Ist der Osten anders? Expertengespräche am Schauspiel Leipzig

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Wenn die großen, sinnstiftenden Erzählungen verblassen, kommt die Zeit des Theaters. Über zwei Spielzeiten diskutierten die Expertengespräche am Schauspiel Leipzig das Erbe des Kommunismus, deutsche Identitäten, gesellschaftliche Dynamiken und die Zukunft Europas. . Róz a Thun, Karl Schlögel, Martin Sabrow, Herfried Münkler und Willi Winkler waren neben vielen Anderen die Gäste, die über neue Ordnungen und die Kraft des Alten debattierten. Aischylos trifft Brecht, und die Leipziger Doppelbefragung aus Die Maßnahme/Die Perser erweist sich als Drama der Gegenwart.

Ist der Osten anders? – Expertengespräche am Schauspiel Leipzig

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Ist der Osten anders? Expertengespräche am Schauspiel Leipzig

ISBN 978-3-95749-200-5

www.theaterderzeit.de

Recherchen 143

Jens Bisky, Enrico Lübbe und Torsten Buß (Hg.)


Ist der Osten anders?


Die Herausgeber danken ganz herzlich allen Expertinnen und Experten für ihr Mitwirken an der Gesprächsreihe und am Erscheinen dieses Buches. Ebenso geht ein großer Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Schauspiel Leipzig.

Bildnachweis S. 6, 7, 8, 83, 84, 88, 89: Rolf Arnold; S. 146–150: Bettina Stöß Ist der Osten anders? Expertengespräche am Schauspiel Leipzig Herausgegeben von Jens Bisky, Enrico Lübbe und Torsten Buß Recherchen 143 © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Coverbild: Die Maßnahme/Die Perser, Regie: Enrico Lübbe, Schauspiel Leipzig 2017 Foto: Bettina Stöß Korrektorat: Sybill Schulte Gestaltung: Bild1Druck GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN (Paperback) 978-3-95749-200-5 ISBN (ePDF) 978-3-95749-214-2 ISBN (EPUB) 978-3-95749-213-5


IST DER OSTEN ANDERS? Expertengespräche am Schauspiel Leipzig Herausgegeben von Jens Bisky, Enrico Lübbe und Torsten Buß

Recherchen 143


Vorwort

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„WOHER WOHIN“ Die Expertengespräche der Spielzeiten 2016/17 und 2017/18 „Den Osten und den Westen gibt es nicht mehr“ Ist der Osten anders? Gregor Gysi und Heinz Bude über die Entwicklungen und Brüche in Ost- und Westdeutschland

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„Wir müssen die Demokratie vor den Demokraten schützen“ Bröckelt die Verständigung? Hans Vorländer und Oliver Nachtwey über die Gesellschaft der Empörten

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„Religion symbolisiert Heimat“ Rena Tali und Johann Hinrich Claussen über die Rückkehr der Religion(en)

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„Man soll aufhören, uns immer Angst zu machen“ Das Ende der Gemeinsamkeit? Róża Thun und Daniel Cohn-Bendit über die Rückkehr des nationalen Gedankens in Europa

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„Je dramatischer die Unterlegenheitserfahrung, desto mehr wird nach Identität gesucht“ Was ist deutsch? Herfried Münkler und Robert Misik über die Suche nach Identität(en)

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„Kein starker Arm nirgends“ Heinz Bude über das andere Proletariat im alten und neuen Kapitalismus

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Rezension: „Ostdeutsch isch over“ Die Welt über das Gespräch mit Heinz Bude und Gregor Gysi

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Wolken.Heim Kurzinhalt / Inszenierungsfotos / Team

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DIE MAßNAHME / DIE PERSER Die Expertengespräche zur Inszenierung „Du warst gestern nichts und konntest morgen alles sein“ Die Radikalität der Gedanken und die Radikalisierung der Wirklichkeit. Gerd Koenen über Erzählungen vom Kommunismus und ihr Verhältnis zur Realität

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„Es ging darum, den aufgestauten Hass loszulassen und ihm eine Form zu geben“ Karl Schlögel über literarische Fiktion und Moskauer Realität

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„Das Mandat der Gewissheit“ Martin Sabrow über das Selbstverständnis kommunistischer Herrschaft im 20. Jahrhundert

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„Hier spricht der deutsche Idealismus“ Die grauenhafte Unbedingtheit. Willi Winkler über den deutschen Linksextremismus und Die Maßnahme

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„Die Partei hat tausend Augen“ Das Lehrstück und die politische Religion. Helmuth Kiesel über Die Maßnahme im Spannungsfeld zwischen liturgischen und totalitären Strukturen

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Rezension: „Schlachten ohne Sieger“ Die FAZ über die Premiere Die Maßnahme / Die Perser

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Die Maßnahme / Die Perser Inszenierungsfotos / Kurzinhalt / Team

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Die Autorinnen und Autoren

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. Daniel Cohn-Bendit, Róza Thun, Jens Bisky

Oliver Nachtwey, Hans Vorländer, Jens Bisky

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Huda Alqaisi, Rena Tali, Johann Hinrich Claussen, Jens Bisky

Robert Misik, Herfried MĂźnkler, Jens Bisky

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Gregor Gysi, Heinz Bude, Jens Bisky

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VORWORT

„Ist der Osten anders?“ war ein Gespräch zwischen Heinz Bude und Gregor Gysi betitelt, das anlässlich des Spielzeitmottos „Woher Wohin“ im Oktober 2016 am Schauspiel Leipzig stattfand. Als im April 2018 Herfried Münkler und Robert Misik innerhalb des Spielzeitmottos „Angst oder Liebe“ über deutsche Identitäten diskutierten, schloss sich thematisch ein Kreis. Unterschiedlicher aber als bei diesen beiden Gesprächen konnten die Reaktionen nicht sein. Die Veranstaltung mit Heinz Bude und Gregor Gysi endete, bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten, in der Auffassung, dass es den Osten und den Westen nicht mehr gibt. Die gewiss vorhandenen sozialen und ökonomischen Unterschiede, Zustände und Bruchlinien lassen sich nurmehr ungenügend entlang ehemaliger staatspolitischer Grenzen beschreiben. Stattdessen müsse eher eine gesamtdeutsche Betrachtung Grundlage realistischer Analysen sein. „Ostdeutsch isch over“ war die Rezension der Diskussion in der Welt übertitelt; sie ist diesem Band beigefügt. In der Diskussion zu Wolken.Heim achtzehn Monate später hingegen beharrten einige im Publikum vehement auf einer spezifisch ostdeutschen bzw. Leipziger Identität. Diese Verschiedenheit der Positionen mag der Verschiedenheit des konkreten Diskussionsgegenstandes geschuldet sein – dennoch scheint gerade bei der Frage, was Identität ausmacht, im Laufe der Monate das Bezugsfeld wieder mehr auf Nähe fokussiert, die Empfindung partikularer geworden zu sein – und wird energischer verteidigt. Nicht nur in diesem Bogen wird deutlich: Die Gespräche seit 2016, eine Fortführung der Expertengespräche zu Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen am Schauspiel Leipzig (Recherchen Band 124), können als ein Stimmungsmarker für die Entwicklungen und Diskussionen der zurückliegenden Monate gelesen werden. Die Gespräche über den Zeitraum von achtzehn Monaten sind zudem ein Beleg dafür, dass nicht wenige Gedanken und Analysen ihre Gültigkeit behalten in einer Zeit, in der Debatten und Themen schnelllebig aufeinanderfolgen und der Eindruck entsteht, es bräuchte im Stundentakt ganz neue Lösungen für die jeweilig ausgerufene politische Situation. In den Gesprächen finden sich vielfach Analysen, Beschreibungen und Gedanken, die nach wie vor überzeugen oder weiterhin zum Nachdenken bringen.

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Vorwort

Gemeinsam war vielen Gesprächen die Erkenntnis, wie sehr sich eine vermeintlich Deutschland-spezifische politische Entwicklung und gesellschaftliche Auseinandersetzung auch in anderen Ländern Europas und der Welt beobachten lässt. Dynamiken und Konflikte, die die deutsche Gesellschaft beschäftigen, lassen sich ähnlich in Polen, Ungarn, Italien, Frankreich oder den USA beobachten. Das gilt für die schwindende Rolle der Sozialdemokratie bzw. der Linken allgemein, und es gilt im Gegenzug für das Erstarken der politischen Rechten. Es gilt bezogen auf gesellschaftliche Themen und Debatten (und wie sie geführt oder nicht geführt werden), und es gilt für weltweit zu beobachtende Parallelen populistischer Strategien. Bezogen auf Deutschland lässt sich feststellen, dass die großen sinnstiftenden Erzählungen der Nachkriegszeit allmählich verblassen. Sei es, weil man sich an die Erfolge voriger Generationen gewöhnt hat. Oder sei es, dass man die Inhalte der Erzählungen heute nicht mehr für entscheidend hält – jedenfalls, was das Projekt eines friedensstiftenden Europas betrifft. Sofern es um das Projekt der sozialen Marktwirtschaft mit dem „Deutschen Wirtschaftswunder“ geht, mag ein dritter Grund darin liegen, dass erfolgte Reformen oder Weichenstellungen in den Augen vieler diese Inhalte grundlegend verändert bzw. aufgegeben haben. Ein zweiter Gedanke, der viele Gespräche verbindet: Bisherige Routinen der gesellschaftlichen Diskussion scheinen nicht weiter zu führen bzw. sind nicht unbedingt geeignet, die gegenwärtig stattfindenden und dringend nötigen Diskussionen zu organisieren und zu ermöglichen. Die Frage der neuen sinnstiftenden Erzählungen ist unbeantwortet. Ein Punkt, der mehrfach in den Veranstaltungen formuliert wurde: Es wird bei diesen Diskussionen weiterhin und grundlegend Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Ansichten und zahlreiche Konflikte geben. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass wieder zu lernen ansteht, solche Konflikte zu führen und zu diskutieren. Und die Gesellschaft, jede und jeder Einzelne, wird lernen müssen, diese Konflikte mehr auszuhalten, als es zuletzt üblich war. Dazu möchten die Expertengespräche, live am Schauspiel Leipzig und hier in ihrer vorliegenden Schriftversion, einen Beitrag liefern: als der Versuch, angebunden an das Theater zu aktuellen Fragen der Gegenwart manchmal verschiedene, manchmal aber auch sehr nahe Meinungen zu führen und weiter zu diskutieren. Ein zweiter Schwerpunkt an Veranstaltungen widmete sich der Inszenierung Die Maßnahme / Die Perser: Fünf Veranstaltungen begleiteten dieses Doppelprojekt am Schauspiel Leipzig, das zwei legendäre Eckpfeiler der Theatergeschichte gegenüberstellte: Brecht & Eislers Lehrstück aus dem Jahr 1930 und das älteste erhaltene Drama der Menschheit.

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Vorwort

Zentraler Bezugspunkt der fünf Veranstaltungen war Die Maßnahme. Die Struktur und Handlung dieses so titulierten „Lehrstücks“, nicht zuletzt die titelgebende Maßnahme der Tötung eines jungen Genossen unter Einholung seines eigenen Einverständnisses, gab den Anlass, den zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext der kommunistischen Gedankenwelt näher zu befragen und zu rekonstruieren. Gerd Koenen und Martin Sabrow skizzieren die Geschichte der kommunistischen Bewegungen und die Genese ihres Denkens. Von den Anfängen der Sozialrevolutionäre im zaristischen Russland verfolgen sie den Weg über die Sowjetzeit bis hin zum Zusammenbruch der DDR, von den Theorien Marx’ bis hin zu Lenin und Stalin. Zugleich entwickeln sie eine Typologie der charakteristischen Parteiaktiven, vom Avantgardisten bis zum Funktionär. Karl Schlögel konzentriert sich auf das Geschehen im Moskau des Jahres 1937, zu Zeiten der Schauprozesse und des stalinistischen Terrors. Willi Winkler befragt die Fernwirkungen der Maßnahme auf das Denken der RAF, und im abschließenden Vortrag des Bandes untersucht Helmuth Kiesel die Dramaturgie der Maßnahme auf religiöse Strukturen und nimmt den Bezug zu den Persern des Aischylos auf. Die Leipziger Inszenierung der Maßnahme war somit der Anlass, theoretische, polit- und kulturgeschichtliche Hintergründe aus verschiedensten Disziplinen bereitzustellen für ein Werk, das heute mehr denn je zugleich fasziniert und verstört – und das, wie Helmuth Kiesel es konstatiert, eine „Herausforderung für die politische, ethische und ästhetische Urteilskraft“ darstellt. Enrico Lübbe und Torsten Buß Leipzig, im Februar 2019

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„WOHER WOHIN“ Die Expertengespräche der Spielzeiten 2016/17 und 2017/18



„DEN OSTEN UND DEN WESTEN GIBT ES NICHT MEHR“ Ist der Osten anders? Gregor Gysi und Heinz Bude über die Entwicklungen und Brüche in Ost- und Westdeutschland

Gespräch am 30. Oktober 2016 Bisky: „Der Ostler ist letztlich eine minderbemittelte Figur. Mental etwas zurückgeblieben, ökonomisch etwas zurückgeblieben, geistig nicht so wendig, irgendwie provinziell und abgehängt. Der Ostler ist die Minusvariante des Bundesdeutschen. Was für den Ostler spricht, ist der Sex. Weil es in der DDR meistens kein Vergnügen gab, wurde halt mehr geschnackselt.“ Guten Abend, meine Damen und Herren. Schön, dass Sie da sind. Das waren Sätze von Jan Fleischhauer, einem Kolumnisten des Spiegel. Damit fasst er politische Kommentare und völkerpsychologische Beobachtungen, die in den letzten Wochen erschienen sind, zusammen. Ich habe mich über die Diskussion in den letzten Wochen sehr gewundert, auch wenn sie mich nicht überrascht hat, und freue mich sehr, dass ich heute mit unseren Gästen darüber sprechen kann. Einmal mit dem Rinderzüchter, Rechtsanwalt und Mitglied des Deutschen Bundestages Gregor Gysi und zum anderen mit Heinz Bude, dessen Bücher und Artikel meinen Weg durch den Zustand namens Bundesrepublik in den letzten Jahren begleitet haben. Wenn man sich dieses Zitat vor Augen führt, dann wirkt das erstmal wie eine Wiederaufführung einer Debatte aus den neunziger Jahren. Damals hießen die Leute halt nicht Ostler, sondern Ossi. Aber die Frage, Herr Gysi, ist ja doch: Ist der Osten nicht wirklich abgehängt, rückständig? Nicht der einzelne Ostler, sondern der Osten. Gysi: Das Zitat ist völlig richtig. Deshalb stellen die Ostdeutschen den Bundespräsidenten, die Bundeskanzlerin und die Oppositionsführer. (Applaus) Aber davon abgesehen, sind ein ökonomischer und ein politischer Fehler bei der Herstellung der Deutschen Einheit absichtsvoll begangen worden, mit denen wir es heute noch zu tun haben. Wir hatten eine Treuhandanstalt. Die hat willkürlich entschieden, welche Unternehmen gefördert werden, welche nicht, welche geschlossen werden, welche wohin mit welchen Maßgaben verkauft werden, dann in Insolvenz gehen et cetera et cetera.

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„Den Osten und den Westen gibt es nicht mehr“

Wir haben damals einen ganz anderen Vorschlag unterbreitet. Wir haben gesagt, zehn Jahre lang machen wir eine degressive Lohnsubvention: Jedes Unternehmen der DDR bekommt ein Jahr lang 100 Prozent der Lohnsumme ab 1. Juli 1990, dann 90, dann 80, 70 und runter bis null Prozent nach zehn Jahren. Diese Jahre hätte man nutzen können, um die Produkte zu verändern, um Reklame zu entwickeln, um zu privatisieren oder Management buy out zu machen. Da wären auch Unternehmen eingegangen, ganz klar, aber nicht so viele, weil das Chancengleichheit bedeutet hätte. Denn davon waren wir meilenweit entfernt. Und der zweite große Fehler bestand darin, dass man sich für den Osten nicht interessierte. Wenn man sich für den Osten interessiert hätte, dann hätte man zehn Dinge gefunden, die man hätte übernehmen können für ganz Deutschland. Ein flächendeckendes Netz an Kindertagesstätten, Nachmittagsbetreuung an Schulen, zum Beispiel. Zehn Sachen; den Rest hätte man abschaffen können. Wenn man das gemacht hätte, hätte es das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gehoben, weil sie gesagt hätten, trotz des viel schwierigeren Systems haben wir zehn vernünftige Sachen gemacht. Und vor allen Dingen hätten die Westdeutschen mit der Herstellung der Deutschen Einheit das Erlebnis verbunden, dass sich durch das Hinzukommen des Ostens in zehn Punkten ihre Lebensqualität erhöht hätte. Ein solches Erlebnis ist keiner Westdeutschen und keinem Westdeutschen gegönnt worden. Und darunter leidet die Deutsche Einheit bis heute. Ich belasse das mal bei diesen zwei Hauptfehlern. Es sind auch andere Dinge vernünftig gemacht worden. Aber das war unvernünftig, und das spüren wir bis heute. Bisky: Die Bundeskanzlerin kommt aus dem Osten, der Bundespräsident kommt aus dem Osten. Sie kommen aus dem Osten, waren bis 2015 Oppositionsführer. Die jetzigen Oppositionsführer kommen auch aus dem Osten. Täuscht mich der Eindruck: Seit wir an der Spitze dieser Republik so viele Ostdeutsche haben, wird über den Aufbau Ost besonders wenig gesprochen. Es gab vorher darüber richtig viel Streit. Warum wird darüber nicht mehr gestritten? Gysi: Das kann ich Ihnen sagen. Erstens täuscht das Bild, denn es gibt keinen einzigen Bundesverfassungsrichter oder keine einzige Bundesverfassungsrichterin aus dem Osten. Es gibt auch keine einzige Bundesrichterin und keinen einzigen Bundesrichter aus dem Osten. Und es gibt in der Managementspitze so gut wie keine. Bei der Politik hat es ein bisschen was damit zu tun, dass immer, wenn es einen Umbruch gibt, ungewöhnliche Politikerpersönlichkeiten kommen. Wie zum Beispiel nach 1945 in der alten Bundesrepu-

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Gregor Gysi und Heinz Bude

blik, von Brandt bis Strauß und Wehner, Adenauer und Schmidt – egal, wie man politisch zu ihnen steht. Heute ist das verbeamtet und eher langweilig. Nun hatten wir, wenn auch anders als 1945, einen Umbruch im Osten, und es gab auch dort besondere Leute, weil sie aus besonderen Situationen kamen. Das spiegelt sich in der Politik wider. Aber immer, wenn die Betroffenen in die Verantwortung kommen, wollen sie beweisen, dass sie sich nicht um das Gebiet kümmern, aus dem sie kommen. Frau Merkel musste immer beweisen, dass sie natürlich die Kanzlerin für alle ist und nicht etwa nur für Mecklenburg-Vorpommern oder gar für die Ostdeutschen. Und das Einzige, was ich ihr wirklich übelnehme, ist, dass wir heute noch keine gleichen Lohnverhältnisse haben und noch keine gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung. Das geht einfach nicht. Aber andere Sachen sind wieder interessant, darüber wird diskutiert. Etwa der Solidaritätszuschlag. Ich bin ja dagegen, dass er wegfällt, aber ich will nicht mehr, dass er nach Ostdeutschland geht, sondern ich will, dass das Geld in alle strukturschwachen Regionen geht, auch in NRW, auch in andere Bundesländer, aber natürlich auch nach Ostdeutschland. Dann könnte wieder etwas Gemeinsames entstehen. Bisky: Herr Bude, wenn wir in die frühen neunziger Jahre zurückschauen, dann stimmt ja eines, dass die Bereitschaft in der Bundesrepublik, im Zuge der Vereinigung Neues auszuprobieren, relativ gering war. Man muss sich immer vorstellen, am § 218 wäre beinahe der Einigungsvertrag gescheitert. Woher in einer Gesellschaft, die sich selbst als modern, experimentierfreudig und flexibel beschreibt, dieser Unwille, in einem historischen Augenblick wie 1989 etwas zu verändern? Bude: Die Regierung Kohl hat ja eine besondere zeitliche und politische Situation genutzt, um die Einheit herbeizuführen. Und dann wurde das als ein Beitritt organisiert. Es war nicht die Auseinandersetzung um eine gemeinsame Grundlage, es war nicht das Ergebnis einer gesamtdeutschen Revolution. Sie müssen sich auch vor Augen halten, dass im Grunde die Zeit der Einigung auch für den Westen eine Krisensituation war: Ein ganzes Modell der Marktwirtschaft, das über lange Zeit relativ gut funktioniert hatte, war dabei auszulaufen. Und in dem Augenblick die institutionelle Fantasie zu entwickeln, eine wirkliche Revision des Grundstocks vorzunehmen, war, glaube ich, noch nicht möglich. Das hat dann sehr viel später stattgefunden, was etwa Hartz IV betrifft. Ich glaube, 1989 war die Idee, man muss den Westen beruhigen, man muss eine Lastenausgleichspolitik in Gang setzen, man kann jetzt nicht alles zur Disposition stellen.

