grandiosen Welterfolg und hoffe, dass sie mit der Kehrseite des Ruhms gut leben. Als das Auto vollgeladen ist, bleibt lediglich ein Platz frei. Der steht logischerweise Aljoscha, dem Chef und Sänger der Kapelle zu, da dieser am besten mit den Zöllnern verhandeln kann. Er drückt seinen Kollegen jeweils fünf West-Mark für einen Döner und ein Büchsenbier in die Hand und die drei dürfen mit der Bahn zur Arbeit fahren. Paul, Flake und der Trommler sind froh, denn bahnfahrend in einer fremden Stadt anzukommen, kann einen Heidenspaß machen. Gegen 17 Uhr treffen wir sie im West-Berliner „Pike“, die Musiker verstöpseln das kleine Besteck mit der Hausanlage und beginnen mit dem Soundcheck. Der Barkeeper und die Einlasser rümpfen die Nase, als Aljoscha anfängt zu krächzen und Flake auf seinem Kinder-Casio klimpert. Sie lassen für ein paar Takte ihre Hymne anklingen: „Mix mir einen Drink, oh mix mir einen Drink, oh mix mir einen Drink, der mich woanders hinbringt …“ Keiner vom Personal versteht, was die komischen Ossis überhaupt hier wollen. Echte Punks sehen in Kreuzberg anders aus, haben abgewetzte Lederjacken an, einen Iro und grüne Haare. Wieso dürfen die überhaupt aus der Zone? Sie mutmaßen, dass „Feeling B“ bei der Stasi sein müsse. Die meisten West-Deutschen haben überhaupt keine Ahnung von der DDR und dem, was außerhalb der Normen des Neuen Deutschlands möglich ist. Aljoscha ist ein Hans Dampf in allen Gassen. Ein springendes, singendes Energiebündel, das kein Konzert nüchtern über die Bühne bringt.

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Er pflegt beste Kontakte in alle Richtungen, rührt und köchelt in mehreren Töpfen gleichzeitig. Er hat einen guten Riecher für das richtige Wort im richtigen Moment. Die Kunst seiner ausgebufften Diplomatie, gepaart mit der überschwänglichen Lustigkeit von Paul und der Klarheit von Dr. Flake Lorenz machen das Unmögliche möglich: „Feeling B“ erhält DIE tragende Rolle in dem Dokumentarfilm „Flüstern und Schreien“. Dieser Film bringt die gesamte Republik ins Wanken, erstmalig ist der Untergrund im Kino zu sehen. Tanzende Punks, waschechte Freaks, die rebellierende Jugend und doppeldeutige Interviews. Selbst André Greiner-Pol, der wegen mehrerer Skandale verbotene „Freygang“-Sänger, kann sich durch Aljoschas Geschick in den Film mogeln und ist republikweit singend zu sehen. Ein grandioses Husarenstück der beiden Obermacker des Prenzlauer Bergs. Durch den Erfolg der Dokumentation erhält „Feeling B“ das Angebot, eine Schallplatte bei Amiga, einer der drei Plattenfirma der DDR, einzuspielen. Die staatlichen Organe erlauben „Feeling B“ als Aushängeschild für Glasnost und Perestroika eine Tour durch den Ruhrpott zu fahren. Auch bei dieser ersten Reise der Band in die Bundesrepublik im Sommer 1989 spielt Jonas den Fahrer und da alle Musiker wieder brav heimreisen, steht die Tür für West-Berlin offen. Zurück zum „Pike“. Die richtige Spiellaune will vor dem Konzert nicht recht aufkommen, obwohl ein gutes Dutzend ausgereiste Freunde anwesend sind. Im Backstage des Clubs steht wie für jede Band ein Kasten Bier und ein paar Flaschen Wasser bereit. Im ersten Moment denken die Musiker, die Wasserflaschen wären wie in Steinbrücken mit Wodka gefüllt, aber da dem nicht so ist, geht Aljoscha hüpfend und tanzend wie ein Derwisch kurzerhand zum Chef des Ladens und sagt: „Hey Chef, ohne Ölung meiner Stimme geht hier heute gar nichts, mach dich mal locker, der Laden hier wird voll heut', rück wenigstens schon mal einen Zwacken raus.“ Widerwillig gewährt der Boss einen Vorschuss. Aljoscha kommt laut lachend mit zwanzig D-Mark zurück und schickt einen der West-Berliner Fans in den nächsten Supermarkt. Der kommt nach einer Weile mit drei Flaschen Wodka zurück und alles wird gut. Naja, halb gut, es fehlen die mitsingenden und Pogo tanzenden Fans. Der kleine Saal fasst vielleicht hundert Personen, aber das Stammpublikum der Band befindet sich auf der anderen Seite der Mauer.

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Die vier beginnen vor leerem Saal zu spielen, zähes Feeling bis zur Pause. Das Personal ärgert sich über die schmalen Umsätze an der Bar. Die Gage der Band rutscht in den Keller, da sie abhängig von den Besucherzahlen vereinbart wurde. Pause. Die Band stiefelt leicht frustriert hinter die Kulissen. Scheiß Westen. Plötzlich wird die Tür des muffigen Backstage-Raumes aufgerissen und André the Punker-Pol steht breitbeinig im Rahmen: „Eh, Aljoscha, klär mal mit dem Einlasser, dass wir zur Band gehören, draußen steh'n noch vier von uns und sag ihm, dass der Laden gleich überrollt wird, jetzt geht die Post ab!“ Paul will seinen Augen nicht trauen und fragt verblüfft: „Hä, was macht ihr hier, seid ihr abgehauen?“ André grinst über beide Backen: „Nee, die Mauer ist offen, die anderen kommen auch gleich mit der U-Bahn, wir sind ohne Probleme mit meinem Wolga durch die Grenze gefahren, ein Riesenandrang am Checkpoint Charlie, gibt's hier in dem Schuppen wat zu saufen?“ Unfassbar! Unglaublich! Undenkbar und doch wahr. Mein Wunder ist geschehen und ich mittendrin. Aljoscha checkt als erster die Situation, greift sich den Clubchef und versucht ihm den historischen Moment der Geschichte zu erklären. Der befürchtet den Einfall der Termiten und blockt ab: „Tut mir leid Jungs, Mauerfall hin oder her, Eintritt und Getränke nur gegen Bares, ich bin kein Krösus, von irgendwas müssen wir leben und die Miete für den Laden muss auch jeden Monat pünktlich bezahlt werden.“ Erste Lektion der neuen Zeit: Ohne Moos – nix los. Nach zwanzig Minuten reitet die wild angetrunkene Meute des Prenzlauer Bergs ein und weil der Ossi von Hause aus ein gelernter Selbstversorger ist, sind ab sofort ausreichend Getränke Marke Ost an Bord. Keiner hat die passende Währung für die Eintrittskarte im Portemonnaie und so tanzt der aufgekratzte Mob draußen auf der Straße unter endlich freiem Himmel. Die Band reißt im Schnelldurchlauf ihr Programm runter und kaum

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ist der letzte Ton verklungen, verlassen die Musiker den halbleeren Saal. Sie fallen sich vor der Tür des Clubs freudestrahlend in die Arme und begreifen nicht wirklich, was hier gerade abgeht. Von allen Seiten höre ich Sätze wie: „Zwick mich mal, kneif mich mal, ist das wahr, träum ich oder wach ich?“ Die Nacht des 9. November wird lang. Nachdem das kleine Besteck der Band wieder im Auto verstaut ist, fährt der Lada Kombi zum Brandenburger Tor. Wir bewundern dort das unfassbare Ausmaß der friedlichen Revolution. Wollt ihr die totale Party? Ja? Jaaaaaaa! Dann steigt aus und feiert mit! Auf der Mauer, auf der Lauer liegen keine Wanzen mehr, sondern Menschenmassen. Sie tanzen, knien, stehen oder knutschen vor, auf und hinter dem Schutzwall. Ost- und West-Deutsche liegen sich freudetrunken in den Armen. Sektkorken knallen und etliche Wessis zeigen sich in Spendierhosen. Diese Nacht feiert Berlin bis in die Morgenstunden. Was einige Monate später abgeht, ist ein Buch mit sieben Siegeln, eine Story, bei der die Schuldigen noch nicht gerichtet worden sind und wahrscheinlich ungeschoren davonkommen. Auf zum jüngsten Gerücht, es riecht nach Geld, Gier und Neid, es duftet nach Pech, dreckigem Öl und Schwefel. Es stinkt bis zum Himmel nach Hölle und angebranntem „Schwein gehabt“. Mensch Meier, wer dreht das Ding hier? Was die Treuhand veranstalten wird, um die feindliche Übernahme der maroden DDR voranzutreiben, die Betriebe und das Volkseigentum an Wohnraum komplett zu eliminieren, gleicht einem Wirtschaftskrimi vom Feinsten. Trotzdem ist der ehemalige Osten erblüht, die Dächer und Fassaden saniert, die Straßen größtenteils frisch geteert und der Ruhrpott kurz vor dem Ruin. Weltpolitisch gesehen hatten die DDR-Bürger großes Glück, weder wird der Apparat vom blindwütigen Mob gelyncht wie in Rumänien, noch wird das Land zerbombt und zerteilt wie das ehemalige Jugoslawien. Nachdem die Instrumente abgeladen sind, stellt Jonas sein Auto ab und geht zu Fuß in den Choriner Krug. Dort ist die Sperrstunde vom Kneiper kurzerhand außer Kraft gesetzt worden. Es ist rammelvoll und jeder neue Gast erzählt euphorisiert seine Geschichte vom Grenzübertritt. André trudelt ein und freut sich, zwei Bier für den Durst und zwei Korn für den Geist zu bestellen. Endlich kann er wieder mit leicht verdientem Ost-Geld bezahlen.

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Die Meute schmiedet Pläne, wie es wohl weitergehen wird und jeder träumt seinen kleinen Traum der großen Freiheit. Die Szene ist sich einig: The big show must go on. In den frühen Morgenstunden erscheint Merlin und prophezeit mir meine nächste Mission. Sie lautet: „Töte den Drachen, wo immer du ihn triffst, kläre die Firma, ich meine die Stasi, auf!“ Mein lieber Scholli, das geht ja wie beim Brezeln backen, ich bin grad fertig mit dem Mauerfall und schon folgt der nächste Job, von Dank und Sonderurlaub keine Spur. Alle Ossis dürfen sich in den folgenden Wochen ihre hundert Mark Begrüßungsgeld abholen, wobei dieses vergiftete Geschenk im Nachhinein in Bestechungsgeld oder in DDR-Abwrackprämie umbenannt werden sollte. Die Jahre der Anarchie kurz vor und zwei Jahre nach dem Mauerfall sind grandiose Rebellen-Jahre, leerstehende Häuser werden besetzt und zu Proberäumen, Kneipen und Auftrittsorten umgebaut, Radiosender werden auf Dächern installiert, Parteien, Staaten und Vereine werden gegründet. Die Mauer wird ab dem 9. November 1989 als riesengroße Leinwand wahrgenommen, sie wird endlich auch von der blutigen, von der grauen Seite bunt bemalt. Die Mauerspechte haben Arbeit für viele Monate und gerne würde ich einmal ein Spinnennetz auf der Weltkarte sehen – Linien, die zeigen, in welche Winde es diese legendenumwobene Mauer in großen und kleinen Bruchstücken, echt oder gefälscht, geweht hat. Die Ost-Polizisten bangen nach dem 9. November um ihr Leben, wagen den Mund nicht mehr aufzumachen und werden bei allen möglichen Anlässen verhöhnt, verlacht und vorgeführt. Wenn sie in diesem heißen Winter nicht dem Mob zum Opfer fallen wollen, müssen sie besonders freundlich die Spielchen der Spaßguerilla erdulden. So wird im März 1990 der Palast der Republik aus einem offiziellen „Freygang/Firma/Ichfunktion“-Konzert heraus besetzt und nach 24 Stunden den entmannten Staatsorganen zurück in den Rachen geworfen. Der Balast der Republik wird von den Anarchisten als nicht würdig genug empfunden, ihr Palast soll Tacheles heißen – die Ruine in der Oranienburger Straße, die bisher noch keiner wegsprengen konnte. Die rechtsfreie Zeit endet mit der gewaltsamen Auflösung der Gegendemonstration zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.

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Heerscharen von westdeutschen Polizisten beschützen die Feierlichkeiten der neuen Obrigkeit. Spätestens am 13. November 1990 hat mit der Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße die neue Staatsmacht die alte so weit abgelöst, dass der Traum der Republik Utopia im Niemandsland brutal zerschlagen wird. Die Räumung ist der größte Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Hoch lebe Herr Korruptus und seine Immobilienhaie. Aber ich, Zorro der Bär, sage euch, wer zuletzt lacht, lacht am besten und die Mayas sind nicht doof. Vielleicht hat sich nur irgendein schlauer Übersetzer im Datum geirrt und der große Shutdown des Weltuntergangs läuft schon längst nach seinen eigenen Gesetzen vom Zerfall. An Corona ist noch nicht zu denken und die Pest ist erst ein paar hundert Jahre her. Im ewigen Eis, so befürchten Wissenschaftler, schlummert der Untergang. Klimawechsel, äh Szenenwechsel mein ich, einsteigen, wir heben ab.

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Ich sehe was, was Du nicht siehst, und das dreht sich am Kreuze um.

17. Heiligabend in Amsterdam Die Weihnachtszeit ist für Jonas eine Zeit der großen Lügen. Abgesehen von den heiligen Festen seiner Kindheit mag er den Geschenkewahn nicht. Von Jahr zu Jahr beginnt der Kaufrausch früher und das Ausmaß und der Irrsinn nehmen permanent zu. Jesus würde sich im Grabe oder besser gesagt am Kreuze drehen. Wir landen mit unserer Zeitmaschine am eintausendneunhundertneunundachtzigsten Abend nach seiner Geburt in Ost-Berlin. Peter klopft an die Wohnungstür in der Prenzlauer Allee und öffnet sie nach kurzem Warten mit einem Dietrich. Mein Besitzer hält Siesta, es ist kurz vor sieben, natürlich am Abend. „Moin, Schlaffi, na was ist los, alte Schnarchnase?“, fragt der Doktor der Fröhlichkeit. Jonas gähnt und antwortet: „Nicht viel und bei dir?“ Peter: „Auch nix, es ist trübe draußen, die Menschen öden mich an, alle reden nur über Stasi, Gänse, Bäume und Geschenke, über Eltern hier und Schwiegereltern da, geht mir alles ziemlich auf den Keks, am liebsten würd' ich mich verkrümeln.“ Jonas überlegt kurz und sagt: „Lass uns was Abgefahrenes machen, zum Beispiel nach Amsterdam düsen, da war ich noch nie, wenn wir heute losfahren, sind wir morgen da.“ Schappy überlegt nicht lang und sagt: „Super Idee, ich bin dabei, wenn du dat ernst meinst.“ Jonas meint es natürlich im ersten Moment nicht ernst, liebt aber den Reiz des unvorhergesehenen Abenteuers und will jetzt seinen Kumpel auf wahre Spontaneität testen. Er geht in die Offensive und provoziert weiter: „Okay, Runkelrübe, ich pack ein paar Requisiten ein, zwei Schlafsäcke, notfalls pennen wir im Auto, ist zwar kalt aber wird schon gehen. Hast du einen gültigen Pass?“ Mal sehen, ob Peter jetzt kneift: „Ja klar, ich hab' aber keine West-Mäuse in der Tasche …“ Jonas: „Kein Problem, ich hab' noch einen Rest von der Kohle aus Arcanoa-Zeiten, das reicht zum Tanken, den Rest müssen wir einspielen mit Straßentheater, ich hab' Futter für zwei Tage hier, wird schon schiefgehen. In einer Stunde können wir los, ich hole dich in der Knaackstraße ab.“

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Peter nickt und dampft los, endlich wieder ein Plan. Weihnachten in der Kiffer-Metropole – zu irgendwas muss der Mauerfall ja gut gewesen sein. Die Vorfreude auf eine Reise ist bis heute für meinen Puppenspieler einer der schönsten Impulse für gute Laune und Frohsinn. Jonas packt auf die Schnelle zwei Requisitenkoffer, es dürfen mit: die Krone, das Zepter, der weinrote Umhang, der schwarze Zylinder, ich und Mary Filou, eine Rose, eine Pfauenfeder und die Taube aus Pappmaschee, ein paar bunte Tücher, fünf Scharlatarn-Plakate, Würfel, Tarotkarten und die große Wahrsagekugel. In den Klamotten-Rucksack stopft er die bunt bedruckte Lederhose, einen dicken Pullover, die Narren-Jacke und warme Socken. Er räumt den Kühlschrank leer, verstaut ein paar Getränke im Fresskorb und verlässt die ungeordnete Bude. Er legt den Dietrich in sein Versteck und schleppt uns zum Auto. Da er wie immer die Hälfte vergessen hat, muss der Depp noch mal hoch und seinen Pass, die Autopapiere und den Kellerschlüssel holen. Um Benzingeld zu sparen, schnappt er sich aus dem Keller zwei leere Zwanzig-Liter-Kanister und nimmt sie mit zum Kasper-Mobil. Mit lockeren dreißig Minuten Verspätung hupt er vor Peters Haus in der Nähe des Wasserturms. Der kommt flink wie ein Wiesel die Treppen runter gestürzt: „Da biste ja endlich, ich dachte schon, du hast es dir anders überlegt, ich wollte gerade in die nächste Kneipe geh'n und mich besaufen.“ Jonas hupt dreimal: „Einsteigen, Klappe halten, auf nach Amsterdam!“ Das lässt Runkel sich nicht zweimal sagen, er schmeißt sein kleines Reisetäschchen mit Zahnbürste und Notizbuch in den Kofferraum und ab geht die Reise. Boxenstopp an der erstbesten Tanke, Benzinkanister füllen, ausreichend Zigaretten fassen, alle Zeiger auf Los und raus, raus aus dem Berliner Weihnachtsfirlefanz. Sicher ist der Mummenschanz in anderen europäischen Städten nicht anders, aber man ist immerhin in der Fremde und da riecht sowieso alles anders als zu Hause. Sie fahren durch den Westteil der schlafenden Stadt und freuen sich wie zwei kleine Jungs, haben das Gefühl, mal wieder alles richtig gemacht zu haben. Auf der Avus wird das Kasper-Mobil gequält und getestet, aber mehr als hundertsechzig km/h sind aus der Karre nicht herauszuholen. Nach drei Stunden Fahrt bei lauter Musik von Jimi Hendrix über B-52, von Nina Hagen bis Ideal gelangen sie an den Eisernen Vorhang, an den gefürchteten Todesstreifen des Ostblocks. Mitternacht. Helmstedt.

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Volle Beleuchtung, kein Zöllner in Sicht. Sie bestaunen die erst kürzlich stillgelegten Anlagen und fahren im Schneckentempo durch das gespenstisch anmutende Gelände. Keiner hält sie auf. Was für ein betörendes Gefühl von Freiheit. Das Leben ist schön. Jonas wird langsam müde und beantragt eine Ruhepause. Die wird umgehend an der nächsten Raststätte genehmigt. Unser Fahrer kriecht in seinen Schlafsack und das kleine Peterle schaut sich sein erstes westdeutsches Trucker-Paradies an, bestaunt die fremden LKWs und bekommt einen Schock über die saftigen Preise am Tresen. Er überlegt einen Moment, ob er sich in Amt und Würden kleidet, sich als König das Recht auf ein kleines Büchsenbier und eine Riesenbockwurst verschafft. Doch dann fällt ihm ein, dass er mit der Aktion nur den Fahrer verstimmen und die Verkäuferin ihn eh nicht ernst nehmen wird. Nach zwei Stunden Streunen weckt er Jonas und sagt: „Los Alter, die Sonne geht bald auf, wir müssen weiter.“ Jonas murrt: „Ja gleich, gib mir noch ein paar Minuten zum Pinkeln“. Ein heißer Kaffee hätte gutgetan, aber die beiden Zonis weigern sich, die paar anwesenden Kröten für die überteuerte, schwarze Brühe auszugeben. Der Ruf des Dopes von Amsterdam ist verlockender. Sie fahren schweigend mit hundertvierzig km/h auf schönen, breiten, belgischen Autobahnen. Alle fünfzig Meter eine fette Laterne, als ob die Autos keine Scheinwerfer kennen, was für eine Verschwendung. Willkommen im Legoland, so jedenfalls wirkt der erste Blick aus den Fenstern des Autos. Sie denken jeder für sich, das kann alles nicht wahr sein, dafür haben wir gekämpft? Was soll der ganze Quatsch, alles sieht sauber, geleckt und ungemütlich aus, klinisch getestet, keine Bakterie weit und breit zu vermuten. Kein Pflaster für Schlendriane. Gegen 7.30 Uhr geht die Sonne auf, natürlich in unserem Rücken, also im Osten. Wenigstens braucht Jonas keine Sonnenbrille – wie doch immer alles auch sein Gutes hat. Peter bereitet auf dem Beifahrersitz das Frühstück, schmiert Käsebrote, schnippelt Äpfel und hält den Fahrer bei Laune. Diese Kunst sollte jeder Beifahrer beherrschen, wenn er sicher ans Ziel gelangen will. Kochen und Versorgen mag der kleine, dicke König und wenn Jonas ihn heutzutage besucht, kann er gewiss sein, dass Peter etwas Leckeres auf dem Herd zu stehen hat. Runkel selbst vertilgt eine Büchse

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Makrelen in Tomatentunke, er liebt Fisch, denn er kommt von der Küste. Ab und an wird die Mundharmonika herausgeholt oder wild mit den Trommelstöcken auf dem Armaturenbrett getrommelt und dazu lauthals gesungen. Sie gelangen mit ihren gezückten Ost-Pässen an die nächste Grenzkontrolle. Die westdeutschen Beamten geben sich maulig und reserviert, die holländischen hingegen sind ausgesprochen freundlich und stellen keine dummen Fragen. Ist das nun ein Ding der Mentalität? Oder der Drogen? Warum sind die Deutschen so komisch exakt, quadratisch und penibel? Unsere beiden Scharlatarne düsen weiter und stellen die Anlage ihres Raumschiffs auf Radio um. Sie genießen den Klang der fremden Sprache und versuchen, den holländischen Kauderwelsch zu verstehen. Als der Moderator anfängt, Weihnachtsmelodien aufzulegen, darf Jimi Hendrix wieder das Zepter übernehmen. So nicht, nicht mit uns! Zum Nachmittag dann endlich das Ortseingangsschild von Amsterdam. Die beiden klopfen sich auf die Schenkel, die Sonne lacht. Sie fahren ins Zentrum der kleinen Grachten und zweistöckigen Häuschen und wundern sich, wie schmal manche von ihnen sind, ganz das Gegenteil von Altberliner Wohnungen. Dass kleine Wohnungen attraktiv sind, bemerken sie erst, als die Mieten im Osten auf das zehn- bis zwanzigfache steigen. Sie parken den Lada Kombi am Straßenrand und werden umgehend von einem Passanten informiert, dass sie an verbotener Stelle stehen. Auch das ist für die beiden neu, sie müssen mehrere Runden ums Karree fahren, bis sie endlich einen scheinbar passenden Platz für ihr Auto finden. Die beiden spazieren durch die Altstadt des Rotlichtviertels und bestaunen die Damen hinter den Schaufenstern. Die wiederum denken, dass sie zwei potente und zahlungskräftige Böcke an der Angel haben und legen sich ins Zeug. Sie wackeln mit ihren Hinterteilen, schaukeln ihre Brüste und locken mit den Zeigefingern. Das Getue der Huren verschlägt den beiden den Atem: „Schau mal da Schappy, hast du die gesehen, die ist doch bestimmt schon über fünfzig, und die da, das ist doch ein Kerl oder was?“ So ergeht es den meisten Männern des bald untergehenden Landes, ihnen bleibt die Spucke weg, über die Anmachspielchen der leichten Mädchen. Ein unbekanntes, weites Feld – Sex gegen Geld, das haben die ehemaligen Pioniere der Bolschewiki noch nicht gesehen.

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Bauklötzer staunend laufen sie weiter bis zum ersten Coffeeshop. Im Schaufenster steht eine Wasserpfeife neben der anderen. Dass die Dinger im Volksmund Bong heißen, lernen die zwei erst vierzehn Jahre später, als ihre Kinder pubertierende Maßnahmen ergreifen. Beim Eintritt in den verrauchten Laden kriecht ihnen ein betörender, süßlicher Geruch in die Nase. Jonas hält sich verkrampft an seinem Portemonnaie fest und hat Angst, beraubt zu werden. Peter wird übel und will vor die Türe, doch Jonas hält ihn am Ärmel fest: „Bitte bleib, lass mich nicht allein hier!“ Der Dealer grinst und fragt in gebrochenem Deutsch, ob man eine Kostprobe rauchen wolle, Jonas nickt. Peter will wieder flüchten, doch mein Kasper lässt ihn nicht gehen: „Hey Runkel, komm sei kein Spielverderber, wir probieren jetzt einen Joint zusammen.“ Sie setzen sich, bestellen zwei Tassen coffee with milk und warten auf den großen Knall. Die Bestellung wird mit vorgedrehter Tüte serviert. Jonas entzündet das Ding der Begierde und zieht den Rauch tief in seine Lunge. Peter pafft widerwillig, ihm reicht seine Sauferei, er hat Angst vor der nächsten Sucht, misstraut dem Kraut und sieht sich bereits an der Heroinnadel hängen. Jonas spürt das wohlige Gefühl, das bis in die Fußspitzen kriecht und fängt blöd an zu kichern. Peter geht aufs Klo kotzen. Die Rechnung wird präsentiert und die beiden wundern sich nicht schlecht, dass der Kaffee und die Kostprobe umgerechnet fast zwanzig West-Mark kosten. Jonas kauft am Tresen noch drei Gramm vom billigsten Haschisch. Der Dealer ist nur noch halb so freundlich wie zu Beginn. Wieder auf der Straße atmen beide kräftig durch und flanieren weiter durchs Viertel. Sie sehen ihre ersten Bettler, teilweise gut gelaunte, kräftige, junge Menschen, aber auch jede Menge abgefuckte, klapprige Junkies und alte Penner. Jeder dritte quatscht sie an: „Marihuana, Haschisch, LSD …“ Unsere zwei Ossis schieben Paranoia. Peter will schleunigst in eine normale Kneipe mit Bierdunst, eine, in der es nur Alkohol gibt und am besten Knödel mit Gulasch. Er sehnt sich nach Prag, wie einfach war das Leben früher im Osten. Es ist immer noch Heiliger Abend und auch hier in Amsterdam leuchten die Weihnachtsgirlanden. Die Läden sind überdekoriert und wir begegnen Weihnachtsmännern mit falschen Bärten. Einer schenkt uns Süßigkeiten und Jonas stürzt sich gierig auf das Naschwerk.

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Beide merken plötzlich, dass sie seit dem Frühstück im Auto nichts weiter gegessen haben. Im Portemonnaie sind noch neunzig Taler, von denen sie wenigstens achtzig für die Rückfahrt brauchen. Bleiben zehn Taler für den Verzehr. Sie treffen auf eine Menschenschlange vor einer Weihnachts-Suppenküchen der Arbeiterwohlfahrt. Frauen in blauen Uniformen verteilen im Namen des Herrn Kartoffelsuppe mit Wurst und einem Stück Brot, dazu relativ heißen Tee. Ein gefundenes Fressen und die beiden danken zum ersten Mal in ihrem Leben dem Herrn für sein großes Herz. Sie stellen sich hinten an und nach fünfzehn Minuten ergattern sie eine Mahlzeit. Hunger ist der beste Koch, es war eine der leckersten Suppen ihres Lebens. Sie sind glücklich und stellen fest: Weihnachten kann auch ein schönes Abenteuer sein, besonders wenn man auf den Spuren des Herrn wandelt und einem eine Suppe den Himmel auf Erden verspricht. Sie beschließen den Rest des Abends in einem der vielen Openstage-Clubs zu verbringen, in der Hoffnung, dass Peter als Meister des improvisierten Gesangs die nächsten Getränke einspielt. Sie betreten einen kleinen Keller, aus dem Live-Musik erklingt. Sie treffen auf drei Musiker, die etwas lustlos auf ihren Instrumenten klimpern. Das Mikrofon wird gerade nicht benutzt und Peter wittert seine Chance. Er tritt auf die Bühne und fängt an zu singen, erst ah jaja und dann oh hoho. Er schließt die Augen und beginnt mit seinem Kauderwelsch aus Englisch, Deutsch und im Radio gehörtem Holländisch. Der Raum füllt sich, die Leute fangen an zu klatschen, er kriegt das erste Bier spendiert, alles läuft nach Plan A. Jonas juckt es unter den Fingern, Peter zu krönen und als Performer einzusteigen. Er will schöne Bilder in den Augen der Zuschauer erzeugen. Er geht los, um aus dem Auto einen der zwei Requisitenkoffer zu holen. Er weiß noch ungefähr, wo das Auto geparkt ist, findet es auf Anhieb und holt zum Glück nur den weißen Koffer mit den Kostümen, der Wahrsagekugel und den bunten Tüchern. Er trägt ihn in die inzwischen volle Bar und traut seine Augen nicht, denn Peter ist umringt von neuen, jubelnden Untertanen. Der Narr will seinen König krönen, doch der winkt ab und sagt: „Du, die haben mich auch so erkannt, lass weg deinen Quatsch.“ Jonas stellt leicht angesäuert den Koffer in eine Ecke des Raumes und baut sich aus Protest den nächsten Joint. Als er die Wirkung zu spüren beginnt,

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folgt er narkotisiert der nächsten Eingebung, er will mich und Mary Filou tanzen lassen und rennt wieder in Richtung Auto. Doch das Auto steht nicht mehr da, wo er es vermutet. Jonas zweifelt an seinem berauschten Gedächtnis und da alle Gassen ähnlich aussehen, sucht er weiter und läuft Achten im Karree. Nach zwei Stunden geht er völlig erschöpft zurück zu Peter und teilt ihm mit, dass das Auto ohne sie losgefahren und spurlos verschwunden sei. Peter fällt es schwer, sich aus dem Kreis seiner neuen Fans zu lösen, fast jeder will noch ein Drink mit ihm nehmen. Jonas packt ihn am Kragen und schleppt ihn vor die Tür, dann geht er wieder rein, um den Koffer zu retten. Der hat inzwischen Beine bekommen und ist geklaut. Ade Krone, Zepter und Wahrsagerei, hätte er doch nur vorher in die Kugel geschaut, vielleicht hätte er das Unglück verhindern können. Manchmal sind es nur Sekunden, die ein vorprogrammiertes Schicksal um hundertachtzig Grad drehen können. Oft, wenn meinem Puppenspieler eine schwarze Katze von links nach rechts über den Weg läuft, dreht er sich lieber dreimal um die eigene Achse und geht weiter. Durch diesen Trick werden Sekunden verschoben und manch ein Unglück wird vermieden. Als Jonas frustriert über den Verlust wiederkommt, sitzt Peter frierend auf der Fensterbank. An der kalten Luft begreift er schnell, was Jonas von ihm will. Sie suchen eine Stunde erfolglos ihr rollendes Schlafgemach, bis sie schlussfolgern, dass Diebstahl die einzige Erklärung für ihr verschwundenes Auto sei. Sie schimpfen wie die Rohrspatzen auf den Westen und schieben dem bösen Kapitalismus die Schuld in die Weihnachtsstiefel. Um den Verlust zu melden, machen sie sich frustriert auf die Suche nach dem nächsten Polizeirevier. Zum Glück hat Jonas die Papiere und seinen Ausweis am Mann. Weihnachten auf einem Amsterdamer Polizeirevier, das war nicht geplant und wurde zu einer blutigen Horror-Show. Als sie das Revier betreten, hören die beiden Schreie aus den hinteren Räumen. Am Empfang sitzen zwei Beamte hinterm kugelsicheren Schalter. Die beiden Uniformierten starren lustlos und frustriert an die Decke, da sie an diesem Abend nicht bei ihren Familien sein dürfen. Jonas versucht die Sachlage zu erläutern, der angesprochene Polizist spricht weder Deutsch noch Englisch oder tut zumindest so. Jonas wedelt mit den Fahrzeugpapieren

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und macht die Zapzarap-Handbewegung: „Auto weg, nix Auto, Auto geklaut …“ Der Polizist nimmt mit spitzen Fingern die Papiere und tippt die Nummer des Kennzeichens in sein System. Im selben Moment wird ein großer, schwarzer Mann von zwei anderen Beamten aus der Hintertür geschubst. Es ist die Tür, aus der unsere zwei Scharlatarne zuvor die Schreie wahrgenommen haben. Der Schwarze hat ein geschwollenes Auge und ist von oben bis unten mit Blut verschmiert. Peter und Jonas blicken sich schockiert an. Wo um Gottes Willen sind sie gelandet, im Vorhof zur Hölle? Die Polizisten lachen und bugsieren den stark gestikulierenden Mann auf die Straße. Es ist nicht zu erkennen, ob der Mann als Hilfesuchender zum Revier gekommen oder während einer Streife eingesammelt wurde. Inzwischen hat der Schreibtisch-Polizist herausgefunden, dass ich mit Mary Filou und dem Kasper-Mobil auf einem Parkplatz am Stadtrand bewacht werde. Wir sind wegen falschem Parken vom Abschleppdienst der Polizei entführt worden und Mary ist stinksauer, dass ich unseren Fahrer nicht rechtzeitig gewarnt habe. Es dauert eine Weile, bis bei Jonas der Groschen fällt. Als der Beamte eröffnet, dass man das Auto nur gegen eine Auslöse von zweihundert Gulden wieder auf freien Fuß lässt, bricht eine Welt zusammen. Die beiden Weihnachtsmuffel drücken auf die Tränendrüse, erklären mit Händen und Füßen, dass sie arme, mittellose Ossis sind und keine Chance sehen, jemals wieder das Land zu verlassen. Sie erkundigen sich, welche Straftat sie begehen müssen, um etwas Essen und ein Bett im Revier zu erhalten. Sie wollen sich bereitwillig für noch nicht begangene Verbrechen selbst anzeigen, da sie definitiv eine Straftat begehen werden müssen, um das geforderte Geld herbeizuschaffen. Der Beamte zuckt genervt mit den Schultern, gibt den beiden die Adresse des Auto-Gefängnisses am Rande der Stadt und den Tipp, die Karre so schnell wie möglich freizukaufen, da sich die Kosten sonst verdoppeln und verdreifachen, irgendwann die Auslöse den Wert des Autos übersteigt. Die beiden verlassen das Revier und sind von vorn bis hinten ordentlich bedient. Nicht etwa ein Junkie hat ihr Auto geklaut, sondern die gemeinen Staatsdiener und Hüter der Ordnung.