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„Den Osten und den Westen gibt es nicht mehr“

Gysi: Die westdeutsche Regierung war gar nicht bereit, sich irgendwas anzusehen. Selbst wenn sie wussten, dass es besser ist. Bude: Es hat natürlich Leute im Westen gegeben, die dachten: nicht, dass der Osten uns Dinge einträufelt, von denen wir nicht so genau wissen, was wir davon halten sollen. Das war nicht eigentlich Ablehnung von Ostdeutschen, aber eine deutliche Reserve, verbunden mit der Frage, was ist das für eine Energie, was ist das für eine Kraft, die zu uns kommt. Ich glaube, Berlin ist das einzige Biotop gewesen, wo wirklich eine Art von neudeutscher Re-Definition, von Experimentalismus, stattgefunden hat, unter westdeutschen und ostdeutschen Bestandteilen. Also in der Zeit bis 1992/93, in der in Berlin wahnsinnig viel zustande gekommen ist, auch in diesem Zustand des Zufälligen, der Zwischennutzung und so weiter. Und da waren sehr viele Ostdeutsche dabei und haben Dinge in Gang gebracht. Ich habe dann in einem großen Projekt, das wir in den zweitausender Jahren in einer kleinen Stadt in Ostdeutschland durchgeführt haben, in Wittenberge, festgestellt, dass die erste Zeit der Einigung für Ostdeutsche wirklich eine Zeit der ganz großen Erwartungen gewesen ist. Erwartung darauf, dass die Bundesrepublik auf diese Energie nur wartet. Diese Bereitschaft, sich einzusetzen, seine Talente in den Topf zu werfen und etwas zu machen – nicht nur in Ostdeutschland, sondern möglicherweise auch in westdeutschen Positionen. Und ich habe zum ersten Mal in diesem Forschungsprojekt verstanden, was für eine schwierige Situation es war, dass für Ostdeutsche diese Zeit der großen Erwartungen ab 1993/94 dann in die Zeit des ewigen Wartens überging. Und dieses ewige Warten hat erst zu einem Ende gefunden, als klar war, die Zeit der Wende ist endgültig vorbei. Bisky: Zu dem Projekt sollten wir vielleicht noch etwas sagen. In dem Buch, Überleben im Umbruch, steht ja, im Grunde wissen die Leute, sie sind Opfer eines Schicksals, für das sie niemanden verantwortlich machen können, für das niemand schuld ist. Wie gehen die Leute damit um? Bude: In der Zeit um 2006/2007 war klar, wer jetzt noch in Wittenberge ist und sich noch nicht irgendwie neu eingerichtet hat, für den wird auch kein Investor mehr kommen, der die Stadt retten wird, es wird keine Entwicklung mehr geben von Seiten der Potsdamer Regierung, die irgendwie die industrielle Statur dieses Industrieortes wieder herstellen wird. Ich habe bei diesem Projekt verstanden, dass es diese drei Phasen von Geschichte nach 1989 gab: Die ,großen Erwartungen‘, das ,ewige Warten‘ – und dann eine Bereitschaft, eine im Grunde existenzielle Inventur zu ma-

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Gregor Gysi und Heinz Bude

chen. Weil man realisierte: Wer in der Zeit des ‚ewigen Wartens‘ nicht abgegangen ist wie eine Rakete, wie Angela Merkel, der wird es jetzt nicht mehr tun. Das hat mich wahnsinnig beeindruckt und verstört, diese existenzielle Härte, die die Leute gegenüber sich selber entwickelten. Aber es gab eben nicht nur die Energie der Vertrotzung, die Energie des gebrochenen Stolzes, sondern auch eine Energie des Durchkommens. Eine Energie des Zurandekommens mit einer Zukunft, die möglicherweise nicht mehr existiert. Gysi: Ich glaube, dass viele in Westdeutschland die Herstellung der Deutschen Einheit begrüßten und ein Glas Sekt oder in besseren Verhältnissen ein Glas Champagner getrunken haben, und dass es dort dann auch eine Enttäuschung gab. Sie sahen ja bloß, dass der Osten viel Geld kostet, aber es kommt keines heraus. Sie sahen, dass die Ostdeutschen rumnörgeln und falsch wählen. So ungefähr. Also, man muss es individualisieren. Für mich zum Beispiel ist letztlich durch die Deutsche Einheit eine Bereicherung herausgekommen: Was ich für Möglichkeiten hatte! Aber ich war damals 42. Stellen Sie sich vor, ich wäre arbeitslos geworden und hätte bis zum Renteneintritt keinen Job mehr bekommen. Dann würde ich das völlig anders sehen. Es gab ja eine Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Was übrigens einiges erklärt: Deshalb sind heute die Ängste im Osten größer, dass so etwas wieder passieren kann. Einen solchen sozialen Zusammensturz hat ja der Westen nie erlebt. Da gab es auch Krisen, aber nie einen solchen Zusammensturz. Es sind gänzlich unterschiedliche Erfahrungen, die zu unterschiedlichen Reaktionen führen. Das muss man bedenken. Bisky: Nirgendwo auf der Welt verlief die Deindustrialisierung so schnell wie die in den neuen Ländern. Das ist das eine. Und das Zweite ist der Einbruch der Geburtenrate: 1993 hatte Ostdeutschland, hatten die fünf neuen Länder die niedrigste Geburtenrate außer Vatikanstadt. Herr Gysi, was macht man politisch in deindustrialisierten Regionen? Gysi: Was gibt es für Möglichkeiten? Wenn wir jetzt wieder ökologischer werden, wenn wir doch mal anfangen zu begreifen, dass wir andere Wirtschaftskreisläufe benötigen, zum Beispiel. Oder: Aktuell muss jede Kommune den Auftrag an die Firma geben, die es am günstigsten – und das heißt leider, falsch übersetzt, am billigsten – macht. Wenn Wittenberge einen Auftrag vergibt, muss es den eben vielleicht nach Passau vergeben … Bisky: … oder nach Bologna …

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„Den Osten und den Westen gibt es nicht mehr“

Gysi: Oder nach Bologna. Also würde ich Spielräume einführen: bis zu einem höheren Preis von zehn Prozent – man muss natürlich eine Grenze setzen, klar – darf ich in der eigenen Region die Aufträge vergeben, damit dort eigene Wirtschaftskreisläufe entstehen. Und wenn wir den Solidarzuschlag ab 2020 oder wenn es so weit ist, für strukturschwache Regionen verwenden, und zwar für alle strukturschwachen Regionen, dann kann da auch wieder eine neue, moderne Industrie der verschiedensten Prägungen entstehen. Letztlich stehen wir natürlich weltweit vor der Frage, wenn die Produktivität weiter wächst, dass wir Arbeitszeitverkürzung und anderes benötigen. Aber wir dürfen uns politisch nicht damit abfinden, dass wir sagen, es gibt Regionen, in denen wenig Leben stattfindet. Das ist es doch. Wenn es keine Wirtschaft gibt, gibt es auch kein Leben. Es gibt dann immer weniger Kultur. Es gibt immer weniger Zivilgesellschaft. Trotzdem bin ich wieder ein bisschen optimistisch, weil die Jugend, die ja den Osten verlassen hat, schrittweise zurückkehrt. Und zur Geburtenrate noch Folgendes: Nach einem solchen Umbruch können die Leute nicht gleich Kinder in die Welt setzen, sie wissen ja gar nicht, was aus ihnen wird. Das halte ich am Anfang erstmal noch für normal. Aber wenn du jetzt immer noch, wie fast alle jungen Leute, nur befristete Verträge kriegst und nicht weißt, was dann in sechs oder acht Monaten aus dir wird, dann setzt du auch keine Kinder in die Welt. (Applaus) Bude: So richtig das alles ist, für Wittenberge heißt der doppelte Systembruch, vom Sozialismus in den Kapitalismus und vom Industrialismus in den Postindustrialismus, es gibt keine industrielle Zukunft mehr, es gibt sie nicht. Das war den Leuten in Wittenberge auch klar, aber sie waren ganz froh, dass ich das ausgesprochen habe. Das ist auch wichtig. Gysi: Aber es kann doch eine Wirtschaftszukunft geben. Bude: Dann haben wir schon mal eine Übereinkunft. Man sollte nicht falsche Ideen entwickeln über das, was sich jetzt in den in der Tat deindustrialisierten Regionen Ostdeutschlands weiterentwickeln kann. Es gibt ja Leuchtturmstrukturen in Ostdeutschland, aber ich bin sehr skeptisch, dass über die Leuchtturmstrukturen hinaus noch eigene industrielle Entwicklungspotenziale existieren. Bisky: „Ist der Osten anders?“ ist ja eine unvollständige Frage. Impliziert ist immer: Ist der Osten anders als der Westen? Ich habe nur das Gefühl, dass der Westen inzwischen keinen Maßstab mehr bietet. Dramatische Un-

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Gregor Gysi und Heinz Bude

gleichheiten stelle ich auch im Westen fest, wenn ich aus München komme, wo die Süddeutsche Zeitung gemacht wird, und dann nach Duisburg oder Dortmund fahre. Wie geht der Westen mit Ungleichheit um? Bude: Unter der Hand haben Sie etwas sehr, sehr Wichtiges gesagt, das ist auch meine Auffassung: Den Osten gibt es gar nicht mehr, genauso wenig wie es den Westen noch gibt. Auch der Osten ist wahnsinnig fragmentiert. Es gibt Leute, denen es verdammt gutgeht in Wittenberge. Und die wollen interessanterweise mit denen, die runtergefallen sind, gar nicht mehr so viel zu tun haben. Es gibt so eine Art Ansteckungsangst. Man will mit den Verlierern dann irgendwie nichts mehr zu tun haben. Ich glaube, der Osten wie der Westen muss sich daran gewöhnen, dass wir es heute mit neuen Situationen der Ungleichheit zu tun haben, die es uns schwer machen, dabei von einer einzigen, bestimmten Region Deutschlands zu reden. Wir haben in der Tat Regionen in Deutschland, die seit 15 Jahren quasi Vollbeschäftigung haben. Und gleichzeitig gibt es Städte wie Duisburg oder Parchim, die eine ganz andere Situation erleben – und plötzlich haben wir eine neue Achse der Ungleichheit zwischen Parchim und Duisburg. Das ist die Situation, die wir in der Zukunft haben werden. Und in dieser neuen Art von Ungleichheit stecken Dynamiken, die auch den Rechtspopulismus in Deutschland berühren. Wir haben eine neue Proletarität in Deutschland, wir haben ein neues Proletariat in Deutschland. Das ist aber kein Proletariat der Industrie mehr, sondern es ist ein Proletariat der Dienstleistung. Und die verdienen alle, ob sie nun in Parchim oder in München beschäftigt sind, bei einer wöchentlichen Arbeitszeit um die 50 Stunden etwa 900 Euro netto im Monat. Und dieses neue Proletariat ist nicht mehr dominant männlich, sondern es ist sehr stark weiblich.1 Und diese Ungleichheit hat immer auch ein ethnisches Gesicht, wir erleben sehr unterschiedliche Zuwanderungsgeschichten. Und dann passiert es, dass man plötzlich in einer Hierarchie des Hierseins als Ostdeutscher mit jemandem konkurriert, der aus Moldawien kommt, der aus Syrien kommt oder aus Großbritannien. Das ist eine neue Situation, die haben wir in ganz Deutschland, Ost und West. Und deshalb glaube ich, dass diese Debatte die Debatte über den Osten und den Westen ersetzen wird. Herr Gysi hat das eben auch im Blick auf das Auslaufen des Solidarpaktes 2 genannt: Da entsteht eine neue Debatte, und es ist eine sehr wichtige Debatte für Deutschland. Gysi: Ich glaube, dass man nicht den einen Widerspruch durch einen neuen loswird. Der Unterschied Ost-West ist in folgenden Fragen klar:

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„Den Osten und den Westen gibt es nicht mehr“

Materiell bei der Rente und bei den Löhnen, und in dem Punkt einer anderen Erfahrung: Keiner aus dem Westen kommt aus der DDR. Aber die ältere Generation im Osten kommt aus der DDR und bringt sowohl positive als auch negative Erfahrungen mit, die sie umsetzen und vergleichend einsetzen. Und der nächste Punkt ist der, dass sich das auch noch auf die nächsten Generationen überträgt, weil die Eltern es noch mitübertragen partiell. Aber in einem stimme ich Ihnen zu, der Westen hat sich geändert. Und in einem haben Sie auch recht, es gibt generell strukturschwache Regionen, und die Widersprüche überlagern sich. Es gibt plötzlich neue Ähnlichkeiten, neue Unterschiede, neue Ängste, wo gar nicht genügend geleistet wird, um sie abzubauen. Und sie sind örtlich unterschiedlich, sind zum Beispiel in Leipzig geringer als in Dresden. Warum? Damit muss man sich auch beschäftigen. Bisky: Herr Bude, hat das Dienstleistungsproletariat eine Aufstiegsperspektive wie sie das Industrieproletariat im 19. Jahrhundert, aber auch in der Nachkriegszeit hatte? Die brauchen eine Lobby, müssen sich gewerkschaftlich organisieren, und mit einer ordentlichen Lohnpolitik geht es denen besser. Halten Sie das für eine realistische Perspektive? Bude: Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, dass diese proletarische Struktur sich bei uns jetzt festgesetzt hat und, das ist neu für die deutsche Gesellschaft, in mittlerer Frist nicht vergehen wird. Das hat einen sehr einfachen Grund: Weil es immer wieder Leute gibt, die nachkommen. Und es wird zweitens keine Situation geben, in der das, was ein Industriemeister bei einem Weltmarktführer im Maschinenbau in Deutschland verdient, zwischen viereinhalb- und fünftausend Euro netto, auch die Krankenschwester verdient. Diese Situation ist vielleicht wünschbar, aber die Situation wird in mittlerer Frist nicht eintreten. Gysi: Aber wenn ich es nicht einmal fordere, wird es noch schlimmer. Also muss man die Forderung stellen, um sich schrittweise dem Ziel zu nähern. Und vor allen Dingen wird doch jetzt durch die Flüchtlinge eines deutlich: Alle sprachen immer von der Globalisierung der Wirtschaft – und haben vergessen, dass auch die Menschheit zusammenrückt. Wir haben doch in Europa so gelebt, wie wir in Europa gelebt haben, weil viele Menschen in Afrika gar nicht wussten, wie wir hier leben. Nun haben sie aber ein Handy. Nun wissen sie es und stellen komische Fragen an uns, auf die wir keine Antworten haben. Wir müssen begreifen, dass wir da Veränderungen brauchen.

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Gregor Gysi und Heinz Bude

Bisky: Im Moment werden alle Energien der Frustration und Verbitterung nicht von der Linken, schon gar nicht von der Sozialdemokratie aufgefangen. Aufgefangen werden sie von rechtspopulistischen Bewegungen. Herr Bude, haben Sie eine Erklärung dafür, dass es der Linken offenkundig schwerfällt, die Verbitterungsenergien aufzufangen und in Protest umzuformen? Warum machen die Leute lieber Abendspaziergänge am Montag in Dresden, als sich mit Herrn Gysi zu unterhalten? Bude: Ich habe mit einem Kollegen genauer untersucht, wer zum AfD-Wählerpotenzial gehört. Wir haben drei Gruppen identifiziert, alle in ungefähr gleicher Größe. Die eine Gruppe gehört in der Tat zu den Deindustrialisierungsopfern oder zum Dienstleistungsproletariat. Das ist eine Gruppe, die im Grunde weltweit diskutiert wird. Eine zweite Gruppe sind die Selbstgerechten, die es übrigens auch in Ostdeutschland relativ viel gibt. Diejenigen, die sagen, wir haben uns jetzt angestrengt, wir haben eine kleine Immobilie, ich habe in die Erziehung und Ausbildung meiner Kinder investiert, und ich will mich jetzt nicht stören lassen durch irgendwelche Leute, die in unser Land kommen und irgendetwas durcheinanderbringen. Ich will Stabilität, so wie sie ist und wie ich meinen Beitrag dazu geleistet habe, und alles andere interessiert mich nicht. Die dritte Gruppe sind die Verbitterten. Die Verbitterten sind dadurch charakterisiert, dass sie relativ hoch gebildet sind, relativ gut verdienen und sich selbst für weltoffen ansehen. Aber wenn man sich genauer anschaut, was die Struktur dieser Verbitterung ist, dann trifft ein Gefühl von starker eigener Kompetenz zusammen mit dem Gefühl, diese nicht ausspielen zu können –, und zwar aufgrund von Bedingungen, die sie nicht kontrollieren konnten. Mit anderen Worten: ,Ich hätte viel mehr aus mir herausholen können, aber man hat mich ja nicht gelassen‘. Und dieses Man-hat-michja-nicht-gelassen ist die Struktur des Systemhasses. Der Systemhass ist bei dieser Gruppe der Verbitterten sehr klar zu erkennen, bei eigentlich relativ privilegierter eigener Lage. Die Gruppe der Verbitterten ist deshalb so bedeutsam, weil sie aufgrund ihrer hohen Ausbildung artikulations- und organisationsstark ist und im Grunde die Struktur der rechtspopulistischen Bewegung überall auf der Welt bildet. Und diese Struktur ist nicht eine Struktur von Alten, sondern es kann genauso gut eine Struktur von Jungen sein. Das große Gemeinsame dieser drei Gruppen ist, dass sie stark auf das Solidaritätsmodell gepolt sind – aber diese Solidarität können sie nur exklusiv verstehen, als eine Solidarität für Deutsche, für US-Amerikaner, für Sachsen. In Deutschland haben wir mit einem Potenzial zu tun, das man

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„Den Osten und den Westen gibt es nicht mehr“

nicht überdramatisieren muss, aber es wird sich schon um 15 Prozent handeln bei der nächsten Bundestagswahl. Die Frage ist also: Woher kommt diese Verbitterung, woher kommt diese Selbstgerechtigkeit? Und die zweite wichtige Frage: Wie kann man ein Würdegefühl für die Leute erzeugen, die die einfachen Dienstleistungen erbringen? Das ist deshalb so eine wichtige Frage, weil jede Gesellschaft für ihre Weiterentwicklung eine anerkannte Verliererkultur braucht. Das war in der deutschen Sozialgeschichte sehr lange Zeit die Sozialdemokratie. Aber, das ist ganz wichtig: Im Augenblick fällt die Sozialdemokratie wie die Linke aus als Würdelieferant für diejenigen, die schlecht wegkommen. Der Würdelieferant ist Rechts. (Applaus) Gysi: Aber warum wählen die, die abgeschottet sind oder sich so fühlen, nicht die Linke, sondern die AfD? Sie waren inzwischen Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Der größte Teil der Wählerinnen und Wähler der AfD kommt aus früheren Nichtwählerinnen und Nichtwählern. Warum? Sie hatten schon Union gewählt, SPD, Linke, und das hat ihnen alles nichts genutzt, es hat sich an ihrer Stellung nichts geändert. Zweitens galten wir als Protestpartei. Aber in dem Moment, in dem du in Brandenburg in der Regierung bist und den Ministerpräsidenten von Thüringen stellst, giltst du nicht als Protestpartei, ganz egal, welche sozialen Forderungen du stellst. Warum wählen sie nun AfD? Weil sie erreichen wollen, dass die Scheinwerfer sich wieder auf sie richten. Dass wir alle in der Politik, in den Medien, auch in der Wissenschaft uns um sie kümmern und fragen, warum sind die so unzufrieden, kann man daran was ändern. Was können wir dagegen tun? Es gibt ein Problem, das viel zu wenig beachtet wird: Union und SPD sind sich zu ähnlich geworden. Früher war es so: Wenn die Union gewann, verlor die SPD. Wenn die SPD gewann, verlor die Union. Heute verlieren beide. Und wenn Sie auf die Straße gehen und nach Unterschieden fragen, und Sie treffen jemanden, dem mehr als zwei einfallen, dann haben Sie einen Glücksfall. Und das ist gar nicht gut, dass die nicht mehr alternativ gegenüberstehen. Die erste Aufgabe ist also, dass die Union wieder eine konservative Partei wird, um den konservativen Teil der Wählerinnen und Wähler der AfD zu integrieren. Dann kommt das Zweite: Wir müssen die SPD so unter Druck setzen, dass sie wenigstens wieder so sozialdemokratisch wird, wie sie mal unter Willy Brandt war. Ich meine nicht mit den gleichen Inhalten, das ist schon klar, aber dass sie wieder eine andere Haltung hat. Und wenn wir dann einen sozialen Schub organisieren, sodass viele Menschen, die heute abgehängt sind und sich abgehängt fühlen, nicht mehr abgehängt sind und sich nicht mehr abgehängt fühlen, dann leisten wir einen Beitrag, um

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der AfD die Grundlage zu entziehen. Und wenn wir dann noch gezielter rangehen, die Fluchtursachen schnell und wirksam zu bekämpfen – nicht alles geht schnell, aber einiges schon – dann leisten wir auch diesbezüglich einen Beitrag. Und wenn Sie sagen, das geht alles nicht, dann sagen wir eben, die AfD muss doppelt und dreifach so stark werden. Das ist nicht mein Ziel. Deshalb sage ich, wir stehen vor historischen Aufgaben, um diese Entwicklung in ganz Europa und in Deutschland zu stoppen. (Applaus) Bisky: Ich stimme Ihnen völlig zu, dass wir vor historischen Aufgaben stehen. Ich würde die Beschreibung etwas anders versuchen. Bei den AfD-Wählern weiß ich es nicht so genau, Pegida habe ich mir angeschaut. Und ich bin in meiner Person statistisch der Durchschnittspegidaspaziergänger, 50, leidlich ausgebildet, normal verdienend. Das sind die Leute, die dort sind. Ich war auf der ersten Pressekonferenz von Lutz Bachmann und habe gedacht, in München wäre so jemand mit dem Charme der gescheiterten Existenz überhaupt nicht vermittelbar. Und habe dann gemerkt: Das sind Bayern, das sind Leute aus Baden-Württemberg, die da jeden Montag nach Dresden gefahren kommen. Mit der Idee, das ist ein ostdeutsches Problem, kommt man nicht sehr weit. Und dann hatte ich das Gefühl, das sind nicht Leute, die abgehängt und verunsichert sind, sondern Leute, die politische Leidenschaften genießen. Die genießen es ungeheuer, dort noch einmal im Kollektiv aufzutreten. Muss man nicht an politische Leidenschaften und auch an dieses Gefühl von Solidarität, was da herrscht unter den Pegidisten, es mag einem passen oder nicht, appellieren? Bude: Ich glaube, dass Sie vollkommen recht haben. Ich glaube, dass der goldene Begriff wirklich „Solidarität“ ist. Das ist deshalb so wichtig, weil Solidarität etwas anderes ist als der Begriff der sozialen Gerechtigkeit. Der simpelste Ausdruck von Solidarität ist die Feststellung: Du bist nicht allein. Und ich glaube, wir sind in der wirklich veränderten seelischen Lage überall in unserer westlichen Gesellschaft, dass wir von einer Idee wegkommen wollen, die viele Leute mit dem verbinden, was man heute gerne Neoliberalismus nennt. Es gab jetzt 30 Jahre ein großes kulturelles Ideal: Eine gute Gesellschaft ist eine Gesellschaft starker Einzelner. Bitte vergessen Sie nicht, Ronald Reagan und Margaret Thatcher sind nicht durch Putsch an die Macht gekommen, sondern durch Wahlen. Tony Blair und Gerhard Schröder sind wiedergewählt worden, mit hohen Zustimmungswerten. Die vereinte die Idee, dass starke Einzelne eine Chance haben, sich zu retten vor Entwicklungen, die unübersehbar sind.

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Daran glauben in unseren Gesellschaften heute immer weniger Menschen. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass die linken Kräfte im Augenblick in der Lage sind, einen begeisterungsfähigen Begriff von Solidarität zu entwickeln. Das ist für mich fast eine intellektuelle Aufgabe. Keine Gesellschaft ist denkbar, die nur aus Gewinnern besteht. Natürlich nicht. Eine gute Gesellschaft ist auch eine Gesellschaft, in der es akzeptierte Verlierer gibt, und das zu denken, ist sehr, sehr schwierig für eine linke Politik aktuell. Die Linke muss sich aber der Aufgabe stellen, gegenüber den Rechtspopulisten den Begriff der Solidarität wieder zurückzugewinnen. Gysi: Die Solidarität in Europa ist durch die Bundesregierung zerstört worden. Wir haben die Solidarität mit Griechenland aufgekündigt. Das Ergebnis war, dass sich alle kleineren Mitgliedsländer der EU gesagt haben, so werden wir behandelt, wenn es uns schlecht geht. Dann hat die Bundesregierung den Vorschlag der spanischen und der italienischen Regierungen nach EU-Flüchtlingsquoten abgelehnt, Ende 2014. Und als wir im September 2015 sie dringend benötigten – ich habe selten in Gesichter von Staatsund Regierungschefs gesehen, die mit einer solchen Freude uns den mittleren Finger zeigten. Da war mir völlig klar, die Solidarität ist jetzt tot in der EU. Und wenn wir die nicht wiederherstellen, und da hat Deutschland eine besondere Verantwortung, dann wird das Ganze nicht funktionieren, weder in der EU noch beim Euro. Jetzt zur Linken. Die Linke muss Solidarität immer internationalistisch verstehen. Und wenn es auch bei uns Leute gibt, die von Obergrenzen reden und die Solidarität nun national versuchen zu organisieren, widerspricht es dem, was ich unter links verstehe. Wenn ich beides anbiete in der Flüchtlingsdebatte, wählen mich weder die einen noch die anderen. Wenn ich aber eine klare Position habe und sage, es gibt nur einen Weg, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, das ist die wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen, alle anderen Wege taugen nichts, und dann aufzähle, welche Schritte ich gehen will, dann gewinne ich einen Teil. Und das ist meine Vorstellung von Solidarität, innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften. Früher konnte man ja denken, afrikanische Probleme sind afrikanische. Nun kommen sie nach Europa. Punkt. So ist es einfach. Ob man es will oder nicht. Und da kann Pegida reden über Mauern so viel sie wollen: Wenn wir wirklich eine Mauer bauten um Deutschland, mal abgesehen davon, dass wir in Berlin besondere Erfahrungen damit haben, oder um Europa, wobei ich gar nicht weiß, wie man im Mittelmeer eine Mauer baut, dann verschaffen wir uns eine Pause. Und die Pause hält nicht länger als ein bis zwei Jahre, und dann stürmen Millionen die Grenzen, und es entsteht eine unbeherrschbare Situation. Und die Versuche der euro-

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päischen Regierungen, die Flüchtlingsfrage ernsthaft über das schwächste Euroland Griechenland und den vermeintlich wahnsinnig zuverlässigen Erdoğan zu lösen, ist so etwas von absurd. (Applaus) Bude: Angesichts von dem, was wir Globalisierung nennen, ist Internationalismus auch eine schwierige Kategorie geworden. Das muss man realisieren und versuchen, seine politische Strategie darauf abzustimmen. Ein letzter Punkt ist natürlich, dass seit 2008 in allen unseren Gesellschaften eine große Verunsicherung existiert über die Zukunft des Kapitalismus.

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Zur Weiterführung und Vertiefung dieser Thematik der zweite Beitrag von Heinz Bude in diesem Band, S. 70 ff.: „Kein starker Arm nirgends. Das andere Proletariat im alten und neuen Kapitalismus“.

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„WIR MÜSSEN DIE DEMOKRATIE VOR DEN DEMOKRATEN SCHÜTZEN“ Bröckelt die Verständigung? Hans Vorländer und Oliver Nachtwey über die Gesellschaft der Empörten

Gespräch am 20. November 2016 Bisky: Hans Vorländer ist Politikwissenschaftler. Er lehrt in Dresden und hat eine Studie angefertigt: Wer geht zu Pegida? Oliver Nachtwey arbeitet derzeit an der Technischen Universität in Darmstadt und hat in diesem Jahr bei Suhrkamp Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne vorgelegt. Er versucht, darin ein Panorama der Konflikte der Gegenwart zu zeichnen. Wenn Sie zu Zeitungen und Zeitschriften greifen, dann können Sie im Moment das Gefühl haben, die Situation sei besonders ernst. Vor zwei Jahren hätte ich noch gesagt, Journalisten neigen dazu, ständig Zeitenwenden auszurufen. Doch im Moment klingen alle diese Diagnosen erschreckend plausibel. Ralf Dahrendorf, ein großer Liberaler, hat 1997 schon in der ZEIT behauptet, ein Jahrhundert des Autoritarismus sei keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert. Alle Diagnosen eines Triumphs der Populisten können Sie da miteinrechnen. Vor einem Jahr hat in Polen die Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) wieder gewonnen und das Verfassungsgericht paralysiert. Seitdem ist das Land ohne ein funktionierendes Verfassungsgericht. Es gibt parallel dazu Säuberungen im Fernsehen und in Rundfunkstationen, inzwischen gehen sie an das Schulsystem. Da passiert ein sehr zügig verlaufender Umbau der Gesellschaft. Sie werden alle gehört haben, dass Donald Trump die Wahlen gewonnen hat. Und meine Kollegen im Politteil diskutieren im Moment, ob er ein Faschist sei oder nur ein Populist. Sie werden vielleicht gehört haben, dass in Ungarn Viktor Orbán zwar einige Niederlagen eingesteckt, aber doch gleichzeitig die wichtigste Oppositionszeitung des Landes kassiert hat. Sie werden gehört haben, dass in der Türkei inzwischen Zehntausende verhaftet worden sind und dass über die Einführung der Todesstrafe diskutiert wird. Österreich hat eventuell bald einen FPÖ-Präsidenten. Ich könnte jetzt so fortfahren, ohne für die Freunde einer offenen Gesellschaft eine positive Nachricht zu haben. Trifft die Prognose, die Dahrendorf damals vorsichtig formulierte, zu? Oder sind das doch sehr verschiedene Entwicklungen?

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Vorländer: Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass es beunruhigende Tendenzen gibt, die zutreffend von Ihnen benannt worden sind. Der Brexit hat uns kalt erwischt, Trump hat uns kalt erwischt. Wir sind immer davon ausgegangen, dass wir zwar populistische Aufwallungen sehr ernst nehmen müssen, aber die demokratischen Systeme letztlich stärker sind und die Bürger diesen Empörungswellen in Wahlen eine Absage erteilen. Das ist nun nicht mehr so. Und das ist in der Tat eine beunruhigende Entwicklung, die uns veranlassen sollte, sich Sorgen um die Demokratie zu machen und für sie zu kämpfen. Wir wissen, dass Demokratien sehr labile Systeme sind. Sie bleiben nicht ewig stabil, Demokratie muss man sich immer wieder erkämpfen. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren schien die Demokratie so gefestigt zu sein, dass manche sagten, es gibt gar keine Alternative mehr dazu. Und auf einmal gibt es autoritäre Rückschläge. Ich bin dennoch überzeugt, dass die Demokratie ein lernfähiges System ist und mit Populismen umzugehen versteht. Zudem zerlegen sich populistische und rechtsextreme Gruppierungen und Parteien manchmal auch selbst. Die Frage ist nur, wie hoch ist der Preis? Darf man sie an die Regierung kommen lassen? Und was passiert dann? Der Schaden ist hoch, siehe Orbán oder Trump. Ein Trend zur autoritären Überformung liberaler Demokratien ist erkennbar. Aber ob das wirklich zu dauerhaft autoritären oder autokratischen Systemen führt, das ist zu früh zu sagen. Bisky: Herr Nachtwey, haben die Entwicklungen Sie auch überrascht oder waren sie in einer „regressiven Moderne“ zu erwarten? Nachtwey: Mich wundert eher, dass man sich drüber wundert, dass es jetzt so kommt. Wir hatten fast dreißig Jahre eine globale neoliberale Politik, die die Arbeitsmärkte und den Sozialstaat sehr stark dereguliert hat. Und dass man davon ausgeht, dass die Leute in einer Art demokratischen Stillschweigens alles mit sich machen lassen, finde ich überraschend. Didier Eribon beschreibt in seinem Buch Rückkehr nach Reims, wie die französischen Arbeiter lange kommunistisch oder sozialdemokratisch gewählt haben. Dann haben sie, im Grunde als regressiver Aufschrei, gesagt, wir wählen jetzt Le Pen, weil das die einzige Form ist, wie wir eine Stimme bekommen können. Und man muss nicht nur nach Frankreich schauen, bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern haben Gewerkschafter überproportional die AfD gewählt. Das hat etwas damit zu tun, dass sehr viele Menschen das Gefühl haben: Wir besitzen weder Macht noch Stimme. Und ich würde Herrn Vorländer widersprechen, wir wollen ja auch ein bisschen streiten. Bisky: Wir müssen.

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„Wir müssen die Demokratie vor den Demokraten schützen“

Nachtwey: Sie haben gesagt, die Demokraten müssen jetzt die Demokratie verteidigen. Ich würde einen Schritt weiter gehen: Wir müssen die Demokratie vor den Demokraten schützen, und zwar vor einer bestimmten Sorte Demokraten. Wenn wir sagen: Frau Merkel steht für eine gewisse Form der Stabilität, genau wie Herr Steinmeier, dann ist das sicherlich richtig. Aber Frau Merkel gehört zu denjenigen, die gesagt haben, wir brauchen eine Demokratie, die marktkonform ist. Das heißt, wir wollen die Demokratie den Märkten und ihrer Logik unterordnen. Und genau diese Logik haben wir in den meisten westlichen Ländern lange Jahre erlebt, und das hat einen unfassbaren Entfremdungsprozess produziert. Aber das wären Momente, innezuhalten und etwas zu ändern. (Applaus) Bisky: Herr Vorländer, kann man nicht auch Pegida als einen Versuch verstehen, wieder Politik in den politischen Raum zu bringen, statt immer nur der Behauptung zuzuhören, dies oder jenes sei alternativlos? Vorländer: Natürlich. Pegida hat Dresden in einem Maße politisiert, wie ich es vorher nicht kannte. Die Gesellschaft ist regelrecht gespalten worden, und es vergeht kein Tag, wo sich Leute nicht heftig streiten und manchmal auch auseinanderstreiten. Es ist es in der Tat so, dass auch Menschen durch die AfD repräsentiert werden, die vorher dachten, dass sie nicht mehr gehört werden. Und dass die sogenannten etablierten Parteien abgewatscht werden, ist ganz offensichtlich. 80 Prozent der AfD-Wähler in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und anderenorts haben gesagt, wir verpassen den anderen Parteien einen Denkzettel. Das heißt, da ist etwas schiefgelaufen, und da ist womöglich zu wenig politisiert worden. Alle sind in die Mitte gerückt, alle haben das Gleiche vertreten, und die Ränder, die unterschiedlichen Ansichten über Politik, sind nicht mehr wirklich besetzt gewesen. Alles dem Neoliberalismus zuzuschreiben, ist mir ein bisschen zu einfach. Das ist in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich gelaufen. Aber natürlich gibt es Globalisierungsverlierer, wie es auch Wendeverlierer gibt, das ist klar. Auch in Sachsen, wo die demografischen, sozialen und ökonomischen Umbrüche besonders radikal gewesen sind. Sie sind, das haben die Untersuchungen gezeigt, womöglich gar nicht immer materiell wirkliche Verlierer – sie fühlen sich aber kulturell abgehängt. Sie glauben nicht mehr, dass sie gehört werden. Und das ist etwas, was Mobilisierungsexperten wie den Populisten die Chance gibt, diese Leute für sich zu gewinnen. Das merkt man hier, das merkt man in den europäischen Gesellschaften, und das ist das Trump’sche Erfolgsrezept.