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Draußen sitzt weinend der blutverschmierte, schwarze Mann. Was für eine Welt, was für eine Zukunft. Bettler, Huren, Drogendealer, von Bullen geklaute Autos und Caspar, der schwarze unter den drei heiligen Königen am verbluten. Frohe Weihnachten – und ich denke immer öfter, ist der liebe Herrgott krank? Warum schreitet er nicht ein, wo liegt der Fehler im Bausatz Mensch? Wer ist schuld? Peter und Jonas fragen sich mehrere Stunden durch, eh sie in den richtigen Bus einsteigen. Die Tickets kosten umgerechnet knapp zwanzig West-Mark und die beiden jammern dem Fahrer die Ohren voll. Ich beame mich in das Herz des Mannes und ziehe an den Fäden des Mitleids, so haben die beiden Glück im Unglück. Der Busfahrer will plötzlich, pünktlich zum Weihnachtsfest eine gute Tat vollbringen und nimmt sie kostenlos mit. Nach neunzehn Stationen gibt er ihnen ein Zeichen, dass es Zeit sei auszusteigen. Sie bedanken sich und stehen am Arsch der Welt. Sie haben noch neunzig Piepen West auf Tasche und fünfhundert Mark Ost-Geld. Sie trotten zum Schalter des Außen-Reviers und beginnen mit den Wärtern zu diskutieren. Jonas argumentiert, dass Holland doch die DDR als souveränen Staat behandelt, wieso denn dann bitte schön das Geld nicht anerkannt wird. Peter riecht an den Scheinen, beweist dem Kerkermeister, dass auch DDR-Geld nicht stinkt und beginnt von Rassismus zu schwadronieren. Keine Chance. Der gute Mann erklärt den beiden Kasperköpfen, dass das ja alles gut und schön sei, er aber weder Dollar noch britische Pfund annimmt und sein Arbeitsplatz keine Wechselstube, sondern ein Auto-Gefängnis ist. Ende vom Lied: Die Scharlatarne drohen sich im Wartezimmer häuslich niederzulassen, bis die Beamten das Auto freilassen. Im letzten Moment lenkt der Staatsdiener dem Herrn Jesu zuliebe ein und lässt Milde walten. Jonas darf ausnahmsweise seine Personalien hinterlassen und einen Schuldschein unterschreiben. Ein halbes Jahr später flattert eine Kopie mit Überweisungsschein in den Briefkasten unserer Wohnung. Leider landet die Zahlungsaufforderung erst nach der Währungsunion bei uns, sonst hätte mein Schlendrian die Strafe doch noch mit Ost-Mark zahlen können.

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Nichts wie weg und bloß zurück in die Zone. Jonas startet den Wagen, Peter schmiert den Rest der DDR-Stullen und sie füllen ihre leeren Wasserflaschen an den Tankstellen des Weges. Völlig gerädert landen sie am zweiten Weihnachtsfeiertag in Berlin und verschlafen den Rest des heiligen Festes. Immerhin ein Abenteuer, das sie ihren Lebtag nicht vergessen werden.

Weihnachtsmann mit Kreuz

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das steht seit Jahren leer.

18. Rendezvous im Rosenthal Das Jahr des Mauerfalls endet Silvester '89 mit einer wilden Party am Kollwitzplatz, dem Herzen des Prenzlauer Bergs. Alle befreundeten Musiker, sowie deren Fans, treffen sich zum freien Musizieren in einer Ladenwohnung des Neuen Forums, der jungen Plattform der Bürgerbewegung. An die Schaufensterscheibe wird mit roter Farbe „Intershop“ gemalt und fertig ist der Laden. Es wird wild zu Rio Reisers „… keine Macht für Niemand!“ getanzt, getrunken und darüber debattiert, was jetzt in der neuen Zeit passieren wird. Es herrscht Aufbruchstimmung, wie zur Zeit der großen sozialistischen Oktoberrevolution, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht blutig verläuft, zumindest nicht hier. Um fünf Uhr morgens klauen André und Dr S.c.Happy das Kasper-Mobil und fahren volltrunken zum Brandenburger Tor. Dort ist die große amtliche Silvesterparty seit einigen Stunden vorbei, alle Reden schwingenden Politiker aus Ost und West sind längst wieder im Bett. Die beiden verrückten Typen kurven im Slalom über den menschenleeren Vorplatz, der mit einem zwanzig Zentimeter hohem Scherben Teppich aus Sekt- Bier- und Schnapsflaschen übersät ist. Niemand hält die beiden auf, alle Volkspolizisten und sonstigen zivilen Organe bereiten sich auf die Wende vor, überdenken ihre Fluchtwege, waschen über Nacht ihre Westen weiß. Die beiden fahren ungehindert als erste Bürger durchs Brandenburger Tor, direkt hinein ins neue Jahr. Das 1990 den totalen Untergang der DDR besiegeln wird, ahnt und glaubt niemand. Die beiden fühlen sich wie die Helden, die das Tor zur belagerten Stadt öffnen, den Weg durchs Dickicht bahnen, damit später die Massen ungehindert durchströmen können. Noch ist das geschichtsträchtige Tor mit seinen monströsen Säulen für Grenzgänger geschlossen. Sie kneifen sich gegenseitig in die Arme, aber es ist kein Traum, die Mauer hat sich nach achtundzwanzig Jahren ausgemauert. Am wundersamsten

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an dieser Geschichte ist, dass die beiden Trunkenbolde glücklich, unversehrt und ohne platte Reifen zurückkommen, den Autoschlüssel heimlich wieder in die Jacke des Besitzers stopfen und weiterfeiern. Keiner will an diesem Abend ihren gerade erlebten Lausbubenstreich glauben, aber ich, Zorro der Bär, weiß, dass es so und nicht anders war, denn ich war dabei, unbemerkt im Handschuhfach. Ein Großteil der vielschichtigen DDR-Bürgerbewegung schreit schon lange nicht mehr „Wir sind DAS Volk“, es skandiert inzwischen in den Provinzen, also fernab der Hauptstadt „Wir sind EIN Volk“. In den Hinterköpfen glitzern Träume von Wohlstand, Westgeld und Bananen. Der endgültige Untergang der DDR wird im September 1990 von der frisch gewählten Volkskammer auf Druck von unten und oben besiegelt. Die marode Wirtschaftslage und die Staatsverschuldung der DDR ist nur vorgeschobener Grund und wenn der Leser heute in die Vereinigten Staaten, nach Griechenland, Spanien, Italien, Portugal oder ins Ruhrgebiet fährt, wird er ähnliche Bilder des Verfalls beobachten, die aber ganz bestimmt nicht dazu führen, dass ein Land einfach von der Karte verschwindet. Die meisten Künstler und Intellektuellen hoffen Silvester noch auf eine anerkannte Zweistaatenlösung ohne Mauer, auf einen menschenfreundlichen Sozialismus, in der die Freiheit des Individuums lebbarer Alltag wird. Der Gedanke der Wiedervereinigung und die daraus resultierenden, offenen Vermögensfragen über das vorhandene Volkseigentum werden heiß und wie im Rausche auf der Party am Kollwitzplatz durchdiskutiert. Aus heutiger Sicht erlag die Spaßguerilla einer großartigen Illusion, nämlich der, dass alles dem Volke gehört, alles, was in vierzig Jahren DDR erarbeitet wurde. Im Dezember '89 wird in der ČSSR der Dissident Vaclav Havel von den Vertretern der Föderalversammlung zum Staatspräsidenten gewählt. Ein ehemals eingekerkerter Dichter trägt plötzlich politische Verantwortung – wieder ein kleines Wunder – und dass ohne blinde Wut und Rachewahn! Jonas wartet in diesen Tagen vergeblich, dass sein Vater wie Havel die Kraft und Größe besitzt, die Macht von der Straße aufzuheben, sich vom Volke zum Anführer wählen zu lassen, das Land in die ersten und letzten sogenannten freien Wahlen zu führen, den Übergang vom real existierenden Sozialismus zum ausgehungerten Turbokapitalismus

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zu verhindern und weise durch die Erarbeitung einer gemeinsamen Verfassung in ein neues Deutschland zu wachsen. Der Wolf vergräbt sich stattdessen ausschließlich in die Vergangenheit der Staatssicherheit und durchwühlt Aktenberge ohne Ende. Er verhindert damit auf Teufel komm raus ein Zusammenwachsen der SPD mit der PDS – die Linke bleibt wie eh und je gespalten. Nicht einmal Oskar Lafontaine, der SPD-Napoleon aus dem Saarland, schafft es, die verhärteten Fronten zwischen Ost- und West-Linken aufzuweichen. Lafontaine versucht mehrmals das Ruder herumzureißen, doch scheitert der kleine Populist 1990 durch eine Messerattacke daran, als Kanzler der Einheit zu kandidieren. Der schlaue Helmut Kohl verspricht, gegen den Willen der vier alliierten Siegermächte, den Ostlern im Alleingang eine Währungsunion und geht damit im Osten überaus erfolgreich auf Stimmenfang. Kohl kommt mit vollen Netzen von seiner Kaperfahrt zurück und wird zum Kanzler der Einheit gewählt. Lafontaine wird fünf Jahre später Chef der SPD und scheitert erneut daran, eine rot/rote Koalition zu schmieden. Noch ein paar Jahre später tritt er aus der SPD aus, da diese für die Bombardierung Serbiens stimmt und er nicht mit Schröders Sozialpolitik konform geht. Mit Gründung der geeinten Linkspartei versucht er ein drittes Mal vergeblich die SPD-Mitglieder zu einer Zusammenarbeit mit den Ost-Linken zu bewegen, schafft es aber lediglich, auf privater Ebene eine Vereinigung mit Sahra Wagenknecht zustande zu bringen. Biermann wählt inzwischen CDU und kuschelt mit der Springerpresse. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Schöne Phrasen braucht das Volk. Zeitmaschine Stopp!!! Wir haben uns verirrt!! Bring uns zurück zum Ausgangspunkt dieser Geschichte und lass uns in Ruhe mit all den trockenen Fakten! In den Morgenstunden des ersten Januar 1990 entsteht der auf trunkener Faulheit basierende Plan, die Erdgeschosswohnung am Kollwitzplatz für eine immerwährende Party zu besetzen und den Bürgerrechtlern den Schlüssel nicht wieder auszuhändigen. Als diese mit Erschrecken davon Wind bekommen, sind sie sofort zur Stelle und liefern mit bittendem Unterton schlüssige Gründe gegen diese Schnapsidee.

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Die überzeugendsten Argumente sind, dass neben und über der Ladenwohnung Menschen wohnen, man eh nachts nicht ungestört laute Musik machen könne und außerdem in fast jedem Straßenzug des Ostberliner Stadtzentrums besser geeignete, komplett leerstehende Häuser zu erobern sind. Es braucht nicht lange, um die Anführer der einzelnen Bands zu überzeugen. Nach einem ausgiebigen Frühschoppen werden die Schlüssel ordnungsgemäß übergeben und es herrscht wieder Frieden im Kiez. Die Idee, ganze Häuser zu okkupieren, sie vor den zu erwartenden gierigen Haifischen aus Richtung West zu retten, ward geboren und wurde beschlossene Sache. Einen Tag später treffen sich einige Freunde zu einem Neujahrsspaziergang, unter ihnen André und Egon von Freygang, Trötsch und Tatjana von der „Firma“, sowie Jonas als Mitglied der Scharlatarne. Es herrscht das Gefühl, als hätte die Truppe einen Joker im Monopoly und sie könnten sich aussuchen, welches leerstehende Haus ihnen am besten gefällt. Ihr Weg führt sie vom Prenzlauer Berg nach Mitte, in die Nähe des Rosenthaler Platzes. Dort werden sie nach einem zweistündigen Spaziergang fündig. Ein kleines, altes, einzelnstehendes, leeres Haus mit drei Etagen wird als perfekt befunden. Der Tag X der Inbesitznahme wird feierlich-konspirativ in einer Kiezkneipe mit Schnaps und Bier begossen. Am Abend zuvor bastelt Jonas einen Flyer, auf dem ein ziemlich plausibles, aber simpel gehaltenes Konzept gedruckt ist, ein Aufruf zur Besetzung. Zum Plan gehört, Presse-Fuzzis, Fotografen und das Fußvolk kurzfristig einzubestellen. Am 17.1.1990 um dreizehn Uhr ist es so weit. Ein Olsenbanden-Coup vom Feinsten wird gelandet, der leider wie immer bei Egon, Benny und Kjeld irgendwann gegen den Baum fährt. Für die Szene wird das als „Eimer“ getaufte Haus eine Kultstätte des Undergrounds, Keimzelle für berühmt werdende Musiker, Performance Künstler und Schreiberlinge. Auf die Frage, ob Jonas auch bei der Stasi war, antwortet er: „Nein, aber ich war der i-Punkt der „Firma“ und mein Deckname ist ab sofort IM Eimer.“

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Mitten in Mitte, der zukünftige „Eimer“ zwei Jahre vor der Besetzung

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Flugblatt

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Leider können die unklaren Besitzverhältnisse des Eimers nicht im Grundbuch manifestiert werden. Zum einen fehlt der nötige Verstand, zum anderen das nötige Kleingeld für einen Kauf. Durch emsiges Arbeiten übernimmt ein anarchistischer Installationskünstler aus West-Berlin nach und nach die Schlüsselgewalt und damit die Macht im Haus. In den folgenden Jahren hängt immer wieder das Damoklesschwert der Räumung über dem kleinen Schloss. Das Ende des legendären Clubs findet immerhin erst knapp dreizehn Jahre später statt. Rampazzo, der Licht-Anarchist, muss sich 2012 so gut wie allein widerstandslos ergeben und hat vielleicht in diesem Moment begriffen, dass es ein Fehler war, den Narren und die Bands der ersten Stunde nach und nach vergrault zu haben. Doch zurück zu den Gründungs-Stunden des Eimers. Der Sänger der Ostberliner Band „Noah“, heute bekannt als „Inextremo“, wird auserkoren, unter dem Beifall von circa dreißig Mitstreitern, mit einem Brecheisen das Hintertürchen zu knacken. Troja ist endgültig offen. Unter den Anwesenden befinden sich außer den Mitgliedern von „Noah“, „Freygang“ und der „Ichfunktion“ u. a. Leo, der spätere Papa Tacheles, Krischan, Sänger der Band Happy Straps, der Radioreporter M.C.Lücke, Starski, der Fotograf, und natürlich Jonas, mein Kasperkopf. Es dauert keine dreißig Minuten und drei verängstigte DDR-Polizisten treten auf den Plan. Da die drei Uniformierten durch den Mauerfall nicht mehr im vollen Besitz der Staatsmacht sind, spürt jeder Anwesende ihre Angst vor dem Mob. Die Angst, vom aufgeheizten Volk am nächsten Laternenpfahl aufgehängt zu werden, erfasst zu jener Zeit den gesamten Apparat. Von der Staatsführung, über die geheimen Sicherheitsorgane bis hin zum untersten Glied des Verkehrspolizisten ist diese Angst nicht unberechtigt, wie spätere Hinrichtungen in Rumänien zeigen. Das Schönste an der Revolution von 1989 ist der unblutige Verlauf. Keine Panzer, kein Schuss, kein Massaker. Diese Interpretation der Geschichte ist aus heutiger Sicht eine Illusion. Das Blut des Mauerfalls floss nur woanders, zum Beispiel während der Auflösung Jugoslawiens, dann durch abgelegte NVA-Waffen im ersten und im zweiten Golfkrieg, dann in Afghanistan, Syrien und seit 2022 in der Ukraine.

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Der Zerfall des Ostblocks von der Elbe bis zur Beringstraße bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Rest der Welt. Der Mensch ist nicht bereit für den grenzenlosen Weltfrieden und dass seit tausenden von Jahren. Wie kommt es nur, dass Mephisto es immer wieder schafft, die Menschen mit Schlagworten wie wahre Religion, Mutterboden und Vaterland zu blenden, sie aufzuhetzen und zu manipulieren. Die Streifenpolizisten mutieren zu wirklichen Freunden und Helfern des Volkes. Sie lassen sich von Jonas den Flyer erklären, indem kurz und knapp erläutert wird, dass dieses Haus ab sofort ein Kulturhaus mit Proberäumen, einem Club und Auftrittsmöglichkeiten für Künstler aller Art sei. Gezwungenermaßen bereitwillig nehmen sie schweigend an der Begehung des Hauses teil und verabschieden sich äußerst verständnisvoll und freundlich mit der Bitte, Ruhe bis zur Klärung des Sachverhalts zu bewahren. Die erste Hürde ist genommen, die zweite besteht aus Drecksarbeit. Das halb zerfallene Erdgeschoss ist überwuchert von Material und Schuttresten einer Cottbuser Baufirma, die angeblich für die Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) Reparaturen aller Art durchführt. Am Datum der umherliegenden Zeitungen kann Jonas erkennen, dass hier schon seit Jahren kein Mensch mehr zugange war. In den oberen drei Etagen werden die Besetzer von gähnender Leere empfangen, lediglich ein paar klassische DDR-Stühle und zwei Bürotische aus den sechziger Jahren warten demütig auf eine neue Zukunft unter den Chaoten. In einer kleinen Kammer hängt an der Wand ein Kasten, aus dem unzählige Telefondrähte schauen. Sie wirken wie versteinerte Tentakel der Medusa und sind Zeugnis des berüchtigten Abhörapparates Erich Mielkes. Auch dieser unheimliche Ort scheint seit Jahren verlassen. Die Pioniere der ersten Stunde improvisieren innerhalb eines halben Tages aus alten Brettern und Kisten eine Bar. Da ihnen der Schutzpatron des elektrischen Stroms wohlgesonnen ist, liegt nach dem Einschrauben der Porzellansicherungen an den Steckdosen Strom an. Auch alle Narva-Glühbirnen funktionieren noch und beleuchten das neue Heim im alten Licht. Der Chef der Freygänger fordert seinen Kollegen auf, eine Musikanlage zu organisieren und am Abend startet die erste, nimmer endende Party des Eimers.

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Junge Welt im Eimer vom 18.1.1990

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Noah-Micha darf die Tür knacken und MC Lücke hält drauf

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Die Staatsmacht erscheint

Konzertsaal im Eimer, noch mit Zwischendecke und Leuchtern

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„So sieht's aus, Herr Wachtmeister …“

Hausbegehung ohne Übergabeprotokoll

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Schipp-Schipp-Hurra

Krönerts Raketenbild wird als Flagge gehisst

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Den Grundstock der Bar in Form von zirka fünfzig Flaschen Wein, Likör und Schnaps steuert Jonas bei. Wieso mein Schutzbefohlener so viel Feuerwasser gebunkert hat? Ganz einfach, der Schlawiner begann alles überflüssige Ostgeld in Form von Alkohol anzulegen, denn Schnaps bleibt Schnaps und Bier bleibt Bier. Seine Hoffnung, die Kohle für den Einkauf bei Gelegenheit aus der Kasse zurückerstattet zu bekommen, erweist sich als Hirngespinst. Die Schatzkammer bleibt trotz guter Einnahmen komischerweise immer leer, das Geld für den nächsten Einkauf wird gerade so erwirtschaftet. Der Verlust der Einlagen begründet sich zum einen darauf, dass alle Musiker, die später im Haus proben, umsonst saufen, zum anderen bedienen sich etliche der ehrenamtlich arbeitenden Barkeeper am Rest des schmalen Gewinns. Aus ihrer Sicht korrekt, denn wer arbeitet schon gern umsonst und lässt sich die ganze Nacht bis zum frühen Morgen von Besoffenen die Ohren abkauen. Meinem Siebdrucker und T-Shirt-Produzenten ist das egal und das, obwohl sein Business auf dem Alexanderplatz mit dem Mauerfall jäh zusammenbricht. Das vierzig Jahre „unterdrückte“ Volk giert jetzt nach billigeren, jedoch stofflich wirklich besseren Klamotten aus dem Westen. Als die letzten Gäste dieser grandiosen Besetzer-Premiere durch die leeren Straßen nach Hause ziehen, verbarrikadiert Jonas das zum Schloss Rosenthal ernannte Haus von innen und verbringt die kurze Nacht in der ersten Etage. Er mummelt sich in seinen Schlafsack ein und fängt sofort an zu träumen. Wovon? Natürlich von Mary Filou. In zwei Metern Entfernung schläft ebenfalls auf einer Matratze die junge, schöne Mulattin Kati, doch die hat gegen unser Fräulein Filou keine Chance. Sie ist lustig und stammt aus dem Gefolge der Freygänger. Die Nacht verläuft ohne bedeutende Zwischenfälle und als Jonas am nächsten Morgen gegen neun Uhr die Fenster zur Straße öffnet, wundern sich die vorbeilaufenden Passanten, dass die Rosenthaler 68 wieder bewohnt ist. Da das Haus von seinen neuen Bewohnern zum Rock 'n' Roll-Schloss gekrönt wird, kommen folgerichtig gegen zwölf der rechtmäßige König, die Königin, der Großwesir und die Musiküsse der „Ichfunktion“. Es werden Eimer, Besen und Schippen organisiert und das eintreffende Fußvolk macht sich daran, den Schutt im Erdgeschoss zu beseitigen.

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Am selben Tage kann man in der „Jungen Welt“ auf Seite zwei ein kleines Foto von vier mal vier Zentimetern finden. Die Leser der Zeitung sehen drei Polizisten und auf einem anderen zwei Freaks bei der Arbeit, peinlich jedoch, dass man nur Frauen aktiv arbeiten sieht. Vierzig Jahre Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau hinterlassen Spuren. Die Randnotiz lautet: Musiker und ihre Bräute, diesmal statt einer musikalischen Session der Griff zur Schaufel.“ Wir wollen uns eine eigene Kulturstätte schaffen … doch ob das in den alten Gemäuern ein Hit wird? Es wird ein Hit und es entsteht sogar ein Doppelalbum, auf dem „Freygang“, „die Firma“ und „Ichfunktion“ gemeinsam in einer Rille liegen. „Die letzten Tage von Pompeji“ werden bei Peking Records verlegt und als Live-Album auf den Markt gebracht. Es werden nur fünftausend Exemplare auf Vinyl gepresst, die schnell vergriffen sind. Es ist an der Zeit, dreißig Jahre später eine Nachauflage zu pressen. Wer kümmert sich darum? Freiwillige vor und bei Rex Joswig von „Herbst in Peking“ melden. Die dritte Hürde ist genommen – was in der Zeitung steht, kann nicht illegal sein. Alle wissen Bescheid und wenn jetzt nichts Gravierendes passiert, ist die Besetzung erfolgreich. Nach einer Woche meldet sich ein Vertreter des Stadtrates an. Er wird von zwanzig neugierigen Besetzern erwartet. Jedes seiner Argumente, doch bitte das Haus auf friedlichem Wege zu verlassen, wird durch abfällige Worte und höhnisches Gelächter entkräftet. Der gute Mann wird gebeten, lieber selber das Haus zu verlassen und sich beizeiten zu überlegen, ob er eine weiße Weste habe und die Wende unbeschadet überleben will. Mit blassem Gesicht und schlotternden Knien verlässt der Aktentaschenträger Schloss Rosenthal und ward nie mehr gesehen. Der Mann war komplett im Eimer. Wir auch. Das ist unser Haus. Der Erfolg der Aktion verbreitet sich wie ein Lauffeuer über Berlin, Hamburg, Stuttgart, Dresden, Halle, Leipzig bis nach Holland, England und Amerika. Allein in Ost-Berlin werden innerhalb von wenigen Wochen einhundertvierzig komplett leerstehende Häuser okkupiert. Die DDR-Planer hatten gute Vorarbeit geleistet, in Friedrichshain sollte die komplette Mainzer Straße abgerissen werden, um dort schöne neue Platten-Neubauten anzusiedeln.

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Ein komplett leerstehender Straßenzug, der noch nicht von Strom und Wasser abgeklemmt ist, fertig zum Bewohnen für Freaks aus der ganzen Welt, der blanke Wahnsinn für ein dreiviertel Jahr. Die Geister strömen magisch angezogen nach Ost-Berlin. „Feeling B“ besetzt mit einer Handvoll treuer Fans das ebenfalls legendär gewordene Projekt Schönhauser 5. Auch dort wachsen über Nacht eine Bar, Probe- und Wohnräume.

Vom Tellerwäscher zum Meisterschreiber

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Auf dem Dach funkt Aljoscha mit dem Piratensender „Radio P“, wie Prenzlauer Berg, und im Keller des Seitenflügels entsteht die Keimzelle der berüchtigtsten Band der Welt. Wunde Orte als Bandnamen zu stilisieren, diese Kunst beherrschen die Mitglieder der Magdalene Keibel Combo. Die neu formierte Kapelle benennt sich nach der amerikanischen Militärbasis in Ramstein-Miesenbach, auf der im August 1988 während einer militärischen Flugschau drei Maschinen in der Luft kollidieren. Eines der Flugzeuge rutscht brennend ins Publikum, ein zweites trifft einen in Notfallbereitschaft stehenden Hubschrauber und das Unglück fordert nach offiziellen Angaben 70 Todesopfer und über tausend Verletzte. Eine der beklopptesten Zeitungskommentare findet Jonas in der Mitteldeutschen Zeitung vom 17.11.2015 Zitat: „Im Rückblick zeigt sich, dass es die DDR war, die „Feeling B“ zusammenhielt, weil sich die Band an diesem seltsamen Land und seinen Sittenwächtern abarbeiten konnte. Als die bürokratische Republik weg war, fehlte die Reibefläche, an der sich die Energie der Formation entzünden konnte.“ Was für ein Schmarrn, wenn man sich die provozierenden Videos der feuerspuckenden Nachfolgeband anschaut, man sieht vor lauter Reibeflächen den Wald nicht mehr. Die jungen Wilden setzen sich aus der Magdalene Keibel Combo (2/3 „Feeling B“), „die Firma“, „the Inchtabokatables“ und „First Arsch“ zusammen. Sie definieren ihren Musikstil neu und formieren sich zu einem Feldzug gegen das Böse, indem sie dem Leibhaftigen ihren Spiegel vor's Gesicht halten. Die Jungs haben ihre Lektionen gelernt, sie wissen inzwischen, wie man mit des Teufels Feuer, sprich mit der Presse, spielt und wie man aus dreckigen Themen Gold zaubert. Und ich hoffe, sie fördern mit ihrer überschüssigen Kohle gute Projekte. Jonas mag anfangs das martialische Auftreten der jungen Rammsteine nicht und hätte nie geglaubt, dass das Konzept des inszenierten Bösen weltweit so viele Menschen in ihren Bann zieht. Als aber die Scheibe „Reise Reise“ mit dem Song „Amerika“ rauskommt, wird auch er endgültig zum Fan. Menschen, die nicht zwischen den Zeilen lesen gelernt haben, verstehen die Botschaften des Sextetts oft falsch. Die Band bringt die Auswüchse des Imperiums auf den Punkt und ihre Videos sind eine geniale Persiflage auf den Untergang des american way of life. Aber ich will der Geschichte nicht vorgreifen. Zuuu-rück und brrr.

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Die Zeitmaschine parkt im Jahre 1990. Das Leben zieht wieder seine geordneten Bahnen, am Wochenende werden Konzerte gegeben, mal mit der „Firma“, mal mit „Freygang“ in seiner Urbesetzung, mal mit der reformierten „Ichfunktion“, die aber auch nicht richtig sprüht und funkt. Alle sind vielmehr damit beschäftigt, wohl oder übel Geld zu verdienen, um über die Runden des Alltags zu kommen. Mein Puppenspieler wird in dieser Zeit ein Jahr lang großzügig mit zweihundert DM von seiner Mutter unterstützt. Er versucht auch wieder, den Einstieg ins T-Shirt-Geschäft zu finden, diesmal allerdings druckt er keine Massenproduktionen mehr, sondern kleine Serien von 68 oder 89 Exemplaren. Inspiriert von Andy Warhol und der Hausnummer des Schlosses druckt er Motive, die sich um den Eimer, das Tacheles, den Wachturm im Niemandsland und die befreundeten Bands ranken. Das Publikum hat kaum Geld in der Tasche und die meisten Shirts werden verschenkt. Im März 1990 findet eines der letzten Konzerte der Tacheles Band statt. Die PDS will mit dem Untergrund kooperieren und wählt für ihre Wahlveranstaltung die Kongresshalle am Alexanderplatz aus. Der hässliche Kuppelbau direkt neben dem Haus des Lehrers diente dem Staatsapparat vor dem Bau des Palastes der Republik als Tagungsort der Volkskammer. Es spielen die „Ichfunktion“, „1000 Tonnen Obst“, „Freygang“, „Herbst in Peking“, die „Tacheles“ Band und „die Firma“. Die Haustechniker haben wenig Lust, diese ausgeflippten Bands abzumischen und es gibt einen handfesten Streit mit den Musikern, der darin gipfelt, das Trötsch mit einem Beil das Steuerkabel zwischen Mischpult und Bühne durchhackt. Das „Firma“-Konzert fällt aus und die Fans gehen wütend nach Hause. Der Pleitegeier steht vor der Tür und zwingt meinen Scharlatan sich nach einem neuen Lebensplan umzusehen. Die Siebdruckwerkstatt fällt als erstes dem zwangsverordneten Sparkurs zum Opfer.

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Tacheleskonzert in der Kongresshalle, TAZ-Artikel vom 19.3.90

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Ich sehe wen, den Du nicht siehst, der kauft sich ein Haus am Tegernsee.