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Hans Vorländer und Oliver Nachtwey

Bisky: Wer geht zu Pegida? Vorländer: Im Augenblick sind das 2000 Leute, die da montags noch laufen. Das ist der harte Kern, der hat eine etwas andere Zusammensetzung als in den Hochzeiten zur Jahreswende 2014/15 und dann im Herbst 2015. Da waren es viele aus der bürgerlichen Mitte, aus der sächsischen bürgerlichen Mitte. Gut ausgebildet, auch leicht über dem sächsischen Durchschnitt verdienend. Sehr viele Männer, vor allem in der Altersgruppe über 50. 70 Prozent waren Männer, 30 Prozent Frauen. 40 Prozent kamen aus Dresden, 40 Prozent aus dem restlichen Sachsen, und 20 Prozent kamen von woanders her. Es war keineswegs so, dass es nur, wie am Anfang gedacht wurde, NPD-Leute, Rechtsextremisten, Kameradschaften, die Überbleibsel der Skinheads Sächsische Schweiz et cetera waren. Die liefen auch immer mit, haben aber letztlich nicht den Kern von Pegida in Dresden gebildet. Von den Organisatoren her waren es in Dresden Leute, die keine direkte rechtsextremistische Vergangenheit besaßen. Bisky: Münchner Bekannte sagen gern, das sei ein sächsisches Problem. Es gibt eine Tendenz, solche Probleme von sich zu schieben und damit zu entsorgen. Das war in den neunziger Jahren auch schon so, dass man sagte, diese rechten Schlägertrupps sind nicht unsere Kinder, die haben mit uns nichts zu tun. Aber heute haben wir es mit unseren Nachbarn zu tun. Und als Journalist muss ich sagen, das sind auch meine Kollegen: Ich kenne einen Teil der Leute, die heute bei der AfD aktiv sind, von der Buchmesse. An dieser Stelle müsste normalerweise die Frage kommen, ob die Linke versagt und es versäumt hat, die Unzufriedenheit zum Thema zu machen. Ich will die Frage aber zuspitzen. Die Regierung in Polen hat vor allem gewonnen, weil sie ein Kindergeld von 500 Złoty eingeführt hat. Das sind etwa 125 Euro, das ist viel Geld in Polen. Trump hat Wahlkampf gemacht mit einem klassisch linken Thema: dass die Leute wieder Arbeitsplätze kriegen. Gegen den Freihandel sind meine linken Bekannten in Berlin im Grunde auch alle. Bei der Verständigung mit Russland will ich gar nicht fragen, wer dafür ist. Hat sich das Schema Links-Rechts also überlebt? Nachtwey: Ganz und gar nicht. Das ist eine essenzielle Frage von Links und Rechts. Das Problem ist eher, es gibt eine normative Unordnung. Wenn Sie jetzt die Augen schließen und sich an die letzten Jahre erinnern: Da gab es eine Partei, die hat die Wehrpflicht abgeschafft, aber das waren nicht die Grünen. Dann gab es eine Partei, die hat die Atomkraft abgeschafft, aber das waren auch nicht die Grünen. Und dann gab es eine Partei, die hat den Sozialstaat beschnitten, und das war nicht die FDP.

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Und was wirklich sehr, sehr auffällig ist, Sie haben es schon erwähnt, Herr Vorländer: Alle Parteien stehen sich im Grunde in der politischen Mitte auf den Füßen. Programmatisch regiert nur noch der Narzissmus der kleinen Differenz, weil es keine weltanschaulichen Unterschiede mehr gibt. Und auf der anderen Seite gibt es die großen Fragen, die aber von der Linken nicht mehr bedient werden. Mit Polen kenne ich mich leider zu wenig aus, ich kenne mich ein bisschen mit Ungarn aus, und da ist es kaum anders: Dass Viktor Orbán ein Rechtspopulist ist, steht außer Zweifel, aber es waren die Sozialdemokraten, die neoliberale Reformen auf dem Arbeitsmarkt in das Land gebracht haben, und Orbán führt eine Art nationalen Sozialprotektionismus durch. Das ist ein globales Muster: Dass die Linke sich sehr stark liberale Arbeitsmarktvorstellungen angeeignet hat, und dass die rechten Populisten so zu einer Art postindustrieller Arbeiterparteien werden können. Trump hat das jetzt so gemacht, und er hat das sogar explizit angesprochen. Und Le Pen macht das auch, indem sie ganz gezielt die deindustrialisierten Regionen von Frankreich erobert. Es sieht im Moment nicht besonders gut aus. Aber die Linke hat durchaus eine Perspektive. Sie müsste nur wieder als Linke erkennbar sein, dann kann sie sehr, sehr erfolgreich sein, wie man an Jeremy Corbyn und der britischen Labour Party sehen kann. Vorländer: Es gibt einen weiteren Punkt, glaube ich, der es der Linken verunmöglicht hat, den Protest rechtzeitig zu erkennen und für sich nutzbar zu machen. Die Linke ist in der Regel universalistisch und kosmopolitisch. Sie tritt für alle Formen von Freiheitsbewegungen ein, für Diversität und Vielfalt. Sie hat auch in der Flüchtlingsfrage eine sehr eindeutige Position eingenommen. Wenn nun die Rechte in dem Augenblick, in dem es um Identitäten geht, die gesamten Befürchtungen auf den Flüchtling oder den Unbekannten, den Fremden, projiziert, hat die Linke als Bewegung der Kosmopoliten verloren. Das heißt, es geht nicht nur um die ökonomische Dimension, sondern auch um die kulturelle. Wo beides zusammenkommt, greift der rechte Populismus zu. Bisky: Hat nicht Pegida etwas im Angebot, was man woanders im Moment nicht bekommt? Ein Gefühl von Gemeinschaft. Die wollen das Gefühl genießen, dass sie nicht der starke Einzelne sind, von dem der „Neoliberalismus“, ich würde das immer in Anführungsstriche setzen, geredet hat, sondern dass sie wirklich Solidarität, von mir aus in einer pervertierten Form, erleben.

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Hans Vorländer und Oliver Nachtwey

Vorländer: Ja. Das hat mir ein Pegidist auch gesagt: „Das ist eine Wallfahrt für uns. Andere gehen sonntags in die Kirche, wir gehen montags zu Pegida.“ Die montägliche Zusammenkunft ist ein Ritual der Gemeinschaftsstiftung geworden. Ich habe es auch einen Stammtisch der Straße genannt, weil wir auch beobachten, dass sich in den ländlichen Regionen all das, was man bisher als soziale Institution verstanden hat, Vereine, Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Parteien selbst, mehr oder minder aufgelöst hat oder nicht vorhanden ist. Auf dem Gebiet der DDR stand es ohnehin schon 1990 nicht mehr zur Verfügung, und es hat nicht rekonstruiert werden können in dem Sinne, wie die Restbestände vielleicht noch in Westdeutschland vorhanden sind und gemeinschaftsstiftend wirken können. Das heißt, wir haben in diesem sozialen, gesellschaftlichen, institutionellen Bereich eine Wüste. In Ostsachsen, in vielen kleinen wunderschön herausgeputzten Dörfern, gibt es nicht mal mehr eine Kneipe, wo man sich treffen und beim Bier richtig ablästern könnte. Das macht man jetzt in den sozialen Medien, und man macht es öffentlich auf der Straße. Bisky: Dass es das Bedürfnis des Zusammenseins gibt, kann ich verstehen. Aber ich hätte nicht für möglich gehalten, dass man in dieser Bundesrepublik, die ja gerade in den neunziger Jahren sehr viele erinnerungspolitische Debatten noch einmal geführt hat, wieder ein Deutsch Goebbels’scher Diktion reden kann, Begriffe wie „Lügenpresse“, „völkisch“, ohne sofort ausgeschlossen zu werden. Haben Sie eine Erklärung dafür? Vorländer: Das ist auch die Enthemmungswirkung der sozialen Medien. Da haben sich sehr deutlich Filterblasen und Echokammern herausgebildet. Es gibt Semantikexperten, die im politischen Raum sehr aktiv sind mit Magazinen wie Compact beispielsweise und Webseiten, die ihre Klientel in den sozialen Medien sucht, findet und an sich bindet. Die Identitären machen das, die LePenisten haben das schon lange so gemacht. Da geht es dann um kulturelle Identität, die kurzgeschlossen wird mit nationaler Identität, mit Patriotismus, mit ethnischer Homogenität, bis hin zu den Begrifflichkeiten des „Völkischen“. Von diesen Positionen eines aggressiven Nationalismus ist es dann nicht mehr weit bis zur Feinderklärung. Der ganze Diskurs über die nationale Souveränität, der dann ja links und rechts gleichermaßen zu finden ist, auch Sahra Wagenknecht äußert sich dementsprechend, ist der Versuch zu sagen, wir können die Kontrolle auch über dein Leben wiedergewinnen, wenn wir uns zusammenschließen, wenn wir die Grenzen dicht machen und alles selbst bestimmen. Aber das ist natürlich eine Illusion.

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Nachtwey: Ich finde Ihre Beobachtung richtig. Aber beim Thema „Identitäten“ ist zu merken, dass wir auch da eine Zeit normativer Unordnung erleben. Ermöglicht nicht gerade der Konsens, der bei diesen Themen so stark ist, die maximale Möglichkeit zur abgesetzten eigenen Identitätsbildung? Eben durch die maximale Abgrenzung vom herrschenden Diskurs. Bisky: Sie werden dem Zeitungsmann die kurze Bemerkung verzeihen, dass ich nicht glaube, dass es noch so etwas wie einen „herrschenden Diskurs“ gibt. Vor zwanzig Jahren hätte ich vielleicht noch gesagt, FAZ, Spiegel, Süddeutsche, ein bisschen Glotze, und das ist es dann. Inzwischen ist dieser Diskurs zerbröselt, das Feld fragmentiert. Inzwischen gibt es eine unüberblickbare Fülle von Angeboten. Compact haben Sie erwähnt, die anderen einschlägigen Webseiten will ich hier gar nicht nennen. Nachtwey: Ich habe in den letzten Jahren beim Spiegel oder der ZEIT eher wenig Texte gelesen, die relativ emphatisch auf das soziale Unten geschaut haben, oder die versucht haben, diese Sozialstrukturen oder diese Nöte abzubilden. Ich kenne die Meinungen da. Es geht um die Mittelschicht, und es geht um die entsprechenden liberalen Positionen. Vorländer: Die audiovisuellen und Print-Medien müssen konkurrieren mit den Angeboten im Netz. Das ist eine ganz neue Situation. Und deshalb gibt es keine herrschende Meinung in diesem Sinne mehr, weil jeder sich seine Meinung im Netz suchen und bestätigen lassen kann. Dadurch gibt es eine Parzellierung, eine Fragmentierung dessen, was man Öffentlichkeit nennt. Und wir reden alle aneinander vorbei. Jeder sucht sich seine Deuter im Netz, und alle bleiben unter sich. Ich glaube nicht, dass sich diese althergebrachte Form der „Öffentlichkeit“ jemals noch einmal wiederbegründen lässt. Ich glaube auch nicht, dass sich die Konstellationen und ganz klaren politischen Lager, die wir in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren hatten, in dieser Form reproduzieren lassen. Nachtwey: Facebook und das Internet sind Medien, die gesellschaftliche Aspekte reflektieren. Wir sollten also nicht zu stark auf das Medium schauen, sondern auf die Gesellschaft. Ich würde die richtige Spur sehen in dem, was Sie vorhin gesagt haben: Es gibt nicht mehr die Parteiversammlung, die Gewerkschaftsversammlung, den Stammtisch, wo man sich treffen und seine Wut artikulieren kann, und dann erlebt man aber auch mal die Widerrede. Diese Widerrede, diese Form des demokratischen Diskurses vor Ort, die fehlt.

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Bisky: Ich möchte einen Gedanken aufgreifen, den Sie vorhin anformuliert haben: Wir sind eh alle aus der Mittelschicht und blicken auf das „Unten“. In Ihrem Buch schreiben Sie, es gab eine Komplizenschaft zwischen der liberalen Mittelschicht und dem Neoliberalismus in der Kritik an der Industriegesellschaft. Können Sie das näher erklären? Nachtwey: In der alten Bundesrepublik gab es ein höheres Maß an Sicherheit, aber die Fabriksirene hat auch sehr, sehr, sehr, sehr laut gedröhnt, die Arbeit war schon relativ autoritär strukturiert. Ich weiß nicht, wer von Ihnen noch dieses Ton-Steine-Scherben-Lied kennt: „Ich will nicht werden, wie mein Vater ist, denn er sagt immer, das Leben ist süß, süß wie Maschinenöl“. Das war ein Aufbegehren gegen diese zwar sichere, aber auch langweilige, sterile und autoritäre Gesellschaft. Heute ist es für Frauen selbstverständlich, dass man ein Recht hat zu arbeiten und dass der Mann die Kehrarbeit mitträgt. Früher war die selbstverständliche Erwartung, dass die Frau zu Hause bleibt und die Kinder erzieht. Das war ein Teil der Kritik, ich nenne es „Künstlerkritik“, individuelle Autonomie und gleichberechtigte Befreiung anzustreben. Das Problem an dieser Künstlerkritik ist, dass sie nicht nur eine gesellschaftliche Liberalisierung schuf; damit einher ging auch die Arbeitsmarktliberalisierung und die ökonomische Liberalisierung. Etwas klischeehaft gesagt war das die Haltung, ich möchte gerne flexibler arbeiten und auch gerne im Café, ich möchte an meinem Applebook arbeiten und einen Latte Macchiato trinken. Und dafür ist mir die feste Betriebszugehörigkeit, die meine Eltern noch hatten, vierzig Jahre in dem gleichen Betrieb, aber dafür mit Sozialversicherung, gerade nicht so wichtig. Und das ist die neoliberale Komplizenschaft. Niemand wusste, dass es ein dreckiger Deal war. Das ist das Diabolische an diesem Mechanismus, dass man erst hinterher merkt, dass es ein dreckiger Deal war. Vorländer: Wir haben heute doch aber eine vollkommene Revolutionierung auch der Art und Weise, wie wir arbeiten, Stichwort Digitalisierung. Das heißt, wir haben heute eine Individualisierung, die nicht nur eine kulturelle Individualisierung ist. Wie man das wieder in die tradierten Formen der Arbeit mit Klassen und Betrieben zurückbringen kann, sehe ich nicht. Wir haben es schlicht und einfach mit individualisierten Produktionsbedingungen zu tun, auf Grund einer enormen technologischen Veränderung, die alle bekannten kollektiven Formen des Arbeitens zu zerstören drohen.

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Nachtwey: Ist das nicht genau eines der zentralen Probleme, die wir im politischen Diskurs erleben? Dass man auf Sachzwänge verweist, sei es die Globalisierung, sei es die Technologie, und den Leuten mit ihren sozialen Ängsten sagt: Na ja, kann man nichts machen, gewöhnt euch dran. Dass diese Leute dann zu etwas ungewöhnlichen Mitteln greifen, ihren Widerspruch zu artikulieren, das wundert mich nicht. Sie schildern den Prozess ja völlig richtig, aber insgesamt ist unsere Beschäftigungsquote jetzt im Jahr 2016 so hoch wie nie. Ich will kein Zurück zur großen Fabrik mit Kantine und allem. Es gibt kein Zurück. Aber es gibt eine Gestaltbarkeit dieser Verhältnisse. Ich bin auch ein großer Freund der Individualisierung, aber können wir nicht Individualisierung gestalten mit Sozialversicherung, mit vernünftiger Gesundheitsversicherung? Ich glaube, dass die Politik das könnte, oder dass die Gesellschaft das über soziale Konflikte könnte. Sie haben gesagt, das Problem der Linken ist, dass sie universalistisch sein muss und nichts machen kann, wenn die Rechte die Identität anspricht. Die Linke muss nicht so universalistisch sein, sie könnte antagonistisch sein. Für viele Leute ist doch jetzt das Gefühl, dass diese Gesellschaft irgendwie ein Kuchen ist, der schrumpft oder zumindest nicht mehr wächst. Und dann sagt jemand den Migranten, nehmt euch doch mal ein Stück vom Kuchen. Die Leute haben das Gefühl, sie müssten stärker strampeln, damit sie auch noch etwas abbekommen. Man könnte aber auch darangehen, den Kuchen zu vergrößern. Bei der Bankenrettung gab es relativ viel Geld. Es gibt relativ viel Geld, Deutschland ist reicher denn je. Also hätte die Linke durchaus die Option zu sagen, wir können uns die Flüchtlinge leisten, wenn wir die Reichen besser besteuern. Aber das will niemand sagen. Und mir leuchtet nicht ein, warum. (Applaus) Die Demokraten fallen hinter die Aufklärung zurück, weil man nicht mehr in Alternativen denkt. Das ist das zentrale Element der Postdemokratie, die wir haben: die diskursive Eliminierung von machbaren Alternativen. Alle Politik wird nur noch als Sachzwang exekutiert. Bisky: Herr Vorländer, leben wir in postdemokratischen Zeiten? Vorländer: Nein, ich glaube nicht. Postdemokratie ist, sehr schlagwortartig zusammengefasst, die Auffassung eines in sich geschlossenen Systems von global agierenden Unternehmen, Lobbyisten, Medien und politischen Parteien, die sich nur auf ihren Kreis der Entscheidungsbildung und der Politik konzentrieren. Das ist in der Phase der sehr vehementen Globalisierung sicherlich auch manchmal der Fall gewesen.

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Aber wir haben im Augenblick doch eine Entwicklung, in der dieses Globalisierungsparadigma sehr kritisch diskutiert und aufgebrochen wird. Wir haben genügend, auch alternative Vorstellungen zur Zukunftsgestaltung. Wir müssen sie nur diskutieren, und wir müssen sie streitiger diskutieren, auch was Europa angeht, beispielsweise, welche Formen des Schuldentransfers oder der Austeritätspolitik man treiben will und was uns der Zusammenhalt und die Rolle Europas in der Welt wert ist. Bisky: Es scheint mir eine große Versuchung, auf die Kritik an den Demokraten durch Blockbildung zu reagieren. Bei mir löst das immer Furcht aus, weil ich diese Blockbildung nicht mag. Aber es gibt viele, denen die Politik der Eurorettung nicht gepasst hat. Die müssen im Parlament vertreten sein. Es gibt sehr viele Leute im Lande, die sind der Meinung, wir wollen keine Flüchtlinge, wir wollen kein Einwanderungsland sein. Auch die müssen unter Demokraten im Parlament vertreten sein. Das Problem mit den Populisten ist nur, dass sie im Regelfall der Meinung sind, wer anderer Meinung ist als sie, ist entweder gekauft, korrumpiert oder verrückt. Es gibt sozusagen keine andere Meinung als die populistische. Wie redet man mit solchen Leuten? Denn reden muss man ja wohl mit ihnen. Nachtwey: Man braucht nicht zu versuchen, mit denen zu reden. Das Ressentiment ist etwas so Kaltes und Abwertendes, das völlig immunisiert gegen Argumente. Das ist das eine. Aber die andere Frage ist die zentrale: Ich glaube, die Blockbildung hat schon längst begonnen. Dem muss man sich stellen. Und Dahrendorf war es ja auch, der gesagt hat, wenn eine Gesellschaft etwas integriert, dann ist das der Streit. Kein simulierter Streit, sondern echter Streit. Man bräuchte andere, klar konturierte Alternativen zur AfD, aber auch vielleicht zu den anderen Parteien. Die Weimarer Republik ist daran gescheitert, dass sie keine Demokraten hatte. Aber wenn jetzt die Demokraten fortwährend sagen, nur wer sich auf unsere Werte und Verfahren einlässt, nur der ist im demokratischen Prozess drin, dann werden wir in eine Situation kommen, in der wir eine weiterschrumpfende Mitte haben, die von Blöcken Links und Rechts konfrontiert wird. Ich sehe nur die Möglichkeit, dass man die Blöcke zulässt. Erst durch die Zulassung der Blöcke wird es wieder soziale Integration geben. Vorländer: Es kommt darauf an, welche Blöcke man meint. Wir müssen uns wieder angewöhnen, vernünftig miteinander zu streiten und unter-