19. Hättepopätte Eines Tages stellt mich Mary Filou zur Rede: „Hey Zorro Bärchen, jetzt ist zwar die Mauer weg, aber wie stellst du dir vor, wie's weitergeht? Ich will endlich mal 'ne Hauptrolle.“ Ich zucke mit den Achseln, schaue mir mit Jonas ratlos die Aktuelle Kamera und im Anschluss die Tagesschau an. „Kommt die West-Mark nicht zu mir, hau ich ab und geh zu ihr!“ Das Volk schreit aus voller Kehle, steht Schlange und holt sich sein Bestechungs- äh sorry, Begrüßungsgeld von einhundert DM ab. Die Ereignisse überschlagen sich, die Macht liegt auf der Straße und von Merlin bis dato keine Spur. Als Tatjana Flamminger kurz vor Weihnachten ein Kind bekommt, treffe ich den Zauberer wieder. Er wiegt etwas über drei Kilo und schreit mich in Babysprache an: „Kümmer' dich Verdammter, kümmer' dich verdammt nochmal um den Kohl! Löffel aus die Suppe, die du dir eingebrockt hast!“ Ein paar Wochen später schenkt Merlins Mutter mir eine selbstgestrickte Tarnkappe aus bunter Wolle und er schnarcht mit versöhnlicher Stimme in mein Ohr: „… hier Zorro, die ist für dich, tarne dich so gut es geht, schnapp dir die Kohlbirne …!“ Vergeblich versuche ich, mich in den Kopf des Einheits-Kanzlers zu schleichen, doch leider renne ich kurz hinter seinem Ohr gegen eine hohe Mauer aus Vorurteilen. Meine grandiose Idee, zur Wiedervereinigung auch die Geheimakten des BND zu öffnen und gemeinsame eine neue Verfassung zu erarbeiten, prallen ab. Ich Idiot, Wollmütze vergessen. Ohne Tarnkappe keine Chance. Wir hätten heute eine andere Gemeinschaft zwischen den Brüdern und Schwestern Deutschlands. Schade, das hätte ein Spektakel gegeben, selbst Biermann wäre vom wahren Glauben abgefallen und hätte - mannomann – bierselige Lieder singen können. Stattdessen mimt der längst nicht mehr Gefeierte Jahre später im Bundestag den einseitig wüten den Hampelmann, zeigt mit dem schwarz gewordenen Zeigefinger auf die ausblutenden Rothäute der ehemaligen DDR. Ein weiser Indianer hätte flächendeckend mit der ganzen Hand dem gesamten Parlament, also jeder

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anwesenden Partei, den Eulenspiegel vorgehalten, den schwarzen Socken, den military-grünen Socken, den west-roten, den blauen, den gelben und den braunen Socken. Alle haben Dreck am Stecken und Löcher, die gestopft werden wollen. Was für ein engstirniger Eiertanz eines eitlen Gockels. Ach, wären doch die Schlapphüte des BND nur in ihrem undurchsichtigen Pullacher Hauptquartier geblieben. Die frühere Siedlung Sonnenwinkel wurde extra im Auftrag der Nationalsozialisten als Reichssiedlung Rudolf Heß gebaut. Verdammt ja, ich bin immer noch verdammt. Wäre ich nur in Kohls Kopf nicht gegen die Mauer gerannt, die Herren hätten sich in ihrem bayerischen Versteck klammheimlich und in aller Ruhe abwickeln, aufwickeln oder verwickeln können. Und erst das Parlament, ich hätte das gesamte Parlament in Bonn belassen, lediglich dem Bundestagspräsidenten hätte ich ein repräsentatives Luftschloss in eine der amerikanischen Abhör-Dome auf dem Teufelsberg gebaut. Alle Fragen der Sicherheit wären entspannter, der Umgang mit Steuermitteln vielleicht verantwortungsvoller und die Wiedervereinigung gerechter über die Bühne gelaufen. Die Realität sieht leider anders aus, die Kulturmetropole Berlin wird belagert von Politikern aller Couleur, den Miethaien, den Schlapphüten und nicht zu vergessen dem dazugehörigen Personal, vom Tellerwäscher bis zum Altenpfleger, vom Zigarrenhalter bis zur Burnout-Schwester. Ach, hätte ich Merlin nur richtig verstanden und die Tarnkappe mitgenommen, mit ihr wäre ich durch die Mauer in Kohls Kopf gestiegen, hätte die alte Spaßbremse zurechtgerückt und ihm eingebläut, dass Volkseigentum Volkseigentum bleibt und Rotkraut Rotkraut. In Berlin stände statt der neuen Bundesnachrichten-Zentrale noch das Stadion der Weltjugend, das Volk würde mehr Sport treiben und Rammstein könnte ein Stadion mehr bespielen. Das Kunsthaus Tacheles würde noch stehen und aus dem Mauerstreifen hätte ich einen grünen Gürtel um Berlin wachsen lassen. Die Stadt wäre nicht im Eimer und es gäbe soziale Mieten. Der beste Kumpel von Strauß und Herrn Korruptus und damit auch der schlimmste Mittelfinger in der Geschichte der DDR war Herr Schalck-Golodkowski. Das dicke Trüffelschwein war oberster Devisenbeschaffer der DDR und handelte mit Menschen, Waffen und Kunst. Er zieht sich nach dem Mauerfall trickreich aus der Affäre und kauft sich ein Haus am Tegernsee. Schweinerei. Ich ärgere mich. Hättepopette.

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Tacheles von hinten, 1990

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Charly mit Puppe

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Ich sehe was, was Du nicht siehst, und das legt keine Eier, aber war zuerst da.

20. Charly, das Huhn und die Taube Europa Es begibt sich an einem Wochenende im Frühjahr 1990, dass mein Schützling seine Bühnenkoffer packt. Steigt ein, liebe Leser, wir fliegen nur ein kurzes Stück zurück, direkt in die nahe Vergangenheit, habt ihr den roten Faden schön aufgerollt? Euch bis hierher nicht verheddert, verknotet oder gar selbst gefesselt? Nein? Das ist gut, kommt, wir düsen in die Wohnung Prenzlauer Allee 188, bitte nicht vergessen, tief ein- und tief wieder ausatmen. Der weiße Lederkoffer steht auf dem Küchentisch. Ich habe gerade mein Fell gebürstet und mir die Krallen geschnitten, da Mary Filou jammert, dass ich sie kratze. Ich denke anders darüber und finde, dass ich sie sehr zärtlich kraule. Nicht ein Kratzer ist auf ihrer Haut zu sehen, was für ein zerbrechliches Frauenzimmerchen. Es wird wirklich langsam Zeit, mich wieder in den Kasper zurückzuverwandeln, sonst macht die Süße mir die Hölle heiß. Heute ist ein besonderer Tag und ich bin die einzige Puppe, die mit darf. Ich mache es mir in meinem Lieblings-Koffer neben einer Horror-Maske gemütlich. Die Maske zeigt das menschliche Gesicht, allerdings ohne Haut, man sieht die einzelnen Fleischstränge, ein klassisches MuskelmannGesicht, wie ihr es in medizinischen Büchern oder in guten Faschingsgeschäften findet. Jonas mag die Maske, da sie für natürlich-makabren Grusel steht. In der Wohnung des Narren lebt ein russischer Deserteur, der des Nachts durch die Hinterhöfe spaziert und die Mülltonnen nach Essbarem durchstöbert. Jeden Morgen ist der Kühlschrank etwas voller und Jonas erkennt nicht, was davon aus dem Müll gefischt ist. Der junge Mann spricht weder Deutsch noch Englisch und das bisschen Russisch, das Jonas noch aus Schulzeiten abgespeichert hat, ist sehr schmal. Die beiden reden mit Händen und Füßen, der Russe hat für den Notfall ein Wörterbuch gefunden. Mein Samariter hat ihn beim Stöbern in einem Abrisshaus aufgegabelt und hält ihn seit drei Wochen versteckt. Fahnenflucht ist ein schwerwiegendes Delikt und wird von der Roten Armee mit mehreren Jahren Arbeitslager unter verschärften Bedingungen bestraft.

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Bevor Jonas ihm Asyl gewährt, lebt der Bursche in einem verbarrikadierten Zimmer eines Abriss-Hauses im Scheunenviertel in Berlin-Mitte. Jonas liebt es nach wie vor, in solchen Ruinen nach Brauchbarem zu suchen. Die Besetzung des Eimers ist gerade erst eine Woche alt. Die Truppe sucht dringend Möbel, Teller, Gläser, Tassen und Besteck. Keiner der Besetzter hat Lust, den eigenen Hausstand aufzulösen und in den Eimer zu tragen. Niemand ahnt, wie lange der Staat die Inbesitznahme des Hauses duldet. Jonas ströpert ganz in der Nähe des Eimers durch die Gipsstraße. Gips gibt's in der Gipsstraße Nummer Gips. Mein Schatzsucher spaziert in einen Innenhof und betritt den Seitenflügel. Alle Wohnungstüren stehen sperrangelweit offen. Er spaziert durch die ersten vier Stockwerke, findet hier und da nutzbare Gegenstände und stellt sie für den späteren Abtransport ins Treppenhaus. Die Treppe hängt frei im Raum, da das Geländer schon geklaut wurde. Plötzlich steht er auf dem Dachboden vor einer verschlossenen Zimmertür. Er klopft zaghaft und lauscht, aber nichts rührt sich. Seine Phantasie geht mit ihm durch und er vermutet in dem Raum die tollsten Dinge. Er klettert zur Dachluke hinaus und rutscht auf der Schräge über die Ziegel bis zum Mansardenfenster, schaut um die Ecke und blickt in das verängstigte Gesicht von Edwin. Jonas spürt sofort, dass er es mit einem Menschen zu tun hat, der sich verstecken muss. Der Russe öffnet das Fenster und reicht Jonas die Hand, der greift zu und hat ab sofort ein Problem mehr an der Backe. Edwin haust ohne Wasser in der Bude, die vollgestopft ist mit Radios, Fernsehern und ostdeutschem Wohlstandsmüll. Der junge Mann scheint praktisch begabt zu sein, denn er hat irgendwie Strom vom Dachboden des Vorderhauses in sein Zimmer gelegt, heizt mit dem berühmten DDR-Toaster und kocht auf einer elektrischen Platte. Das Vorderhaus ist noch bewohnt. Wasser zieht er sich heimlich aus einem Wasserhahn im Keller. Nachts schleicht er sich auch hier hinaus zur Nahrungssuche. Die beiden starren sich ungläubig an und Jonas gibt zu verstehen, dass sein Gegenüber keine Angst zu haben brauche, er kein Polizist sei. Die Situation entspannt sich und Edwin kocht einen Kräutertee. Auch alter Kaffee wäre im Angebot gewesen. Stolz zeigt er auf seine vielen Konservenbüchsen, auf uralte Obst- und Gemüsegläser, eingesammelt in den Kellern und verlassenen Wohnungen der Gegend. Nach einer Stunde zieht Jonas weiter, der Russe lässt ihn aus der Tür und verbarrikadiert sie wieder von Innen. Jonas ist erschüttert und besucht Edwin in der folgenden Woche zweimal und bringt ihm frisches Brot.

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Immerhin ist der gemeine Deutsche dem Russen nach dem letzten Krieg noch was schuldig, auch wenn die Ostdeutschen mit Reparationszahlungen gebüßt haben. Aber können ein paar Fabriken, Fließbänder und Maschinen knapp dreißig Millionen Menschenleben zurückbringen? Ich glaube nicht. Beim dritten Treffen lädt Jonas ihn zu uns nach Hause ein. Edwin kann endlich mal heiß duschen und seine Klamotten waschen. Der Flüchtige spürt, dass er auf einen Gutmenschen gestoßen ist und bleibt. Erst eine Woche, dann zwei, dann drei und am Ende werden es ganze zehn Wochen, eh Jonas einen Weg findet, nicht den Rest seines Lebens die Schulden der Nationalsozialisten abzutragen. Brigitte ist ängstlich und bestaunt bei einem Besuch den Findling. Sie arbeitet gerade ehrenamtlich in der Bürgerkommission zur Auflösung der Stasi und passt mit anderen Bürgerrechtlern auf, dass nicht alle Unterlagen der Behörde geschreddert werden. Leider sind die Schlapphüte schneller als erwartet und die aktuellen Spitzelberichte bleiben für immer spurlos verschwunden. Die besorgte Mutter organisiert einen Kontakt zu einem Auffangnetz der Kirche für russische Deserteure. Edwin scheint kein Einzelfall zu sein. Der junge Mann hat sich bei uns eingelebt und hängt den ganzen Tag in der Bude vorm Fernseher. Jonas Idee, ihn im Eimer zu integrieren, scheitert, da Edwin Angst hat, dort sofort entdeckt zu werden, da viele Menschen auch viel schwatzen. Als der Flüchtige endlich zu einem konspirativen Treffen mit einem Pfarrer geht, erlässt Gorbatschow wie durch Geisterhand gelenkt eine Generalamnestie für alle russischen Deserteure und Edwin willigte ein, sich in den Schutz der Kirche zu begeben. Jonas fühlt sich mit dieser Lösung gut, allerdings wissen wir nicht, was aus dem jungen Mann geworden ist. Er hat nie wieder von sich hören lassen. Mein Puppenspieler denkt heute, der Kerl hätte ja wenigstens mal eine Postkarte schicken können, aber wahrscheinlich hatte Edwin nicht das nötige Kleingeld für eine Briefmarke oder die Zeit in Berlin aus seinem Kopf verdrängt. Halt, sitzenbleiben, wir haben uns verfahren, zurück zu jenem Samstag, an dem ich im Koffer neben der Muskelmann-Maske liege. André ist jetzt nicht mehr als Raketen-Band unterwegs, sondern wieder unter dem ehrwürdigen Namen „Freygang“. Dieser neue Umstand spielt keine Rolle, da der Sänger die gleichen Lieder wie vorher zelebriert.

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Jonas ist egal wie der Hase heißt, Hauptsache er läuft. Unserem Scharlatan ist lediglich wichtig, mit dem König unterwegs zu sein. Die beiden mögen sich nach wie vor und Jonas wohnt gelegentlich bei André, um dem Russen in seiner eigenen Bude aus dem Weg zu gehen. Das geplante Konzert soll in einer Kirche in der Nähe von Cottbus stattfinden und die Band trifft sich gegen zehn im Brückenkopf. Brückenkopf ist der Deckname für die Eckwohnung des Sängers in der Zionskirchstraße am Teutoburger Platz. Hier wartete das Equipment der Band nahezu jedes Wochenende darauf, eingeladen und nach getaner Arbeit wieder ausgeladen zu werden. Die Musiker sind froh, dass sich die Bude im Hochparterre befindet und nicht im vierten Stock. Gegen elf steigen alle in den schwarzen Wolga Kombi des Bandleaders und ab geht die Post, auf zu neuen Abenteuern. Nach zwei Stunden Autofahrt landet die Truppe in einem kleinen Dorf, die Kirche ist verschlossen und der Pfarrer nicht in Sicht. Im ersten Jahr nach dem Mauerfall ist es schwierig, Auftritte in Clubs oder Dorfkneipen zu ergattern. Alle Fans sind klamm, jeder nutzt seine paar Kröten, um mit dem Arsch an die Wand der neuen Zeit zu kommen. Es wird kaum gesoffen und kein Geld für Darbietungen aller Art ausgegeben. Lediglich die Kirche kann es sich leisten, muss es sich leisten, weil die Kirchenhäuser sonst endgültig in Vergessenheit geraten. Das Dorf ist so klein, dass es weder einen Laden noch eine Dorfkneipe gibt. Der König liebt die Hausmannskost in rustikalen Kneipen und meckert, dass er Hunger hat. Jonas weiß, dass Hunger schlechte Laune produziert und unterbreitet André die Idee, beim Bauern gegenüber Federvieh zu kaufen und auf offenem Feuer zu braten. Der ist begeistert und schickt seinen Narren in die Spur. Jonas rennt sofort los und klopft an das Tor eines großen Hofes. Eine Schar Tauben sitzt auf dem Dach, Hühner gackern hinterm Zaun, Schweine quieken. Der Hausherr kommt schlecht gelaunt angeschlurft: „Was ist denn hier los, noch nie was von Mittagsruhe gehört?“ Jonas entschuldigt sich höflich und meint: „Oh, das tut mir leid, wir haben Hunger und würden gern zwei Hähne braten, können sie uns welche verkaufen?“ Der Bauer mustert ihn von oben bis unten und fragt: „Kannst du denn schlachten, Jung'?“ Mein Hochstapler erinnert sich an seine Kindheit, an die Abenteuer mit dem Vater, an die gerupften Stare und sagt: „Klar doch, guter Mann, immer her damit.“ Sie gehen zusammen in den Stall und das Schlitzohr greift

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einen dünnen, jungen Hahn und ein humpelndes Huhn: „Hier, die kann ich eh nicht gebrauchen, weg damit, macht fünfzehn Mark.“ Jonas kramt sein noch gültiges Ostgeld aus der Tasche und zahlt in Münzen. Bei diesem Anblick bekommt der Bauer Mitleid und fragt: „Hey du, hast du schon mal Taube gegessen?“ Der königliche Leibkoch schüttelt den Kopf und der Vogelzüchter schenkt ihm ein schönes, weißes Täubchen: „Einfach den Hals umdrehen, rupfen und ich sag dir Jung, das zarteste Fleisch, das du je gegessen hast.“ Jonas will den Mann nicht verärgern, denn Gastfreundschaft ablehnen, ist nicht gut. Die drei Viecher landen in einem Pappkarton und Jonas verabschiedet sich mit einem kräftigen Handschlag. Auf dem Weg zu den anderen entwischt der Hahn und Jonas ist froh, nur zweimal Töten und Rupfen zu müssen. Der Einkauf hat länger als erwartet gedauert und der Pfarrer, der inzwischen eingetrudelt ist, teilt mit, dass das Konzert aus welchen Gründen auch immer nicht stattfinden kann. Schlagartig haben alle schlechte Laune und André bläst zum Abmarsch. Anstatt die Taube und das humpelnde Huhn einfach über den Zaun des Bauern zu werfen, beschließen der König und sein Narr sie mit nach Berlin zu nehmen und dort zuzubereiten. Während der Fahrt sitzt das Huhn auf dem Schoß des Leibkochs. Es macht ihm schöne Augen und kämpft mit allen Mitteln ums Überleben. Das Täubchen hingegen versteckt sich verängstigt in dem Karton und hält den Schnabel. Nach langer Überlegung erhält die Taube den Namen Europa und das Humpelhuhn wird Charly getauft. Dass Tiere, die einen Namen erhalten, nicht geschlachtet werden, lernt Jonas erst einige Jahre später, als er selbst auf dem Land lebt und Schafe, Ziegen und Hühner hält. Als der schwarze Wolga Kombi am Brückenkopf parkt, hat keiner mehr Hunger und André geht lieber in die Alt-Berliner Bierstuben essen. Er hat keinen Bock auf spritzendes Blut und die ganze Sauerei mit den Federn. Jonas ist froh darüber, hat aber jetzt Huhn und Taube am Hacken. Er bringt die Beute in den Eimer und schläft gleich dort in einem der Gästezimmer der vierten Etage. Edwin, sein Russe, hätte ihm sicher geholfen, den Biestern die Gurgel umzudrehen, aber der ist nicht im Eimer, sondern zu Hause vorm Fernseher. Am nächsten Morgen erwacht Jonas und springt frohen Mutes die Treppen nach unten in die erste Etage. Charly hockt auf einem Barhocker und auch Europa war die ganze Nacht im Eimer, sie schimpft gurrend und flattert von innen gegen die Fensterscheiben. Jonas streut den beiden ein paar

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Brotkrumen auf den Tresen und öffnet im Nebenraum ein Fenster, um den Bierdunst der letzten Party rauszulassen. Europa hat keine Chance, aber nutzt sie trotzdem und entfleucht. Was für ein Bild, die Mauer ist gefallen und Europa fliegt durch Berlin. Gott sei Dank, denkt der königliche Leibkoch, eine Sorge weniger. Was bleibt von dem Wochenendausflug, sind ein paar Legenden um Charly und Europa. Jonas kann es nicht übers Herz bringen, das Huhn zu schlachten und so wohnen sie ab sofort zu dritt in der Prenzlauer Allee, mich und Mary nicht eingerechnet. Charly erholt sich, humpelt nach einer Woche nicht mehr und bekommt eine Sitzstange im Flur. Der Boden wird mit alten Zeitungen ausgelegt und Charly scheißt in grün und weiß auf Kohl, Bush, Krenz, Honecker und wie sie alle heißen. Hätte man eine schöne Ausstellung draus machen können, aber dazu fehlte Jonas die nötige Phantasie und vor allem der richtige Galerist. Wenn mein Schalk rausgeht, stopft er sich Charly unter die Jacke und der Hühnerkopf schaut heraus. Das ist zum einen schön warm am Bauch und zum anderen sieht es lustig aus. Das Huhn wird sehr zahm und Jonas kann es unbeaufsichtigt auf einem Kissen des Eimer-Tresens setzen. Die Besetzer mögen das verrückte Huhn und füttern es mit allerlei Blödsinn. Jeder kann dem Huhn alles erzählen, es nickt verständnisvoll mit dem Kopf, antwortete manchmal mit ja, manchmal mit nein. Als Jonas für ein paar Tage verreist, übergibt er Charly zur Pflege in die Wohngemeinschaft der Fehrbelliner 7. Dort wohnen gerade Key, Titus, Paul und Flake. Key erzählt, dass er eines Tages von der Probe nach Hause kommt und seinen Augen nicht traut. Charly hat den Plattenspieler angestellt und spielt Rummelplatzbesitzer. Keine Ente! Das Huhn sitzt mitten auf dem Plattenspieler auf einer „Fehlfarben“-Platte und dreht sich Runde um Runde im Kreis ohne mit dem Kamm zu zucken. Key ist so begeistert von dem Anblick, dass er ohne den Rest der Band zu fragen beschließt, dass Charly das Maskottchen der „Ichfunktion“ wird. Johanna malt das Hühnchen auf Papier und Jonas erstellt ein Sieb und druckt es auf Wunsch der Band als Plakat und T-Shirt. Der Besitzer des Plattenspielers ist überhaupt nicht begeistert und schmiedet Rachepläne. Bevor Charly als Brathuhn in der Backröhre verschwindet, kehrt Jonas zurück und befreit sein Federvieh aus der „Ichfunktion“ der Männer-WG. Die Kerle sollen sich ihre eigenen Hühner besorgen.

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Jonas und Key, im Hintergrund Tschaka und Jens

Gosford/Australien, 1. April 2018 Sehr verehrter Herr Thaler, bezüglich der meine Vergangenheit betreffenden Textpassage aus Ihrem übrigens sonst sehr lesenswerten Manuskript vom 1. März 2018, muss ich Ihnen aber hiermit folgendes entschieden erwidern: Der Ort des Geschehens war unsere Wohnung in der Fehrbelliner 9, nicht Nummer 7. Berichtigen Sie das freundlicherweise. Danke. Und weiter: An dem Abend, den Sie offensichtlich in Ihrem Text meinen, war das Huhn Charly gar nicht zugegen. Vielmehr dürfte stimmen, dass das benannte Huhn zwei Abende vorher mit mir zusammen in meinem Bett geschlafen hat, wobei ich natürlich gelegen habe und das Federvieh die ganze Nacht, ohne sich zu rühren, scheinbar einbeinig neben meinem Kopf gestanden hat. 233


Neben dem Bein lag am Morgen ein großer Haufen Hühnerkacke. Weiteres, diese Begebenheit betreffend, lesen Sie freundlicherweise in meinem Buch „KEYNKAMPF“ nach. Das Buch ist zurzeit vergriffen, aber ich schicke Ihnen gerne eine Fotokopie. Am Abend, den Sie beschreiben, trug sich jedenfalls folgendes zu: Gemeinsam mit unserem Wohnungsnachbarn Titus, dem Trommler der Band „The Inchtabokatables“, hörten wir damals in der übrigens sehr gemütlichen Gemeinschaftsküche der Fehrbelliner 9 die erste Schallplattenveröffentlichung der „Ichfunktion“ ab. Dass wir, wie von Ihnen behauptet, die „Monarchie und Alltag“-Platte von den „Fehlfarben“ hörten, kann ja schon deswegen nicht den Tatsachen entsprechen, da zum damaligen Zeitpunkt niemals jemand im Zentrum des vor sich hinschmelzenden Ost-Berlins ein Lied wie „Es geht voran“ hören wollte. Somit kann es nur die vier Lieder umfassende EP der „Ichfunktion“ gewesen sein. Ich glaube, wir hörten den Song „Was soll ich bloß tun Fisch?“ Eigenartigerweise nahm das Abspielen jener Schallplatte einen kafkaesken Lauf, als ich mich inmitten eines Liedes dazu entschloss, die auf dem Küchentisch befindliche Zuckerdose vollständig über der laufenden Schallplatte zu entleeren. Der Grund hierfür war meine Enttäuschung darüber, dass ich an diesem Abend auf einen Überraschungsbesuch meiner damaligen Herzensdame FF gehofft hatte, diese Hoffnung aber enttäuscht fand. Somit folgte ich einer spontanen Eingebung, mir den Abend anders zu versüßen. Daraufhin öffnete Titus ohne lange zu überlegen das Kassettenfach der in Betrieb befindlichen Hifi-Anlage und stopfte ein Stück Butter hinein. Offenbar versuchte er durch mehrfaches, energisches Betätigen der Abspieltaste das Butterstück zu löschen. Ob er damit erfolgreich war, ist mir allerdings nicht mehr erinnerlich. Bitte recherchieren Sie etwas sorgfältiger und überlassen sie das schlampige Nachforschen lieber den Journalisten. Mit freundlichen Grüßen, Key Pankonin

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Seht ihr, liebe Leser, Geschichten verändern sich mit jedem Weitererzählen, am Ende weiß keiner mehr, wie es wirklich war. Fakt ist jedoch, die Geschichte von Charly ist keine Ente, nein, sie ist ein Huhn, das kann man deutlich auf dem Plakat erkennen.

Was tun, Huhn?

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Auch als Model muss das Huhn herhalten, denn Flake ist nicht nur Keyboarder und inzwischen ein anerkannter Schriftsteller, er malt damals auch großflächige Bilder. Auf einem seiner Gemälde ist Charly oder zumindest ein Kollege von ihm verewigt. Leider wird das Bild im Hausflur des Eimers aufgehängt und nur wenige Tage später vom Barpersonal gestohlen und für wenig Geld verkauft. Es würde mich nicht wundern, wenn es eines Tages wieder auftaucht und für eine beachtliche Summe versteigert wird. Hoffentlich hat der Maler nicht vergessen, es zu signieren. Charly geht es immer besser und das menschenfreundliche Huhn versucht sogar Eier zu legen. Es kennt leider noch nicht die Formel für harte Schale und es kommen nur sogenannte Windeier zum Vorschein, kleine Haufen aus Eiweiß und Eigelb. Nach drei Wochen melden sich zwei Tierschützerinnen des Hauses zu Wort, erheben Anklage gegen den Narren und entführen das Huhn, um es am Stadtrand auszusetzen. Die beiden Damen meinen es sicher gut und können den Anblick des vermenschlichten Huhns auf dem Tresen nicht länger ertragen. Sie fangen unter größter Anstrengung das Hühnchen ein und sperren es in eine Transportkiste für Katzen. Charly wehrt sich wacker mit Flügeln und Hühnerbeinen und befürchtet, nun habe sein letztes Stündlein geschlagen. Die beiden rothaarigen Frauen setzen sich gnadenlos durch und verfrachten das Tier in ihr Auto. Sie fahren an den Stadtrand, parken an einem Feldrain und setzen den Katzenkorb mitten aufs Feld an die frische Luft. Evi öffnet das Türchen und Tatjana ruft von hinten: „Husch, husch, na husch, raus mit dir. Hühnchen.“ Charly rührt sich nicht einen Millimeter vorwärts. Zum ersten Mal befallen die beiden Zweifel, ob sie das richtige tun. Evi ist mutig und will das Huhn packen und herausheben, doch Charly pickt sofort mit dem Schnabel zu, wenn sich die Hände nähern. Das Huhn gackert stinksauer über den Karriereknick als Variete-Star und ist eingeschnappt. Tatjana fragt: „Was nun?“ Und Evi antwortet: „Was tun!“ Sie locken es mit etwas Katzenfutter aus dem Gefängnis und Charly scheißt einen großen Haufen vor den Katzenkoffer. Es gackert und denkt: „Was soll der Mist!“ Die beiden scheuchen das ehemalige Humpelchen in die Freiheit und sehen zu, dass sie nach Hause kommen. Mit ziemlicher Sicherheit wird Charly vom Fuchs geholt und ob Europa überlebt, liegt in den Sternen. Mutige Friedenstaube, armes Huhn. Es tut meinem Scharlatan leid und er bereut es bis heute, dass er auf die dumme Idee kam, den Hunger des Königs auf diese Art stillen zu wollen.

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Ich sehe was, was du nicht mehr siehst, und das ist eine Riesensauerei.

21. Tacheles oder Tach Less? Nach zwei Wochen wird es im Eimer eng, immer mehr Musikerkollegen wollen im Haus proben. Der weise Rat vom Rosenthal beschließt ein zweites, noch größeres Objekt der Begierde zu erobern. Leo, ein Musiker der Experimentalgruppe „Tacheles/West“ schlägt vor, das weitläufige Gelände des geschlossenen Kinos Camera in der Oranienburger Straße in Ost-Berlins Mitte aufs Korn zu nehmen. Das Haus hat eine lange Abriss-Geschichte und immer wieder schaffen es Idealisten wie Leo, das Haus auch durch DDR-Zeiten zu retten. Franka besorgt einen Bolzenschneider, die Kette des eisernen Gittertores wird kurzerhand geknackt und das Kino gehört uns. Franka kennt die Räume wie ihre linke Westentasche, da sie hier bis zur Schließung des Kinos in ihrem Traumjob als Filmvorführerin arbeitete. Sie zeigt den anderen, wo sich im Keller der Hauptzähler befindet und mit dem Umlegen des Hauptschalters fließt wieder Strom. Das Kino ist seit geraumer Zeit geschlossen, da die Volkskammer bereits seit Jahren über den Komplettabriss des geschichtsträchtigen Hauses debattiert. Kurz vor der planmäßigen Sprengung wird der noch stehen gebliebene Rest des Gebäudes am 14. Februar 1990 von der Künstlerinitiative „Tacheles“ besetzt und gerettet. Drei Dutzend Freaks, Presse und die nicht enden wollende Party schlagen erneut zu. Die Hauptakteure der Besetzung sind neben Franka und Lothar die Musiker der „Tacheles“ Band. Sie sind die vergessenen Pioniere der ersten Stunde, ihnen hat das Kunstprojekt nicht nur seinen Namen zu verdanken, sondern auch den Geist des kreativen Gemeinwohls, des Miteinanders in möglichst freien Strukturen. Googeln ist noch nicht erfunden und da keiner der Überlebenskünstler ein Fremdwörterbuch dabeihat, wird lauthals über die richtige Schreibweise debattiert. Die einen singen „Tabularasa“, die nächsten schreien „Tachles“ und die Quatschköpfe meinen „Tach Less“, bis Leo entschlossen zur Tat schreitet und mit einer Rolle und weißer Farbe in großen Buchstaben gut sichtbar das Wort „T A C H E L E S“ an die Fassade malt.

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Da sich die Musiker von „Tacheles/Ost“ im Eimer und im „Feeling B“Haus der Schönhauser 5 einrichten, muss die Fraktion „Tacheles/West“ das Projekt in der Oranienburger weitgehend allein stemmen. Leo, Alex, Rafael und Chrischan, der Sänger von „Happy Straps“ haben das Zepter für ein paar Wochen in der Hand. Die Besetzung spricht sich in rasantem Tempo herum. Berlin ist schon immer ein Magnet, Ost wie West, doch mit dem Mauerfall hat sich die Anziehungskraft der leerstehenden Bauruinen um etliches vervielfacht. Mit der Öffnung des „Antifaschistischen Schutzwalls“ steht Berlin weltweit für offenen, friedlich bunten Wandel. Flieg Europa, ja flieg mein Täubchen, flieg aus Berlin zum Heiligen Vater in Rom und sag ihm, alles läuft nach Plan A und B und C und dem Rest des Alphabets. Wie eine Flutwelle strömen täglich Aussteiger, Einsteiger, Umsteiger, Schornsteiger, Glücksritter, Looser und Trittbrettfahrer aus der ganzen Welt nach Berlin. Neben den Brüdern und Schwestern des größeren Deutschlands kommen auch Australier, Engländer, Amerikaner, Holländer, Franzosen, und selbst Südspanier tauchen von Westen aus auf. Etwas später mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgt der Ostblock, denn pünktlich zum Weihnachtsfest stolpert der große russische Bruder über sich selbst und zerbricht am 21. Dezember 1991 in tausend Stücke. Halt Zeitmaschine STOPP – in tausend Stücke – das ist gelogen. Es sind nur fünfzehn. Väterchen Frost löst die Union des großen Rats auf, mit von der Party: Knecht Ruprecht, Sankt Nikolaus, der Weihnachtsmann und die Engel. Ob die europäische oder amerikanische Union auch irgendwann zerfällt, bleibt spannend, leider scheint der Mensch zu doof für eine friedliche Weltunion. Die Zeit fühlt sich himmlisch an, jeder macht, was er will, keiner was er soll. Mit „Good by Lenin“ wird ein Film über die Wendezeit gedreht, den man als Geschichtsforscher gesehen haben muss, nicht nur weil in kurzen Sequenzen der Eimer, Lenin und das Tacheles zu sehen sind, sondern weil die Story einfach der Knaller ist. Nach einer Woche Einsatz zieht sich die Crew des Eimers in ihr Schloss im Rosenthal zurück. Viele Fans helfen ihren Bands, indem sie Eimer für Eimer Schutt aus dem Eimer schleppen. Nach ein paar Wochen gibt es einen Imbiss an der Ecke und plötzlich, fast über Nacht, ist die Freifläche neben dem Haus großflächig umzäunt. Der freie, wilde Parkplatz ist von einem

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windigen Autohändler gepachtet und der Kerl verdient sich dumm und dämlich. Die Westler kennen ihr System der freien Marktwirtschaft und wissen einfach, wie die Spielregeln bedient werden, oder noch besser: wie man sie unter besonderen Umständen umgeht. Keiner der Besetzer aus dem Osten hat eine Ahnung von GbR, GmbH, von Krediten, Stiftungen, Fonds oder Projektarbeit. Alle wirbeln im Haus und jeder leistet seinen kleinen Beitrag, die einen saufen mehr und die anderen arbeiten weniger. Jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen, so wie sie es in der DDR-Schule gelernt haben. Die ersten Wochen fühlen sich an wie Kommunismus oder wie immer besser gesagt wurde: real existierender Sozialismus nach unserem Geschmack. Jonas kann Glas schneiden und beginnt, die kaputten Scheiben der Vorderfront aufwendig zu verglasen. Da kein Geld für Glas da ist, recycelt er kleine Reste und zieht Zwischenleisten in die großen Fenster ein. Am Ende sehen sie fast wie Kirchenfenster aus, bis Rampazzo der Lichtzwerg kommt und nach vier Wochen die Fenster mit Blechen zunagelt. Das Schloss verfällt zusehends in Dunkelheit, damit man auch Tagsüber seine Schwarzlicht-Objekte bewundern kann. Finito, aus mit Sonnenschein. Es ist kalt. Die gelben Kachelöfen werden geheizt, zumindest so lange, bis der große Vorrat an echter Kohle im Keller alle ist. Dann werden die alten Öfen von Rampazzo abgerissen und durch Gasbrenner ersetzt. Seitdem wird im „Eimer“ die Luft zum Atmen knapp. Aus einer anfänglich oberflächlichen Freundschaft wird eine unerbittliche Feindschaft. Rampazzo und Jonas sehen sich beide als Dekorateure des Eimers, nur jeder halt auf seine Art. Der erste Streit beginnt darüber, wie viele Tage in der Woche der Eimer für die Öffentlichkeit zugänglich sein soll. Die Bands spielen vor der Einführung der D-Mark fast jedes Wochenende auswärts und fahren auf Kaperfahrt. Das daheimgebliebene Fußvolk aber will feiern. Die Musiker schaffen es selten zu proben, da die inzwischen täglich geöffnete Bar ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert. Mein Scharlatan verliert den Kampf, denn Rampazzo ist viel fleißiger und schneller, hat seine leibeigenen Trittbrettfahrer und übernimmt Raum für Raum und Schlüssel für Schlüssel. Am Ende steht selbst der Rock 'n' Roll-König vor seinem verschlossenen Proberaum und schaut dumm aus der Wäsche. Kein Schlüssel passt mehr. Die Sache ist verhext.