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„Wir müssen die Demokratie vor den Demokraten schützen“

schiedliche Konzepte zu haben. Da sind wir sofort einig. Konflikt auf einer gemeinsamen Grundlage, der nicht die Demokratie in toto infrage stellt, ist immer integrierend. Aber wir brauchen verbindliche Grundlagen. Es gibt ganz bestimmte Regeln, die können wir nicht verletzen, wir können nicht den anderen volksverhetzende Parolen hinterherlaufen. Da gibt es einfach Grenzen. Dresden ist ein Laboratorium gewesen für solche Blockaden und wie man sie aufbricht. Man muss runter von den moralischen Anwürfen, dass man sich wechselseitig abspricht, ein anständiger Mensch zu sein. Denn das ist passiert: Dass wir, die wir uns kosmopolitisch wähnen, die zwei, drei, vier, fünf Sprachen sprechen, die auch mit Vielfalt umzugehen gelernt haben, den anderen erzählen, ihr müsst genauso weltoffen sein wie wir, sonst seid ihr keine anständigen Menschen. Wir müssen weg von diesen moralisch imprägnierten Diskursen. Und dann kann man auch streiten über die richtige Sozial- oder Wirtschaftspolitik und wie man mit entleerten Landschaften umgeht, und dann kann man versuchen, tatsächlich integrierend zu wirken durch den Austrag unterschiedlicher politischer Konzepte. Bisky: Also politische statt moralischer Blockbildung. Ich sehe hier einen Konsens drohen und würde deswegen gerne Ihnen die Gelegenheit geben, Fragen zu stellen. Publikum: Ich werde nächstes Jahr mein Abitur ablegen und wollte mich erstmal bedanken für die Einblicke. Ich habe das akute Beispiel bei mir in der Familie. Meine Großeltern wohnen bei Bautzen, und es gibt zwischen ihrer und meiner politischen Meinung eine extreme Frontenverhärtung. Wie könnte man das lösen? Den Lösungsansatz gibt es wahrscheinlich nicht, aber wie können wir diese fehlende Kommunikation überwinden, zwischen den Schichten, den Generationen und den Meinungen? Vorländer: Ich höre das immer wieder und erlebe, dass zum Beispiel Freundeskreise in Dresden gespalten sind. Es gibt kein einheitliches Rezept dagegen – mit Ausnahme von einem: Das ist reden, reden, reden. Es gibt im Land Sachsen, vor allen Dingen in Ostsachsen und in Dresden, viele Dialogforen, wo Menschen zusammenkommen, in den Gemeinden, in den Städten, in den Kreisen. Das geht nicht immer gut, manche Gesprächsversuche scheitern auch dramatisch. Aber es gibt doch manche Dialogforen, wo es zu Annäherungen kommt oder wo man sich zumindest mal zuhört. Publikum: Miteinander reden ist genau das Richtige. Aber was viele Medien doch stereotyp machen, ist, die Menschen, die gegen einen unkon-

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Hans Vorländer und Oliver Nachtwey

trollierten Flüchtlingszustrom sind, ständig und immer als Neonazis, Rassisten, Ausländerfeinde, Islamophobe oder Fremdenhasser zu bezeichnen. Warum kann man davon nicht abgehen? Vorländer: Es hat in der Anfangsphase von Pegida sehr schroffe Reaktionen gegenüber den Pegidisten gegeben, was dazu geführt hat, dass immer mehr kamen, um sich dagegen zur Wehr zu setzen. Die Stereotypisierung hilft nicht. Aber umgekehrt muss man auch sagen: Wer jedes Tabu bricht und auf der Straße Dinge schreit, die nicht zu akzeptieren sind, weil es sich um Hassrede und Hetze handelt, der hält nicht mehr die zivilisatorischen Minima ein. Der darf nicht auf Toleranz hoffen. Wenn jemand sich fremdenfeindlich äußert, dann muss das auch als xenophob bezeichnet werden dürfen. Publikum: Herr Nachtwey, Sie haben gesagt, viele Leute sind empört, weil wirtschaftliche Verwerfungen stattfinden, weil die Globalisierung fortschreitet. Nun geht es aber bei Pegida so gar nicht um irgendwelche Globalisierungskritik, die ich wahrnehmen könnte. Es gibt eine Kritik des Religiösen bis hin zum Islamophoben, und das hat eine sehr hohe Mobilisierung. Auch bei der AfD sehe ich eine hohe Mobilisierung aufgrund dieses Themas, und nicht so sehr wegen irgendwelcher ökonomischen Belange. Wie erklären Sie sich das? Nachtwey: Ein sehr starkes Motiv bei Pegida ist das Thema, dass einer bestimmten Gruppe, den Flüchtlingen, ein Privileg zugeteilt wird, etwas, was wir nicht haben. Aber Sie haben recht, eine unmittelbare soziale Frage ist da nicht drin, zuallererst wird das eigene Nichtgehörtsein auf andere Gruppen projiziert, das können die politischen Eliten sein, das können die Migranten sein. Bisky: Es gab und gibt die Leidenschaft, durch möglichst drastische Benennungen Probleme einfach zu entsorgen: mit Begriffen, die nichts erklären, nichts beschreiben, nur der Triebabfuhr dienen. Und der Rechtfertigung, nicht so genau hinzuschauen. Das halte ich grundsätzlich für falsch. Ich würde immer skeptisch reagieren, wenn jemand nur deswegen von „Nazis“ redet, um nicht hinschauen zu wollen. Es gibt das auf der anderen Seite ebenso, auf allen Seiten.

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„RELIGION SYMBOLISIERT HEIMAT“ Rena Tali und Johann Hinrich Claussen über die Rückkehr der Religion(en)

Gespräch am 1. Juni 2017 Bisky: Die „Rückkehr der Religionen“ ist ein Thema, das selbst immer wieder zurückkehrt. Die erste Studie, die von der Rückkehr des Heiligen handelt, ist 1977 erschienen. Und man kann sich fragen: Sind die Religionen überhaupt weg gewesen? Ich selber glaube: auf jeden Fall, und sie haben sich bei der ständigen Rückkehr ziemlich verändert. Wenn man mehrere Religionen hat, kann über den wahren Glauben gestritten werden. Das passiert aber aktuell, glaube ich, nur in theologischen Seminaren. Die öffentliche Rede in Deutschland über Religion scheint mir im Moment von einem zänkischen Ton geprägt zu sein. Da geht es vor allem darum: Dürfen die denn das? Dürfen die ein Kopftuch tragen? Darf eine Lehrerin ein Kreuz in der Schule haben? Darf man in Erfurt ein Minarett aufstellen? Es gibt dann immer viele, die sagen: Religion ist Privatsache, und wir haben einen laizistischen Staat, der sich von allen Religionsgemeinschaften streng getrennt hält. Das klassische Beispiel dafür ist Frankreich, und das stimmt mich sehr skeptisch. In Frankreich hat der Laizismus offenkundig zu einem besseren Zusammenleben zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften wenig beigetragen. Rena Tali kommt aus dem Libanon und ist erst seit Kurzem in Deutschland. Johann Hinrich Claussen kommt aus Hamburg, er war dort lange Hauptpastor in St. Nikolai und ist aktuell Kulturbeauftragter der EKD. Beide sind Autoren eines Buches, 95 Anschläge & Thesen für die Zukunft, das zum Reformations-Jubiläum noch einmal 95 Thesen versammelt. Die These von Herrn Claussen heißt: „Gott ist nicht zu gebrauchen“, und „Die arabischen Länder müssen säkularisiert werden“ heißt die These von Rena Tali. Sie sind in Beirut groß geworden und haben sich entschlossen fortzugehen, als Sie schwanger wurden. Warum, und welche Rolle hat Religion dabei gespielt? Tali: Ich habe im Libanon gelebt als eine starke, selbstbewusste, liberale Frau, und ich habe alle meine Freiheiten genossen. Ich habe mir keine Sorgen gemacht, was die anderen über mich denken. Und dann habe ich einen Syrer kennengelernt und habe ihn geheiratet. Dieser Syrer hatte in meinem Land, nur weil er Syrer ist, keine Rechte, auch kein Aufenthaltsrecht. Dann

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wurde ich schwanger. Ich dachte, wenn ich jetzt diese Tochter zur Welt bringe, welche Rechte wird sie haben? Sie wird keine Rechte haben, weil der Vater Syrer ist. Ich darf ihr meine Staatsangehörigkeit nicht geben, sie wird automatisch Syrerin sein, sie wird keine Rechte haben. Außerdem hat mein Mann eine andere Konfession als ich. Das führt dazu, dass die Menschen aus meiner Konfession mich sehr kritisch betrachten, und die Menschen aus seiner Konfession uns beide auch sehr kritisch betrachten. Wir haben es auf beiden Seiten nicht leicht. Und dadurch wurde ich schwach und schwächer und habe mich dann entschlossen, mein Land zu verlassen. Bisky: Werden Sie von Ihren Familien nicht akzeptiert als Paar? Tali: Unsere Familien haben uns akzeptiert, aber die Gesellschaft hat uns nicht akzeptiert. Und die Gesellschaft hätte auch meiner Tochter Schwierigkeiten gemacht. Sie würde sich einmischen in die Erziehung meiner Tochter, und sie würde ihr sagen: Du musst dies und das machen, weil du aus dieser Konfession bist. Und ich wollte nicht, dass meine Tochter dadurch negativ beeinflusst wird. Ich selbst konnte mich von den Zwängen der Religion befreien und habe einen Mann, der anders glaubt, geheiratet, und jeder von uns hat seinen Glauben behalten. Aber ich weiß nicht, wie meine Tochter damit umgeht in der Zukunft. Und ich bin der Meinung, auch wenn in derselben Wohnung zwei Menschen zusammenleben, die anders glauben, dass keiner den anderen zwingen sollte, den eigenen Glauben zu übernehmen. Bisky: Welchen Status haben Sie jetzt in Deutschland? Tali: Ich wurde als Flüchtling anerkannt. Das ist ein Aufenthaltstitel, der für drei Jahre gilt. Obwohl ich das nicht wollte. Ich wollte, dass sie mich hier anerkennen als einen Menschen, der sein Land verlassen hat, weil er dort keine Rechte hat, weil er dort unterdrückt wird, weil dort die Männer die Gesellschaft bestimmen. Bisky: Haben Sie in einem Flüchtlingsheim gelebt? Haben Sie jetzt Kontakt zu anderen Flüchtlingen? Tali: Ich habe nur für einen Tag in einem Heim gelebt, weil dann eine wunderbare Berlinerin kam und uns in ihr Haus aufgenommen hat. Seitdem wohnen wir drei bei ihr. Dadurch habe ich Berlin und Deutschland ken-

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„Religion symbolisiert Heimat“

nengelernt. Aber ja, natürlich habe ich einige Kontakte zu geflüchteten Menschen. Bisky: Was haben Sie für einen Eindruck? Spielen da religiöse Konflikte eine Rolle, oder ist man froh, dass man sie los ist? Tali: Sie sind sehr stark von der Religion geprägt. Sie beschäftigen sich die ganze Zeit mit religiösen Fragen: Ist das verboten, oder ist das „halal“, erlaubt? Darf man Kontakte mit den deutschen Menschen aufnehmen oder ist das auch verboten? Sie verstehen leider – oder: sie interpretieren – die Religion falsch. Sie lesen nicht in den religiösen Texten – sie lassen sich beeinflussen von anderen Menschen und bilden sich dann irgendeine Meinung und machen sich das Leben dadurch schwer. Wie die Deutschen mit der Religion leben, das ist der richtige Weg. Bisky: Ist das der richtige Weg, Herr Claussen? Oder gibt es nicht eine große Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Fragen? Das muss zumindest ich als Berliner jetzt fragen. Claussen: Richtige und gute Wege, und vor allem: den besten, gibt es nicht. Was ich interessant finde: Nicht nur durch die aktuell ankommenden Flüchtlinge, sondern überhaupt durch die Migrationsbewegung der letzten Jahre und Jahrzehnte ist hier in Deutschland vor allen Dingen eine sichtbare Religion zurückgekehrt, durch die Muslime, aber auch durch Schwarzafrikaner. Es ist Religion wieder im öffentlichen Raum sichtbar, als etwas Fremdes und Exotisches oder auch Verstörendes. Das ist ein Phänomen, das zu Erregungen führt. Was aber machen die Muslime? Sie bringen etwas in den öffentlichen Raum, was früher klassische, katholische Volksfrömmigkeit war. Fastenzeiten, Tageszeitengebete, akustische Signale zu Gottesdiensten. Bei vielen Menschen in Europa gibt es ja eher eine große innere Unsicherheit, innerhalb und außerhalb der Kirche: Was ist eigentlich mein Glaube, oder was ist auch mein Nichtglaube? Und trotzdem, trotz dieser stärkeren Indifferenz und Diffusität und Unsicherheit, ist Religion immer noch ein Konfliktgegenstand und entzündet sich immer an sichtbaren Signalen. Religion ist immer ein Erregungsthema. Das macht meinen Beruf nicht einfacher, aber zeigt ja auch, dass es die Leute bewegt. Ich habe in Berlin eine Flüchtlingseinrichtung der Malteser besucht. Ich habe gefragt: Sind die Konflikte eigentlich religiös bestimmt? Sie hatten gerade einen großen Streit gehabt, mit Polizeieinsatz et cetera. Sind da Sunniten auf Schiiten losgegangen oder Aleviten? Und sie sagten: Nein.

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Rena Tali und Johann Hinrich Claussen

Die Streitigkeiten entzünden sich an der Enge und Bedrängtheit der Situation. Auch an Unklarheiten, wie Männer und Frauen miteinander sind, und natürlich an Sprachen und politisch verfeindeten Ländern. Das gebiert die Konflikte. Die Idee: Man tut die Farsi sprechenden Völkerschaften zusammen, weil man denkt, die sprechen doch alle Farsi, ist nicht immer eine gute Idee. Zurzeit sind nicht explizit religiöse Konflikte das Problem. Sondern Konflikte, in denen Religion eine Rolle spielt – aber das eigentlich Entscheidende ist, dass unterschiedliche Kulturen oder verfeindete Nationalitäten aufeinandertreffen. Tali: Ja, natürlich. Konflikte bestehen aus verschiedenen Gründen, auch aus kulturellen. Bildung spielt dabei eine große Rolle. Es kommen aus Syrien leider viele geflüchtete Menschen, die nicht so gut gebildet sind, weil sie aus den Dörfern kommen, dort hat man höchstens einen Mittelschulabschluss, oder oft noch weniger. Diese Menschen, wenn sie hier in Deutschland ankommen, haben nur die Religion, an die sie sich so binden, und keine Bildung. Claussen: Das kenne ich. Ich habe meine erste Berufsstation bei auslandsdeutschen Bauern in Argentinien gehabt. Und da habe ich gemerkt, wie stark die Religion oder die Kirchenzugehörigkeit wird, weil sie die Heimat symbolisiert. Viel, viel fester, als wenn sie zu Hause wären. Da werden dann Menschen religiöser, als sie es eigentlich sind. Erleben Sie es, dass Sie hier als Muslima angesprochen werden? Das passiert ja auch: Man verlässt ein Land auch, um sich von der Religion zu befreien, kommt hierher, und die Deutschen sagen: Du bist aber eine Muslima, oder? Tali: Ich versuche immer, meine Nationalität als Araberin und auch meine Religion zu verbergen, wenn ich mit Deutschen in Kontakt komme. Ich bin liberal, ich lebe liberal, ich habe überhaupt keine Probleme mit der westlichen Welt. Und ich schäme mich, wenn die Menschen mich als Muslima betrachten, weil heutzutage leider das Image des Islam sehr negativ geprägt ist. Bisky: Wie geht es Ihnen mit der Sichtbarkeit? Es gibt in Deutschland eine heftige Diskussion darüber, ob man es gestatten soll, dass Lehrerinnen oder dass Richterinnen ein Kopftuch tragen. Tali: Ich bin dagegen, dass kleine Mädchen gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen. Ich habe es unter den Flüchtlingen erlebt, dass ein siebenjähriges Mädchen von ihrem Vater gezwungen wird, ein Kopftuch zu tra-

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„Religion symbolisiert Heimat“

gen. Dieses Mädchen, wenn sie eine junge Frau ist, wird automatisch ein Kopftuch haben, und sie kann nichts dafür. Vielleicht hasst sie das, aber sie muss es ja tragen. Ich bin dagegen, dass Kinder oder kleine Mädchen gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen. Ich habe auch eine eigene Geschichte aus dem Libanon: Unsere Nachbarn hatten drei Töchter, und wir haben immer miteinander gespielt. Irgendwann haben diese kleinen Mädchen Kopftuch getragen. Und als sie dann erwachsen waren, wollten sie das nicht mehr. Ihr Vater hat aber dann gesagt: Wenn ihr das Kopftuch abnehmt, dann muss ich eure Haare abschneiden, weil, ihr dürft nie hübsche Mädchen sein, das möchte ich nicht. Mein Vater war das genaue Gegenteil. Wenn eine meiner Schwestern gesagt hat: „ich möchte das“, als Kind, hat er das abgelehnt. Ein Kind ist noch nicht in der Lage, so etwas zu entscheiden. Meiner Meinung nach sind diese Mädchen nicht religiös. Sie müssen ja Kopftuch tragen aus Tradition her. Bisky: Eine Lehrerin, die in Frankfurt am Main in einer Gesamtschule mit sehr vielen türkischen jungen Mädchen unterrichtet, hat mir erzählt, dass es großartig war, wenn diese Mädchen heranwuchsen, selbstbewusst, klug, fleißig wurden. Irgendwann kamen sie mit Kopftuch in die Schule, und von da an verabschiedeten sie sich Schritt für Schritt aus dem normalen Leben, bis sie verheiratet wurden und völlig unterhalb ihrer Möglichkeiten blieben. Das bestätigt in etwa das, was Sie sagen. Gibt es eine einheitliche Meinung zum Kopftuch in den evangelischen Kirchen, Herr Claussen? Claussen: Nein, das ist auch schwer. Ich schwanke auch und reagiere in dieser Frage ganz unterschiedlich. Es ist ein massiver Einschnitt, wenn der Frau in der Frage des Erscheinungsbildes patriarchal etwas vorgegeben wird. Das ist eine schwere Freiheitsberaubung. Eine ganz unmittelbare körperliche Selbstentfaltung und das Bild, in der Öffentlichkeit zu wirken, wird damit weggenommen. Das ist das eine. Wenn es selbstbestimmt geschieht und selbst gewollt, ist es als eine sichtbare Form von religiösem Ausdruck zu akzeptieren. Aber natürlich ist es ganz selten so, dass es tatsächlich eine eigene Entscheidung ist. Auf der anderen Seite muss man sagen: Wenn wir uns jetzt darüber streiten, ob Lehrerinnen oder Richterinnen Kopftücher tragen dürfen, dann ist das auf eine Weise ein Konflikt, der einen großen Erfolg anzeigt. Denn er zeigt, dass diese Frauen Hochschulstudien absolvieren und für wichtige, bürgerliche Berufe anstehen. So kann man es ja auch sehen: dass selbstbewusste junge Akademikerinnen dieses Kopftuch als ein eigenes

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Rena Tali und Johann Hinrich Claussen

Zeichen setzen. Dann finde ich das erst einmal einen guten Konflikt und einen Integrationsfortschritt. Ich hätte trotzdem ein ungutes Gefühl, es mir in einer Richterposition vorzustellen. Bisky: Es gibt ja Länder mit Burka-Verbot. Sind Sie für eines? Tali: Ja, auf jeden Fall. Und ich bin auch für die Befreiung der saudischen Frauen von dieser Burka. Claussen: Was mir an dieser Debatte in Deutschland nicht gefällt: dass sie sich, was die Burka angeht, auf eine noch verschwindend kleine Gruppe bezieht, außer in teuren Straßen in München, und dass sie zweitens die muslimischen Frauen zum Problem macht. Das Problem ist der Patriarchalismus, die Herrschaft des Vaters oder des Mannes. Das wird aber so nicht adressiert, sondern es wird adressiert in einer stärkeren öffentlichen Beschämung von muslimischen Frauen. Das ist eine doppelte Stigmatisierung, die den Frauen noch weniger hilft, da rauszukommen, als alles andere. Tali: Ja, aber diesen Frauen kann man helfen, indem man integrative Maßnahmen ergreift, indem man zum Beispiel Organisationen einschaltet, die zu den Frauen nach Hause gehen und mit ihnen sprechen. Solche Maßnahmen können den Frauen vielleicht wirklich helfen, sich nicht nur von der Burka zu befreien, sondern auch von diesen Männern und von diesem System. Claussen: Es gibt natürlich massive Probleme bei der Integration von Muslimen in Deutschland, das muss man deutlich sagen. Das ist schwieriger als mit anderen Migrationsgruppen, dafür gibt es auch Gründe. Aber das kriegt man nicht dadurch bearbeitet, dass man Frauen, die in dieser Kultur leben, noch doppelt unterdrückt. Und es passiert bei zwar nicht allen, aber doch bei einigen muslimischen Gruppen ein doppelter Effekt: Einerseits wird ihnen die Integration hier schwerer gemacht als anderen Gruppen, was meistens dazu führt, dass sie dann noch einmal umso stärker in ihrer Minoritätenkultur Rückhalt suchen. Andererseits muss man aber auch sagen, dass es bestimmte Religionen gibt, die es ihren Anhängern schwerer machen, sich davon zu trennen. Man muss auch sagen, es gibt echte Religionsunterschiede. Und für den Islam ist Observanz, also die Einhaltung der religiösen Regeln, ganz zentral, das ist noch mal etwas anderes als ein protestantisches Christentum.