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Der Moment ist gekommen, in dem der König sich in den Piratenkapitän verwandelt, seine unsichtbare Krone gegen den Dreispitz eintauscht und das Label „Flint Records“ gründet. Er schreibt das Lied „Rummelplatzbesitzer“, seine neue alte Parole heißt ab sofort wieder: „Hey Kasper, ärgere dich nicht, wir sind Fahrende und keine Hausbesitzer.“ Das alte Kino Camera entwickelt sich in Windeseile zum bekanntesten, alternativen Kulturhaus der Welt. Jeder Tourist, der über den Tränenpalast und später dann über den S-Bahnhof Friedrichstraße einreist, ist nach zehn Minuten am Ort des Geschehens. Das Haus reist auf unzähligen Fotos um die Welt und geht unverwüstlich in die Geschichte der Stadt ein. Die Künstlerinitiative „Tacheles“, die das Haus besetzte, gab sich schon Mitte der 80er den Namen, um auf die Probleme der freien Meinungsäußerung aufmerksam zu machen. Viele Botschaften in Musik, Film und Theater müssen zu DDR-Zeiten zweideutig wie beim Teekessel-Spielchen versteckt werden. Das Durchbrechen dieser Zweideutigkeit in der Kunst ist ein Ziel der Gruppe. Innerhalb weniger Tage geht der Name der Gruppe komplett auf das Gebäude selbst über. Die eigentliche Idee jedoch geht schnell flöten. Die Bewohner verirren sich auch hier in Vereinsmeierei, verstricken sich in ABM-Stellen oder anderen Geldbeschaffungsmaßnahmen. Lediglich Leo gilt lange Zeit als „Papa Tacheles“, er kämpft auf dem Plenum für eine gerechte Verteilung der Einnahmen und versucht die Volksküche am Leben zu halten. Die Pioniere des Projektes gelten nur kurze Zeit als freidenkender Kern der „Tacheles“-Gemeinde, da sie sich mehr und mehr von den Sitzungen und der Vereinsarbeit zurückziehen. Sie sind Musiker und keine Projektmanager. Ende vom Lied – die Tacheles Band probt in einem winzigen Keller unterm Cafe Zapata. Sie nutzen lediglich zwei schlechtdurchlüftete, enge, dunkle, niedrige Räume, erreichbar durch ein kleines, heimliches Hintertürchen unter der Treppe zum Büro. Jeder neue Ankömmling, der in den ersten Tagen als Gast anreist und ausreichend Zeit sowie Lust mitbringt, nimmt sich den Platz, den er braucht. Ein Paradies für Graffiti-Künstler, jeder Raum ist ein unbeschriebenes Blatt. Überall stehen nach wenigen Tagen Teelichter im düsteren Grusel der Ruine. Mein Scharlatan bewohnte für einige Tage ein Zimmer mit Blick in den Innenhof.

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Leo als Papa Tacheles

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Die ganze Rückwand des Gebäudes fehlt, wie in dem französischen Klassiker des triebhaften Anarchisten „Themeroc“ mit Michel Piccoli. Jonas kann in dem Zimmer, wie im Film, wunderbar die Beine baumeln lassen. Die erfolgreiche Besetzung findet den Zuspruch der Anwohner und jeden Tag kommen Unterstützer und bringen nützliche Gegenstände oder Futter. Ich sitze übrigens gerade in 2020 auf Teneriffa und die Zeitmaschine parkt unterm Bett, neben mir sitzt Hacki Ginda, der verrückte Clown, Entertainer und Motor des Chamäleon Varietés in den Hackeschen Höfen. Er erzählt: „Eh Zorro, weißte noch, ich kann mich noch genau erinnern, unsere Truppe arbeitete auf Hochtouren, es war einen Tag vor der Eröffnung des Chamäleons und ich hab euch nach der ersten Nacht frische Brötchen und eine große Thermoskanne Kaffee rübergebracht.“ Ich antworte: „Jau, das waren Zeiten, aber ich erinnere mich, dass der Kaffee schon lauwarm war.“ Hacki grinst über beide Backen und meint: „Ja, dat war dünner Kaffee von gestern, aber die Brötchen, die waren noch knusprig vom Vortag!“ Wir befinden uns mitten im Winter. Nach drei eiskalten Nächten der Ruinenwache sind genug Helfer an Bord und Jonas schläft lieber wieder zu Hause oder ist total im Eimer. Seine Wohnung ist damals eine Tankstelle, eine Insel der Ruhe und Erholung, abgesehen von Edwin, der im Nebenzimmer schnarcht oder in die Ferne sieht. Das „Tacheles“ wird bunt bemalt, aus Schutt werden verschiedene Skulpturen errichtet. Die unterschiedlichen Auffassungen der Künstler aus Ost und West führen zu heiß umstrittenen und eskalierenden Diskussionen, bei denen es meistens um die Verteilung von Geld geht. Am Plenum teilzunehmen, kostet viel Kraft, Zeit und Nerven, da wird man schnell plemplem bei. Müsste eigentlich Plemnum heißen. Es beginnen zähe Verhandlungen mit der Baudirektion Berlin-Mitte, die zu dem Zeitpunkt Rechtsträger des Gebäudekomplexes ist. Trotzdem soll am Montag, den 2. April 1990 die Ruine gesprengt werden, worauf die Besetzer beim Berliner Runden Tisch unter Berufung auf Aspekte des Denkmalschutzes einen Dringlichkeitsantrag stellen, der Abriss wird vorläufig gestoppt. Die geplante Räumung wird von der Szene als grandioser Aprilscherz gefeiert, die Party geht weiter. Die Künstlerinitiative lässt ein neues Gutachten zur Bausubstanz erstellen. Aufgrund der positiven Ergebnisse wird das Haus endgültig unter Denkmalschutz gestellt. Sieg auf ganzer Linie. Inzwischen ist das Wohnhaus neben dem Tacheles auch besetzt. Freaks aus aller Welt machen es sich

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gemütlich, bis das Haus ganz zufällig Feuer fängt und der Dachstuhl im Arsch ist. Auf gut deutsch – warme Sanierung. Herr Korruptus und die Baulöwen reiben und waschen sich gegenseitig die Hände in Unschuld und lassen höhnisch grüßen. Zu besten Zeiten des Tacheles befinden sich rund dreißig Ateliers im Gebäude, dazu werden Ausstellungsflächen und Verkaufsräume für zeitgenössische Kunst errichtet, das Programmkino „High End 54“, die „Panorama-Bar“, das „Cafe Zapata“ und der „Blaue Salon“ werden eröffnet und regelmäßig bespielt. Die gesamte erste Etage des Tacheles wird ein wichtiger Proben- und Auftrittsort für die Off-Theaterszene. Temporäre Gastspiele, wie das Zirkuszelt „Poopol Wuuj“ aus Santiago de Chile, landen für mehrere Monate im Innenhof. Direkt neben dem Tacheles gibt es eine Zeitlang einen blühenden Flohmarkt und ganz Berlin scheint am Wochenende in der Oranienburger zu lustwandeln. Vom Tacheles übers Chamäleon Varieté in den Hackeschen Höfen, vom Kino Acud in der Veteranenstraße bis hin zum Eimer in der Rosenthaler 68, jedes Projekt schwebt die Jahre der Anarchie mit überschwänglicher Euphorie mehr oder weniger Kilometer über dem Erdboden. Am 1. Juni und damit völlig unpassend zum internationalen Kindertag überfallen junge, nachgewachsene Faschisten das Kunsthaus Tacheles. Die Oranienburger Straße verwandelte sich wieder einmal in ein Schlachtfeld. Die glatzköpfigen Sportsfreunde haben keine große Mühe, die Tür des Cafés aufzubrechen und brutal gegen die Bewohner und ihre Gäste vorzugehen. Eine Frau wird schwer verletzt und muss in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Als Reaktion auf den Überfall bildet sich am nächsten Tag spontan eine Demonstration, die direkt vom Tacheles zu den Häusern in der Weitlingstraße führt. Dort beginnt die HJ (Heimat Jugend) Häuser zu besetzen und organisiert sich zunehmend in Lichtenberg. Dieser Bezirk ist schon zu Ostzeiten mit rechten Hooligans durchwachsen. Sport frei und auf zum Olymp. 1998 erwirbt ein gewisser Herr Jagdfeld das 1250 Quadratmeter große Kunstfeld für 2,8 Millionen D-Mark von der Treuhand. Er ist mit gerade mal 97 Prozent an der größten deutschen Immobiliengesellschaft namens Fundus beteiligt und man könnte behaupten, ihm gehört das komplette Unternehmen.

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Staatlich ausgelegter Haifischköder

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Der Mann macht seinem Namen alle Ehre, hat einen guten Riecher und ausgesprochen heiße Drähte zu olle Korruptus von der Treuhand. Jagdfeld pickt sich sämtliche Rosinen aus dem Kuchen und reiht sie wie Perlen auf seine Kette. Es ist immer wieder erstaunlich, dass Herrn Korruptus noch nicht die Hände vor lauter Treue abgefault sind. Die Strafe Gottes lässt auf sich warten und Baron Lefuet serviert gelangweilt Filetstücke auf goldenen Tellern. Die Fundus Gruppe kauft günstig ein, ersteht sämtliche Fünfsterne-Hotels der ehemaligen DDR in Leipzig, Berlin und Heiligendamm. Das goldene Kalb wird zerstückelt und an die verteilt, die die stärksten Ellenbogen haben und die größten Versprechungen machen. Der neue Eigentümer handelt mit dem Tacheles e.V. einen Mietvertrag aus, der für zehn Jahre gilt. Der Mann hat viel Zeit, da sogenannte strenge Auflagen den Weiterverkauf im Namen der Spekulation verhindern sollen. Was sind schon zehn Jahre, bessere Hausmeister hätte Jagdfeld nicht finden können. Sie wollen keine Kohle von ihm und erhalten die marode Substanz im Namen der Kunst. Im Tacheles gibt es Streit unter den verschiedenen Fraktionen des Hauses, die einen wollen Verträge und Rechtssicherheit, die anderen wollen Anarchie und Freiheit. Als sogenannte symbolische Mietzahlung wird eine D-Mark pro Quadratmeter vereinbart, was aber dann doch für alle zusammen tausendzweihundert Kröten im Monat sind. Selbst 100 D-Mark im Monat kann oder will von vielen, armen Malern nicht gestemmt werden. Nach dem Auslaufen des alten Mietvertrags kann kein neuer ausgehandelt werden, da der Verein die geforderte Miete von 108.000 Euro nicht aufbringt. Es wurde in all den Jahren bewusst vergessen, jedem Nutzer seinen Obolus abzuknöpfen und auf ein Mietkonto zu überweisen. Keiner hatte Bock, die Rolle des Geldeintreibers zu spielen. Viele Künstler bleiben nur ein Jahr, sind nicht polizeilich gemeldet und somit nicht greifbar. Es wird nicht mehr gemeinsam gewirtschaftet, jeder achtet zuerst auf seine eigene Geldbörse. Die Suppenküche wird frühzeitig eingestellt und die bürokratische Fraktion des Vereins meldet Ende 2009 Insolvenz an. Es folgen etliche Räumungsklagen, die aber immer wieder in letzter Sekunde auf juristischem Wege verhindert werden. Im April 2011 verlässt die Gastronomie-Fraktion gegen Zahlung von einer Millionen Euro das Tacheles, ja richtig gehört, eine Millionen Euro. Café, Kino, Hinterhof und

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Erdgeschoss werden geräumt. Achtzig Künstler verbleiben in ihren Ateliers und werden knapp eine Woche später vom Zwangsverwalter mit dem Bau einer drei Meter hohen Mauer von ihren Werkstätten getrennt. Im März 2012 erklärte das Landgericht Berlin die Räumung des Kulturhauses für rechtswidrig, ein halbes Jahr später wird das Tacheles dennoch endgültig geräumt. Von den Pionieren ist schon lange keiner mehr dabei, die Million fließt in die Tasche von wenigen, ehemaligen Besetzern. Immerhin braucht Herr Korruptus & Compagnie nur zweiundzwanzig Jahre, um sich vom Besetzer-Virus zu befreien. Jetzt hat er erfolgreich Staat und Lobbyisten installiert und ist immun gegen durchgeknallte Künstler. Neu besetzte Häuser werden sofort mit dem langen Arm des Gesetzes geräumt. Eine Zeitzeugenflaschenpost kommt aus der Spree getaucht. Ostberlin – Helmholtzplatz Lieber Klaus Thaler! Besten Dank für die Auszüge aus Ihrem Puppenroman. Sie Fragen mich nach dem Ende des Tacheles und nach dem Grund des Untergangs. Es ist ganz einfach und doch komplex. Wir befinden uns zwischen zwei Lebensströmen. Dem Wollen und dem Müssen. Der eine Strom ist der, der uns unmittelbar umgibt, in dem wir versuchen, uns häuslich einzurichten. Er ist die Geburtsstätte aller Kreationen. Neue Ideen müssen sich dem Großen und Ganzen stellen. Dem Staat, unserer Heimat, dem Leben. Dieser große Strom legt in uns im Sinne der Staatsideologie die Strukturen durch Gesetze fest. Kippt diese Ideologie, müssen die Gesetze neu geschrieben werden. In solch einem Zeitabschnitt konnte die Idee des Tacheles entstehen, in einer Ruine, mit Platz für alle. Wir haben freien Besitz besetzt, ohne Besitzer zu sein. Wir gaben dem Haus den Namen und ließen es laufen, wie es läuft. Der Anfang war voller Hoffnung, mit gemeinsamen Initiativen, bunt und lustig. Nach und nach setzten sich allerdings im Haus die Einflüsse der großen Strömung durch, die alles versucht zu richten. Die Ehrgeizigen bewirtschafteten das Areal und etablierten sich zunehmend als Besitzer. Jene, die die Idee Tacheles vorantreiben wollten, zogen mit ihr

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in Richtung Keller. Der Name blieb wie eine Fahne an der ruinierten Ruine zurück. Büro und Café Zapata lagen im Dauerstreit und teilten das Haus in zwei Lager. Nur Fleißige von außerhalb hielten mit guten Veranstaltungen den Ruf des Hauses nach außen hin aufrecht. Eine kleine Gruppe von Künstlern blieb dennoch als Besetzer in ihren Ateliers verschanzt. Sie waren die lachenden Dritten im häuslichen Gezänk. Zeitvergessen schafften sie unverdrossen weiter an ihren Werken, bis der große Strom ihren kleinen, so dahinplätschernden überschwemmt hat. Während das Büroteam noch unnachgiebig um Bleiberecht verhandelt, treten die Leute vom Café Zapata und der Metallwerkstatt ihre Nutzflächen an die am Haus interessierte Bank für eine Millionen Euro ab. Die neuen Mitbewohner waren nun vom Sicherheitsdienst der Bank. Systematisch arbeiteten sie sich durchs Haus, bis alle vertrieben waren. Bestes Gelingen und haben Sie weiterhin allzeit gut Tacheles reden! Papa Leo Kondeyne 14.2.2023 Dass der Umbau jetzt auch noch „Am Tacheles“ heißt, ist eine Frechheit und riecht verdammt nach Ironie des Schicksals. Wenn da nicht der Baron die Finger im Spiel hat. Heiliger Strohsack. Herr Jagdfeld und Herr Korruptus werden 1999 mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet. Beide Spekulanten stehen 2012 mit ihren windigen Advokaten vor Gericht und werden wegen verschiedener Wirtschaftsdelikte angeklagt. Der Tatbestand der Untreue wird aus Mangel an Beweisen eingestellt. Gut gemacht, Mephisto, wieder an der richtigen Stelle geschmiert. Im September 2014 veräußert Jagdfeld das Gelände für das Zwanzigfache an eine New Yorker Vermögensverwaltung, es ist geräumt und reif zur Ernte. Mit dem Erlös bedient der arme Kerl seine Bankverbindlichkeiten und rettet sich vor zu befürchtender Altersarmut. Jagdfeld wächst in einer armen Schreinerfamilie auf und weiß, dass Hunger nicht schmeckt und man in Baugruben tief fallen kann, vor allem, wenn man sie für andere ausgräbt.

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Einsteigen, lieber Leser, und Vorsicht an der galaktischen Bahnsteigkante! Wir müssen ein Stück zurück, bitte nicht wundern, es wird beim Bremsen immer etwas nach verbranntem Schwefel und Sesselfurz riechen. Der ausgediente DDR-Staat und die in ihren Löchern wartenden Ratten werden langsam sehr unruhig. Was, wenn jetzt auch noch das normale Volk aufmüpfig wird, schreit: Das ist unser Haus, wir zahlen keine Miete mehr, Volkseigentum dem Volke?! Zur Klärung der Verhältnisse wird 1990 im schönen Monat Mai ein Runder Tisch im Haus der Demokratie am Alex eingerichtet. Jedes besetzte Projekt entsendet zwei Vertreter. An diesem runden Tisch versucht die alte Staatsmacht, das Chaos in geordnete Bahnen zu lenken. Die Obrigkeit versucht, die jungen Menschen mit legalen Mietverträgen zu ködern und manche Gruppen knicken ein, unterschreiben unwissend ihr Räumungsurteil. Nur wenige Jahre später werden die unverschämten Mietpreiserhöhungen auch auf diese Projekte umgelegt. Unterm Strich ist der Gewinn dieser ehemals besetzten Häuser darin zu sehen, dass junge Gleichgesinnte zusammen in einem Haus wohnen können. Dies kann in der heutigen Zeit viel wert sein. Daggi, die damalige Fahrerin von Freygang, und unser Eulenspiegel werden ausgewählt, gemeinsam als Vertreter des Eimers die Versammlungen am Runden Tisch aufzusuchen. Beim dritten Treffen erhebt Jonas seinen Zeigefinger zu einer Wortmeldung. Was jetzt gespielt wird, ist der große Bluff im Poker des Monopolys. Mein Scharlatan teilt der Runde mit, dass man in den direkten Kontakt mit den Erben getreten sei, man sich in konkreten Verkaufsverhandlung befände und deshalb auf eine weitere Teilnahme am Runden Tisch verzichtet. Kaum haben diese Worte seinen Mund verlassen, stehen er und seine Begleiterin auf, spazieren mit einem freundlichen „… schönen Tag noch …“ zur Tür hinaus und fallen sich draußen im Schein der Sonne glücklich in die Arme. Sie flitzen zurück in ihr Schloss und der Sieg wird gefeiert, bis dem Haus das Ohr abfällt.

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Eimer-Logo mit fliegendem Ohr

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Ich höre was, was du nicht mehr hörst, und das ist die Musik von damals.

22. Das fliegende Ohr Das besetzte Haus in der Rosenthaler 68 kann alles hören, was die Stadt zu berichten hat, denn Rampazzo hat irgendwoher ein riesiges Ohr aus Polyester aufgetrieben und das Ding an den Schornstein geschraubt. Der Eimer sieht für ein paar Wochen wie ein Bild von René Magritte aus, dem belgischen Surrealisten aus den 20er Jahren. Das Ohr hört täglich den illegalen Sender „Radio P“, wie Prenzlauer Berg. Es hört, wie Aljoscha Rompe, der Frontmann von „Feeling B“ für die autonome Aktionsgruppe Wydoks wirbt, die im Mai bei der letzten Kommunalwahl der DDR auf verlorenem Posten in Ost-Berlin steht. Das Ohr hört den Taler rollen und die krummen Geschäfte des Gebrauchtwagenhändlers brummen. Es hört, wie der überaus freundlich-schmierige Kerl der Reihe nach Hinz und Kunz, Meier, Müller und Schulz über den Tisch zieht und den netten, ahnungslosen Ossis im Kiez eine Schrottkarre nach der anderen andreht. Unser Ohr ist ein rechtes Ohr, das auf links gedreht ist, es hört, wie zirka tausend teils schaulustige, teils geldgeile Menschen zum Eimer strömen und auf der Straße darauf warten, dass, wie angekündigt, 5.000 Westmark zum Fenster hinausgeworfen werden. Dass es nur 5.000 West-Tresen-Pfennige werden, also fünfzig Mark, zählt zum Glück keiner nach, da jeder nur noch mit schweren Ellenbogen in die eigene Hosentasche wirtschaftet. Die Leichtgläubigen warten ungeduldig und sehnsüchtig mit aufgespannten Regenschirmen und leeren Beuteln, bis sie gehörig veräppelt werden. „Wollt ihr Westgeld?“, ruft es aus dem Eimer. „Jaaa“, antwortet das Volk. „Dann ruft: Wir wollen Westler sein!“ Es ist einfach nur peinlich. Sie rufen den Satz voller Inbrunst, das Spiel wiederholt sich mindestens dreimal, dann fliegt der Bonbongeldregen und das Gekloppe und Geschubse auf der Straße beginnt, schlimmer als beim Kölner Karneval. Nicht jeder begreift an diesem Nachmittag, dass die Aktion ein PR-Gag gegen die bevorstehende Währungsunion ist.

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Rosenthaler 68, Hauswand mit Ohr

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Unser Ohr hört auch sehr gut zwischen den Zeilen, egal wie leise und klammheimlich Herr Korruptus hinter den Kulissen die Treuhand installiert. Das Ergebnis der Kommunalwahlen im Mai 1990 zeigt, wer wen über den Runden Tisch zieht. Die Macht des Profits scheint unbesiegbar. Noch. Als die drei Hausbands „Freygang“, „Firma“ und „Ichfunktion“ Ende Juni am Tage vor der Währungsunion ihre Live-Platte „Die letzten Tage von Pompeji“ aufnehmen, ist das Ohr noch an seinem Platz. An diesem spektakulären Tagen braucht es Ohrstöpsel, denn die Aufnahmeparty ist extrem laut und dauert zwei Tage und zwei Nächte. Das Ergebnis in Garagenpunk-Qualität wird taufrisch ins Presswerk gebracht. Es ist die letzte Platte, die mit Ostgeld bezahlt wird. Am nächsten Tag zählt nur noch die harte Währung der Ellenbogengesellschaft. Und wie durch ein Wunder ist das Ohr pünktlich mit der Ost-Mark am 1. Juli 1990 verschwunden. Es liegt nicht etwa abgefallen am Boden neben dem Autohändlerbüro, nein, und niemand hat es abmontiert, nein, es ist einfach losgeflogen und so wird aus dem Eimerohr das fliegende Ohr. Es fliegt in die Waldbühne und genießt Mick Jaggers röhrende Stimme, genießt die rollenden Zungenküsse der Steine. Jonas malt dem Ohr Flügel an und es entsteht ein Logo, das sich sehen lassen kann. Er druckt es in kleinen Serien von maximal achtundsechzig gleichen T-Shirts und die Fans freuen sich über die warmen Semmeln zum Anziehen. Mein zukünftiger Puppenspieler ist dem Bühnen Königspaar André und Tatjana treu ergeben, das ändert sich auch nicht, als nach dem Mauerfall herauskommt, das beide Verpflichtungserklärungen zur Sicherung des Apparates unterschrieben haben. Die „Firma“-Sängerin und der Keyboarder machen ihre „Mitarbeit“ mit dem MfS in einem Zeitungsinterview öffentlich, um offensiv mit der Verstrickung umzugehen. Schlagartig löst sich „die Firma“ auf und Till Lindemann, der bis dahin ein lustiger, korbflechtender Schlagzeuger war, hat es leicht, sich gute, skandalerprobte Musiker zu angeln. Da auch das gemeine Reitbein des „Feeling B“ auf wackligen Füßen steht, schlägt das Buch des Schicksals eine neue Seite auf und Rammstein ward geboren.

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Uckermark 9.11.2021 Sehr geehrter Herr Thaler, Es ist ja schön und gut, dass Sie aus unseren Gesprächen ein Buch machen wollen, ich frage mich nur, wie um alles in der Welt wollen Sie das unter einen Hut bringen? Das Puppengedöns und die richtige Einordnung von Zeitgeschichte passt zwar hinten und vorne, aber was wollen Sie uns damit sagen? Wissen Ihre Leser überhaupt, dass James Krüss eine auf Tatsachen beruhende Geschichte aufschrieb und Sie mit Timm Thaler verwandt sind? Wie haben Sie es nur geschafft, selbst den Puppen die Zunge zu lösen? Haben Sie etwa Kontakt zu Baron Lefuet? Nun zu Ihrer Frage nach meinem Verhältnis zu der „Firma“-Sängerin. Ich liebte sie damals sehr und tu' das auch heute noch, zwar anders, aber mit der gleichen Herzwärme. Ich weiß bis heute nicht, warum sie mich auf die Bühne stellte, mit Sicherheit nicht im Auftrag des MfS. Sie sollten vielleicht einen Forschungsauftrag an die Gauckbehörde stellen oder Birthler oder Jahn oder wie auch immer diese komischen Verwaltungshelden und Kirchenleute heißen. Keiner vom Untergrund, nicht mal Biermann wollte damals eigentlich etwas mit der Kirche zu tun haben, aber es war die einzige Möglichkeit, halblegal aufzutreten. Hätte es nicht-staatlich und nicht-kirchlich geprägte Räume gegeben, die Gotteshäuser und FDJ-Clubs wären gähnend leer geblieben. Das dazu. Achjee, und nun zu Ihrer Frage nach der Macht der Väter: Es ist verdammt schwer, sich als Kind von mächtigen Vätern abzunabeln. Das merke ich an meinem eigenen, dem schweigsamen Wolf, der sich bis heute weigert, mit mir zu reden, dabei haben wir sein blutverkrustetes Schwert aus dem bereits versteinerten Drachen gezogen und so die Krake Stasi, durch ihre eigens gezüchtete „Firma“ zu Fall gebracht.

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Jeder Revolutionär wird zum Verbrecher, sang die Band und hat leider Recht damit. Manchmal träumte ich damals von meinem Bären, intuitiv oder vielleicht sogar, wie Sie meinen, von ihm gelenkt, nutzte ich „die Firma“, um die väterlicherseits auf mir lastende Mission – weg mit Mauer und Stasi – zu erfüllen. Leider reichte die Öffnung der Stasiakten nicht aus, die öffentliche Empörung aller Deutschen so hochzuschaukeln, dass auch der BND seine Geheimschränke öffnen muss. Das hätte eine weltweite Kettenreaktion ausgelöst und das Jüngste Gericht hätte beginnen können. Aber Wikileaks ist auch gut. Auf ganz und gar andere Weise durchlebte meine Freundin Tatjana dieses Väterdilemma. Ihr Alter war ein Mitarbeiter des MdI, dem Ministerium des Innern, heute gleichzusetzen mit dem Ministerium für Inneres und Heimat. Ein realsozialistischer Haushalt. Im zarten Alter von fünfzehn Jahren wird sie als Kundschafterin des Friedens angeworben. Beweise mir deine Liebe und ich liebe dich auch, war die Parole des Vaterlands. Sie brauchte die berühmten sieben Jahre, um sich zu pellen und das Lager des Vaters gegen das Lager ihres Freygängers zu tauschen. Tatjana wurde geboren als Sängerin und vom Leben zur Doppelagentin gemacht. Die friedliche Revolution in die fragwürdige, westliche Freiheit hat die rote Zorra mit den Mitteln der Kunst, sprich mit dem Bluesgewehr des Punkrock, verursacht, vorangetrieben und weiß Gott nie verraten. Sie hat ihren Vater gleich mit Thron vom Sockel gerissen, alles braucht seine Zeit. Aljoscha, André, Trötsch, Key und Tatjana waren unsere Sänger und Anführer und mit ihren Songs und der Angstlosigkeit all der anderen Schwätzer und Scharlatarne zogen wir der Macht die Seele aus dem verwesten Leib, das Monstrum verblutete endgültig. Konspiration, Teekesselsprech, das Lesen und Texten zwischen den Zeilen haben wir alle gelernt-als Bürger, als FDJler, ich als Aufklärer, meine Helden als IM's. Wir wurden ab 1990 der legendäre Club „IM“-Eimer, wir spielten Tacheles und man spürte auf der Schönhauser das gemeine Feeling Berlins. Für ein paar satte Jahre gewannen wir das alte Räuber-und-Gendarmspiel. Es dauerte nicht lange und hundertvierundvierzig alternative Hausprojekte werden ratzekal geräumt. Aus mit Tacheles. Alles wieder Banane in der Bundesrepublik Deutschland.

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In diesem Sinne, Beste Grüße nach Teneriffa und grüßen Sie mir meinen lieben Herrn Janosch, sagen Sie ihm, dass ich versuche, für ihn den Mond mal größer und mal kleiner zu machen herzlich, Ihr Jona S.

Teneriffa 9.11.2021 17:50 Sehr geehrter Herr Soubeyrand, Danke für Ihre Ausführungen, ich habe bereits eine Akteneinsicht erwirkt und kann Ihre Ausführungen bestätigen. Frau Tatjana B. hat laut heutiger Aktenlage keine Freunde, Kollegen oder andere Mitmenschen in Unglück, Nachteil oder Leid gestürzt. Sie hat in den Gründungsjahren der ungehorsamen Bands den inneren Zirkel der FFFi's gedeckt, indem sie dem MfS gegenüber Loyalität spielte und nach und nach die Zusammenarbeit einstellte. Dass Sie denken, ich habe mit dem Baron zu tun, kann ich Ihnen nicht verübeln, aber ich muss Sie enttäuschen, ich bin nur ein kleiner Schreiberling. Hier auf der Insel wird langsam das Wasser knapp und der Vulkan von Las Palmas spuckt nach wie vor als ob der Eingang zur Hölle offen wäre, vielleicht finden Sie dort den Lefuet …

Mit Besten Grüßen ins Land der Windmühlen Ihr Klaus Thaler

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Geschichte ist oft voller Hohn, Spott und Ironie des Schicksals und so hat selbst ein alter Volksheld wie Biermann keine blütenreine Weste. Margots schwesterlicher Schutzschirm wirkt und so ist es kein Wunder, dass er nie wegen Verunglimpfung der Staatsmacht einen Knast von innen gesehen hat. Menschen, die seine Lieder sangen oder verbreiteten, schon. Laut Wikipedia (heutzutage Stasi für alle) wird die Ausbürgerung Biermanns von Erich Honecker persönlich veranlasst und ich vermute eine gehörige Portion Eifersucht in diesem abgekarteten Spiel. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen und wer sich ständig ändert, ist unter widrigen Umständen auch nur ein starrer Wendehals. Jonas und der Wolf leiden bis heute unter einem kranken Verhältnis, welches aus politischen Missverständnissen und Vorwürfen besteht. Der Vater denkt, sein Sohn sei ein mitlaufender Verräter in einem Heer aus IM's und der Sohn wirft dem gnadenlosen Alten vor, nach dem Mauerfall gegen ein zusammenwachsen von West- und Ost-Linken gekämpft zu haben. Sein Refrain „… nur wer sich ändert, bleibt sich treu …“ ist zwar inzwischen ein geflügeltes Wort, darf aber scheinbar nicht auf reformwillige Kräfte aus Partei und Gesellschaft der ehemaligen DDR angewandt werden. Egal, wie spießig oder engstirnig manche von ihnen waren, ohne die progressiven Kräfte in den Reihen der Partei wäre der unblutige Fall der Mauer nicht möglich gewesen. Es ist ein Wunder, dass nicht ein einziger unüberlegter Schuss fiel, und das, obwohl der gesamte Apparat bis an die Zähne bewaffnet war. Es gab sie, die Reformer, die den Sozialismus durch ein menschlicheres Antlitz retten wollten, der Wichtigste unter ihnen hieß Gorbatschow. Auch Trötsch, dem Keyboarder der „Firma“, ergeht es anders als Biermann, er startet seine Karriere als Liedermacher mit frechen Songs an der Klampfe und spielt unter anderen mit der später ebenfalls ausgebürgerten Bettina Wegner auf Kirchenbühnen. Trötsch lebt damals von der Hand in den Mund, von Gig zu Gig und geht seit drei Monaten keiner „geregelten“ Arbeit nach. Er will sich auf's Dichten und Komponieren konzentrieren, nicht am Fließband stehen und nach getaner Arbeit müde ins Bett fallen. Als er zu unbequem wird, verurteilt der Apparat ihn wegen einiger Geldschulden und asozialem Lebenswandel rechtskräftig zu anderthalb Jahren Gefängnis.

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Der wahre Grund seiner Verurteilung und vor allem das Ausmaß der Haftstrafe sind die Texte seiner Lieder. Er hat keine Gönner im System, die ihn retten, und so tritt er wohl oder übel die Strafe an. Er ist täglich kurz davor, irre zu werden oder durch Suizid in den absoluten Frieden des Jenseits zu fliehen. Er rettet sich nach einem halben Jahr Knast mit einer vorgetäuschten Bereitschaft zur Spitzelei als IMB (Informant im besonderen Einsatz). Er hat keinen Bock, im Gefängnis zu verfaulen und pokert mit hohem Einsatz auf ein doppeltes Spiel. Sein Denkansatz ist simpel, aber nicht weniger gefährlich für Leib und Seele. Er will lieber Songs schreiben und weiterhin von der Bühne den Untergang des Systems zelebrieren. Fortan geht er zu konspirativen Sitzungen und versucht, den Spieß umzudrehen, versucht, die Genossen Schlapphüte zu agitieren, sich mutig für einen besseren Sozialismus zu begeistern. Für diese Show lässt sich Trötsch mit 150 Mark im Monat bezahlen und erhält sogar als Kundschafter des Friedens einen Orden in Bronze. Wieder in Freiheit erzählt der schlaue Fuchs in der Szene, er sei nicht nur bei der Stasi, sondern mehr noch, er sei die Stasi und nennt sich folgerichtig „die Firma Trötsch“. Keiner glaubt ihm. Er lockt die Stasi auf uninteressante Fährten und erzählt Dinge, die der Apparat eh weiß. Trötsch entgeht seiner Strafe, wird freigelassen und pfeift – oder besser: singt lieber auf die Moral, statt in Sträflingskleidung Konsumgüter für das westliche Ausland zu produzieren. IKEA lässt grüßen und entschuldigt sich 2012 bei den DDR-Zwangsarbeitern, die hauptsächlich aus politischen Häftlingen bestanden. Ich denke so für mich, wenn das die westdeutschen Intellektuellen gewusst hätten, der Konzern hätte nicht einmal die Hälfte seiner Möbel an den Mann gebracht, der beliebte Sechskantschlüssel zum Selberzusammenbauen wäre verpönt und als politisch unkorrekt angeprangert worden. André outet sein erzwungenes, zeitweiliges Verhältnis mit dem MfS erst einige Jahre später in seiner Biografie „Peitsche Osten Liebe“, er hatte Schiss vor dem Spießrutenlauf durch die Zähne, äh Szene. André war angeklagt wegen Beihilfe zur Republikflucht. Er hatte einem Kumpel den Schlüssel für seine Wohnung überlassen. Der zog sich dort eine echte, amerikanische Soldaten-Uniform an, um dann im Pulk von befreundeten GI's nach einem Tagesausflug nach West-Berlin zu flüchten. Der Coup, der bei anderen Fluchtwilligen schon mehrmals gut funktionierte, fliegt bei der Passkontrolle auf, er wird festgesetzt und auf der Stelle von der Stasi verhört.

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Der Idiot hat einen Fotoapparat dabei und da die Schlapphüte nicht ganz so doof sind, wie sie meistens aussehen, lassen sie parallel zum Verhör den Film entwickeln. Leugnen zwecklos, ein Foto zeigt den jungen Mann in Uniform, posierend in Andrés Schlafzimmer. Der Tatbestand der Beihilfe zur Flucht ist schwarz auf weiß manifestiert. Da André wegen Herabwürdigung und Gewalt gegen einen Polizisten bereits vorbestraft ist, hat er schlechte Karten. Um einer erneuten Verurteilung zu entgehen, lässt sich der Sänger im ersten Moment erpressen und unterschreibt den Pakt mit dem Teufel. Aus Angst, doch im Knast zu landen, geht André auf die ersten Verabredungen in konspirativen Wohnungen ein und unterhält sich zum Schein mit den Geheimen. Er plaudert mit den Genossen der unsichtbaren Front über unwichtige Dinge aus dem Leben der Anderen, liefert aber laut seinen Akten niemanden ans Messer und wird ziemlich schnell als illoyal eingestuft. Die Schlapphüte ergötzen sich besonders an sexuellen Details, die gelegentlich im Backstage des Rock 'n' Roll stattfinden. Sobald ihm seine Peiniger politische Details aus der Nase ziehen wollen, fängt André an, über's Ficken zu reden und spinnt sich einen Ast ab. Die Spanner kriegen feuchte Augen, schlackern mit den Ohren, vergessen ihre eigentliche Mission. Einige Monate später dekonspiriert er zwei Mitarbeiter des MfS. Die Schlapphüte mit den unauffällig auffälligen Klamotten kleben wie ein Schatten an ihm. Im Posthorn, einem Szenetreff am Alex, setzt er sich nach dem dritten Bier an deren Tisch, unterhält sich lauthals mit ihnen und enttarnt sie dadurch als Spitzel. Punker-Pol war weder Überzeugungstäter, noch machtgeiler Denunziant. Ende vom Lied – der unbequeme Rocker wird als nicht brauchbar eingestuft und später aufgrund seiner provokanten Texte mehrmals mit einem lebenslangen Spielverbot belegt. André kümmert sich einen Dreck um das Verbot und spielt unter verschiedenen Bandnamen weiter. Er schafft es Silvester 1986 sogar, getarnt als Techniker der „O.K.“-Rock Band, eine Tour an der Trasse der Freundschaft zu spielen. Die Band fliegt nach Moskau, steigt um in die transsibirische Eisenbahn und nennt sich, als sie in der Tundra bei minus 35 Grad Celsius aussteigt, wieder „Freygang“. Die Druschba Trasse ist ein Gemeinschaftsprojekt des Ostblocks und sichert der DDR auf Jahrzehnte günstiges Erdgas. Jedes beteiligte Land erhält einen 550 Kilometer langen Bauabschnitt. Die BRD, Japan und Italien

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kratzen sich irgendwann mit der Lieferung von Rohren ein und erhalten als Bezahlung ebenfalls die beliebte, billige Energie aus Russland. Zehntausende FDJler schweißen die Nabelschnur in der ukrainischen Sowjetrepublik zusammen, sie müssen Sümpfe trockenlegen, Straßen unterqueren und hohe Berge überwinden. Die Arbeiter werden gut bezahlt, erhalten Auto-Bezugsscheine und viele junge Männer reißen sich um eine Delegierung an die Trasse. Die kulturelle Unterhaltung wird zu besonderen Anlässen aus der Heimat eingeflogen und nicht wenige unter den Werktätigen aus Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg sind eingefleischte „Freygang“-Fans. Die Tour wird ein Erfolg und kein Funktionär vor Ort weiß, dass „Freygang“ eigentlich verboten ist. Andrés Lebensphilosophie lautete: „Nimm, was dir gefällt – mach was du willst, aber mach!“ Jonas ist sich bis heute sicher, dass seine Freunde mit ihren Bühnenauftritten definitiv mehr Sand als Öl ins System-Getriebe warfen und einen entscheidenden Beitrag zum Zusammensturz der Stasi leisteten. Es ist schon verblüffend, dass gerade er, als Sohn des Ober-Dissidenten, zum Aufklärer ausgebildet wird und zusammen mit der „Firma“ die Stasi knackt. Wenn da mal nicht wieder Merlin seine Finger im Spiel hat oder der liebe Herrgott persönlich. Manchmal kann man das System am besten von innen bekämpfen. Letztendlich führte auch mein Namensgeber Zorro ein Doppelleben. Tagsüber spielt er den reichen Müßiggänger, der ein geruhsames Leben ohne politische Ambitionen führt, nachts jedoch verwandelt er sich mit seinem Umhang, der Augenmaske und dem Hut zum Rächer der Unterdrückten und Entnervten. Zurück zum Eimer. Die Beamten des Runden Tisches melden sich nie wieder. Die Finte bringt für einige Jahre Ruhe in die Besitzverhältnisse des Hauses. Jetzt kann sich den wichtigen Dingen des Lebens gewidmet werden. Das Dach wird geteert, Toiletten provisorisch installiert, ein Konzert nach dem andern gespielt. Mein Schützling mutiert zum Kneipier, abends werden volle Flaschen ausgeschenkt, morgens leere Flaschen eingesammelt und wieder in volle verwandelt. Er hat nicht einmal mehr Zeit und Muße, seiner Tätigkeit als Performancekünstler nachzukommen, geschweige denn, nach der passenden Frau Ausschau zu halten.

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Amsterdam Balloon Company (aus dem Programmheft)

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Mein Kasper wird von Tag zu Tag frustrierter. Mitte Mai parkt ein großer, alter, verrostete Reisebus aus Holland vor den Toren des Schlosses und eine lustige, bunte Truppe purzelt heraus. Die annähernd zwanzig Mann starke Crew entpuppt sich als singende, springende, tanzende, rezitierende und jonglierende Gauklerhorde von Individualisten. Sie haben schon Indien, Europa und den Rest der Welt bereist. Die Balloon-Company hat den Ruf des Eimers vernommen und bleibt spontan eine Woche, um ihre Kunst darzubieten. Das ist es, wovon mein angehender Puppenspieler träumt, grenzenlos mit Kultur unterwegs zu sein. Um seinem neuen Wunsch Nachdruck zu verleihen, entwirft und druckt er einen Aufkleber, auf dem seine Lieblingsbands in ihren Fahrzeugen auf dem Weg in die Welt zu sehen sind. Dieser gemalte Aufruf klebte bald an vielen Wohnungstüren der Szene und in den Toiletten der legalen und illegalen Clubs von Ost-Berlin. Leider wird aus dieser Idee nichts. Die Bands haben wichtigeres zu tun: endlich eine Platte aufnehmen, ein Produkt in der Hand halten und nebenher mit fragwürdigen Jobs Geld für die neue Zeit verdienen. Auch die Stimmung im Eimer, in der Schönhauser 5 und im Tacheles verändert sich zum 264


Tacheles-Aufkleber

negativen. Plötzlich schießen ABM-Stellen wie Pilze aus dem bürokratischen Sumpf. Die Freaks, die zur Sicherung ihres Lebens solche Stellen annehmen, werden von denen, die weiter Anarchie spielen wollen, schief angesehen. So entsteht mitten im Underground eine Zweiklassengesellschaft, die unangenehm auseinanderdriftet. Neid, Gier und ein Zigarettenautomat halten Einzug und André lässt aus Langeweile einen Billardtisch besorgen. Er teilt sich die schmale Beute mit seinem gierigen Spannemann namens Dummdidei. Dummdidei denkt, dass er besonders schlau ist und flößt dem König die Idee ein, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Immerhin zehn bis zwanzig D-Mark pro Tag, die André morgens herausholt, wobei er nicht merkt, dass es die gleichen Taler sind, die er am Abend zuvor selber verspielt hat. Die D-Mark wird nach der Währungsunion knapp und der Zusammenhalt zerbricht durch den Keil des Geldes. Es dauert nicht lange, bis die ersten Häuser geräumt werden. Keiner redet mehr Tacheles, alle zerfleischen sich gegenseitig. Sauber eingefädelt, Herr Lefuet, du alte, miese Ratte.

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Die Eimer-Front

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das geht voll nach hinten los.

23. Alles im Eimer Jonas macht sich Anfang August 1990 mit mir und dem Kasper-Mobil aus dem Staub. Er hat keine Lust mehr auf das Trauerspiel im Eimer und besucht ein Festival internationaler Straßenkünstler in einem besetzten Dorf bei Amsterdam. Hier trifft er die Gaukler-Horde wieder, die wenige Monate zuvor im Eimer gastierte. Der Höhepunkt des Festivals findet zum August-Vollmond statt. Drei Tage nonstop Feuerspektakel, Musik, Tanz und eine Performance verrückter als die andere. Zwei Wochen später ist von den dreitausend Teilnehmern keine Spur mehr zu sehen. Jonas verweilt gleich einige Monate, wir beziehen eine improvisierte Hütte aus Holzpaletten und anderen Resten des Wohlstands. Eines Tages steht Jennifer vor seiner Behausung und will für immer bei ihm bleiben. Sie ist erst sechzehn und total verknallt von zu Hause abgehauen. Jonas mag sie, ist aber nicht verliebt und lehnt aus moralischen Gründen einen Missbrauch der Rothaarigen kategorisch ab. Anstatt ihr das Herz richtig zu brechen, wie es sein Vater oder der Rock 'n' Roll-König getan hätten, schickt er sie umgehend wieder nach Hause und beruhigt zwei Tage später die kopflosen, sich sorgenden Eltern. Die Armen hatten vom Reiseziel der Tochter Wind bekommen und sich sofort ins Auto gesetzt. Jennifer taucht noch eine Weile in Amsterdam unter und genießt das Leben in vollen Zügen. Gott sei Dank passiert ihr nicht wirklich Schlimmeres und sie gelangt wohlbehalten und gesund wieder nach Berlin. Jonas wäre gern' für immer in der Höhle geblieben, aber der Winter steht vor der Tür und die ständigen Bewohner des Ortes werden unruhig. Eines Tages stellen ihn die Häuptlinge des Dorfes zur Rede, erkundigen sich vorsichtig, wie sein Plan ist und erklären freundlich besorgt, dass er nicht ewig bleiben kann. Glücklicherweise hat sein Auto in der Zwischenzeit einen Getriebeschaden und Jonas eine gute Ausrede. Es dauert noch einmal sechs Wochen, bis er auf einem Autoschrottplatz tatsächlich einen russischen Lada zum Ausschlachten findet. Und wieder einmal hatte er mehr Glück als Verstand,

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er trifft mitten in Amsterdam einen „Freygang“-Fan, einen duften Kumpel, der zufälligerweise auch noch Automechaniker von Beruf ist. Der hilfsbereite, junge Mann erkennt den Band-Kasper und hilft ihm, während seines Urlaubs das Getriebe zu wechseln. Inzwischen ist es Mitte November, die Mainzer Straße wird gerade geräumt und Ost-Berlins Stimmung ist überschattet von Straßenkämpfen zwischen rechten und linken Extremisten. Liebe Leser, bitte lasst den Kopf nicht hängen und steigt mit erhobenen Armen in die Zeitmaschine, wir fliegen nur kurz nach Berlin-Friedrichshain, direkt in die Mainzer Straße. Lasst bitte alle Pflastersteine und Knüppel auf der Straße liegen, wir wollen nicht in die Kämpfe verwickelt werden! Vorsicht, passt auf, dort hinten liegt ein brennendes Auto, Sirenen heulen, Kinder schreien, Schützenpanzerwagen von Rechts, geklauter Bagger von Links, Deckung! Tränengas explodiert, Tuch vor den Mund! Schnell in den Hauseingang, Tür verbarrikadieren, ab durch den Keller ins Nachbarhaus, fünf Treppen hoch, Luft holen, raus auf's Dach, Scheiße, Hubschraubereinsatz, schwerbewaffnete gesichtslose Supermänner seilen sich ab, wir sitzen in der Falle. Zeitmaschine, hol uns hier raus, wir wollen doch nur schauen, was hier passiert. Es herrscht Krieg. In der Nacht vom 13. zum 14. November 1990 räumen zweitausend Beamte dreizehn Häuser im Nahkampf und beweisen fünfhundert Hausbesetzer*innen, wer die Macht hat. Weder die selbsternannte Ober-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, noch der anwesende Stadtbezirksbürgermeister und die Menschenkette aus Nachbarn und Sympathisanten, also die wenigen hundertfünfzig Bürger, die von allen Seiten bis zum Boxhagener Platz vordringen und eine Menschenkette bilden, keiner kann den Innensenator, den Polizeipräsidenten und seine Höllenhunde aufhalten. Die Beamten werden gnadenlos von Herrn Korruptus ins Kreuz und in den Arsch getreten. Auf der Frankfurter Allee demonstrieren am folgenden Tag zehntausend friedliche Menschen, die durch Beschuss mit Wasserwerfern nicht in die Kampfzone durchgelassen werden. Die gesetzliche Grundlage bildet die drei Tage zuvor vom Berliner Senat beschlossene „Berliner Linie“, die beinhaltet, Räumungsklagen von Eigentümern umgehend in die Tat umzusetzen.

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Der Polizeisprecher erklärt, dass ein Räumungsbegehren der zuständigen Wohnungsbaugesellschaft vorlag. Dort aber findet sich niemand, der die Aussage bestätigt. Ende vom Lied, die geräumten Häuser werden nicht abgerissen und in den folgenden Jahren kostspielig saniert. Herr Korruptus vermietet sie überteuert an zugezogene, überbezahlte Beamte und deren Dienerschaft, Geld will im Umlauf bleiben, um sich zu vermehren. Jonas hört die ganze Sache im Radio auf Mittelwelle, eine kurze Meldung: „Berlin. Durch einen Sondereinsatz der Polizei und des Bundesgrenzschutzes kam es in den frühen Morgenstunden im Bezirk Lichtenberg zu bürgerkriegsähnlichen Tumulten, bei dem die Einsatzkräfte mit Steinen und Feuerwerkskörper beschossen wurden. Bei der Räumung der von alternativen Gruppen besetzten Häuser in der Mainzer Straße kam es zu vierhundertsiebzehn Festnahmen und über siebzig verletzten Beamten. Und nun zum Wetter.“ Jonas schaltet das kleine Radio aus und kriegt es mit der Angst um sein Eimer-Baby zu tun. Er packt das Kasper-Mobil und startet den Motor, ab die Post, ab nach OstBerlin. Wenn er müde wird, legt er sich in sein Auto und schläft. So kommt er kurz vor Weihnachten in Oranienburg bei Berlin an. Der Schlendrian sucht sich, da es bereits zu dämmern beginnt, ein ruhiges Plätzchen. Er findet eine Wiese, so groß wie ein Fußballfeld. Das Feld ist von Sträuchern und Weiden umgeben. Erschöpft von der Fahrt schläft er sofort ein und als Jonas am Morgen erwacht, traut er seinen Augen nicht, über Nacht sind fünfzig Zentimeter Schnee gefallen. Das Auto fährt weder vor noch zurück. Es wäre ein Leichtes gewesen, ins Dorf zu laufen und einen Traktorfahrer zu bitten, die Karre herauszuziehen. Jonas sieht die Situation als Wink des Schicksals. Er denkt sich, er soll noch nicht zurück zu den Bekloppten des besetzten Hauses, soll sich vielmehr hier in der Pampa der Arktis häuslich niederlassen, Eskimo spielen und einen Iglu bauen. Gedacht – getan: Nach vier Stunden mühsamer Arbeit ist der Schnee im Umkreis von zehn Metern zu einer achtzig Zentimeter hohen Mauer aufgetürmt. Mein Schneemann ist bis aufs letzte Hemd durchgeschwitzt und mit roten Bäckchen am Ende seiner Kräfte. Er legt sich mit seinem Schlafsack ins Auto und endlich ist wieder ein Moment da, seine Träume zu beeinflussen. Ich nehme die wütende Mary Filou an meine Seite und sie beklagt sich standesgemäß bitterlich weinend bei unserem Schläfer. Das Fräuleinchen schimpft, dass sie den ganzen Tag wie Espenlaub zittert, sie eine Prinzessin sei und endlich wieder in ein warmes Zuhause will.

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Daraufhin packt uns der Puppenspieler am nächsten Morgen am Schlafittchen und wirft uns in den Koffer, klappt den Deckel zu und setzt sich schnurstracks in Bewegung. Er entert die nächste S-Bahn und schaut aus dem Fenster. Die ehemals graue Stadt im Ostteil ist zunehmend bunter geworden, überall sieht man großflächige Graffitis, meistens sinnlose Schriftlogos, selten coole Parolen oder gar interessante Bilder. Zuerst sucht er André auf. Seine Majestät ist hoch erfreut, Jonas bei bester Gesundheit zu sehen. Er ist leider nicht bereit, noch am selben Tag mit seinem Bulli das Narrenschiff zu bergen. Es vergehen drei Tage und die beiden machen sich auf den Weg. Als sie an Ort und Stelle ankommen, bietet sich ein Bild des Schreckens. Alle Scheiben sind zerschlagen, die Räder sind abgeschraubt und der Motor, das Herzstück des Ladas, geklaut. Unser Hans im Glück macht sich überhaupt nichts daraus, er schraubt die Nummernschilder ab, klaubt noch ein paar Sachen zusammen und fährt mit dem König in die Alt-Berliner Bierstuben. Wieder ein Problem weniger, ohne Moos im Tank, nix los als Punk. Das Wiedersehen wird zünftig gefeiert. Der Sänger erzählt bei Schlachtplatte und einem Humpen Bier, was in der Abwesenheit des Leibkochs im Schloss passiert ist. Militante Punker haben das Ruder übernommen, Molotow-Cocktails, Pfefferspray und Schreckschusspistolen liegen zum sogenannten Klassenkampf bereit. Meinem Möchtegern-Eskimo bleibt die „tote Oma“ (umgangssprachlich Blutwurst) im Halse stecken. Die beiden verabreden sich für den nächsten Tag zu einer Begehung und Jonas macht sich auf den Weg in unsere Wohnung. Er steckt seine Nase durch die Haustüre und im Hausflur riecht es schon etwas mehr nach Intershop. Verrückt, wie schnell sich Gerüche und Geschmäcker ändern können. Er stiefelt die Treppen bis zur dritten Etage, holt den Dietrich aus seinem Versteck und betritt seine Messie-Bude. Die Wohnung ist unverändert, der Kühlschrank surrt, eine Fliege summt, er entkleidet sich, springt unter die Dusche und fällt ins Bett. Mary Filou kuschelt sich dankbar an seine Gehirnwindungen, streichelt ihm im Schlaf seine Seele – die ewige, große Versöhnung zwischen Mann und Puppe. Das Leben ist großartig und unberechenbarer denn je. Am nächsten Morgen begibt sich der Narr sofort zur Audienz in den Eimer. Verwundert bemerkt er, dass sein Schlüssel nicht mehr passt und das Schloss ausgetauscht ist. Der Initiator der ersten Stunde muss wie ein

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Unbekannter klingeln und um Einlass bitten. Widerwillig lässt ihn Rampazzo hinein und wenig später kommen mit sichtbar schlechtem Gewissen der Sänger und die Rothaarige. Bei einer Tasse Kaffee wird beschlossen, wieder zusammen auf Konzerte zu fahren, um die glorreichen Bühnenmomente vor dem Mauerfall wieder aufleben zu lassen. Jonas entfernt nach eigenem Gutdünken die Molotow-Cocktails, die im dritten Stock unter den Fenstern lagern und fordert damit den ersten Streit mit der hauseigenen Punker-Polizei heraus. Er ist ein Dorn im Auge, den es durch Unfreundlichkeit zu entfernen gilt. Die Bitte nach einem neuen Schlüssel wird abgelehnt, die Drinks muss er bezahlen, an seine Einlage von fünfzig Pullen erinnert sich niemand mehr. Die Preise haben sich verdreifacht und sind ans Westniveau angeglichen. Alles im Eimer. Jonas schreibt einen Song für „Freygang“ und André singt ihn auf der Scheibe „Die Kinder spielen weiter“.

Rendezvous im Rosenthal Wird das Leben dir zur Qual, such dir'n Kuss im Rosenthal. Rendezvous im Rosenthal, für ein Brötchen und ein Aal. Im Rosenthal da steht ein Turm, so schief wie Pisa und mit Wurm. Der Wurm der hasst das Licht, der Wurm der liebt die Dunkelheit.

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Ich brauch den Duft von dieser Gruft, ich lieb den Duft von deiner Gruft! Why why why – I.M. Ei why why why – diedel DUMMDEI

Es steht ein Schloss im Rosenthal, ich denk' daran mit großer Qual. Ich hab' es mal geliebt, gehegt, gepflegt, gelebt. Dann kam die große Reiselust, der altbekannte Berlin-Frust, ich mach' mich auf den Weg, doch da war's schon zu spät.

Ich brauch den Duft von dieser Gruft, ich lieb den Duft von deiner Gruft! Why why why – I.M. Ei why why why – POZILEI

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Drei Wochen später. Rampazzo, der Lichtzwerg, hat gerade André und Tatjana aus dem Haus vergrault und ein neues Schloss ins Schloss Rosenthal gebaut. Kein Schlüssel passte mehr am schweren, massiven Haupttor. Frau Flamminger klagt dem Hofnarren ihr Leid, der meint lapidar: „Wir müssen den Typen schnappen, ihn zur Rechenschaft ziehen, passt auf, Frau Königin: Wenn der Laden morgens um vier Uhr zumacht, springe ich wie Zorro über den Drahtzaun, klettere an der Innenhofwand hoch auf das Zwischendach, von dort steig' ich ins Treppenhaus ein, im dritten Stock ist das Fenster kaputt. Dann geh' ich auf leisen Sohlen runter und lasse sie von innen rein.“ Mit einem schelmischen Blitzen in den Augen nickt die Königin begeistert und fertig ist Plan A. Die beiden warten ab, bis die ersten Vögel erwachen und trinken bis dahin vergnügt Tee. Gegen drei Uhr fünfundvierzig ziehen sie sich ihre Schuhe an und gehen los, um den Eimer zurückzuerobern. Pünktlich kurz nach vier gehen die letzten Gäste, der Barkeeper verschwindet und der Hausherr schließt ab und schiebt den großen Riegel von innen vor die Tür. Doppelt gesichert hält manchmal trotzdem nicht. Tatjana gibt Jonas mit den Händen die Räuberleiter und ab geht's über den Zaun vom Autohändler, dann die Abrisskante hochgeklettert und an der Regenrinne aufs Balkondach des Eimeranbaus. Gut, dass die Scheibe zur Toilette in der Probenraumetage noch nicht repariert wurde, da kann er einsteigen, ohne eine Scheibe klirren zu lassen. Ein vorbildlicher Aufklärer, wer hätte das gedacht, dass ihm diese Ausbildung noch mal nützen würde. Jonas schleicht sich auf Zehenspitzen durch die Zwischentür, die Besucher davon abhält, auch die Probe- und Wohnraumetage zu betreten. Die Tür zum Café steht sperrangelweit offen, der gesamte Hausflur ist inzwischen mit Alufolie tapeziert. Musik läuft halblaut. Jonas nimmt den Balken hinter der schweren Eingangstür weg und lässt Tatjana ein. Die gibt ihren Besen an der Garderobe ab und freut sich diebisch, wie ein Hexlein. Die beiden steigen wacker die Treppen zur ersten Etage hoch und stehen im Wohnzimmer der Bar. Rampazzo traut seine Augen nicht, die Königin und der verhasste Narr. „Wie kommt ihr hier rein? Ich hab' doch gerade von innen abgeschlossen und den Riegel vorgeschoben?“ Tatjana lächelt geheimnisvoll: „Durchs Schlüsselloch …“ „Und ich durch den Schornstein!“, sagt der Narr.

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Der Lichtanarchist schaut sie ungläubig an und es beginnt eine wütende, anklagende Debatte zwischen den dreien. Sie endet damit, dass Jonas sich entnervt geschlagen gibt, auf die Schlüsselgewalt verzichtet und das Haus endgültig verlässt. Bis heute wundert sich Rampazzo, wie die beiden reinkamen. Ich weiß es, denn ich war dabei. Jonas fährt an den Wochenenden wieder mit auf Tour, aus „André und die Raketen“ wird wieder „Freygang“, da das staatliche Auftrittsverbot Systemschnee von gestern ist. Nach der Wiedervereinigung erweitert sich der Bewusstseinszustand des Publikums mehr und mehr. Jetzt habe ich Jonas endlich, wohl dosiert, soweit beeinflusst, dass er uns auf die Bühne lässt. Da wir mit dem jeweiligen Zugpferd des musikalischen Abend-Cocktails unterwegs sind, komme ich mit Mary Filou erst zu fortgeschrittener Stunde zum Einsatz. Dies bedeutet, dass die Hälfte des Publikums beim Showdown schon betrunken in der Ecke oder bekifft auf und unter den Tischen gackert. Hätte ich jetzt den Drachen erledigt und Mary Filou die drei, mich erlösenden Fragen gestellt, die Leute hätten uns ausgebuht und ausgepfiffen. Wenn ich mich dann noch in meine alte Haut als Kasper verwandelt hätte, wären statt Eiern und faulen Tomaten, halbvolle Bierflaschen und Pappbecher auf der Bühne gelandet. Aber ich spüre, es dauert nicht mehr lange und der Bann der Neuberin wird brechen. Ich werde hunderte Male im Märchen „Excalibur“ den kleinsten Drachen der Welt besiegen. Das betäubte Publikum erzeugt im Kopf meines Puppenspielers grimmiges Unwohlsein. Mein Plan geht auf: Noch drei Konzerte und es reicht ihm, seine Perlen unter die besoffenen Säue zu streuen. Er verlässt die Welt des Sex und der Drugs und des Rock 'n' Rolls. Sein geliebter König André alias Käpt'n Flint, der mit Sicherheit Meister des Schachbretts mit doppeltem Boden war – die Puppen haben ihn selig! – spielt instinktiv hervorragend mit und verhängt über meinen Zögling ordnungsgemäß bei Korn und Bier Freigang von Freygang. Der König ist später insgeheim traurig über seine Entscheidung, denn so verlor er das Salz in der Truppe, den Farbtupfer im Alltagsgrau des Musikermolochs. Glücklicherweise bemerkte Käpt'n Flint nicht, dass ich auch in seinen Träumen Entscheidungen manipuliere.

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Die Menschen sind so leicht in die Enge zu treiben und zu beeinflussen. Verrückt. Ich rede dem Rock 'n' Roll-König hier und da ein wenig in seine steilen, geilen Träume und gebe seinem Affen ordentlich Zucker. Ich lasse ihn in dem Gedanken schwelgen, dass er sich nun endlich mit seiner alten Band-Besetzung das lang verdiente Denkmal des Underground-Rockstars vom Prenzlauer Berg setzt. Die Stones spielen auf der Waldbühne und André darf Mick Jagger in der Pause die Hand schütteln. Er ist verwundert, dass der große Star nur ein kleiner Mann ist. Der Ost-Rocker schenkt seinem Idol eine Matchbox-Ausführung des schwarzen Wolga Kombi. Dieses Model ist für André ein ideell äußerst wertvoller Talisman und eine Erinnerung an die russische Trasse der Freundschaft. Für Mick ist das Ding nur ein x-beliebiges Spielzeug und sein Manager schenkt es später dem Sohn der Putzfrau seines Gärtners. Der Grund für den Rauswurf des Narren ist einfach, der Sänger will seinen nach Jahren des Exils im Westen wiedergewonnenen Lieblings-Gitarristen Gerry nicht erneut verlieren. Jener Gitarrero mag die Showeinlagen meines Puppenspielers überhaupt nicht und setzt André den Lauf der Pistole auf die Brust: „Ich oder der – wir sind Rock 'n' Roll-Legende, Alter, Schluss mit dem Kasperkopp!“ Da es für die Laufbahn von Vorteil ist, wenn man nicht selber kündigt, sondern gekündigt wird, schmerzt der Verlust des Arbeitsplatzes nicht allzu sehr und mein Noch-Nicht-Ganz-Puppenspieler dankt für die erfolgreich absolvierten Leerjahre. Noch am selben Abend nimmt Jonas seinen König beim Wort und marschiert zu dessen Verblüffung mitten in der Pampa des Vogtlandes per Pedes zu neuen Ufern. Endlich wieder frei von Verabredungen wandert mein Hans im Glück durch die Nacht, der Vollmond leuchtet ihm als Laterne, das Käuzchen ruft und nur der Wolf, der schweigt weiterhin wie ein Grab. Nach einem Kilometer wird er müde, spannt seine Hängematte zwischen zwei Bäume und schläft bis zum nächsten Morgen. In dieser Nacht besuche ich wieder seinen Schlaf, getarnt als Kinderhorde flüstere ich ihm zu: „Hallo, hier sind wir, wir, die Kinder, komm zu uns, Kasperle, wir wollen uns mit dir vergnügen!“

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Als die Vöglein des Waldes und die ersten Sonnenstrahlen ihn wecken, beschließt er endlich der Berufung zum Puppenspieler zu folgen. Erste Hürde dabei ist, die Kinder und deren Eltern als neues Publikum zu finden. Nach einem ausgiebigen Waldbrombeer-Frühstück trampt Jonas zurück nach Berlin, setzt sich auf eine Telefonzelle am Wasserturm und spielt die Geschichte vom Fischer und seiner Frau. Was auf der Bühne passiert, ist meist aus dem Leben gegriffen, oder andersrum gesagt: Was man auf der Bühne darstellt, kann einen im wahren Leben einholen, zumindest, wenn man es mit Haut, Haaren und Herzblut betreibt. Eine Telefonzelle kann eine wunderbare Bühne abgeben, man wird gesehen, keiner kommt über die Rampe getorkelt und ganz wichtig – es ist neu. Gelangweilte Kneipengänger freuen sich über Neuigkeiten. Keiner bemerkt, dass unser Hampelmann bei schönster Nachmittagssonne um seine zukünftige Frau buhlt. Die Schwalbe, so nennt er Chris, die schöne junge Kellnerin der Kommandantur, arbeitet in der angesagtesten Szenekneipe jener Tage. Sie verlieben sich auf der Stelle gleich mehrmals ineinander. Die Schöne lässt ihn eine Weile zappeln und er muss alle Register ziehen, ihr Herz zu erobern. Er beginnt davon zu träumen, mit der Schwalbe bis zum siebenten Himmel zu fliegen und dort auf einer Wolke von Luft und Liebe zu leben. Was für ein Träumer, jeder weiß, dass das nicht funktioniert.