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„Religion symbolisiert Heimat“

Tali: Ich kann auch nur bestätigen, dass bei den Muslimen, die neu nach Deutschland kommen, eine Angstpolitik betrieben wird von anderen Muslimen und von den Imamen. Es wird immer gesagt: Passt auf, die Deutschen möchten euch die Religion wegnehmen, den Glauben, ihr müsst wirklich an alle Werte fest glauben und aufpassen. Und diese Menschen, die vielleicht teilweise gezwungen sind, an bestimmte Sachen zu glauben oder bestimmte Sachen zu praktizieren, fühlen sich doppelt gezwungen, sich daran zu fesseln, weil sie Angst haben, dass ihnen diese Religion weggenommen wird. Bisky: Führt das Sichtbarwerden des Islam in Deutschland dazu, dass man zwischen Protestanten, Katholiken und vielleicht noch den Islam-Verbänden zusammenrückt und sagt: Wir sind die Gläubigen, und da drüben ist die liberale Gesellschaft der Ungläubigen? Oder führt es dazu, dass Sie sagen: Wir müssen aufpassen, da ist jetzt neue Konkurrenz auf dem globalen Markt der Religionen? Claussen: Ich bin fest davon überzeugt, dass es in der Religion keine Konkurrenz gibt und das kapitalistische Modell von Angebot, Nachfrage und Konkurrenz auf dem religiösen Feld nicht wirklich funktioniert. Bisky: Warum nicht? Claussen: Es gibt keine Konkurrenz im Sinne eines kapitalistischen Nullsummenspiels: Der eine gewinnt einen Euro, und der andere hat ihn deshalb verloren, sondern es gibt ein wechselseitiges Sich-Befördern. Wenn es einen tollen Papst gibt, dann tut uns das gut als Protestanten. Wenn es einen schlechten Papst gibt, treten die Leute bei uns aus, weil der Papst was Doofes gesagt hat. Das gibt es tatsächlich als Phänomen. Religion ist viel weniger eine individuelle Entscheidung als man denkt, das ist nur ein evangelischer Irrglaube. Religion lebt ganz stark von allgemeinen Konventionen und wie sie bewertet werden. Der Mensch ist ein Herdentier, ein Gemeindewesen: Wenn Religion einen Aufschwung hat und als wichtiges, ernstes Thema wahrgenommen wird, dann befördert sich das wechselseitig. Wenn Religion nur als Problemfall wahrgenommen wird, als Konfliktverschärfer oder als pure Seltsamkeit – wie das hier in Ostdeutschland häufig genug der Fall ist –, dann leiden alle Religionen darunter. Konkurrenz geschieht nicht in dem Sinne, dass einer dem anderen etwas wegnimmt. Sondern es geht darum, ob Religion im öffentlichen Raum stattfindet und eine gute Rolle spielt, für das Gemeinwesen und für sich

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Rena Tali und Johann Hinrich Claussen

selbst auch. Und wir haben natürlich auch ein Interesse daran, dass der Islam in Deutschland einen angemessenen Ort findet, weil er das Religionsthema insgesamt normalisiert und in der Öffentlichkeit hält. Das führt bei Menschen dazu, dass sie sich damit beschäftigen und sich vielleicht selber zu irgendetwas entscheiden. Bisky: Sie haben den Wunsch, dass die arabischen Staaten säkularisiert werden. Wie realistisch ist die Hoffnung? Tali: Da sehe ich wirklich keine große Hoffnung. Weil es bestimmte Länder und Politiker gibt, die das nicht wollen und die möchten, dass sich die verschiedenen Konfessionen in unseren arabischen Ländern gegenseitig bekämpfen. Leider lassen wir uns darauf ein, weil wir nicht genug gebildet sind, um uns nicht darauf einzulassen. Im Libanon zum Beispiel war es eine Zeit lang so, dass die Religion keine große Rolle gespielt hat. Ich hatte christliche Freundinnen, Freundinnen aus anderen Religionen, und die Konfession hat überhaupt keine Rolle gespielt. Aber seit einigen Jahren ist diese Frage sehr präsent und stark, weil bestimmte Länder das wollen. Auch Youtube-Videos in Saudi-Arabien, die diesen Rahmen nur leicht verlassen, werden gelöscht. Und die Menschen, die auf den Videos zu sehen sind, werden verhaftet. Bisky: Haben Sie Fragen? Publikum: Inwieweit werden im Libanon offen, oder dann vielleicht auch nur unter Freunden, säkularere Formen des Islam diskutiert, eine Öffnung und eine Aktualisierung? Ist das ein großes Thema? Oder passiert das überhaupt? Tali: Das Thema wird schon allmählich diskutiert bei uns im Libanon. Zum Beispiel das Thema Zivilehe, die ist verboten bei uns. Zivilehe bedeutet, dass ein Christ eine Muslimin heiratet. Das wurde nicht bewilligt, weil bestimmte islamische Länder uns das nicht bewilligt haben, und das wurde schon diskutiert. Was ich auch sagen möchte, ist, dass unter uns Freunden, wenn wir aus verschiedenen Konfessionen kommen, das Thema Religion keine große Rolle spielt. Das Thema spielt nur dann eine Rolle, wenn es einen Konflikt gibt. Dann ist jeder in seiner Religion und seiner Konfession gefesselt. Dann sagen Menschen, die in der Praxis nicht einmal beten oder fasten, dass sie echte Muslime sind.

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„Religion symbolisiert Heimat“

Claussen: Das müsste doch eigentlich auf Dauer so ein System aushöhlen, wenn man merkt, es glaubt gar keiner mehr dran. Woran ist die DDR zugrunde gegangen oder die Sowjetunion? Eine Theorie besagt: Es hat eigentlich gar keiner mehr dran geglaubt. Ein System hält das nicht lange aus. Und wenn selbst die Führungsleute es eigentlich nicht mehr glauben, stürzt es irgendwann ein. Deshalb meine Frage: Kann sich das eigentlich halten, oder erodiert es nicht von innen? Tali: Mit dem Thema kann man aber bei uns nicht offen umgehen. Viele Freunde von mir sind muslimisch. Sie gehen feiern, sie trinken Alkohol, sie haben auch Freunde und Freundinnen, und sie führen auch echte Beziehungen mit diesen Freundinnen und Freunden. Das bleibt aber alles unter uns, das bleibt geheim, das darf nicht öffentlich werden. Bisky: Meine Hoffnung wäre, dass vielleicht ein europäischer Islam einiges verändert. Noch gibt es ihn nicht, aber es gibt hier viele Muslime, und vielleicht ändert sich ein Glaube, wenn sich die Umgebung verändert. Dass das zumindest Rückwirkungen hat, scheint mir nicht ganz ausgeschlossen. Claussen: Ausgehöhlte Systeme halten sich umso länger, je stärker sie in einer eindeutigen Konfrontation leben. Das starke islamistische Modell lebt natürlich auch von einer massiven Konfrontation gegenüber dem Westen. An dieser Konfliktkonstellation haben auch wir einen Anteil, das kann man nicht leugnen. Insofern müsste es eigentlich eine vernünftige Politik sein, die eigenen Positionen und Prinzipien zu verteidigen und zugleich nicht in dieser Verhärtung zu verharren, sondern Wege zu finden, wie man auf die arabische Welt neu zugehen kann. Rena Talis Äußerungen wurden aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt sowie das ganze Gespräch simultan gedolmetscht von Huda Alqaisi, Leipzig.

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„MAN SOLL AUFHÖREN, UNS IMMER ANGST ZU MACHEN“ Das Ende der Gemeinsamkeit? Róża Thun und Daniel Cohn-Bendit über die Rückkehr des nationalen Gedankens in Europa

Gespräch am 12. Februar 2017 Bisky: Europa ist zunächst der Name eines Kontinents. Wir wollen über die Europäische Union reden: 28 Mitgliedsländer, 24 Amtssprachen, rund 500 Millionen Einwohner. Ein Gebilde, das das Werk von drei Generationen ist, und wie es damit weitergeht, ist ungewiss. Man hat lange gedacht, wir haben einen Ausgangspunkt, das sind die Nationalstaaten, das ist Punkt A. Und dann haben wir Punkt B, das vereinte Europa. Und jetzt merkt man, dass von A nach B weder ein geradliniger Weg führt noch klar ist, ob wir wirklich an Punkt B ankommen, oder vielleicht auch ganz woanders. Ich freue mich sehr, dass Róża Thun heute hier ist. Róża Thun ist Abgeordnete im Europaparlament für die Platforma Obywatelska, die Partei, der auch Donald Tusk angehört, der lange in Polen regiert hat und jetzt in Europa eine wichtige Rolle spielt. Daniel Cohn-Bendit hat schon mehrere Leben gelebt; auch er war sehr lange im Europaparlament, als Abgeordneter sowohl für die französischen Les Verts als auch für das Bündnis 90 / Die Grünen. Frau Thun, es gibt im Moment in Polen einige Aufregung um einen Internet-Post von Ihnen, den ich etwa so übersetzen würde: „Warum tut die PiS, also die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit, nichts gegen Smog? Weil bei Smog die Leute Angst haben, auf die Straße zu gehen.“ Wäre es besser, wenn mehr Leute auf die Straße gehen würden, in Polen und Europa? Thun: (lacht) Die Leute gehen auf die Straße, aber vielleicht sollten sie es noch mehr tun. Aber wir haben tatsächlich ein Riesenproblem mit der Umweltverschmutzung, mit dem Smog. Und diese Regierung interessiert sich für Smog nicht. Probleme, die uns jeden Tag beschäftigen, sind nicht ihr Thema. Sie interessiert sich wirklich nur für die Macht. Auf meinen Post hin habe ich eine Welle von Hass-Posts von rechten Aktivisten bekommen. Wobei ich mich manchmal frage, ob wirklich immer jemand Reales hinter diesen Posts steckt. Hass im Internet ist bei uns ein Riesenproblem.

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„Man soll aufhören, uns immer Angst zu machen“

Bisky: In Polen gibt es inzwischen ein Komitee zur Verteidigung der Demokratie, und wenn es zu landesweiten Demonstrationen aufruft, dann gibt es viele, die dahin gehen. Spielt Europa dabei eine Rolle, oder geht es eher um polnische Fragen? Thun: Es geht zunächst eher um polnische Fragen, aber die ganze Hoffnung, dass jemand Druck auf diese Regierung macht, verbindet sich mit Europa. Man sieht so viele europäische Fahnen … Ich habe neulich bei einem dieser Märsche einen Händler getroffen, der verkaufte Fahnen, polnische und europäische. Ich habe gefragt, welche verkaufen Sie besser? Die europäische. Ich bin 2003 beim Referendum so überzeugt gewesen, dass wir der EU beitreten sollen, weil wir im großen europäischen Verbund weiser sind als jeder Staat für sich selbst. In einem einzelnen Staat kann immer eine verrückte Idee gewinnen und durch populistische Argumente eine Mehrheit bekommen. In einem großen Verbund mit der europäischen Erfahrung, mit dem europäischen Wissen sind wir geschützter. Daher ist die Hoffnung sehr groß, dass die Europäischen Institutionen reagieren, dass wir Unterstützung bekommen. Auf der anderen Seite bin ich mir im Klaren, dass das unser Problem ist: Es waren demokratische Wahlen, diese Partei hat gewonnen, und jetzt müssen wir damit zurechtkommen. Bisky: Wenn es aus Berliner Perspektive ein Land in Europa gab, bei dem man sicher war, dass Nationalstolz mit europäischen Überzeugungen verbunden wird, dann war das Frankreich. Ich bin mir da nicht mehr ganz so sicher. Herr Cohn-Bendit, Marine Le Pen hat angekündigt, dass sie im Fall eines Wahlsiegs ein Referendum nach britischem Vorbild über den Austritt aus der EU durchführen möchte. Wie wahrscheinlich ist ein Wahlsieg Le Pens, und wie ist die Stimmung in Frankreich gegenüber Europa? Cohn-Bendit: Marine Le Pen kann in Frankreich nicht gewinnen. Das ist absoluter Unsinn. Marine Le Pen kann im ersten Wahlgang in Frankreich als stärkste Partei mit 24, 25, von mir aus 26 Prozent vorne sein. Im zweiten Wahlgang verliert sie gegen jeden Kandidaten mit 65 zu 35 Prozent. Dass in Frankreich Zweifel über Europa formuliert und stark werden, das ist richtig. Aber Europa hat ja im Moment zwei ganz starke Verbündete, der eine ist der Trump, und der andere ist der Brexit. Seit Brexit und Trump ist die Zustimmung zum Euro und zu Europa in Frankreich einfach hochgegangen. Wie übrigens überall.

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. Róza Thun und Daniel Cohn-Bendit

Also, man soll aufhören, uns immer Angst zu machen. Es gibt in Frankreich viele Probleme, aber diskutieren wir bitte über die realen Probleme! Genauso wie in Deutschland. Nicht alle Deutschen werden jetzt AfD wählen. Ich kann es nicht mehr hören – als ob die deutsche Befindlichkeit nur die AfD-Befindlichkeit wäre. Es gibt die AfD, es gibt Menschen, die so denken, aber es gibt die überwiegende Mehrheit der Menschen in Frankreich oder in Deutschland, die anders denken. Das heißt nicht, dass sie nicht verunsichert sind. Aber man sollte die Auseinandersetzung darüber anders führen, als sie bis jetzt sehr oft geführt wird. Bisky: Wer wird denn die Wahlen gewinnen in Frankreich? Cohn-Bendit: Ich habe so eine Kristallkugel, und die ist eindeutig: Gewinnen wird Macron. Aber okay, die Situation in Frankreich ist spannend. Wir haben zwei klassische politische Alternativen, die zur Debatte stehen: Die eine ist eine national-soziale antieuropäische Position, Marine Le Pen. Die andere ist ganz links, eine sozial-nationale antieuropäische Position, das ist Jean-Luc Mélenchon. Dann haben wir einen Kandidaten der sozialistischen Partei und einen traditionellen konservativen Kandidaten. Und dann haben wir etwas, was Frankreich bislang nicht kennt: einen liberal-sozialen Kandidaten mit einem gewissen ökologischen Ansatz, der eine eigene Bewegung gegründet hat, 195 000 Leute machen da mittlerweile mit: Macron. Macron wagt etwas, was vielleicht nicht nur für Frankreich undenkbar war: Er sagt, die traditionelle Links-Rechts-Unterscheidung funktioniert nicht mehr. Wir müssen versuchen zusammenzubringen, was auf der einen wie auf der anderen Seite richtig gedacht wurde. Das ist seine Stärke – und seine Schwäche auch, weil er so was Neues propagiert. Auch wenn ich vieles, was er sagt, nicht teile, glaube ich, dass es das Beste für Frankreich wäre, wenn er gewinnen würde. Bisky: Sie sagen, wir lassen uns die Themen nicht von den etwa 20 Prozent, die immer und überall dagegen sind, vorgeben. Wir klammern mal aus, dass wir in Washington, in Ankara und in Moskau sowieso Gegner der Europäischen Union an der Regierung haben. Wir klammern aus, dass in einigen Ländern der Europäischen Union Gegner der europäischen Einigung regieren. Dann bleiben die eigenen Probleme der EU: Das sind sehr viele. Jean-Claude Juncker hat gestern bei der Ankündigung, dass er sich nicht mehr zur Wahl stellen wird, gesagt, der Brexit wird die EU wahrscheinlich auseinandertreiben: Die Briten werden den einen das anbieten, den ande-

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„Man soll aufhören, uns immer Angst zu machen“

ren das, und schon herrscht Uneinigkeit. Übertreibt er? Oder hat er da was Reales beschrieben? Cohn-Bendit: Der Brexit kann Europa auseinandertreiben, aber der Brexit kann auch Europa stärken. Es kommt drauf an, was wir machen. Und deswegen wird sehr wichtig sein, welche Regierung in Deutschland sein wird und welche in Frankreich. Denn bei der jetzigen Situation Europas wird es davon abhängen, wie Frankreich und Deutschland in der Lage sein werden, einen neuen europäischen Vorschlag zu machen. Und was auch interessant ist: Bei allen antieuropäischen Zeichen aus Warschau macht Trump denen auch Angst. Denn wenn Trump sagt, NATO adé, ist das für die Polen ein Problem – auch wenn man ganz rechts ist, auch wenn man Europa nicht mag. Denn ohne Sicherheitsgarantien auch noch der Europäer lässt sich in Polen nicht so gut leben. Wenn man über die Brexitverhandlungen hinaus eine Perspektive für Europa skizziert, dann wird sich Europa um den Euro strukturieren. Und ich glaube, man wird dann aufhören mit einem Europa à la carte, in der Art von „ich will ein bisschen von dem, und ich will ein bisschen hiervon, aber das schmeckt mir nicht; das esse ich vielleicht in fünf Jahren, aber das will ich jetzt nicht haben“. Das wird in Zukunft nicht mehr funktionieren meiner Meinung nach, und am Ende wird die Frage der politischen Einheit Europas immer dringender werden. In den nächsten fünf Jahren wird es perspektivisch eine europäische Renaissance geben. Amen. Bisky: Aber wie soll das aussehen, Ihr wiedergeborenes Europa in fünf Jahren? Es gibt ein Buch von Luuk van Middelaar, Vom Kontinent zur Union. Er unterscheidet zwischen einem Europa der Verwaltung, einem Europa der Bevölkerung und einem Europa der nationalen Regierungen. Aus welcher Richtung kommt eine Renaissance Europas? Cohn-Bendit: Stellt euch vor, ich hätte meinen Eltern am 4. April 1945, da bin ich gerade geboren, gesagt: In 50 Jahren wird es keine Grenzen mehr zwischen Deutschland und Frankreich geben. Da hätten meine Eltern gesagt: Wir haben ein Problem, der Junge redet viel zu früh, und er redet Quatsch. Das heißt, die Geschichte hängt von unserer Fähigkeit ab, die wir haben oder nicht haben, Geschichte zu gestalten. Das Friedensprojekt Europa ist eine zivilisatorische Errungenschaft, und wir sollten nie sagen, das Projekt Europa ist überflüssig, weil es doch keinen Krieg mehr gibt. Europa ist erst der Garant dafür, dass es keinen gibt. Das ist Punkt eins.

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. Róza Thun und Daniel Cohn-Bendit

Punkt zwei: Angesichts der Herausforderungen durch die Globalisierung, durch die klimatische Entwicklung, durch die überall zu spürende Unsicherheit, merken wir langsam, dass Nationalstaaten allein nicht mehr in der Lage sein werden, die Probleme zu lösen. Europa wird sich um einige Probleme herum neu organisieren müssen: um die Fragen der Sicherheit und Verteidigung. Aber auch die Frage des Euro und des sozial-ökonomischen Ungleichgewichts in Europa wird sich stellen, ein gemeinsames Gebilde kann nicht mit so einer Ungerechtigkeit weiterleben. Und dann wird Europa vor der Frage stehen, wie man die demokratische Kontrolle verstärkt. Ich glaube, das sind die Herausforderungen. Bin ich sicher, dass es funktionieren wird? Nein, ich bin nicht sicher. Aber möglich ist es. Bisky: Frau Thun, spüren Sie irgendwelche Anfänge einer europäischen Renaissance im Europaparlament? Der Euro sieht aus griechischer Perspektive anders aus als aus Berliner Perspektive, und glücklich ist mit den gefundenen Lösungen keiner. Eine gemeinsame Flüchtlingspolitik gibt es nicht. Eine gemeinsame Politik gegenüber Russland: schwierig. Eine gemeinsame Politik gegenüber Amerika: schauen wir mal. Thun: Ich glaube auch, dass der Brexit und Trump einen positiven Effekt für die Stimmung im Europäischen Parlament gebracht haben. Die Stimmen, dass wir zusammenarbeiten müssen und gemeinsame Positionen brauchen, sind sehr viel deutlicher geworden – auch bei sehr konservativen und Europa-kritischen Politikern. Nur besteht bei den Politikern im Europäischen Parlament die große Versuchung, vor allem den eigenen Wählern zu gefallen. Dadurch besteht die Gefahr, dass wir unsere große Aufgabe aus den Augen verlieren: Wir sind dazu da, dieses Europa zusammenzuhalten durch gemeinsame Gesetze. Da müssen wir Schritt für Schritt harmonisieren. Das wird die Aufgabe sein, denn es gibt Tausende Fragen, in denen wir noch sehr geteilt sind. Und es gibt Interessengruppen, Lobbyisten und so weiter, die das beeinflussen möchten. Aber die Bürger müssen spüren, dass dieses Europa eins ist. Dass sie Waren ohne immense Zölle importieren oder exportieren können. Dass wir studieren und arbeiten können, wo wir wollen. Dass wir ein offenes Internet haben. Und dass wir dadurch auch stärker sind, innovativer, konkurrenzfähiger gegen andere große Märkte. Aber dieses Projekt ist unglaublich schwierig zu erklären. Umso mehr sollten wir darüber sprechen und deutlich machen, dass unser Alltagsleben ganz anders wäre, wenn wir dieses gemeinsame Europa nicht hätten.

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„Man soll aufhören, uns immer Angst zu machen“

Und etwas kommt hinzu, Daniel hat es gesagt: Für unsere Generation ist dieses Europa als Friedensprojekt sehr wichtig. Dieser Hintergrund fehlt der jungen Generation. Allerdings gibt es auch allein schon in meiner Generation einen sehr großen Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa: Im Westen ist der Zweite Weltkrieg für die Leute so lange her, er ist Geschichte. Und für uns Osteuropäer, die wir die unmittelbaren Folgen des Krieges bis vor Kurzem gelebt haben, ist er noch sehr nah und real. Das ist das eine. Aber die nächste Generation weiß schon überhaupt nicht mehr, worüber wir sprechen, wenn wir von Grenzen reden: Die jungen Leute sind schon unter Schock, wenn sie nach einem Flug wegen des Ausnahmezustandes in Frankreich jetzt intensiver kontrolliert werden. Andererseits ist es auch unfassbar, wie kurz das Gedächtnis mancher Leute in diesen Punkten ist, auch bei uns in Polen. Cohn-Bendit: Dass im Europaparlament sehr oft die Gefahr besteht, im eigenen Alltag gefangen zu sein, das kenne ich. Ein größeres Problem ist, wenn man politisch handeln und 500 Millionen Leute erreichen will, die ökonomisch-soziale Unwucht in Europa. Die kann man nur ausgleichen, wenn man einen besser ausgestatteten Etat hat. Der europäische Haushalt beträgt ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der amerikanische föderale Haushalt: 27 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts. Ich sage: Wenn der europäische Haushalt fünf Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts betragen würde, könnten wir ganz anders auf die Unwuchten reagieren. Bisky: Polnische Arbeitskräfte sind in Berlin die größte Gruppe aus der europäischen Union. In Großbritannien bekommen polnische Arbeitskräfte viele Probleme, und man will sie loswerden. Fehlen die vielen jungen Polen, die nach Berlin, in die Niederlande, nach England gegangen sind, nicht irgendwann zu Hause? Thun: Die Einstellung, ob sie uns fehlen, habe ich nicht. Ich denke, jeder soll sich dort verwirklichen können, wo er sich verwirklichen kann. Ich sehe dieses Europa als eins, das ist dieser Reichtum dieses Kontinents. Ich betrachte das Thema auf mehreren Ebenen: Einerseits muss man sehr feste Wurzeln haben und wissen, wer man ist und wo man herkommt, aus welcher Sprache, aus welcher Kultur. Dann hat man einen Boden unter den Füßen, von dem man abspringt. Jeder Ort trägt eine Tradition, eine Kultur, eine Lebensart mit sich. Und das zu teilen, ist eine Bereicherung. Dann entsteht eine europäische Identität.

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. Róza Thun und Daniel Cohn-Bendit

Bisky: Wenn man diesen inneren europäischen Austausch hat und fördern will, braucht man nicht auch ein europäisches Einwanderungsrecht? Momentan erleben wir lauter Notlösungen, weil jeder versucht, alles in den Routinen von gestern zu lassen. Wenn irgendwo auf der Balkanroute und auf griechischen Inseln Flüchtlinge zu Tausenden sitzen, ohne fließend Wasser und Toiletten, oder zwischen Italien und Deutschland hin und her reisen, darunter auch Terroristen, kommt man zu dem Eindruck, keiner hat den Überblick oder eine Idee. Cohn-Bendit: Wir brauchen ein europäisches Einwanderungsrecht. Das regelt aber nicht die Flüchtlingsproblematik. Das sind zwei verschiedene Dinge. Ich fange mit der Flüchtlingsfrage an. Die Idee der Umverteilung war löblich, denn es ist eine gemeinsame Verantwortung. Diese Idee ist gescheitert an bestimmten Ländern. Die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen würde ich versuchen zu organisieren mit etwas wie einer europäischen Flüchtlingsbehörde. Ein Koordinationsbüro, das mit Geld ausgestattet ist und direkt fragt, welche Gemeinde, welcher Kreis, welches Bundesland bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Damit würde man das Nationale umschiffen. Es gibt polnische Städte, auch ungarische, die dazu freiwillig bereit wären. Denen würde dann auch direkt finanziell geholfen. Das Einwanderungsrecht ist eines der schwierigsten Themen. Da gibt es verschiedene Modelle der Organisierung von Einwanderung, siehe etwa Kanada. Europa ist eine Einwanderungsregion. Sollte es europäisch nicht so schnell entschieden werden können, dann muss es national geschehen. Wir müssen uns klar machen, die Entscheidungen in Europa werden gefällt von den Nationalstaaten. Es ist nicht ‚Europa‘, das dies oder jenes entscheidet. Wenn es eine falsche europäische Politik zum Beispiel gegenüber Griechenland gegeben hat, dann ist es eine falsche Politik, die von Deutschland beeinflusst war. Das muss man so sagen. Immer, wenn Ihnen jemand erzählt, Brüssel hat es entschieden, da müssen Sie fragen: Wer ist Brüssel? Bisky: Dann entscheiden wir heute Abend: Es gibt eine europäische Flüchtlingsbehörde. Und wir erhöhen den Haushalt auf fünf Prozent. Wenn ich mir das vorstelle, dann fällt es mir zugleich schwer, mir vorzustellen, dass man dafür nationale Mehrheiten bekommt. Und Sie haben gerade gesagt, dass die Nationalstaaten entscheiden. Cohn-Bendit: Ich sage nicht, dass es von Heute auf Morgen geht, aber diese Auseinandersetzungen müssen wir führen.

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„Man soll aufhören, uns immer Angst zu machen“

Thun: Ich fürchte sehr, dass der Weg noch ziemlich lang ist. Vieles wird sich schneller entwickeln, als wir je gedacht haben, so, wie die Technologie und elektrische Autos und digitale Medien. Aber ich fürchte sehr, dass wir noch einige Zeit in diesem versteinerten Denken, Staat gegen Staat, Rechte gegen Linke, stecken werden. Cohn-Bendit: Erinnern wir uns an die Finanzkrise. Da ging die Debatte los, wie man die Banken kontrollieren soll. Wir haben als Europaparlament eine europäische Bankenaufsicht gefordert. Schäuble und viele andere haben darauf beharrt, dass das nationale Zuständigkeit bleibt. Nach einem Jahr haben alle gemerkt, dass genau das nicht funktioniert, und haben das dann der Europäischen Zentralbank zugeschoben. Plötzlich war klar, die nationale Ebene ist handlungsunfähig. Und das werden wir in der Verteidigungsfrage wieder erleben. Wenn wir eine europäische Sicherheit haben wollen, werden wir eine europäische Armee haben müssen. Die Nationalstaaten werden immer mehr merken, wie handlungsunfähig sie sind angesichts der Globalisierung. In 30 Jahren wird der Einfluss Frankreichs in der globalen Welt ähneln dem Einfluss von Andorra in Europa. Und der Einfluss Deutschlands wird ähneln dem Einfluss Luxemburgs in Europa. Natürlich können wir ein Steuerparadies werden – aber da kriegst du die Reichen dieser Welt, und ansonsten hältst du die Klappe. Und das muss man mit den Menschen jetzt diskutieren: Wollt ihr eure Zukunft in die Hand nehmen? Oder wollt ihr, dass die anderen eure Zukunft in die Hand nehmen? Bisky: Welche Rolle spielt die Stärke Deutschlands? In der polnischen Diskussion etwa wird von rechten Kreisen gerne gesagt, dass die EU nur ein Machtinstrument der Deutschen sei. Thun: Antideutsche Gefühle zu schüren, ist in Polen und in anderen Ländern Osteuropas immer noch sehr leicht, und das nutzen manche Politiker aus. Aber es gibt in ganz Europa in den verschiedenen Ländern Ressentiments, von denen ich überhaupt keine Ahnung hatte, bis ich in das Europäische Parlament gekommen bin. Man muss sich klarmachen, dass es unter diesen 500 Millionen Menschen sehr viele gibt, die Angst und Komplexe gegenüber den anderen haben. Deshalb ist die Idee der Europäischen Föderation ein sehr schwer vorstellbares Projekt, weil es natürlich die Macht des einzelnen Staates reduziert, wenn wir stärkere gemeinsame Institutionen haben. Ich spreche auch nie davon, Souveränität abzugeben, ich spreche immer von teilen.

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. Róza Thun und Daniel Cohn-Bendit

Aber je mehr wir gemeinsam entscheiden und diese europäische Souveränität anstreben, desto stärker ist sie, das versuche ich immer, in Polen zu erklären. Wenn ich einen Vorschlag einbringe oder über etwas abstimme im Europäischen Parlament, dann habe ich etwas mitentschieden für 500 Millionen Menschen, das gilt von Portugal bis Estland. Das war früher nie so. Und das ist eine unglaublich starke Souveränität! Das habe ich als souveräne Abgeordnete des Europäischen Parlaments, aus Polen kommend, entschieden. Wir entscheiden mit! Wenn wir uns von dieser gemeinsamen Souveränität zurückziehen auf eine rein polnische Souveränität, dann haben wir sie praktisch nicht, weil das in der heutigen Welt nicht mehr viel gilt. Dann kommt ein Putin und wird uns nie fragen, was wir machen möchten. Dann müssen wir uns anpassen, an Russland oder an ein starkes Deutschland oder an wen-auchimmer. Genau deshalb glaube ich, dass wir diese große Vision anstreben sollten. Cohn-Bendit: Meiner Meinung nach kommen wir an einen historischen Moment, weil alle merken, wir können uns nicht immer weiter im Kreis drehen. Wir brauchen eine andere, eine positive Entwicklung. Die ist möglich. Aber wir müssen alles von diesen Ängsten befreien. Wir müssen uns befreien davon, dass alles so schwierig ist. Meine These ist: Gerade weil so, wie es jetzt ist, alles so schwierig ist, ist auch alles möglich.

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„JE DRAMATISCHER DIE UNTERLEGENHEITSERFAHRUNG, DESTO MEHR WIRD NACH IDENTITÄT GESUCHT“ Was ist deutsch? Herfried Münkler und Robert Misik über die Suche nach Identität(en)

Gespräch am 8. April 2018 Wolken.Heim war 1988 Elfriede Jelineks Durchbruch auf dem Theater – mit einer Thematik, die auch heute wieder vermehrt in den Raum gestellt wird. Im Anschluss an die Aufführung der Leipziger Inszenierung1 diskutierte Jens Bisky mit dem Historiker Herfried Münkler sowie dem Publizisten Robert Misik über Orientierungssuchen in der Vergangenheit, Debatten der Gegenwart und Konstruktionen deutscher Identität. Bisky: Wir wollen uns heute der abschließenden Klärung einer nicht zu klärenden Frage widmen: Was ist deutsch? Das Thema ist wieder aktuell: Was macht Identität aus? Was ist Heimat? Und welcher Minister kümmert sich darum? Mir sind während der Aufführung Wolken.Heim zwei Sachen aufgefallen. Es wird im Stück immer gesagt: Wir bleiben hier! Das ist 1989, wenn ich mich richtig erinnere, eine Losung der Demonstranten in der DDR gewesen, was Elfriede Jelinek noch gar nicht wissen konnte, weil das Stück vor der Revolution von ’89 Premiere hatte. Und es wird sehr viel von einem inneren Vaterland gesprochen, der Frage „Wer ist ‚wir‘?“. Einer meiner Lieblingssätze über Deutschland stammt von Thomas Mann. Er diktiert ihn den Journalisten, die ihn in New York erwarten, am 21. Februar 1938: Where I am, there is Germany – Wo ich bin, ist Deutschland. Man kann das also alles mit sich mitnehmen. Herr Misik, ist das Österreichern fremd, so nach Identität zu suchen? Misik: Na ja, die Suche nach Identität, oder man könnte auch sagen, die Obsession mit dem Thema der Identität, ist natürlich kein spezifisch deutsches Phänomen. In Österreich kennt man das auch. Skeptisch bin ich, ob es in irgendeiner vergleichbaren Art und Weise in jeder Nation zu finden ist. Diese Identitätsobsession gedeiht besonders in Nationen, die an sich selber zweifeln. Was wir in Wolken.Heim hören, ist natürlich gediehen auf dem Boden einer Nation, die an sich gezweifelt hat, die in Kleinstaaterei zerfallen war

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und nicht in der Weise eine Nation war wie die anderen drum herum. Zusammengehalten wurde sie durch die Dichter, als die Nation des Geistes gewissermaßen. Und Österreich ist natürlich auch eine an sich zweifelnde Nation. Das moderne Österreich ist, wie jemand mal gesagt hat, das, was übrig bleibt. Der Satz ist von 1918. Da ist natürlich immer schon die Frage mitgestellt gewesen: Gibt es uns überhaupt? Haben wir eine Existenzberechtigung? Sind wir auch Deutsche, sind wir was anderes? Und das hat natürlich auch in Österreich zu dieser Identitätsobsession geführt. Indem sich eine bestimmte Nationalkultur das eine immer wieder erzählt, und die anderen etwas anderes erzählen, geht das ins Selbstbild ein. Und das Selbstbild fördert oder formt so etwas wie kulturelle Identität – was natürlich ein in sich blöder Begriff ist. Denn wenn man Identität kulturell sieht, dann ist sie natürlich wandelbar. Dann gibt es Identität nicht – zumindest nicht in dem Sinn, wie sie oft gemeint wird, als etwas Unveränderliches. Bisky: In Jelineks Wolken.Heim haben wir eher einen Rückzug auf sich selbst gesehen. Das führt dort zwar manchmal zu Trotz- und Ausbruchsreaktionen, ist aber im Grunde die Suche nach einem Ort, an dem man dauerhaft bei sich sein kann. Stimmt das, oder ist das nur ein Teil des Themas? Münkler: Ja, vielleicht doch nur ein Teil ... Mir hat von daher die Szene gefallen, als Rotkäppchen sich im Wald verirrt und plötzlich zu Gudrun Ensslin wird, samt der Parole: Sieg oder Tod. Da kann man sehr gut die beiden Seiten sehen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert offenbar deutsche Geschichte resp. Geistesgeschichte ausmachen und Ausdruck deutscher Identitätssuche sind: Auf der einen Seite gibt es etwa die Hausmärchen der Brüder Grimm, dieses Unschuldige, Nette, was oft im Wald angesiedelt ist. Auf der anderen Seite gibt es eine Aggressivität, die nach außen geht. Und Jelineks Text enthält ja einige Texte der Roten Armee Fraktion. Bei der Ensslin hat sich diese Aggressivität nach links gewendet, aber in der deutschen Geschichte hat sie sich häufiger nach rechts gewendet. Dass diese radikale Entwicklung oder Aufspaltung als etwas spezifisch Deutsches ausgemacht wird, bringt, glaube ich, ganz gut zum Ausdruck, was mit den Deutschen los ist, in ihrer Identitätssuche, aber auch in ihrer Zerrissenheit. Bei Hölderlin, dessen Texte ja ein Kontinuum des Jelinek’schen Textes sind, gibt es im Hyperion diese Stelle: „Und dann kam ich zu den Deutschen, du kannst dir kein Volk vorstellen, das zerrissener wäre als dieses“.