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Plakat der wilden Zeiten

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Key im Proberaum

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist tief gefallen.

24. Key, der Schlüssel zur Ichfunktion Die „Ichfunktion“ hat sich in der Zwischenzeit selbst reduziert, ist auf drei Musiker geschrumpft und zu einem reinen Männerbund mutiert. Evi, die einstige Bassistin, gründet lieber unter dem Namen „Edelramsch“ den Laden der notwendigen Nutzlosigkeiten, ganz in der Nähe des Tacheles. Sie ist eine der wenigen im Freundeskreis, die bereits persönlich ein Kind zu versorgen und Verantwortung zu tragen hat. Der Schlüssel zur „Ichfunktion“ heißt Key. Er und Tschacka sitzen mit einem neuen Trommler im Boot, der sich Boxer nennt, das heißt, die Funktion wird von einem Boxermotor angetrieben und will nochmal richtig durchstarten. Sie fragen Jonas, ob er nicht einsteigen will, da noch Platz im Boot sei. Mein Kasper mag die Jungs und wird zum letzten Mal rückfällig. Salzwedel 1992. Wer hoch hinaus will, kann tief fallen. Jonas stürzt während seines letzten Konzertes mit der „Ichfunktion“ aus fünf Metern Höhe durch eine morsche Scheunendecke. Ich, Zorro der Bär, halte als sein Beschützer zwei von drei Möglichkeiten für den Aufprall bereit: einen großen, weichen Kornhaufen oder blanken Beton, ein paar alte Eggen sind die dritte Variante, sie wurden vom Hausherrn, einem Freund des Barons, mit den Zinken nach oben abgestellt. Ich entscheide blitzschnell, dass die mittlere Variante, der Beton, ihn zur Vernunft zwingen wird. Gebrochene Knochen können unter bestimmten Umständen auch ein Schlüssel zur Selbstfunktion sein. Jonas soll sich endlich seiner Berufung beugen und akzeptieren, dass im Buche des Schicksals geschrieben steht, dass er als Puppenspieler sein irdisches Leben fristen soll. Der Kornhaufen wäre zu weich gewesen, er wäre auferstanden und hätte das Zeichen nicht begriffen. Mephistos Variante, also die rostigen Metallzinken hätten bedeutet, aufgespießt zu verbluten. Jonas bricht sich durch mein Eingreifen nur beide Arme, verrenkte sich die Hüfte und kugelt sich den kleinen Zeh aus. Der Schuss vor den Bug sitzt. Als er kurz nach dem Aufprall blutüberströmt aus einer Nebentür kriecht, dauert es ein paar Minuten, bis dem Publikum und der Band klar

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wird, dass es sich nicht um Theaterschminke und schon gar nicht um eine Performance handelt. Die Band muss ohne ihn weiter funktionieren. Endlich Ende im Gelände. Ein Krankenwagen bringt ihn mit nächtlichem Tatütata ins Krankenhaus nach Salzwedel. Er wird gegen Mitternacht geröntgt und ein junger Arzt verkündet ihm, dass es zwei gute und zwei schlechte Nachricht gibt. Die zwei guten sind, dass die Hüfte nur geprellt und der Zeh mit einem Handgriff wieder eingerenkt werden kann, die schlechten, dass beide Arme komplizierte Splitterbrüche davongetragen haben. Den kleinen Zeh zieht der Arzt mit einem kurzen Ruck wieder in die richtige Position, erstes Problem erledigt. Und wie es bei Kindern in diesem Alter normal ist, meldet Jonas sich, weil es ihm schlecht geht, telefonisch bei seiner Mutter. Die Gute schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und setzt noch am selben Tage alle Hebel der guten Beziehungen in Bewegung. Ihr Sonnenschein wird nach Berlin überführt, um direkt in der Charité operiert zu werden. Sie eilt sofort zu ihrem Sohn und verabreicht ihm eine Überdosis Mutterliebe in Form von Reiki, sprich: Sie legt ihre liebenden

Schwein gehabt, nur ausgerenkt …

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Hände auf die Wunden und transformiert die negative Energie ins Positive. Der Chefarzt lässt sich auf dieses Experiment ein und will seinen Augen nicht trauen, als er ein zweites Mal die Brüche röntgt. Alle Splitter sitzen wieder an ihrem Platz und können in Ruhe heilen. Nun folgen zwei Tage lang Gespräche zwischen Arzt und Patient, es werden Vor- und Nachteile einer Operation besprochen. Mein Puppenspieler steht vor der Alternative, alles in sich verknorpeln zu lassen oder einer komplizierten Operation mit ungewissem Ausgang zuzustimmen. Der Spezialist meint, bei einem Eingriff sei eine Versteifung der Gelenke nicht ausgeschlossen, bei einer Verknorpelung müsse man das Gelenk unter Schmerzen leicht bewegen, damit der Körper beim Produzieren neuer Zellen weiß, um welche Bewegung es sich an dieser Stelle des Körpers dreht. Auch die schöne, junge Kellnerin schaut vorbei, um sich persönlich davon zu überzeugen, ob ihrem liebestollen Hirsch nur die Arme oder auch das Herz gebrochen sei. Sie sieht ihn gut aufgehoben, wünscht viel Glück und verabschiedet sich zum Jobben nach Prerow an die Ostsee. Jonas will am liebsten auf der Stelle mit und entscheidet sich für die zweite Variante. Er stibitzt im Schwesternzimmer eine Schere, schneidet sich den provisorischen Gips von den Armen und unterschreibt umgehend die Entlassungspapiere auf eigenen Wunsch und Gefahr. Jetzt, dreißig Jahre später, kann man feststellen, dass diese Entscheidung nicht falsch war, der Gebrochene wird gesund und spielt uns Puppen bis heute mit beiden Händen. Einen Tag später setzt er sich in den Zug, fliegt der Schwalbe hinterher und verbringt einen wunderbaren Sommer mit Schwimm- und Küsstherapien. Nach und nach vergrößert sich unser Ensemble. Unter Mitwirkung von Jonas halber Schwester Nelli entstehen die Figuren des Direktors und die des Mr. Meier. Mr. Meier mit seinem grellen, grün-bunten Kostüm und der orangefarbenen Hakennase soll den Tod darstellen und erinnert unseren Prinzipal bis heute an einen verstorbenen Papagei namens Spinner. Besser gesagt Herr Spinner. Herr Spinner ist südamerikanischer Herkunft und wenn mich nicht alles täuscht, sogar illegal in der Handtasche der Schwalbe eingeflogen. Da die beiden inzwischen zusammen in unserer Wohnung leben, werden auch wir mit Herrn Spinner gut bekannt. Ich erlebe gar manch lustige Geschichte mit diesem schrägen Vogel. Jonas wird zur Kasse gebeten und da er nicht im Besitz einer gültigen Krankenversicherung ist, will die Charité Bargeld sehen.

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Mein Puppenspieler wird gezwungenermaßen, durch widrige Umstände zum Sozialfall. Der Bearbeiter des zuständigen Amtes in der Fröbelstraße macht ihm klar, dass die Krankenhausrechnung von zirka zweitausend DM nur bezahlt werden kann, wenn er sich in die laufende Sozialhilfe begibt. Jonas kapituliert kleinlaut und bekommt ab sofort Wohn-, Heiz- und Essensgeld vom neuen Vater Staat. Er merkt sehr schnell, dass dieser Status mit großen und kleinen Unannehmlichkeiten verbunden ist. Er muss fortan Bewerbungsversuche nachweisen. Diese sehen für meinen Schützling folgendermaßen aus: einmal im Monat in einer beliebigen Straße des Kiezes in zehn Geschäften nachfragen, ob er eine dumme Frage stellen darf, worauf das verdutzte Personal oder gar der Chef persönlich grinst und meint, es gäbe nur dumme Antworten, aber keine dummen Fragen. „Haben se Arbeit für mich?“ „Nee, ham wa nich.“ „Könn se mir dit mit Stempel und Unterschrift bestätigen?“ „Ja klar, keen Problem, her mit dem Wisch, Wiedersehen und een schön Tach …“ waren die Standarddialoge. Sie ahnten, dass er nicht ernsthaft Arbeit sucht, sondern lediglich das Amt besänftigen will, um in der neuen Zeit zu überleben. Es gibt keine Arbeit, weder schlecht noch gut bezahlt, Betriebe werden geschlossen und oft darf ein kleiner Rest der Belegschaft im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ihren eigenen Arbeitsplatz abwickeln, sprich sie dürfen den Ast selber absägen, an dem sie ohne Seil und doppelten Boden wie ein Schluck Wasser hängen. Jonas ist nicht glücklich über diese Wendung des Schicksals, sieht aber keine andere, praktikable Möglichkeit, das Leben zu meistern. Er legt sich das fadenscheinige Argument zurecht, dass man das neue System am besten zerschlagen könne, indem man den Tropf leer säuft, an dem man hängt, um dann gestärkt den Kampf gegen das ewig Böse anzutreten. Passend zum Zeitgeist halten eine schwarze, lispelnde Ente sowie der Teufel Einzug in unser Theater. Des Pudels Kern, getarnt als Geburtstagsgeschenk der Geliebten, wird die einzige Puppe der Pappmaché-Truppe bleiben, die einen Holzkopf hat. Luzifer ist Auftragswerk eines Schnitzmeisters und versucht ständig, mich in die Hölle zu locken und mir das Leben schwer zu machen. Wir schimpfen den Fürsten der Finsternis insgeheim Hinkefuß und dumpfbackigen Holzkopf.

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Die Ente, genaugenommen der Erpel, besteht bis heute aus einem schwarzen Stück Ärmel eines Pullovers der Geliebten und wird später mit der Rolle des Fährmanns in dem Dauerbrenner „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ besetzt. Auf meine Frage, wo er denn herkomme, antwortete er traurig lispelnd: „Ach, weißt du Kumpel, das ist eine lange Geschichte, mein Vater war ein Schwan und meine Mutter ein Pferd, ich sollte eigentlich ein Pegasus werden, aber du siehst ja …“ Ich mag Pegasus, auch wenn er zum Lager des Holzkopfes gehört. In unserem Puppenkoffer herrschen nämlich bis heute Hierarchien, Kastendenken und Vetternwirtschaft. Alles genau wie im echten Leben der Menschen. Um etwas spiegeln zu können, braucht man zuallererst ein Bild, das dann zum besseren Verständnis überspitzt auf die Puppenbretter übertragen werden kann.

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Lohnzettel für Amateur-Mugger

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Ich sehe Müll, den du nicht siehst, und der liegt hinter den Kulissen.

25. Herr Spinner und der Lügendetektor Es dauerte nicht lange und Jonas muss sich beim hauseigenen Psychologen melden, einer Art Lügendetektor des Sozialamtes, der die vorliegenden Fälle nach arbeitsfähig und arbeitsunwillig beurteilt. Mein Puppenspieler gehört zu der Kategorie schwer vermittelbar, da einerseits der erlernte Beruf des Reproduktionstechnikers nicht mehr gebraucht wird, er andererseits mit seinen gebrochenen Armen ein Attest hat, das ihn von körperlich schwerer Arbeit befreit. Auf die Frage: „Was soll nur aus Ihnen werden, wie wäre es denn mit einer Umschulung zum Glas- und Gebäudereiniger oder Busfahrer“ antwortet mein Schelm: „Ich will Puppenspieler werden, aber ohne an der Schauspielschule zu studieren, ich komme aus einer Theaterfamilie und weiß, wovon ich rede. Ich übe auf der Straße und weil das nicht zum Leben reicht, sitze ich schweren Herzens hier bei Ihnen, Herr Obersauer.“ Von einer Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen ist die Menschheit damals noch weit entfernt und ich weiß auch nicht, ob dieses Konstrukt nicht lebensunfähige, fette Faultiere hervorzaubert. Jonas ist der festen Überzeugung, dass er nicht für's Pauken und Studieren geschaffen ist, er die Entfaltung seiner künstlerischen Persönlichkeit lieber selbst in die Hand nimmt. Aber alles braucht seine Zeit. Learning by doing oder Probieren statt Studieren, manche Volksweisheiten haben ihre Berechtigung, was aber keinesfalls vermitteln soll, das Studieren doof sei. Jeder Mensch ist anders und das ist gut so. Herr Obersauer wird laut: „Was bilden Sie sich ein, wer Sie sind, das ist doch alles grober Unfug!“ Mein Puppenspieler holt mich, Mary Filou und den Teufel heraus und fragt ganz naiv, ob er denn nicht etwas vorspielen dürfe, um den Lügendetektor oder gleich am besten das ganze Team des Amtes köstlich zu unterhalten. Er will überzeugen, dass er nicht lügt oder gar verrückt sei und in die geschlossene Psychiatrie gehöre. Der Mann tobt vor Wut über so viel Frechheit und schreit weiter: „Sie denken doch nicht im Ernst, dass Sie je auf einer richtigen Bühne vor

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Publikum spielen werden!“ „Doch …“, antwortet der Verdächtigte: „… und Sie und Ihre Kinder werden irgendwann in der ersten Reihe sitzen.“ Ich zwinkere Mary Filou auffordernd zu, dass sie Kraft ihres weiblichen Charmes dem Brüller schöne Augen macht. Die Situation entspannt sich, aber unser gehörnter Kollege Hinkefuß kratzt sich in die Gedanken des Beamten und flüstert ihm leise zu: „Geben Sie dem Kerl eine degradierende Hilfsarbeit, so machen wir ihn gemeinsam am besten klein und vor allem mundtot.“ Herr Obersauer: „Hören Sie zu, mein junger Träumer, Sie kriegen erstmal einen handfesten Job bei uns im Amt als Hausmeistergehilfe.“ Jonas erwidert prompt: „Das wird leider schwierig, Herr Obersauer, ich muss zu Hause auf den Papagei aufpassen, den Hund Gassi führen und außerdem täglich eine Stunde Geige üben.“ Der Mann steht kurz vor einer erneuten Explosion und wäre ich nicht beruhigend dazwischen gegangen, wer weiß, ob der Gute nicht einen Herzinfarkt erlitten hätte. „Okay, Herr Obersauer …“, lasse ich meinen Zögling sprechen: „… aber dann muss ich wenigstens meine Pausen für meine persönliche Weiterbildung an der ersten Geige nutzen dürfen.“ Entnervt nickt Obersauer die Sache ab und beendet mit verschwitztem Hemd das Verhör: „Tun Sie, was Sie nicht lassen können und jetzt raus!“ Das lassen wir uns nicht zweimal sagen, ich schnappe mir Mary Filou, die anderen beiden Puppen-Kollegen, unseren Meister und ab die Post, raus aus dem Büromief an die frische Luft, tief durchatmen, abwarten und Tee trinken. Am darauffolgenden Montag muss Jonas zum Dienst an der Gesellschaft antreten. Er ist rekrutiert als Hilfsarbeiter des Sozialamtes Prenzlauer Berg, dreißig Stunden die Woche, zunächst für ein halbes Jahr. Hätte er diese Arbeit abgelehnt, wären ihm die Sozialbezüge gestrichen worden und auf kurz oder lang hätte er seine Zweiraum-Wohnung mit Dusche und Balkon in der Prenzlauer Allee kündigen müssen. Diese Bude, die zu DDR-Zeiten 52,70 Ost-Mark Miete kostete, spült heutzutage satte achthundert Euro in die Taschen des Besitzers. Warum das Volkseigentum nach dem Mauerfall nicht unter dem Volk aufgeteilt wurde, so wie bei den Russen, ist ihm nach wie vor bis heute unklar.

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Wahrscheinlich hätte diese Variante des Zerfalls auch nicht viel an den herrschenden Verhältnissen geändert, clevere Oligarchen hätten die einzelnen Anteilsscheine an Betrieben billig aufgekauft. Wenn jeder Bürger des untergegangenen Landes seine Wohnung gekriegt hätte, oder der Staat Verwalter des Volkseigentums geblieben wäre, gäbe es heute vielleicht bezahlbaren Wohnraum im Osten des Landes. Es ist wie beim Monopoly: Gehört wenigen alles, gibt es mehr Verlierer und die Reichen werden immer reicher, bis sie eines Tages der Teufel holt, denn der hat das Monopol in diesem Spiel. Jonas will sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, Sklavenarbeit zu erledigen, die hart erkämpfte Freiheit an den Nagel der Geschichte zu hängen und das Träumen zu lassen. Er nimmt es jedoch gelassen hin und gibt sich eine, maximal zwei Wochen Zeit, bis er einen Weg zur fristlosen Kündigung gefunden hat. Aber wie dreht man so ein Ding, gekündigt zu werden, ohne die laufenden Leistungen zu gefährden? Ganz einfach: auffallen, ohne durchzufallen. Am ersten Tag erscheint er pünktlich und meldet sich bei Heinzi dem Vorarbeiter. Der will den Neuen erst mal gleich in die Möbelpacker-Kolonne stecken, worauf unser Narr sofort abblockt und sein Attest aus der Tasche zaubert: „Tut mir leid Chef, ich darf nichts schweres heben.“ „Hm, na dann schnapp dir die Schubkarre, Besen und Schippe und melde dich beim Hausmeister um die Ecke.“ Der Hausmeister weist die Hilfskraft an, für die nächsten Tage das Gelände von Müll und Dreck zu befreien. Da der gute Mann vergisst anzusagen, dass der neue Mitarbeiter gefälligst im ersten Gang arbeiten soll, also sehr, sehr langsam, ist die Arbeit der ersten Woche innerhalb von vier Stunden erledigt. Jonas spürt Dreckecken auf, die schon über Jahre vor sich hindümpeln und bereits von Gras und sonstigem Bewuchs überlagert werden. Irgendwie muss er sich jedoch noch das Ding des Tages leisten, erstens, um sich etwas unbeliebt zu machen und zweitens, um etwas Spaß zu erleben. Blödsinn verzapfen, ohne die Anordnung zu verletzen, im Grunde den alten Eulenspiegel-Trick anwenden, alles wörtlich nehmen und sich dümmer stellen als man ist. Er findet im Gebüsch des Innenhofes eine verwahrloste, aber intakte Bank, zottelt das schwere Ding in den öffentlichen Raum und stellt sie direkt an die Wand unter die Fenster des gelb-roten

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Backstein-Komplexes. Mittagspause. Zeit für die allererste Geige im Amt. Er holt sein Instrument aus dem Kasten, überspannt nicht den Bogen und übt zur Erwärmung die Tonleiter hoch und runter. Die Sekretärinnen schauen irritiert aus dem Fenster und als er nach fünf Minuten beginnt, seine drei selbst erdachten Kompositionen vor- und rückwärtszuspielen, gibt es aus zwei Fenstern Applaus. Der Hausmeister kommt angewackelt: „Eh Du, noch alle Tassen im Schrank?“ „Ja, ich glaube, hab' heute noch nicht in den Schrank gesehen, wieso?“ „Was soll der Lärm?“ „Ich übe, hab' doch Pause, alles mit Herrn Obersauer abgesprochen, zwischen zwölf und dreizehn Uhr darf ich hier üben.“ „Hm, und was soll die Bank da?“ „Im Gebüsch gefunden.“ „Da oben ist das Büro des Bürgermeisters, bist du verrückt?“ „Ach so, na ist doch super, dann hört der gute Mann gleich, über was das Volk wettert, wenn es draußen unter seinem Fenster raucht …“ „Nee nee, fass an Junge, das gibt nur Ärger, weg mit dem Ding, wieder dahin, wo es hingehört, ab ins Gebüsch, hier sitzen doch die Möbelpacker, wenn sie sich verpissen wollen und kippen einen hinter die Binde, da fällt die Arbeit leichter.“ „Ahja …“, sagte der Narr, zottelt die Bank an ihren alten Platz und begibt sich zum Vorarbeiter. „Sag mal Chef …“, beginnt er: „… wie sieht's aus, ich würde gern den Freitag rausarbeiten, kann ich nicht drei Tage lang acht Stunden rackern?“ Er: „Von mir aus, aber ick mach' für heute Feierabend, kannst dir ja noch 'nen Kaffee kochen und mit den andern Skat kloppen, warst du dit mit der Geige vorhin, hört sich ja een bißchen schräg an.“ Gesagt – getan, es wird ein lustiger Nachmittag, der Neue spielt mit und wird fortan akzeptiert. Bei der Verabschiedung zum Feierabend wird er kollektiv angemahnt, dass der Einstand von zwei Pullen Schnaps noch offen sei, eine Pulle Korn und eine Pulle Braunen. Mein Gepeinigter dackelt noch am selben Tag schnell zu Herrn Aldi und kauft ein. Am Dienstag geht Jonas mit dem Spinner auf der Schulter zur Arbeit. Er stellt pünktlich um sieben Uhr die Flaschen auf den Tisch, der bunte Vogel wird bewundert und gegen neun torkelte die gesamte Mannschaft angeheitert zur Kantine. Jonas muss dem Kotzen nahe Schlange stehen.

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Als er endlich dran ist, ereilt ihn die erste schlechte Nachricht des Tages: „Alle belegten Brötchen sind ausverkauft …“ Kurze Revolte und Gemaule in der Schlange, Heinzi lallt leicht mit Fahne: „Eh jetze is Westen, ab jetze jibts doch anjeblich allet im Überfluss, watt soll'n ditte jetze ihr Atzen, seht zu und bewegt eure Ärsche!“ Die Truppe johlt, dann die gute Nachricht des Küchenbullen: „Bleib ma janz locker Heinzi, et jibt noch Bockwurscht, Kaffe und Soljanka im Anjebot, alled wie immer! Watt hast'n du da uffe Schulta?“ Der Neue antwortet: „Dit is Herr Spinner, der Papagei von meiner Frau, die is och arbeiten und wenn der Vogel allene zu Hause bleibt, zerlegt er die Bude vor Wut.“ Gelächter. Der Küchenchef: „Aha, na du scheinst ja een janz lustiger Vogel zu sein, morgen musste zehn Minuten eher kommen, wenn de belegte Schrippen haben willst, für Eierbrötchen musste schon dreiviertel da sein und den Papagei kannste bei uns lassen, denn brauchen wa nich allet wiederholn für die Deppen da, dit kann denn dein Papagei machen.“ Die Schlange brüllt. Da die Arbeit von heute schon im Akkord von gestern erledigt ist, legt sich unser Hilfsarbeiter nebst Papagei auf die Bank im Gebüsch. Jonas begreift nun, warum das Ding genau hier steht. Pause von der Pause machen, den Vormittags-Rausch wegschnarchen. Herr Spinner ist entsetzt über die Menschen und fliegt auf einen Baum. Alle paar Monate muss ihm die Besitzerin die Flügel stutzen, da Herr Spinner sonst nicht nur auf den nächsten Ast hüpft, sondern auch sehr weit wegfliegt, vielleicht bis nach Hause, nach Südamerika. Die letzte Beschneidung liegt schon einige Wochen zurück, so dass Spinner sich nahezu in Höchstform befindet. Solange er mit seiner Halterin unterwegs ist, fliegt er nicht weit und hoch. Der Vogel kommt meistens sofort, wenn seine Ersatzmutter nach ihm pfeift und setzt sich auf ihre Schulter zum Schnäbeln. Wenn er mit unserem Kasper unterwegs ist, dann kann ein Überreden brav zu sein und das Bestechen mit Leckerbissen gut und gerne einen halben Tag in Anspruch nehmen.

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Zwei Spinner

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Als Jonas wieder aufwacht, ist es bereits Mittag und Zeit, wieder zum Futtertrog in die Kantine zu gehen. Scheiße, der Spinner ist weg. Er pfeift und einige Sekunden später hört er die Antwort des schrägen Vogels, die übersetzt so viel bedeutet wie: „Hier bin ich, ätschibätschi, hier du Doofmann.“ Oben in den Wipfeln einer großen, alten Kastanie sitzt das Biest und erfreut sich des schönen Ausblicks. Jonas beginnt leise zu rufen: „Spinner! Spinner!! Komm her … komm … sei lieb … Spiiinnner“ Und etwas lauter: „Spinner! Spinner!!“ Die ersten Damen schauen wieder aus den Bürofenstern. Freilichtbühne Fröbelstraße, was für ein Spektakel. Und immer lauter und verzweifelter: „Spinner, Spiiiinner …“ Die Damen und auch die Sozialhilfeempfänger, die zu ihren Bearbeiterinnen strömen, wollen ihren Ohren nicht trauen: „Was ruft der da, meint der etwa uns?“ Jonas wird immer wütender und Herr Spinner immer hämischer. Der Vogel fliegt mal auf den einen Ast, mal auf die Regenrinne, dann wieder auf den nächsten Baum und am besten noch so, dass ihn keiner sieht, niemand einen Zusammenhang zwischen ihm und dem Rufer herstellen kann. Fliegen muss wunderbar sein. Der Vogelfänger ist kurz vorm Verzweifeln, doch pünktlich zum Feierabend kommt der Strolch auf seine Schulter und zwickt ihn auch noch ins Ohr. „Aua du kleines Mistvieh, na warte.“ Herr Spinner weiß genau, was ihn zu Hause erwarten wird: die Schere und Lola, die Hündin, die sich winselnd verkriecht, wenn Spinner sie in die Nase beißt. Der Vogel ist extrem eifersüchtig auf alle, die ihm die Mutti wegnehmen wollen. Er kann aber auch äußerst liebenswert sein und vollführt so manches Kunststück in seinem kurzen Leben. Zu Hause angekommen, verlangt Jonas von seiner Frau, dass sie dem Vogel endlich die Flügel stutzt, der Spinner sonst nicht mehr mit nach draußen darf und ihm lebenslange Isolationshaft drohe. Die Frau lacht köstlich über die Geschehnisse des Tages, holt die Nagelschere und beginnt ihm die Schwingen zu stutzen. Sie meint: „Ist doch alles halb so wild, was willst du, mein lieber Mann, war doch lustig oder etwa nicht.“

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Herr Spinner nickt, der liebe Mann grollt und fordert eine radikale Beschneidung. Mütter halten im Normalfall instinktiv die beschützenden Hände über ihre Kinder und es geschieht, was geschehen muss. Herr Spinner zetert und schimpft, die Frau bekommt Mitleid, stutzt nur zaghaft einen der beiden Flügel und öffnete zum Lüften das Fenster. Spinner tut, als ob er nicht mehr fliegen kann, frisst sich satt, nippt an seinem Wasserglas und spielt Friede, Freude, Eierkuchen. Kaum schenkt man ihm keine Beachtung mehr, schleicht er sich unauffällig in Richtung Fenster. Der Mann und die Frau beginnen sich über das Vogelkind und dessen Erziehung zu streiten und weil Kinder so etwas überhaupt nicht mögen, rennen sie davon. Es sei denn, sie können fliegen, dann fliegen sie davon. Siehst du, schrie der Mann entnervt: „Das hab' ich dir doch gleich gesagt, prost Mahlzeit, the same procedere.“ Mary Filou lacht sich kringelig und meint hinter vorgehaltener Hand: „Mensch Zorrobär, so einen schrägen Vogel können wir gut im Ensemble gebrauchen.“ Ich verleiere die Augen und denke, um Gottes Willen, bitte nicht. Die aktuelle Mission für das Paar heißt Vogelfangen und Hundegassi gehen. Sie ziehen sich an, nehmen Lola an die unsichtbare Leine und schlendern „Spinner …“ rufend dem Vogel hinterher. Der kennt inzwischen die Lieblingswege seiner Beschützerin und fliegt Richtung Wasserturm. Kurze Flügel bedeuten kurze Wege, aber zehn Meter sind ausreichend, um von Baum zu Baum zu hüpfen. Gegen späten Abend, kurz bevor die Dunkelheit einzubrechen droht, beschließt Spinner, dass es genug des Spiels sei und setzt sich auf einen Balkon im dritten Stock. Er weiß genau, dass er die Nacht nicht überlebt, denn auch Vögel, insbesondere Krähen und Tauben sind gegen Emigranten, erst recht, wenn sie anders aussehen und eine fremde Sprache sprechen. Die Frau steigt eilig die Treppen hoch. Der Mann wacht vor dem Haus, passt auf, ob der Vogel weiterfliegt. Die Frau wird von den, zum Glück freundlichen Bewohnern auf den Balkon gelassen, der Vogel hüpft auf ihre Schulter, sie schnäbeln und alles ist wieder gut. Das ist wahre Liebe. Jonas hätte ihm am liebsten auf der Stelle den Schwanz versohlt, beschränkt seine Wut aber auf ein Nachschneiden der Flügel. Am nächsten Morgen verschläft unser Hilfsarbeiter und kann erst zum Mittagessen an die Arbeit. Er entschuldigt sich beim Chef und lügt, dass der Papagei am Morgen weggeflogen sei und er ihn erst habe einfangen müssen.

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„Das ist kein Grund, nicht zur Arbeit zu erscheinen …“, argumentiert der erboste Chef. Jonas plustert sich entrüstet auf und meint: „Na hörn Sie mal Meester, stellen se sich vor, ihr Kind ist verschwunden, würden Sie da zu Arbeit fahren oder Ihr Kind suchen?“ Totschlagargument. Der Vorarbeiter brubbelt: „Du hättest ja wenigstens anrufen können, wir waren schon kurz davor, den Lügendetektor zu informieren, der hätte sich höllisch gefreut, dir deine Leistungen zu kürzen.“ Jonas schlawienert erneut: „Das wollte ich ja, aber ich hatte die Nummer nicht dabei …“ Insgeheim denkt er, ach gar nicht so schlecht, dass ich nicht allzu zuverlässig rüberkomme. Der Meister beendet das Thema mit der Ansage, dass unser Delinquent die versäumte Arbeitszeit nachsitzen muss. Jonas nimmt die Ansage zähneknirschend hin und trottet für den Rest des Tages mit seiner Schubkarre übers Gelände. Er ist ständig auf der Suche nach neuer Arbeit. Er sieht die ungepflegten Rosensträucher und beschließt, diese am nächsten Tag zu hegen. Am Hinterausgang der Küche hängt ein selbstgemaltes Schild „Küchenhilfe gesucht“. Jonas registriert es im Unterbewusstsein und spielt die letzten zwei Stunden Skat. Donnerstag. Blauer Himmel, Sonnenschein. Herr Spinner hat Stubenarrest und unser Sozialfall überlegt, wie er sich heute kostümiert. Um auch als Gärtner erkannt zu werden, beschließt er die passende Garderobe anzuziehen: Strohhut, blaue Schürze, Heckenschere, Korb. Heute darf Lola mit. Die Schäferhündin hat einen ausgesprochen freundlichen Charakter. Manchmal hört sie sogar auf Sitz und Platz, allerdings nicht, wenn es irgendwo nach Fressen riecht. Unser Gärtner geht pünktlich aus dem Haus und ist nach vier Minuten an der Arbeit. Lola legt sich im Schatten einer Akazie ab und döst. Jonas beginnt, um die Rosensträucher herum Unkraut zu ziehen und alles fein säuberlich glatt zu harken. Er hat inzwischen gelernt, im ersten Gang zu arbeiten. Nach der Frühstückspause, bei der er sogar ein halbes Eierbrötchen ergattert, beschneidet er gefühlvoll die Rosen. Knospen dürfen wachsen, vertrocknetes wird abgesäbelt, Blütenblätter landen im Korb für die Liebste. Er organisiert sich vom Hausmeister einen Schlauch und gießt seinen Garten. Ein idyllisches Bild, die vorbeilaufenden Sekretärinnen lächeln und freuen sich über einzelne Blumen-Geschenke. „Hallo, na das sieht ja toll aus, endlich kümmert sich mal jemand um die

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Blumen.“ Oder: „Oh, danke schön, ach ist der Hund aber lieb und ist der Papagei auch wieder da?“ Und: „Gibt's heute wieder ein Geigenkonzert?“ Innerhalb von vier Tagen ist er zum Liebling der Einrichtung mutiert. Mir geht langsam mein Bärenarsch auf Grundeis, es wird Zeit, dass die Bombe platzt. Ich habe echt einen kleinen Moment Angst, dass aus dem Job eine Lebensstellung wird, ich und meine Puppen-Kollegen auf Nimmerwiedersehen in einem seiner Koffer vermodern. Ich berufe eine Sondersitzung der Kollegen ein, bringe sie auf den neuesten Stand und wir beschließen zu handeln. Mary Filou erklärt sich bereit, unseren Meisterschüler in seinen nächtlichen Träumen zu besuchen. Als Jonas nach Hause kommt, verteilt er liebestoll die geernteten Rosenblätter flächendeckend im Schlafzimmer. Herr Spinner, immer noch stinksauer, sitzt auf dem Kleiderschrank. Er beobachtet argwöhnisch und eifersüchtig aus dem Augenwinkel das Prozedere. Die Frau kommt groggy von der Kneipenarbeit nach Hause. Sie hat absolut keine Nerven für das romantische Bild: „Wer soll das wegmachen, du, Träumer?“ Enttäuscht sammelt er die Blütenblätter wieder ein. Mary Filou hatte ganze Arbeit geleistet, das Thema Eifersucht steht mehr und mehr im Mittelpunkt des Alltags des frischvermählten Paares. Die Schwalbe feiert nächtelang und lässt sich von schönen Burschen hofieren. Freitag. Jonas geht den fünften Tag zur Arbeit. Als erstes will er mit dem Vorarbeiter die geleisteten Stunden abrechnen und möglichst schnell wieder nach Hause, um weiter an seinen Puppen zu bauen. Es entsteht ein Streit um die geleisteten Überstunden, die sich trotz zu spät kommen auf vier Stunden belaufen. Der Holzkopf und der Lügendetektor ziehen im Hintergrund die Strippen. Heinzi ist eingebläut worden, keine Vergünstigungen gegenüber dem Möchte-gern-Künstler zuzulassen. Keine Chance auf gleitende Arbeitszeit. Jonas erregt sich: „Und wat wird mit meinen vier Überstunden von Montag und Dienstag?“ „Hä, wat für Überstunden?“ Jetzt reicht es dem Narren, die Falle schnappt zu: „Chef, bist du dir janz sicher, mit dem wat du da sagst?“ Heinzi antwortet genervt: „Jau, zieh Leine!“ Jonas kriegt große Augen: „Wie, ich krieg die nich vergütet?“ „Nee, an die Arbeit!“ „Jut, denn kümmer ick mich selbst darum! Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt!“

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Stundenzettel Arbeitsamt Fröbelstraße

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Wutschnaubend zieht er los, eilt zum Bäcker und zum Fleischer an der Ecke. Er kauft zwanzig Brötchen, flitzt die Treppen hoch in seine Wohnung und schmiert Schrippen. Er belegt sie liebevoll mit Wurst und Käse, dekoriert den Gaumenschmaus mit Eisbergsalat und Petersilie. Dann verstaut er alles in seinem Korb, greift ein paar Servietten und rennt zur Kantine. Dort angelangt, eröffnet er direkt auf dem Flur, der zur Kantine führt, einen Brötchenstand. Die vorbeikommenden Sekretärinnen freuen und wundern sich zugleich, was der schräge Vogel heute wohl wieder vorhat. Seine Waren sehen lecker aus und kosten nur drei Viertel der Kantinen Brötchen. Im Nu bildet sich eine Schlange und die WestMark rollt wie einst der Rubel. Es dauert keine fünf Minuten und ein Mann mit Anzug, Schlips und Kragen kommt schnaufend herbei. Er stellt den illegalen Verkäufer zur Rede und fragt: „ …Was bitteschön soll das hier?“ Jonas antwortet: „Naja, sehen Sie Herr Kratzefuß, ich bin der Gärtner hier, und da ich meine Überstunden nicht bezahlt kriege, kümmere ich mich selber um den Verdienstausfall und verkaufe Brötchen. Die in der Kantine sind eh schon alle.“ Der Mann will seinen Ohren nicht trauen: „Wie bitte, WAS machen Sie hier?!!!“ Unser Eulenspiegel erzählt die ganze Geschichte noch einmal von vorn, diesmal jedoch im ersten Gang, das heißt noch ausführlicher und gespickt mit belanglosen Details. Es reicht, Herr Kratzefuß tickt aus und schreit über den ganzen Flur: „Wenn Sie nicht innerhalb von drei Minuten hier verschwunden sind, rufe ich die Polizei.“ Steilvorlage. Jonas kontert: „Ja super, das find ich gut, dann kann ich gleich eine Anzeige gegen das Amt aufgeben, wegen Betrug und Ausnutzung von Schutzbefohlenen.“ Das Maß ist voll, der Typ dreht sich auf dem Hacken um, eilt in sein Büro und ruft die Polizei. Es dauert keine fünf Minuten und drei Uniformierte treffen ein, eine Frau und zwei Männer. Der eine: „Guten Tag, Wachtmeister Fangdendieb, Ihren Ausweis bitte, was ist hier los?“ Der Schalk beginnt erneut im ersten Gang loszulegen, um die ganze Geschichte zu erzählen, da kommt Herr Bückling im Auftrag von Herrn Kratzefuß dazu und nimmt das Zepter in die Hand: „Ah Wachtmeister Fangdendieb, da sind Sie ja endlich, dieser Mann weigert sich unseren Anweisungen Folge zu leisten, bitte entfernen Sie ihn umgehend!“ Die drei Beamten verstehen die Welt nicht mehr, der Narr spricht:

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„Aber Wachtmeister Fangdendieb, ICH hab' Sie doch rufen lassen, ICH will eine Anzeige stellen, weil …“ und wieder beginnt er die Geschichte von vorn zu erzählen, diesmal im zweiten Gang. Herr Bückling nimmt die zwei Herren in Grün beiseite und berät sich mit ihnen. Die arme Polizistin muss umringt von hungrigen Sekretärinnen das Beweismittel, also den halbleeren Korb bewachen. Jonas fragt freundlich, ob sie und ihre Kollegen schon gefrühstückt hätten, sie das Futter mit aufs Revier nehmen möchten, da er nicht wisse, was er mit der verbotenen Ware anfangen soll, es schade um die Brötchen sei, ganz zu schweigen von der Arbeit. Die Beamtin schüttelt lächelnd den Kopf, winkt dankend ab und meint, sie dürfe, auch wenn sie wolle, nichts annehmen. Unser Gärtner besteht weiterhin darauf, auch eine Anzeige zu erstatten. Im Schachspiel nennt man so eine Situation ein Patt, in der Politik eine verfahrene Kiste. Herr Bückling druckst zusehends rum und bietet schließlich dem Gegner an, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wenn dieser auch Abstand von einer Strafverfolgung nähme. Jonas überlegt im ersten Gang, spielt ein gewisses Zögern und nimmt das Angebot an. Er fühlt sich wie der Sieger des Kampfes, die unbezahlten Stunden werden finanziert, die Anzeige abgewiegelt. Das dicke Ende ist in Sicht. Unser Hilfsarbeiter geht erhobenen Hauptes aus dem Gebäude und verteilt die restlichen Brötchen unter den Skatspielern. Die stürzen sich gierig auf das gefundene Fressen und lassen sich die ganze Geschichte haargenau erzählen. Plötzlich erscheint Heinzi in der Tür des Aufenthaltsraums und sagt: „Du sollst sofort ins Büro von Herrn Obersauer, kannst dich frisch machen, zackzack mein Freund“ Jonas wird zwar etwas unwohl in der Magengegend, aber was soll der Herr Obersauer schon wollen, alles war im Lot und doppelt gesichert. Er klopfte an die Bürotür, wird hereingebeten und darf sich setzen. „Sie wissen, was Sie angerichtet haben?“ „Nein, was gibt's?“ „Tun Sie doch nicht so, die Polizei war da, was haben Sie sich dabei gedacht?“ „Na aber …“, und wieder will Jonas die ganze Geschichte der Woche erzählen, diesmal extra für den Lügendetektor im Rückwärtsgang: „und deshalb …“ Obersau schreit: „Stopp, ich kann das nicht mehr hören, Sie sind fristlos gekündigt!“ Jonas hüpft innerlich das Herz vor Freude und er antwortet: „Aber wieso denn, ich habe mich gerade eingelebt und finde den Job wunderbar hier bei euch, die Leute mögen mich!“

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Der Lügendetektor bebt beim Lügen: „Wir haben leider nicht genug Arbeit für Sie und jetzt gehen Sie endlich …“ „Und was passiert mit meinen Bezügen?“ „Die werden weiterbezahlt!“ „Dankeschön, Herr Obersauer! Ach, eine Frage noch, am Hinterausgang der Küche habe ich ein Schild gesehen, Küchenhilfe gesucht …“ Der Detektor drohte überzuschnappen: „Die Stelle ist bereits vergeben und jetzt scheren Sie sich endlich zum Teufel, raus!“ Nichts lieber als das, Jonas verlässt über beide Backen grinsend das Objekt und begibt sich direkt zu seiner Truppe „Aufwachen ihr Schlawiner, es wird geprobt und du, Baron Holzkopf, nimm dich in Acht!“ Apropos Holzkopf, festhalten! Eilmeldung: 2. Juni 2023. Spontane Zwischenlandung, Tornado mit Vollbremsung!!! Der Baron spielt wieder sein doppeltes Spiel! Bei Ram/mstein brennt mal wieder die Luft. Manöver Attacke! Klimawechsel. Kommt mit, wir fliegen wieder zurück zum Balast der Republik. Vorsicht Troll!

Zeitungsausschnitt, ca. 1992

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Die Rätselzeitschrift der DDR

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Ich sehe was, was du nicht mehr siehst, und das ist an sich gescheitert.

26. Kasbär und der Balast der Republik Obwohl bis zum heutigen Tag immer mehr Menschen aus der Kirche austreten, wird am 6. Juni 1993 mit einem feierlichen Gottesdienst und unter Teilnahme zahlreicher prominenter Gäste des nunmehr vereinigten Deutschlands der Berliner Dom wieder eingeweiht. Unter den Anwesenden befinden sich Vertreter des Hochadels, der Kardinal, etliche Bischöfe, ein Dutzend Politiker aus aller Welt und natürlich, last but not least, der Kanzler persönlich. Helmut Kohl wird im Volksmund auch „Birne“ genannt, da sein Kopf, je älter er wird, der gleichnamigen Frucht ähnelt. Oben schmal und unten tropfenförmig. Die Hausbesetzerszene kann den dicken Kanzler der Einheit nicht leiden. Er ist für sie der Inbegriff des Bösen, eine Marionette der Haifische vom Potsdamer Platz. Er verspricht den DDR-Bürgern blühende Landschaften und hält sein Versprechen rücksichtslos ein. Geld sei Dank und Ellenbogen raus, vorwärts marsch, heißt die Devise. Helmut hat am Tag der Dom-Einweihung ausgesprochen gute Laune, denn er ist ein guter Katholik und hat nach halbherziger Morgenbeichte ausgiebig gefrühstückt. Seine Leibgarde hält das Umfeld im Auge, auf den Dächern des Gottespalastes stehen Scharfschützen. Jonas ist gegen neun aufgewacht und hat auch gerade gut gefrühstückt: Haferbrei mit Wasser, ein Spritzer Milch und ein paar Rosinen im Topf. Die fetten Jahre sind vorbei. Er überlegt, was er heute Schelmisches anstellen kann, denn ihn quält seit Wochen Langeweile. Nichts passiert mehr, die aufregenden Jahre der Anarchie im Ostteil der Stadt sind vorbei. Ein Großteil der besetzten Häuser hat Zehn-Jahres-Verträge unterschrieben oder sind wie die dreizehn wilden Häuser in der Mainzer Straße brutal geräumt worden. Das Leben läuft rund nach den Gesetzen der freien Mark und nach denen des freien Falls. Jonas wird von einem Sonnenstrahl an der Nase gekitzelt und versucht, durch die Scheiben zu schauen. Die sind lange nicht geputzt worden und verdammt blind.

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Den Putzfaulen unter der werten Leserschaft sei an dieser Stelle ein guter Grund geliefert, es so zu halten wie mein Schützling. Wer seine Scheiben nur einmal im Jahr oder noch besser gar nicht putzt, rettet Tierleben. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass frisch gewienerte Scheiben eine Todesfalle für Amsel, Drossel, Fink und Star sind. Spatzen und Tauben machen eine Ausnahme, sie hüpfen meist kugelrund am Boden und picken seit dem Mauerfall noch mehr Wohlstand-Reste auf als früher. Heute ist der Tag, es reicht meinem Hallodri. Jonas räumt das Fensterbrett frei, mixt sich einen Eimer Wasser mit Seifenlauge und legt los. Erst den Fliegendreck weg, notfalls mit dem Kratzer, dann mit dem feuchten Lappen hinterher und die ganze Angelegenheit mit Zeitungspapier trocken wischen. Hätte er diesen Trick nicht bei der Armee erlernt, seine Fenster wären heute noch voller Schlieren. Nach getaner Arbeit kocht er sich einen schwarzen Tee mit Milch, setzt sich an seinen Küchentisch und sieht wieder durch. Erfolg macht glücklich und er fragt sich, was die Fensterputzer von Palästen doch für glückliche Menschen sein müssen. Man sieht sofort ein Ergebnis seiner Arbeit, hat immer saubere Hände und weiß, dass man nie arbeitslos werden kann. Zumindest solange man fit ist, denn neuer Dreck kommt immer wieder, darauf kann man sich verlassen, mehr als auf die Liebe, denn die kommt und geht, wie sie will. Der letzte Song, den „Feeling B“ in alter Besetzung singt, ist ein Kracher. Die Jungs singen auf die Melodie eines alten Schlagers von Jiri Korn den geänderten Refrain:

„Ich such' die DDR und keiner weiß, wo sie ist Es ist so schade, dass sie mich so schnell vergisst Ich such die DDR und kommt sie zurück zu mir - verzeih ich ihr!“

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Verzeihen und Vergeben, dieses Thema beschäftigt meinen Schutzbefohlenen bis heute, insbesondere was die Feldzüge des Rabenvaters betrifft. Der Schnauzbarde ist immer noch voller Rachedurst, dabei hätte er so froh sein können, dass es kein blutiges Massaker gegeben hat. Armer ungekämmter Esel. Passend zum Thema Väter erreicht uns, pünktlich zum 59. Jahrestag des Mauerbaus, eine E-Mail von der „Firma“-Sängerin. Berlin Bornholm, 13. August 2020 Guten Tag Herr Thaler, Danke für die Übersendung Ihres Manuskriptes, ich habe es mit Spannung gelesen. Was mir noch einfällt zum Thema Väter beschrieb ich in einem Songtext für das Bandprojekt „Kleinste Zelle“ so: Väter sind Täter, eine Generation von Spaßvögeln, den Hunden an die Leine geführt. (Nicht alle) Vielleicht sind die Beziehungen unserer Väter bzw. Nichtväter oder Unbeziehungen einer der Gründe, warum wir für uns Nähe und Verständnis empfinden können. Andrés Vater wollte seinen Jungen auch nicht haben und stellte ihn bei seiner Oma ab. Wäre diese großartige Frau nicht gewesen, wäre André in einem Heim gelandet. Auf jeden Fall schmerzliche Erfahrungen, die tiefe Spuren hinterlassen, egal ob die Väter berühmte Künstler oder hochrangige Offiziere sind. Ich hoffe, dass Ihr Buch Trost für die Kinder solcher Väter spendet. Doch ich erinnere mich auch an sehr schöne Dinge, wie Jonas zum Beispiel im Freestyle Bilder zu unserer Musik improvisiert. Er lässt auf einem Stück Stoff, das hinter dem Schlagzeug gespannt ist, eine dunkelrote Rose zu dem Song „Fundevogel“ mit einer Pfauenfeder tanzen.

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Das Lied wohnt bis heute mit Schmerzen in meinem Herzen, es wurde von seiner Mutter Brigitte Soubeyrand geschrieben, einer Ost-Berliner Theaterfrau, die in der Lage war, das Innerste eines Schauspielers nach außen zu locken, und das durch eine sehr liebevolle, aber dennoch strenge und fordernde Probenarbeit. Oder: André gibt an einem See seinem Schüler den ersten Geigenunterricht. Er zeigt Jonas, wie man den Bogen nicht überspannt und ihn im richtigen Winkel über die Saiten zieht. Der Himmel hatte Freygang, am Grunde des Sees tauchten Muscheln mit Krebsen um die Wette. Er zeigt ihm, wann man wo welchen Druck erzeugen muss, um die Welt ins Wanken zu bringen. Andrés warme Hand mit dem Zauberring lässt eine erstarrte Ringelnatter lebendig werden. Ich erinnere mich weiter, wie André, Jonas und ich ein Bild des Comic-Zeichners Martin Krönert auf ein riesiges, schwarzes Stück Stoff malen. Das Bild soll ein Bühnenplakat für unser gemeinsames Projekt „André und die Raketen“ werden. Jonas lädt uns bei minus fünf Grad auf das Landhaus seiner Eltern ein, um den Plan dort umzusetzen. Wir liegen auf dem Dachboden von Vogelsang, einem Vierseitenhof in der Uckermark. Draußen liegt Schnee und wir trinken steifen Grog. Unsere Pinsel sind mit Klebeband an fünf Meter langen Stöcken befestigt und wir malen das Bild vom Zwischenboden aus auf den Stoff. Krönert freut sich, als er bei einem Konzert sein Bild in Groß sieht. Leider wurde das Kunstwerk später im Eimer gestohlen. Soweit einige Erinnerungen zu Ihren Ausführungen, ich verbleibe mit Lieben Grüßen, Herzlich Ihre Tatjana Elsa Flamminger

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Elsa Flamminger

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Zurück zum Tag der Domeinweihung am 6. Juni 1993. Jonas droht die Decke auf den Kopf zu stürzen, er braucht Arbeit, oder wenigstens eine Beschäftigung. Die Schwalbe ist angeblich mit einer Freundin verreist. Er hört im Radio, dass heute die feierliche Wiedereinweihung des Domes stattfinden soll, und beschließt, die neue Macht wie ein Sonnenstrahl an der Nase zu kitzeln. Mein Puppenspieler schnappt mich am Kragen und verkleidet mich zur Feier des Tages. Er zwingt mich in eine Rolle zu schlüpfen, von der ich bis heute nicht weiß, ob ich ihr gewachsen bin. Ich bekomme einen schwarzen Hut übergestülpt, eine schwarze Maske vor die Augen gespannt und bin ab sofort Zorro der Bär. Mary Filou sieht mich plötzlich mit ganz anderen Augen an, so ist das, Kleider machen Leute. Er wirft mich in seinen Rucksack, nimmt einen Eimer, packt Lappen und Fit dazu, hängt alles an seinen Schrubber und wirft sich das Ganze wie ein Wanderbursche über die Schulter. Türe zu, Dietrich an seinen Platz und ab nach Mitte, auf ins Zentrum der Macht. Er dreht mit dem Fahrrad einen Schlenker zum Eimer in der Rosenthaler 68, um dort Gleichgesinnte für seinen Streich zu finden. Dreht man die 68 auf den Kopf, wird es eine 89, wenn das mal nichts zu bedeuten hat. Die schwere Holztüre ist verschlossen und da er schon lange kein Schlüsselträger mehr ist, pfeift er laut und klingelt Sturm. Nach zehn Minuten hängt Speiche, der Oberpunker, seine verquollene Fratze raus. Jonas ruft: „Hey, kommt einer mit, ich will zur Feier des Tages die Fenster vom Palast putzen, wenn wir ein paar mehr sind, wird's richtig lustig, Kohl kommt heute, den Dom einweihen, der soll sich wundern, was auf der anderen Seite abgeht.“ Speiche antwortet: „Nö, lass mal, wir pennen noch und müssen nachher noch einkaufen, heut' Abend ist wieder geile Party.“ Er wimmelt meinen Spaßmacher ab und schließt das Fenster. Die beiden mögen sich überhaupt nicht und sind rivalisierende Kräfte. Die Partys im Eimer sind für Jonas langweilig und schon lange keine außergewöhnlichen Ereignisse mehr, Touristen aus aller Welt werden mit Schwarzlicht, billigem Fusel und Technomusik abgefüllt. Der Eimer ist endgültig im Eimer. Jonas zieht unbeeindruckt allein weiter und begreift einmal mehr – selbst ist der Mann. Als er in die Nähe des Doms kommt,

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ist der Autoverkehr bereits eingeschränkt und Fußgänger werden gebeten, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Gegenüber vom Dom steht immer noch der Glaspalast der Republik. Er ist komplett leergeräumt, das hässliche Inventar bereits versteigert. Für den Palast der Republik gab es im Volksmund verschiedene Bezeichnungen wie „Ballast der Republik“, „Palazzo Prozzo“ oder „Erichs Lampenladen“, was als Hinweis auf die verschwenderisch installierten Lampen sowie den ehemaligen Oberbonzen Erich Honecker zu verstehen ist. Das riesige DDR-Emblem ist schon lange entfernt und nur der Hausmeister hat noch einen Schlüssel. Meister Krause hat nicht mehr viel zu tun und liebäugelt damit, seinen Job an den letzten Nagel zu hängen. Er will beim Sicherheitsdienst im Kanzleramt anheuern und weiß von Kollegen, die schon da sind, dass man dort eine ruhige Kugel übers Parkett schieben kann. Seine Weste ist weiß, frisch gewaschen mit Persil. Jonas schließt sein Fahrrad an eine Laterne, nimmt in die eine Hand seinen Eimer, in die andere den Schrubber. Auf dem Parkplatz vor dem Palast steht kein Auto, es scheint niemand zu Hause zu sein, weder das Volk, für das er gebaut wurde, noch der König. Der Leser wird sich fragen, wo ist Peter der Erste abgeblieben? Jonas hat ihn schon lange nicht mehr im Visier, da Schappy sich inzwischen im Literaturbetrieb herumtreibt und Hörspielpreise und Stipendien einsammelt. Mein Scharlatan rüttelt an jeder Tür, doch alle sind verschlossen, nichts bewegt sich im Innern. Da nicht nur Köche mit Wasser kochen, sondern auch Fensterputzer das kühle Nass für ihre Arbeit brauchen, geht Jonas die Treppen runter zur Spree und füllt seinen verbeulten Blecheimer mit Wasser. Die Sonne scheint und viele ausländische Besucher schippern in Ausflugsdampfern am Palast vorbei. Die Kapitäne nennen einige Eckdaten zur Geschichte, die neugierigen Besucher zücken ihre Fotoapparate, winken und drücken ab. Jonas winkt zurück. Er schleppt den vollen Eimer zur Fassade und stellt ihn direkt gegenüber vom Berliner Dom ab. Auf der anderen Seite halten die Staatskarossen und ein Prominenter nach dem anderen steigt aus und betritt den roten Teppich. Jonas taucht seinen Lappen ein, wringt ihn aus und beginnt, die getönten Scheiben des Erdgeschosses zu putzen. Er wickelt den Lappen um den Schrubber und kommt auf die beachtliche Putz-Höhe von drei Meter zwanzig. Nach fünfzehn Minuten blitzt ihn eine

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Fläche von zwei Quadratmetern an. Er ist stolz und verschnauft kurz, um auszurechnen, wie lange er bei gleichbleibendem Arbeitstempo braucht, um einmal rundherum zu kommen. Der Palast hat mehrere Etagen und er bräuchte auf jeden Fall ein Gerüst. Ein Jahr könnte gerade so reichen, wenn der Winter nicht so hart wird. Danach könnte er wieder von vorne anfangen, was für eine Vorstellung, eine lebenserfüllende Sisyphusarbeit. Er wringt den Lappen erneut aus und putzt weiter. Das Volk fährt alle fünf Minuten im Linienbus vorbei und traut seinen Augen nicht. Vorbei schlendernde Touristen wundern sich, da doch jeder weiß, das Ding ist gegessen, der Abriss beschlossene Sache. „Warum wienert da jetzt noch einer die Scheiben, hat der Typ etwa selber eine Scheibe?“ Ja, hat er und zwar richtig. Es bereitet Jonas sichtlichen Spaß, in die verdutzten Gesichter der Menschen zu sehen. Immer, wenn wieder ein vollbesetzter Linienbus im Schritttempo des verstopften Großstadtverkehrs vorbeirauscht, macht mein Schauspieler große, fragende Gesten nach der Schlüsselgewalt, indem er mit den Schultern zuckt und am unsichtbaren Schlüssel dreht. Für das vorbeifahrende Publikum hat die ganze Aktion etwas von Auto-Kino oder besser gesagt Bus-Theater. Jonas verwickelt jeden Spaziergänger, der an seinem neuen Arbeitsplatz vorbeiläuft, in ein Gespräch, erzählt, dass er der königliche Fensterputzer sei und seine Majestät bald wieder Einzug halten werde. Jeder sähe ja, dass der Dom schon eingeweiht ist und der Hochadel schon vor Ort. Die meisten Leute glauben ihm, weil sie sich nicht vorstellen können, dass einer nur aus Gaukelei seine wertvolle Lebenszeit mit Putzen vergeudet. Mein Schalk stellt jedem zweiten vorbeischauenden Bürger die auffordernde Frage, ob er nicht mithelfen könne und flunkert, dass der König neue Bedienstete einstellen wird und die Bezahlung über dem Durchschnitt liegen wird. Ein Rentner mit roten Socken erregt sich sichtlich bei dem Gedanken, dass in Deutschland wieder die Monarchie Alltag werden soll. Jonas malt gern mit Fehlfarben, er nimmt den feuchten Lappen und wischt ein großes Z wie Zorro in den Dreck. Mit zwanzig gleichgesinnten Freaks, jeder mit einer Arbeitskombi bekleidet und bewaffnet mit einem Eimer, die Performance hätte enorm mehr Sinn gemacht und absolute Verwirrung gestiftet.

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So bleibt es dabei, dass nach einer Stunde die Personenschützer des Kanzlers rüberkommen und meinen Kasper zur Rechenschaft ziehen. Zwei Schränke in Zivil halten ihm ihre Dienstmarken vor die Nase und verlangen, dass der Fensterputzer sich ausweisen soll. Der hat keinen Pass dabei und sagt: „Ach verdammt, den hab' ich in der anderen Jacke wie Hose vergessen, aber keine Sorge meine Herren, ich habe hier seit vorgestern eine ABM-Stelle, vorerst für ein Jahr, ich soll die Scheiben putzen, auf alles ein Auge werfen und die Rückkehr des Königs vorbereiten. Der Kanzler braucht keine Angst zu haben, alles ist in geregelter Ordnung, oben ist wieder oben und unten bleibt unten, König Peter der Erste ist informiert.“ Die beiden Hornochsen schauen sich fragend an und brummen. Hornochse eins geht beiseite und versucht über sein Walkie Talkie mit Helmuts Kammerjäger den Sachverhalt zu durchleuchten: „Falke an Adler, Adler bitte kommen!“ Von der anderen Straßenseite funkt es zurück: „Hier Adler, was ist los da drüben, ihr Taubnesseln?“ Die Personenschützer können sich über die Straße hinwegsehen, könnten sich in Gebärdensprache unterhalten: „Falke an Adler, Falke an Adler, Zielperson kann sich nicht ausweisen, hat angeblich ABM-Stelle als Fensterputzer, der König weiß Bescheid.“ Es knackt in der Leitung: „Adler an Falke, Adler an Falke, holen Befugnisse vom Horst ein, Zielperson bis auf weiteres von der Arbeit abhalten!“ Der Kammerjäger setzt sich in Bewegung und läuft zum Horst, sprich er geht schnurstracks zum Kanzler und flüstert in dessen Ohr: „Zielperson ist ein Angestellter vom König und soll die Fenster putzen …“ Kohl stutzt, es rattert in seiner Birne und er grunzt: „Was? Wie? Der König? Was will der denn schon hier, die Hohenzollern wissen doch, dass wir gerade mit den Russen über die Entschädigungszahlungen verhandeln, verdammt, die sollen den Ball flach halten, bis die Russen abgezogen sind! Gut Ding will Weile haben.“ Der Obersekretär runzelt mit der Stirn: „Was tun, mein Kanzler?“ Helmut kann nicht mehr geradeaus denken und fängt an zu rudern: „Fasst den Mann mit Samthandschuhen an, schickt ihn nach Hause, ich klär' das nachher persönlich mit Georg Friedrich“ (gemeint ist Prinz Georg Friedrich von Preußen, Nachfahre des Kartoffelkönigs, – Anm. d. Verf.) Kohl spricht weiter: „Sagt dem Mann, dass er heute aus Sicherheitsgründen nicht arbeiten kann, er bis auf weiteres auf Kosten der Regierung beurlaubt ist.“ Und er denkt für sich: „Oh lieber Gott im Himmel, hoffentlich

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reicht unser Schwarzgeld, bis der Kurier mit dem Koffer aus der Schweiz kommt.“ Die Glocken im Dom fangen mit einem ohrenbetäubenden Lärm an zu läuten. Ding - Dong - Ding - Dong - Ding - Dong. Der Leibwächter hält sich ein Ohr zu und hört die Meldung: „Adler an Falke, Adler an Falke, Falke bitte kommen …“ Hornochse eins antwortet: „Hier Falke, hier Falke, ich höre …“ Der Obersekretär: „Zielperson mit Samthandschuhen anfassen, soll aus Sicherheitsgründen bis auf weiteres nach Hause gehen, Befehl vom Horst …“ Hornochse eins: „Falke an Adler, habe verstanden, aus Sicherheitsgründen nach Hause schicken …“ Und weiter: „Hier Adler, Adler an Falke, Adler an Falke können Sie mich hören?“ Von der anderen Straßenseite: „Falke hört!“ „Personalien laut Angaben der Zielperson aufnehmen, Zielperson mitteilen, Arbeitsausfall wird umgehend vom Kanzleramt in bar beglichen!“ Jonas sieht nur die Gesten und Gesichtsmimik des Leibgardisten und ihm wird langsam mulmig, er raucht bereits die dritte Zigarette und überlegt, ob seine morgendliche Idee so schlau war, er nicht besser den Keller hätte aufräumen sollen. Ochse eins kommt mit einem ausgesprochen freundlichen Gesicht auf ihn zu und sagt: „Nun Bürger, ich muss Ihnen leider eine gute Nachricht mitteilen, Sie haben für den Rest des Tages frei, Sie können beruhigt nach Hause gehen.“ Meinem Eulenspiegel hüpfte vor Erleichterung das Herz in der Hose und er kontert: „Na, ihr seid ja lustig, ich würde nichts lieber, als nach Hause gehen, aber kaum wäre ich zu Hause, würde es richtig Ärger geben, mit seiner Majestät ist nicht zu spaßen, ich verlier' meinen Job, Jungs.“ Hornochse zwei: „Machen Sie sich keine Sorge Bürger, der Kanzler kümmert sich persönlich um diese Angelegenheit, morgen brauchen Sie auch nicht zu kommen und übermorgen schon gar nicht. Ihre Lohnkosten übernimmt der Bund, sagen Sie dem König, er soll sich umgehend im Kanzleramt melden, Doktor Kohl klärt das in bar.“ Jonas schüttelt verständnislos den Kopf und brubbelt vor sich her: „Das kann doch alles nicht wahr sein, rein in die Pantoffeln, raus aus den Pantoffeln, und ich krieg den Ärger.“ Er schnappte sich seinen Eimer, den Schrubber, befreit das Fahrrad und radelt scheinbar verärgert davon. Hornochse eins zu Hornochse zwei: „Hast du seine Personalien aufgenommen?“ „Oh verdammt, nein, ich dachte, du hast ihn ausgequetscht, wenn das Ärger mit Birne gibt, bist du dran schuld Heinzi, ist das klaro!“ Hornochse zwei zieht kleinlaut den Schwanz ein.

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Die beiden drehen sich noch einmal um und schauen auf den Palast: „Sieh mal, Heinzi, ein Z, sieht aus wie Zorro, haha.“ Wenn die wüssten, dass ich wirklich da war, ihnen wäre ihr Lachen im Halse stecken geblieben. Zum Glück komme ich mal wieder ungeschoren und ganz wichtig unerkannt davon. Die Beiden überqueren im Laufschritt die Karl-Liebknecht-Straße in Richtung Dom und melden sich verschwitzt zum Rapport beim Obersekretär. Die Straße, die die beiden überqueren, ist übrigens nach dem Mann benannt, der am 9. November 1918 direkt hier vor dem königlichen Schloss die „Freie sozialistische Republik Deutschland“ ausruft. Als absehbar wird, dass nach der deutschen Wiedervereinigung europäische und bundesdeutsche Arbeits- und Gesundheitsnormen auch in Berlin gelten werden, schließt der Palast bereits Ende 1990. Das verbaute Asbest wird innerhalb von fünf Jahren aufwendig entfernt, die Kosten passen auf keine Kuhhaut. Wie Faust aufs Auge läutet 2004 Blixa Bargelds Band „Einstürzende Neubauten“ mit Pauken und Trompeten den endgültigen Abriss des Palastes der Republik ein. Danach gibt es noch einige Zwischennutzungen des entkernten Skeletts, dabei können Besucher den teilweise gefluteten Palast in einem Rettungsschlauchboot erkunden. Im Januar 2005 installieren Künstler auf dem Dach des Palastes das Wort „ZWEIFEL“. Der Schriftzug diente als Logo für das Projekt „Palast des Zweifels“. Die Aktion soll die Diskussion um verlorengegangene Identitäten und die Suche nach neuen Utopien beflügeln. Ende vom Balastlied, der schwedische Stahl der Grundkonstruktion wird eingeschmolzen und für den Bau des höchsten Turms der Welt nach Dubai verkauft, der klägliche Rest wird ebenfalls billig von Volkswagen ergattert und für den Bau von Motorblöcken im Golf IV verwendet. Die Modelle fahren heute noch durch die Gegend, nur weiß keiner, dass er den Balast der Republik unter der Motorhaube hat. Weg ist er, sag ich mir, das hässliche Ding, und ich bin froh, dass keiner darauf gekommen ist, einen Berliner Bärenzwinger daraus zu bauen. Am selben Abend telefoniert der Kanzler aufgeregt mit Prinz Georg Friedrich von Preußen. Beide Repräsentanten wundern sich, wer da wohl die Fenster des Schlosses geputzt hat und Prinz Georg bereitet sich sorgenvoll auf den Kampf um den Thron vor. König Peter der I. ahnt auch von nichts und so verläuft die Sache bis auf weiteres im Sand.

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Sie sind gelandet. Auf geht's!

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Aber ich weiß es und ihr, liebe Leser, auch und ich bitte euch, die Angelegenheit unter Verschluss zu halten, ich bitte um äußerste Geheimhaltung, sonst kriegt Hornochse zwei noch heute eins auf den Deckel. Mein Z bleibt noch so lange an der Scheibe, bis sie abmontiert wird. Ihr mögt denken, dieses Buch ist ein großes Märchenbuch über Kaiser, Könige und Prinzessinnen, ist es auch, denn gut erzählte Märchen können wahr werden. 2016 eröffnet Prinz Georg Friedrich von Preußen persönlich die Ausstellung zum Wiederaufbau des Schlosses und Ende Mai 2020 wird das goldene Kreuz auf die Kuppel des neu errichteten Schlosses gesetzt. Seine Krönung zum Kaiser und die Ablösung der Demokratie steht kurz bevor. Da Dr. S.c.Happy seine Rolle als König vor dem Palast so wunderbar gespielt hat und das ohne eine einzige Probe, wird er im Jahr 2000 für das Stück „Der Affenkönig und das Mär“ engagiert. Die alleinerziehende Vätertour der Puppenbühne wird in Peter Wawerzineks Roman „Sperrzone reines Deutschland“ – Tagebuch einer Sommerreise ausführlich beschrieben. Er wird erneut als kleiner dicker König besetzt, diesmal hat er einen Anwalt im klassischen, schwarz/weiß Pierrot-Kostüm im Schlepptau. Der Anwalt, gespielt von seiner zehnjährigen Tochter, kann schwarze Kassen in weiße und weiße in schwarze verwandeln. Im Stück isst der König am liebsten Saumagen mit Pfälzer Kraut, so wie sein Vorbild Helmut Kohl, der im selben Sommer vor Gericht muss. Sein Ehrenwort, die Spender der schwarzen Kassen niemals zu nennen, schützt ihn und das, obwohl er einen Eid als Bundeskanzler geschworen hat, die Gesetze zu achten und Schaden vom deutschen Volke abzuwenden. Das Doktor Kohl mit drei blauen Augen davonkommt, ist ein Hohn der Geschichte. Lediglich Hans-Christian Ströbele, Abgeordneter der Grünen, und Gregor Gysi, Vorsitzender der PDS (ehemals SED, heute die Linke), drohen mit Zwangsgeldern und Beugehaft. Beide sind pfiffige Rechtsanwälte und können trotz alledem nicht verhindern, dass Kohl die Spendernamen mit ins Grab nimmt. Die westdeutsche Büchse der Pandora bleibt geschlossen.

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Ich sehe was, was du nicht siehst, und das findest du nur unterwegs.

27. Excalibur im portugiesischen Exil Nach Jonas' gelungener Flucht aus den Krakenarmen der Weißkittler, den Hilfspunkern des Eimers und dem Würgegriff des Herrn Obersauer beginnt für mich das Ende meiner Wartezeit. Wir gehen auf Weltreise, endlich startete im Mai 1992 das lang ersehnte Abenteuer, the adventure as hero of the story from the magic sword „Excalibur“. Ich muss meinen deutsch-amerikanischen Slang wieder erlernen, meine letzten Gehirnwindungen nach außen stülpen, um auf alle Einfälle meines nun endgültig aus seinem Kokon erwachten Meisters zu reagieren. Wer spielt wen, das ist und bleibt hier die Frage aller Fragen. Die Herzdame ist mal wieder an Bord und trauert Herrn Spinner nach, der eines Tages für immer in einem tiefen, finsteren Wald verschwindet. Selbst dran schuld, jeder wie er will. Sie verleben die schönste Zeit ihrer kurzen Ehe in einem Haus an der Algarve – ohne Strom, kein Fernseher und noch kein Handy-Alarm in Sicht. Durch das laute Vorlesen des Buches „Die Nebel von Avalon“ kommt unser Puppenkönig auf die Story vom Zauberschwert Excalibur. Magie, Liebe, Kampf und Abenteuer in einem Wort. Titel müssen sitzen, sagt Meister Janosch schwarz auf gelb und der weiß, wovon er redet. Die Story ist am Anfang ziemlich simpel gestrickt und wird in gebrochenem Englisch aufgeführt. Stell dir vor, lieber Leser, ein Marktplatz in einer portugiesischen Kleinstadt, vier einheimische Erwachsene, zwei Touristen und sechs Kinder bilden eine Traube um einen Puppenspieler. Vor ihm steht ein schwarzer Hut, auf dem Schoß ein kleiner, aufgeklappter Koffer. An der Kofferklappe ist ein Zollstock befestigt, der mit schwarzem Samt überzogen ist. An diese improvisierte Bühnen-Traverse befestigt er mithilfe zweier Holzklammern ein Stück Gardinenstange. An den Clipsen hängen zwei Stoffe von rotem Samt. Und auf geht's: The show must go on! Ladies & Gentlemen, we present: „Excalibur“ – Ein Drachendrama

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Das Klingelgeld reicht wieder einige Tage zum Überleben. Vor der einfachen Behausung unserer Puppenspielerfamilie wachsen acht Bäume mit reifen Orangen, ein Ziehbrunnen vorm Haus spendet Wasser, das Meer mit seinen Vorräten an essbaren Muscheln ist in zwanzig Minuten zu Fuß zu erreichen. Die Novembersonne scheint, das Leben ist wunderbar. Es dauerte nicht lange, da fällt meinem Bajazzo eines Tages auf, das nach langem Laufen die Füße schmerzen. Er ist wieder unterwegs, um Kleingeld einzusammeln und denkt, ein fahrbarer Untersatz zur schnelleren Fortbewegung wäre vielleicht doch nicht verkehrt. Mein Wandersmann hält seinen Daumen in den Wind und hofft auf sein Glück beim Trampen. Eine halbe Stunde später juckelt das erste Vehikel über die Straße. Ein Eselskarren kommt heran, mit einem kleinen, alten Bäuerchen auf dem Kutschbock. Er lädt uns freundlich ein, aufzusteigen. Jonas strahlt vor Freude, springt auf die Ladefläche, setzt sich ins Heu und lässt glücklich seine Beine baumeln. Zusammengepfercht im Puppenkoffer döse ich mit den Kollegen beim gleichförmigen Klipp-Klapp der Hufe. Ich ergötze mich beim Schunkeln an Mary Filou. Sie ist von mir eingekesselt, links ich als Kasper, rechts ich als Bär. Schizophren. Mein Puppenspieler beginnt von nun an, den Traum vom vagabundierenden Wandertheater mit Pferd und Wagen zu träumen. Er malt sich aus, mit dieser Variante der komfortablen und umweltschonenden Fortbewegung die ganze Welt zu bereisen. Es dauert ganze drei Jahre, bis der Traum Realität ist. Jonas kehrt mit uns und seinem Koffer nach Berlin zurück, verkündet dort den alten Freunden seinen neuen Lebensplan. Der Traum wird belächelt und als Spinnerei abgetan. Auch ich kann über so viel Naivität nur lachen und unser Drache lästert mit seinen inzwischen drei Köpfen. Nicht so Mary Filou, sie faucht mich an und sagt: „… Wart's nur ab Blödbär! Ihr werdet's schon sehen! Der macht, was er will.“ Da Pferde zu halten im Prenzlauer Berg zu jener Zeit unmöglich geworden ist, muss Jonas den Landgang vor die Tore der großen Stadt wagen. Die Beziehung zur Papageiendame geht endgültig den Bach runter und Jonas packt mit blutendem Herz seine sieben Sachen zusammen, die da sind: eine schwarze Geige, ein kleiner Puppenkoffer, Skizzenbuch, Hut, Stiefel, Schlafsack und eine Landkarte.

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Er schnappt sich sein Fahrrad, bepackt es mit uns und fährt auf's Geratewohl hinaus in die Natur. Wahre Freiheit gibt es nur unterwegs. Da es ohne einen Pfennig Geld ziemlich schwer ist, ein Stück Land zu kaufen, klappern wir die verschiedensten, alternativen Landkommunen im Speckgürtel Berlins ab. Unterwegs bespaßen wir die Marktplätze mit der deutschen Kurzfassung von „Excalibur“. Zeitgleich entstehen viele meiner Kollegen, der König und die Königin, die Hexe und der Herr Direktor. Unserem Drachen sprießen in mühevoller Kleinarbeit ein Kopf nach dem anderen aus dem Leib. Als es sieben an der Zahl sind, hört er auf zu wachsen. Nebenher vermehrt sich die Menge des Gepäcks so rapide, dass nach dem ersten Anhänger Ausschau gehalten werden muss. Durch den Mauerfall werden von der Bevölkerung viele praktische Dinge weggeworfen. Die Müllkippen sind große Fundgruben unter endlich freiem Himmel. Eine der Lieblingsbeschäftigungen meines Meisters besteht nach wie vor darin, Schätze zu finden. So stößt er in der Nähe von Hermsdorf auf einen selbstgebauten Fahrradanhänger mit hohem Holzaufbau. Leider fehlen die Räder, aber wie es der Zufall will, liegen gleich nebenan zwei solide Fahrradwracks. Beides zusammen ergibt eine wunderbare Theaterkarre. Sie wird entrostet, geschliffen und lackiert. Das Ziel des Pferdewagens vor Augen strampelt mein Scharlatan weiter, rennt wie ein Hamster im Laufrad. Ich bin froh, Puppe zu sein, mich scheinbar führen zu lassen und dabei selbst die Fäden in der Hand zu halten. Er merkt es nicht und wenn ich vorsichtig bleibe, wird er es nie bemerken. Am Silvesterabend 1993/94 landete unser Ensemble in Vogelsang, einem malerisch abgelegenem Vierseitenhof in der Uckermark. Hier haben wir vor ein paar Jahren mit André und Tatjana die Bühnenleinwand bemalt. Wir werden von den Bewohnern freundlich als Ehrengäste begrüßt. Wir dürfen uns im ehemaligen Taubenschlag breitmachen und lassen uns erschöpft von der Reise nieder. Den Winter über verkrümelt Jonas sich in unserem neuen Stübchen. Ein altes, weißes Gitterbett wird aufgetrieben und ein Bullerofen installiert. Der Rauch wird mittels freischwebendem Ofenrohr durch die Fensterscheibe hinausgeleitet, jeder Schornsteinfeger würde sich aus Angst über bevorstehende Brandkatastrophen die Haare unterm Zylinder raufen. Der Frühling kommt und es zieht uns hinaus in die Natur, zu den Vögeln, zu den Schmetterlingen und zu den Hummeln.

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Als im Nachbarort Eickstedt die Müllkippe renaturiert wird, ergattert unser angehender Zirkusdirektor den ersten Wohnwagen. Das graue Pförtnerhäuschen, gebaut auf eine Achse mit Fenster, Tür und Ofen bildet den Ursprung einer kleinen Wagenburg. Mit diesem neuen Quartier verlassen wir den Taubenschlag und schlagen fünfzig Meter weiter auf offener Wiese unser Lager auf. Bald darauf kommt ein alter Dreschkasten aus Holz hinzu. Im Sommer steht das Gitterbett unter freiem Himmel, hoch oben auf dem Dreschkasten. Damit unser Romantiker abends nicht von den Mücken zerstochen wird, schmückten wir ihm das Bett mit einem Baldachin aus feinstem Gardinenstoff und unser Boss fühlte sich wie der König der Puppenspieler. Er legt sich spät abends ins Bett und schaut in den Himmel. Er zählt die Sterne der Milchstraße, bestaunt, wie der Mond größer und kleiner wird und denkt an Janoschs „Josa mit der Zauberfiedel“. Am Ende bleibt das ewige O und A.

Zorro, Jonas & Mary Filou

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Ich sehe was, was ihr nicht seht, und das setzt sich am Ende fort.

28. Nachsätze mit Viren, Vorsicht Ich weiß nicht warum, aber Zorro ist der Meinung, dass ich als Puppenspieler, das letzte Wort haben soll. So darf ich zum Schluss auch noch meinen Senf zu diesem hanswurstigen Märchenbuch der deutsch/deutschen Geschichte geben. Das verrückteste Osterfest meines Lebens ist im Gange. Der Papst wäscht in Rom die Füße einer Handvoll Strafgefangener und zelebriert mehr oder weniger allein die Messe zur Auferstehung des Herrn. Die Polizei ruft im Radio alle unter häuslicher Quarantäne stehenden Bürger auf: „… Seid lieb zueinander“, was zwischen den Zeilen soviel heißt wie: „… Hört auf, euch gegenseitig zu denunzieren und bleibt cool vor dem Regal mit Toilettenpapier.“ Ich hatte letzte Nacht seit langem wieder einen von diesen komischen Puppenträumen. Zorro erscheint und zupft mich sanft am Ohr. Als ich im Traum erwache, sagt er: „Los, aufstehen alte Schnarchnase, komm mit, zurück ins Jahr 2000, ich kann dir alles erklären, steig schnell ein, die Zeitmaschine wartet nicht lange!“ Ich trotte schlaftrunken mit und kaum habe ich dreimal gegähnt, stehen wir vor dem Eselkostüm in der Scheune. Der Graubart sieht sehr echt aus und ist ein Überbleibsel aus den Werkstätten des Berliner Ensembles. Er sollte nach der Übernahme des Theaters restlos entsorgt werden, zum Glück stinken Puppenkadaver nicht. Mein Bär meint, ich soll das Ding anziehen, um nicht aufzufallen. Ich gehorche Zorros Anweisungen wie eine meiner Puppen, quetsche mich in das enge Kostüm und spiele den ungekämmten Esel. Kaum drehe ich mich um, sehe ich alle Tiere dieser Geschichte hinter mir versammelt: den kleinsten Drachen der Welt, Pegasus – die lispelnde Ente, die Fingerpuppenratte und die lange Schlange vorm Lindenblüten-Eisladen, Janoschs Tigerente und den Canario aus Teneriffa, den schwarzen Hund und die Giraffe aus Amerika, den verwunschenen Zauberfisch und Charly, das Huhn.

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Ungekämmter Esel mit Puppentheater

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Wer spielt wen?

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Zorro eröffnet die Konferenz der Tiere und Lebewesen mit folgenden Worten: „Liebe Tiere, Pflanzen und sonstige Lebewesen, der große, weise Esel ist jetzt auch da, wir können anfangen, aber bitte redet nicht alle durcheinander.“ Im Nu erzürnt sich ein tosender Wortschwall in allen möglichen Tiersprachen. Es wird gegackert, gebellt und miaut, es wird gekreischt, wie der eingesperrte Affe in Rummelsburg, gebrüllt wie der Löwe im Zirkus, es wird geunkt, gezwitschert und gegurrt. Mein „iah, ich ah, ich auch …“ bleibt mir im Halse stecken. Eine Sinfonie von Vorwürfen, Anklagen und Anschuldigungen wird gegen die Menschheit vertont und Zorro der Bär dirigiert mit seinem Schwert das tosende Chaos-Orchester, die Fenster öffnen sich wie von Geisterhand und Europa die Taube kommt herein geflattert, sie setzt sich zwischen meine Eselsohren und entleert feinsäuberlich ihren Darm. Ich schreie mir stumm die Seele aus dem Leib, doch keiner hört mich: „iah iah …“ Der schwarze Hund schnuppert an mir, pinkelt mir ans Bein und kläfft: „Hier riechts nach Menschenfleisch, uwagalaweia, uwagalaweia …“ Es blitzt am heiteren Himmel und Merlin erscheint. Mit einer einzigen Geste gebietet er dem Chaos Einhalt, alle sind augenblicklich mucksmäuschenstill. „Wer?“, donnert er. „Wer traut sich zu, uns zu befreien? Seit einer Million Jahre versuchen wir es, erst mit Hilfe der Drachen und Saurier, dann mit den Säbelzahntigern und der Krake Tintibus, später zur Pest mit Ratten, Mäusen und Läusen, Flöhen, Wanzen und Malaria-Mücken und nun? Keiner war erfolgreich, keiner von uns hat es geschafft, nicht einmal der Prophet am Kreuz konnte durch seine Barmherzigkeit die Menschen zur Vernunft zwingen, das Joch nimmt kein Ende, was tun?!“ Zorro schaut betreten auf seine Füße. Da meldet sich aus der hintersten Ecke ein winziger Virus und meint klein, aber laut: „… Naja, ich, also wir Viren, ich meine, ich kann ja mal meine Kumpels, meine Schwestern und Brüder fragen, ob sie Lust auf ein Spielchen gegen den Homo Sapiens haben, wir sind sehr, sehr klein und unerforscht, uns wird man an den Grenzen nicht sehen, geschweige denn erkennen.“ Alle Wesen drehen sich um und schauen mich erwartungsvoll an. Zorro blickt tief in meine traurigen Esels-Augen. Die Tiere und selbst die gut gelaunten Pflanzen beginnen, mit den Füßen zu stampfen und mit den Blättern und Tatzen im Takt zu klatschen, es gibt unendlich scheinende, minutenlange standing ovations und ich kann

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nicht anders, als in diesem animalischen Chor mitzuschreien, diesmal aus voller Kehle und tiefstem Herzen: „ja, ja, iiihja, iiihja“. Merlin runzelt mit der Stirn, rollt erst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge. Er schwingt seinen Zauberstab über das unendliche Heer von Viren und spricht mit fester Stimme: „Rar Bär, Maka Bär, Low Kuss Po Kuss Haselnuss, Schimmelannabimmel Uwagalaweia – Schluss mit der Leier, auf, auf ihr Viren – auf allen Vieren, breitet euch aus!!!“ Ich erwache schweißgebadet in meinem Bett, denn unter dem Esel-Kostüm herrscht eine beklemmende Hitze. Ich schalte das Radio ein und höre die Kurznachrichten vom Sender Absurdistan: „… Aber und aber tausende Tote in aller Welt – stopp – Tiermastbetriebe und Schlachtereien werden geschlossen – stopp – Flugzeuge bleiben am Boden – stopp – Autos werden verschrottet – stopp – Bettenburgen gesperrt – stopp – Papst löst katholische Kirche auf – stopp – alle Weltreligionen ziehen nach – stopp – § 1 StVO wird einstimmig per Referendum von der Weltbevölkerung abgesegnet …“ Zwischenmusik. Zarah Leander trällert mit rollendem R ihren Song: „Ich weiß, es wirrrd einmal ein Wunderrr geschehen und dann werrrden alle Träume wahrrr …“ Ich reibe mir die Augen und versuche, mich auf die Meldungen zu konzentrieren. Wach ich oder träum' ich? Schon folgt die nächste Meldung: „… Nach zehn Jahren Leerstand und erfolgreicher Giftmüll-Entsorgung hat der transatlantische Rat unter der Schirmherrschaft der Ministerin für Frieden und Gerechtigkeit Nina Hagen beschlossen, die ehemalige Militärbasis Ramstein sowie zwanzig weitere leerstehende Militärstützpunkte in ganz Europa in Altenheime für Künstler umzuwandeln, die gleichnamige, deutsche Band gab heute bekannt, sich mit Benefizkonzerten an den Kosten der Umbauten zu beteiligen.“

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Plötzlich interviewt der Radiomoderator einen gewissen Herrn Obersauer von der Korruptus-AG und ich höre eine mir sehr bekannte Stimme schnarren: „Unsere Wissenschaftler haben es geschafft! Leben auf dem Mars ist ab sofort möglich! Nach einer Bauphase von sieben Jahren und dem selbstlosen Einsatz von drei mal sieben Billarden Tonnen Gold starten wir heute mit der Evakuierung systemirrelevanter Lobbyisten. Einzig die Entsorgung der beim Bau verstorbenen Arbeitskräfte ist ungeklärt. Die Staatsanwaltschaft weist eine erneute Untersuchung der Tragödie zurück, da die fünfundzwanzig Millionen Verstorbenen sich nicht an die geltenden Sicherheitsmaßnahmen gehalten haben sollen. Es gibt ausreichend Platz für genau 1989 auserwählte Milliardäre, der Rest der Menschheit darf leider ohne uns hier auf der Erde zurückbleiben …“ Ich will meinen Ohren nicht trauen, schaue auf die Bären-Puppe, die leblos neben mir auf dem Tisch liegt, und schreie lautlos vor Begeisterung in mich hinein: „HURRA, HURRA, sie haben es geschafft, Viva la Virus! Herr Korruptus und seine Bande machen sich aus dem Staub!“ Ich schnappe mir mein Telefon und tippe aufgeregt in den worldwide chat: „Feuer frei und Wasser marsch! – Wir haben eine Chance, werden wir sie nutzen?“ Die Antwort, liebe Leser, tja … die Antwort, … die weiß nur der Wind und das Kind und wer spinnt. Hakuna Matata. Fortsetzung folgt …

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89 im Eimer

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29. Hinweise zur Sekundär-Rezeptur Janosch: „Der Josa mit der Zauberfidel“ Georg-Lentz-Verlag, München 1960 Hannes Hegen: „Die Digedags“, in: Mosaik Verlag Neues Leben, Berlin 1955-1975 James Krüss: „Timm Thaler's Puppen“, Oetinger Verlag, Hamburg 1979 Michael Bulgakow: „Der Meister und Margarita“ Aufbau Verlag, Berlin/Weimar 1983 Sergej Obraszow: „Mein Beruf als Puppenspieler“ Henschel Verlag, Berlin 1984 Ronald Galenza / Heinz Havemeister: „Wir wollen immer artig sein“ Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999 Key Pankonin: „Keyn Kampf“ Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße, Berlin 1993 André Greiner-Pol: „Peitsche Osten Liebe“ Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2000 Delia Müller: „Rock 'n' Roll der Maskenzeit“, Morphologia-Verlag, 2000 Peter Wawerzinek: „Sperrzone reines Deutschland“ Transit Verlag, Berlin 2001 Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessere Zeiten“ Propyläen Verlag, Berlin 2016 Nina Hagen: „Bekenntnisse“, Pattloch Verlag, München 2010 Flake: „Der Tastenficker“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2015 Matthias Baader Holst: „Matthias“ Baader Holst“ Hasenverlag, Halle an der Saale 2011 Peter Wawerzinek: „Bin ein Schreiberling“, Transit Verlag, Berlin 2017 Karen Döhring / Frank Döhring: „Freiheit, Blues und Scherben“ Edition Freiberg, Dresden 2021

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30. Bildnachweise Amsterdam Ballon Company: Seite 263 Hartmut Beil: Seite 100, 123 oben, 123 unten Hacki Ginda: Seite 330 Frau Janosch: Seite 43 unten Junge Welt: Seite 211 Jürgen Hohmuth: Seite 60, 80 Nina Hagen: Seite 49 Martin Krönert: Seite 145, 158, 201 Major Label: Seite 329 Johanna Martin: Seite 235 Roger Melis: Seite 42 Frank Müller: Seite 136 (aus Freygang CD „Die Kinder spielen weiter“) Helga Paris: Seite 59, 79 Robert Paris: Seite 69 oben, 71, 207 Christiane Roewer: Seite 291 Kuno Rudolph: Seite 226, 253, 266 Mita Schamal: Seite 321 Archiv Soubeyrand: Seite 12, 16, 17, 18, 27, 36, 38 oben, 38 unten, 43 oben, 47, 52, 62, 63 oben, 65, 82, 84, 88, 89, 90, 107 oben, 10 unten, 108, 109, 111, 112, 113, 115, 116 alle, 120 oben, 120 unten, 121 oben, 121 unten, 122, 124, 141, 142, 145 oben, 155, 156, 157, 167, 208, 218, 225, 241, 245, 250, 278, 280, 284, 296, 299, 300, 305, 3313, 320, 325, Coverbilder innen und außen Thomas Starck: Seite 212, 213, 214, 215 Stasi-Unterlagen-Archiv: Seite 24, 25, 69 unten, 75 TAZ: Seite 221 Walfischdruck: Seite 114, 117, 131, 145, 158, 235, 265, 277 Peter Wawerzinek: Seite 32, 233, 318 Wikipedia: Seite 20, 21 Frieda von Wild: Seite 61, 63 unten 327


31. Werbung in eigener Sache Klaus Thaler's Ohrensalon präsentiert 6 Hörspiel CDs zu unseren Theaterstücken: „Kasper und der Stein der Weisen, oder – warum ist die Banane krumm?“ Der Herr Direktor schließt eine Wette mit dem Teufel ab. Kasper fragt ihn Löcher in den Bauch und begibt sich auf die Suche nach dem Kern der Dinge. In Lichtgeschwindigkeit durchlebt er eine unglaubliche Reise durch die Zeit, Liebe, Bananen und den wahren „Glauben“. „Excalibur“ Ein Drachendrama Mit einem echt feuerspeienden Drachen, einer verliebten Prinzessin und einem verwunschenem Helden. „Der Fischer und seine Frau“ Modernes, aber durchaus uraltes Ehedrama ohne Happy End. Mit einem sprechenden Zauberfisch, einem armen Fischer, seiner Frau Ilsebill, vielen Windrädern und einem korrupten Energieriesen. „Der Soldat und das blaue Wunder“ Ein entlassener Soldat verliebt sich auf der Suche nach dem verlorenem Glück in die hochnäsige, eingebildete Prinzessin. Freund Kasper rettet ihn vor dem Galgen, das flinke Händchen funkt ordentlich dazwischen, so dass Herrn Korruptus und dem König das Lachen vergeht. Märchen nach H.C. Andersen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ Auf Befehl des Königs soll Kasper dem Teufel seine letzten drei goldenen Haare ausreißen. Schafft er es nicht, kann er die Prinzessin nicht heiraten. Auf dem Weg zur Hölle trifft Kasper auf eine Stadt, die im Müll ersäuft, auf einen Gärtner, der vor seiner vertrockneten Rose trauert und auf einen Fährmann, der keine Lust mehr hat, Tag ein Tag aus die Leute über den Fluss zu bringen. Eine turbulente Geschichte frei erzählt nach den Gebrüdern Grimm. 328


„Tintibus“ Ein musikalisches Krakenmärchen aus Seemannsgarn Warum ist das Meer so blau? Weil Tintibus, der einsame Krake Tag für Tag eine Flaschenpost mit seinem Federhalter schreibt. Der Bäcker Mosermann und die Strandkorbhexe schmieden einen hinterlistigen Plan, um Kaspar endlich loszuwerden. Mit Hilfe des Fischers Hein begibt sich Prinzessin Mary Filou auf die Suche nach Ihrem Liebsten. Alle Hörstücke sind geeignet für Kinder von 3 - 100 Jahren, aber auch für Erwachsene und wurden produziert von Bob Beeman im rollenden Little Lake Records Studio Erhältlich im Bauchladen der notwendigen Nutzlosigkeiten auf der Puppenbühnentournee, außerdem im Buchladen „Einar und Bert“, Winsstraße Ecke Rollerstraße oder inklusive Portokosten über: www.klausthalerpuppenbuehne.de und www.beemusic.net Passend zu diesem Buch erscheint eine Neuauflage der Firma-CD „Kinder der Maschinenrepublik“ als Schallplatte bei www.majorlabel.de

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32. Zu guter Letzt: Ablassbriefe Liebe Leser, der Verein Fahrendesfolk e.V. unterstützt seit Jahren fahrende Künstler ohne feste Spielstätte bei der Wahrung ihrer künstlerischen Freiheit und Kreativität. Aktuell bereitet der Verein den Start der ECC vor, der „European Culture Caravan“. Unterstützt auch Ihr dieses Projekt. Die ECC ist ein Zusammenschluss von verschiedenen Kunstgattungen wie Comedy, Musik, Film, Lesungen, Theater, Pantomime, Puppenspiel, Straßenmalund Druckerei. Eine fahrende Zeltstadt wird sich in Bewegung setzen. Die Caravane besteht aus international agierenden Künstlern, die in erster Linie mit grenz- und generationsübergreifenden Programmen zur Verbesserung der aktuellen Weltlage beitragen. Sie werden versuchen Kraft der Magie von Kunst und Kultur, das am Boden liegende Recht der Völkerverständigung ohne Machtinteressen wieder zu beleben. Alle eingeworbenen Fördergelder, alle großzügigen Spenden sowie die Einnahmen an den Kassen unterstützen ausschließlich das gemeinnützige Projekt der ECC. Zum einen werden mit diesen Geldern laufende Kosten, die Gagen der Künstler und Kulturprojekte finanziert, zum anderen lautet das erklärte eigennützige Hauptziel der Initiative, Finanzmittel einzusammeln, um: Seniorenheime für Künstler an verschiedenen Standorten Europas zu errichten und zu fördern. Gern stellen wir als gemeinnütziger Verein Spendenquittungen oder sonstige Ablassbriefe aus, die Ihr in eurer Steuererklärung geltend machen könnt. Thaler, Thaler, du musst wandern, von der einen Hand zur andern … Dankeschön, sagen die Initiatoren Hacki Ginda (Clown) & Klaus Thaler (Schreiberling) www.fahrendesfolk.de

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33. Achtung Abspann! Bitte steigt jetzt endgültig aus! Dieser Sektor der Zeitmaschine wird in wenigen Momenten abgeschaltet! Letzte Chance noch einmal zurückzublättern! Den höchsten Zeitvertreib habt ihr, wenn ihr das Buch auch noch rückwärts lest, aber Vorsicht, es gibt Schlüsselszenen, die sind nicht ohne Punkt und Komma. Das versprochene Gratisspiel ist im Zinnober der Vorsätze versteckt. Ich sehe was, was Du nicht übersiehst. Da ihr Menschenkinder Bücher in den seltensten Fällen zweimal lest, verschenkt oder verleiht dieses Exemplar bitte weiter, natürlich nur, wenn es euch gefallen hat. Ich wünsche euch einen schönen Tag … mit hanswurstigen Grüßen euer Zorro der Bär 1. April 2222

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Danksagung Ich danke allen Vorablesern, Beratern, Unterstützern und Freunden vor und hinter(!) den Kulissen, allen, die mir während der Entstehung dieses Lesespektakels Mut gemacht haben oder gar lebendiger Teil des Buches geworden sind! Klaus Thaler 13. Juni 2023

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Ich bin eine Puppe, my name is Zorro der Bär. Mein schicksalhaftes Buch lebt aus der Vermischung von absurdem Puppenspiel mit realer Geschichte. Kommt mit auf meinem Flug durch die Ost-Berliner Boheme vor dem Mauerfall! Gleich landen wir im Utopia 1990, direkt auf dem Tacheles mit Eimern voller Niemandsland. Der rote Faden rock’n’rollt sich vor- und rückwärts auf. Er entpuppt Biermanns „Treuehand“ und entknotet Freygangs „Firma“. Ich finde eine Spur ins Barocke, erzähle von der legendären Hanswurst-Vertreibung der „Neuberin“ und höre vom gemeinen Ramstein. Ein Märchenbilderbuch deutsch-deutscher Aufklärung von Lessing bis Corona auf 333 Seiten, mit 111 Bildern, Zeitzeugenflaschenpost und Gratisspiel. Geeignet für geschichts-interessierte Leser von 14 bis 100 Jahren. Klappe zu und Vorhang auf!


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