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„Je dramatischer die Unterlegenheitserfahrung, desto mehr wird nach Identität gesucht“

Bisky: Es suchen auch andere Nationen, soweit ich sie habe kennenlernen dürfen, ihre Identität oder einen Nationalcharakter. Aber an welchem Material orientiert man sich, wenn man so etwas sucht? Wir haben hier sehr schöne Musik gehört, Wagner, wir haben Dichter gehört und idealistische Philosophie. Es wäre auch ganz anderes Material denkbar. Man könnte sich bei der Realgeschichte bedienen, man könnte seine Identität statistisch beschreiben. Münkler: Wenn wir uns mit Geschichte auseinandersetzen, setzen wir uns in der Regel geschichtspolitisch damit auseinander. Das heißt, wir sind nicht nur über die Quellen gebeugt, sondern wir konstruieren Bedeutungen für uns, in denen wir uns wiederfinden. Misik: Gegen die Idee einer nationalen, kulturellen Identität ist ja nichts einzuwenden. Das wäre ja auch absurd. Aber was wir hier gesehen haben, ist natürlich ein bisschen was anderes. Das Stück führt uns ganz kondensiert vor Augen, welcher Unsinn und Schwachsinn in die Selbsterzählung der Deutschen eingegangen ist – aber breite Kreise gezogen hat. Dass man das deutsche „Wesen“ mit Begriffen wie „Innerlichkeit“, „Tiefe“, „Seele“, „Ernst“, „Geist“ gleichsetzt, das wurde zum Konsens eines durchaus nicht unvernünftigen gebildeten Publikums und ist ins allgemeine Bewusstsein eingesickert. Davon ist ja heute letztendlich nichts mehr übrig. Wenn du heute den strammsten AfDler fragen würdest, würde er nicht sagen, dass das die deutsche Identität ist, die es zu verteidigen gilt. Er würde wahrscheinlich eher vom Abendland reden. Aber dann sind wir schon gar nicht mehr beim Nationalismus, sondern dann ist das ganze westliche Abendland gemeint, da gehört Deutschland dazu und Österreich und Ungarn und alle, die sich gegen die Muslime verteidigen. Münkler: Die Personen, die zitiert werden, haben sehr unterschiedliche Einstellungen. Und wenn wir das auf die Deutschen hindenken, dann sind die deutschen Dichter und Denker diejenigen, die bestimmte Ideen und auch Gegensätze bis zum äußersten Extrem durchdenken. Aber wenn das, wie hier im Stück, gewissermaßen unter die Identitätsklammer kommt, dann wird daraus natürlich Unfug, wörtlich das, was sich nicht fügt. Solche Extreme sind auf der einen Seite der Philosoph Fichte. Oder Kleist – zwei von denen, die unter dem Druck der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege anfangen, deutsche Identität, die aus Weimar her eher kulturell definiert war, ins Politische umzusetzen.

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Herfried Münkler und Robert Misik

Auf der anderen Seite gibt es den Erfinder einer Solidarität, die quersteht zum nationalen Gedanken, nämlich Marx. Aber als Marx den Ersten Band des Kapital veröffentlicht, schreibt er dazu an Engels: „Ein Triumph der deutschen Wissenschaft.“ Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen … Er, der Exilant mit Stationen in Brüssel, Paris, London, sagt: Nur ich, Karl Heinrich Marx aus Trier, protestantisch getauft, habe diese Probleme in einer Gründlichkeit durchdacht, dass es ein Triumph der Wissenschaft ist. Der Theoretiker des Internationalen denkt sich selbst national. Bisky: Nun gibt es immer das Bedürfnis, sich zu orientieren, wer man selber ist. Aber es gibt offenkundig Zeiten, in denen Fragen nach Heimat, nach nationaler Identität Konjunktur haben. Welche sind das? Vor fünf Jahren hätte ich gesagt: Nationale Identität ist so ein Neunziger-Thema, damit lockt man keinen mehr hinterm Ofen hervor. Das hat sich nun wieder geändert. Was befördert das Emporkommen dieser Frage? Münkler: In Phasen, in denen es schwierig ist, sich allein in seiner Identität zu behaupten, taucht offenbar das Bedürfnis auf, sich seiner selbst zu vergewissern, indem man größere Gruppen um sich herum betrachtet – oder imaginiert – und sagt: Ich bin einer von denen. Man könnte sagen: Phasen des Bedürfnisses nach kollektiver Identität sind Zeiten der Verunsicherung. Ich traue mir nicht zu, mir selbst genug zu sein und mich als Einzelner zu behaupten, sondern ich brauche viele um mich herum. Und je dramatischer die Unterlegenheitserfahrung, desto mehr wird nach Identität gesucht. Vielleicht passt dazu auch die Hegel’sche Idee, dass die Zeiten des Glücks die leeren Seiten der Weltgeschichte seien. Wenn wir fröhlich vor uns hinleben und es uns gutgeht, sind das in der Regel Zeiten, in denen politisch nichts los ist. Aber Zeiten, die aufgewühlt sind, nicht nur politisch, sondern auch kulturell, sind in der Regel Zeiten, in denen sich die Suche nach den Kollektiven intensiviert. Misik: Ich gebe Ihnen recht und formuliere das noch mal ein bisschen anders. Es gibt natürlich Phasen, die die eigentlichen Phasen der Moderne sind, in denen es so etwas wie verbreiteten Optimismus gibt. Im Sinne von: Es tut sich so viel, es entsteht so viel Neues, und die Zukunft wird super sein. Da wird man sich wenig nach hinten orientieren. Die sechziger Jahre waren auf gewisse Weise so eine Epoche, bis in die siebziger Jahre hinein, und es gab auch andere Epochen dieser Art. Aber jenseits dessen gab es natürlich immer auch die Zeiten der Verunsicherung. Und was den Heimat-Begriff betrifft: Das meint heute nicht mehr die klassische, eigentlich juristische Formulierung, in welcher Stadt man das

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„Je dramatischer die Unterlegenheitserfahrung, desto mehr wird nach Identität gesucht“

Heimatrecht hat. Heute wird er benutzt für das Gefühl, dass man auf irgendeine Art und Weise die Heimat verliert durch Wandel. Ich fühle, mein Viertel oder meine Stadt oder mein Lebensumfeld verändert sich so, dass ich mich nicht mehr zu Hause fühle. Dieses Verlustgefühl steht am Beginn. Das Ringen mit dem Identitätsbegriff ist natürlich kein deutsches Phänomen. Und die Problematik dieser Konstruktion ist oft kritisiert worden, weil sie Menschen auf ein Element reduziert oder dieses als wesentliche Quelle der Identität formulieren will. Dieses Element kann übrigens wechseln, mal ist es die Religion, mal ist es die Nation, mal ist es etwas anderes. Auch wenn Menschen vielleicht mehrere Bezüge und Elemente haben, die sie formen, fordert das Identitätskonzept immer, dass ein Element das bedeutendste ist. Münkler: Die Herausforderung ist immer: Wie sammeln wir gewissermaßen die Splitter unseres Lebens – als Individuum oder als Kollektiv – auf und erzählen uns eine Geschichte unserer Selbigkeit? Auf welchem Wege kann der Herfried Münkler, fünf Jahre alt, identisch sein mit dem Herfried Münkler in den zwanziger oder vierziger Jahren seines Lebens usw. usw. Identität ist in diesem Sinne, egal, ob individuell oder kollektiv, ein Projekt der Narration. Und da wir nun einmal immer wieder älter werden, müssen wir diese Geschichte auch immer wieder neu erzählen. Wir sammeln uns zusammen, indem wir Identität narrativ konstruieren. Das ist eine ausgesprochen spannende Geschichte. Das ist der Wechsel von der bloßen biologischen Existenz zu jenem Mehr, in dem wir eine Selbstbezüglichkeit entwickeln und eine Vorstellung haben: Ja, das bin ich, der ich mich verändere und gleichzeitig mir gleichbleiben will. Das ist eigentlich ein wunderbarer Vorgang. Da kann man drüber nachdenken. Da bin ich allerdings nur ich und kein Deutscher. Misik: Aber selbst diese Geschichte kann man sich, bezogen sowohl auf das Individuum als auch die Geschichtsschreibung, so oder so erzählen, wie wir ja alle wissen. Insbesondere Geschichtsschreibung ist auch immer ein Widerstreit zwischen Narrationen. Nicht nur unbedingt als Konkurrenz – es kann ja auch sein, dass die eine Narration von der anderen abgelöst wird. Bisky: Die Texte, die wir heute gehört haben, stammten überwiegend von Gescheiterten: wie Hölderlin und Kleist oder einem Denker wie Fichte, dessen Leben eine Abfolge von Krisen war. Das sind die Leute, die die deutsche Identität konstruiert haben?

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Herfried Münkler und Robert Misik

Münkler: Ein gewisses Maß des Scheiterns und des Versuchs, das Auseinanderfallen im eigenen Kopf wieder zusammenzusetzen, erfahren wir nicht von Leuten, die jeden Morgen zufrieden zu ihrer Arbeit gehen und dann glücklich zu ihrer Frau nach Hause kommen. Eine gelingende Geschichte des Wegs zu sich selbst zu erzählen, wie man ja die Hegel’sche Philosophie in mancher Hinsicht lesen kann, ist nicht das, was so jemanden umtreibt. Misik: Es hat auch schon Künstler gegeben, die Großes gemacht und nicht gelitten haben. Das ist auch sehr deutsch, dass man immer leiden muss und nur das die Quelle der Kreativität ist. Und außerdem gibt es, im persönlichen Leben und auch in der Weltgeschichte, nicht nur die Erfolgreichen oder die Gescheiterten. Es gibt auch etwas dazwischen, das sind die erfolgreich Gescheiterten. Das kennen wir von den 68ern zum Beispiel: Sie wollten den Sozialismus, dabei haben sie die Gesellschaft liberalisiert. Ist auch okay. Erfolgreich gescheitert. Identität ist ja an sich nichts Schlechtes. Jeder will eine Identität haben, und man macht sich sehr häufig Gedanken über seine Identität. Und erst, wenn man ein bisschen beginnt, darüber nachzudenken, kommt man vielleicht drauf, dass der Begriff der Identität eigentlich ein unbrauchbarer ist. Vielleicht kann ich in meiner Zerrissenheit besser zurechtkommen, vielleicht bin ich da viel produktiver, vielleicht beschreibt es das auch besser, was ich bin. Bisky: Jetzt haben Sie den letzten erfolgreichen Mythos der Deutschen erwähnt, den Mythos der 68er. Ich würde gern ein bisschen politischer werden und auf die Gegenwart kommen. Irgendeine Erzählung, geschweige denn einen Mythos, herzustellen von dem, was die Deutschen, aber wohl auch die Österreicher seit 1989 erlebt haben, ist sehr kläglich gescheitert, scheint mir. Es ist im Moment so schwer, über vieles zu reden, weil wir ein Fortwirken von alten Erzählungen haben, eine Verklärung der alten Bundesrepublik als Wirtschaftswunderland und Ähnliches. Aber eine Erzählung dieses neuen Landes gibt es nicht. Es gab allerdings immer wieder Angebote: „Die selbstbewusste Nation“, ein „Wir normalisieren uns jetzt“ – das war so ein Angebot in den neunziger Jahren. Ein anderes, das mir sehr sympathisch ist, aber in München schwer vermittelbar: Wir sind die Berliner Republik, und hier ist die Generation Berlin. Es gab noch die Versuche, die Revolution von 1989 … Misik: Gab es nicht die „entspannte Nation“ bei der Fußball-WM?

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Publikum: Das Sommermärchen. Bisky: Das Sommermärchen ist auch schon eine Weile her, und so wahnsinnig entspannt ist die Nation im Moment nicht. Woran liegt es? Was macht es so schwer für dieses Gebilde, das seit 1989/90 einig ist und sich wirtschaftlich ganz ordentlich entwickelt, eine Erzählung zu finden? Münkler: Ich weiß nicht, ob der Begriff „scheitern“ oder „gelingen“ einen Sinn macht im Hinblick auf die letzten 25 oder 30 Jahre. Was Sie anführen, sind ja nicht beschreibende Merkmale. Sondern es sind Askriptionen, Zuschreibungen, in denen unsere Vorstellungen von der Vergangenheit und unsere Wünsche für die Zukunft gekoppelt eingehen. Wobei die Wünsche natürlich bestimmend sind. Warum ist das so schwer für die Deutschen, eine Geschichte zu finden, in der sie nach 1989 ihre Zufriedenheit mit sich oder ihrer Aufgabe zum Ausdruck bringen? Es gibt den Begriff der Geopolitik und der Geostrategie. Und natürlich ist die Schwierigkeit, dass wir uns auf der einen Seite an Frankreich, aber auch an England und den USA orientieren, dass aber gleichzeitig auch ein sehnsüchtiger Blick nach Osten geht. Und vielleicht ist diese Mittel- oder Zwischenlage so etwas wie eine Determination dieser Nation. Bisky: Und weder die Beziehungen zu Paris noch die zu Warschau oder Moskau sind im Moment besonders erfolgreich ... Wo schauen die Österreicher hin? Wo schaut die derzeitige österreichische Regierung hin? Misik: Das ist ja eine unterschiedliche Frage. Die Österreicher schauen natürlich grundsätzlich immer nach Deutschland. Die österreichische Regierung, na ja, … also man kann nicht sagen: Die gucken nach Ungarn, das wäre übertrieben polemisch. Wer mich kennt, weiß, ich bin ein großer Gegner dieser Regierung, aber das wäre übertrieben. Die weiß nicht so genau, wo sie hinschaut. Kurz will ja nicht die Schmuddelfigur sein in der EU, sondern will Anerkennung in den wichtigen Hauptstädten, aber sich auch gleichzeitig absetzen. Ich glaube, Kurz will Kanzler sein. Das ist das Wesentliche, was er will. Und zu der Frage, warum gibt es keine Erfolgsgeschichte für die letzten 25 Jahre? Für die Autoren und Texte, die uns in Wolken.Heim begegnen, war „Deutschland“ vor allem ein Zukunftsentwurf, eine Projektion, ein Idealbild. Oder wir haben Marx genannt: Auch er hat eine Idee entwickelt, die in die Zukunft gewandt war.

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Was ich meine, ist: Eine Erfolgserzählung basiert auf einem vorher formulierten Ziel, einer Idee, wie man sich die Zukunft vorstellt. Und das Problem ist, dass man zwar heute, bestenfalls, einen gemeinsamen Ausgangspunkt dieser 25 Jahre hat, aber nicht ein gemeinsames Ziel. Es gibt nicht die große Erzählung oder die Ideologie, nicht mal den Zukunftsentwurf, nicht mal ein Bild, das man anstrebt. Stattdessen hat man, irgendwo hat das mal einer formuliert, totale, erschöpfte Gegenwart. Das liefert natürlich keine Ziele. Verglichen damit ist es ja gut gelaufen die letzten Jahre. Aber es ist nicht elektrisierend, sich das zu erzählen. Münkler: Das ist ein spannender Punkt. Sind wir angekommen in der „Post-Histoire“, in der, wie Francis Fukuyama das gesagt hat, die Geschichte zu Ende ist? Das heißt nicht, dass es keine Ereignisse mehr gibt, aber es gibt keine großen Alternativen mehr, um die gekämpft wird. Das wirft ein Schlaglicht auf die Frage, die unsere Ausgangsfrage ist, nämlich: Wozu brauchen wir Identität? Und in welcher Weise ist Identität nicht nur das-hinter-uns-her-Laufende, das wir uns im Nachgang narrativ zusammenbasteln, sondern auch ein Entwurf, der uns vorauseilt? Der uns fordert und der uns stresst, im positiven Sinne … Misik: Fukuyama hat auch gesagt: Wenn die Geschichte in der Post-Histoire wieder in Gang kommen sollte, dann in Langeweile. Wenn alles gleich ist und alternativlos. Du kannst wählen, du hast Wahlmöglichkeiten. Aber es wird dir schon deutlich gesagt: Es gibt eh nur einen Pfad. Aber dann wird es irgendwie fad. Und wenn den Leuten fad ist, wollen sie was kaputtschlagen, was sie langweilt. Jetzt will ich gar nicht die hochnäsige These aufstellen, dass der Aufstieg des rechten Populismus nur geschieht, weil den Leuten fad ist. Die haben schon auch gute Gründe, Angst zu haben und frustriert zu sein. Aber ein bisschen eine Langeweile ist schon zu spüren, glaube ich – und eine Lust, dieses System kaputtzuschlagen. Bisky: Wir haben jetzt viel über Narration und Identität geredet. Was für mich wichtig ist, sind die Konflikte und die Gegensätze, mit denen ich zu rechnen habe. Da würde ich sagen, für die Zukunft ist das relativ klar: Auf der einen Seite sind die Anhänger Europas, die Freunde der Globalisierung. Eine kosmopolitische Elite, die davon auch profitiert. Und auf der anderen Seite viele Leute, die sagen: Nein, wir müssen den Preis für eure Freiheitsidee bezahlen. Das wollen wir nicht, wir wollen weniger Europa, wir wollen weniger Globalisierung, wir wollen Heimatschutz.

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Münkler: Ja, das kann schon sein, dass das eine der politischen Konfliktlinien der nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte wird. Wir hatten uns eingerichtet in der Vorstellung vom Fortschritt: Es wird alles immer besser, es geht weiter aufwärts. Und dazu gehörte auch die Vorstellung: Die politischen, die sozialen, die ökonomischen Räume werden größer. Seit einigen Jahren haben wir aber eine Gegenbewegung, also ein Unbehagen am Größerwerden, das Gefühl eines – sehr deutsch formuliert – Unbehaustseins in einer entgrenzten Welt. Misik: Die Leute, die da jetzt auf die Nation setzen oder auf Re-Nationalisierung – ich frage mich, ob es da wirklich nur um die Globalisierungsgewinne geht, und wer sie hat oder nicht. Oder ist es nicht eher so: Die Leute fühlen sich zunehmend schutzlos, und zwar mit einem gewissen Recht. Und sie fühlen sich auch politisch im Aus, unvertreten. Sie haben das Gefühl: Es hört mir überhaupt keiner mehr zu, für uns interessiert man sich überhaupt nicht. Und dann gibt es auch Erfahrungen, die wirklich neu sind: Der Job ist befristet, in der Wohnung kriege ich einen befristeten Mietvertrag, die Lebensabschnittspartnerschaften sind ja auch schon befristet. Daran sind zwar nicht der Kapitalismus oder der Staat schuld, aber es fügt sich ein in ein Bild einer befristeten Gesellschaft, in der man das Gefühl hat, auf gar nichts mehr bauen zu können. Das gilt selbst für diejenigen, die schon noch das Gefühl haben, dass sie erfolgreich sind: Um den Erfolg zu haben, darf man nicht ausstrahlen, dass man Angst hat. Das heißt, die Angst wird dann auch noch versteckt und verborgen. Und das frisst sich ein in unsere Gesellschaft. Münkler: Aber Angst ist offenkundig eine Grundbefindlichkeit unserer Existenz. Ich würde sagen, die Aufgabe der Politik ist, Angst in Furcht zu transformieren. Furcht nämlich ist etwas ganz anderes: Wenn ich mich vor etwas fürchte, kann ich Maßnahmen treffen, um diese Furcht in Grenzen zu halten. Aber Angst ist eine existenzielle Befindlichkeit, ein flottierendes Gefühl des Ausgeliefertseins. Und vielleicht ist das, was Sie beschrieben haben, eine Situation, in der es der Politik nicht mehr oder nur unzureichend gelingt, die Furcht zu transformieren in die Vorstellung: Wir bewältigen das Problem – oder in einer zuletzt häufig zitierten und persiflierten Wendung: Wir schaffen das. Denn das Gefühl, dass unbewältigbar etwas auf uns kommt, ist eine Situation, die dann auch politische Rationalität zerstört. So, wie wir es gerade erleben. Unbestreitbar ist: Globalisierung produziert Globalisierungsverlierer, aber Protektionismus senkt insgesamt den Anteil des ver-

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fügbaren Einkommens, egal, ob Nationaleinkommen oder europäisches Einkommen. Mit dem Ergebnis, dass es dann allen schlechter geht. Allerdings: Wenn man erklären will, warum aus unseren Gesellschaften Leute rausgegangen sind zum IS, um in Syrien zu kämpfen, dann nicht damit, dass der IS so hohe Honorare gezahlt hat. Da spielt Ökonomie keine Rolle. Darin äußert sich eher der Wunsch, einer bedeutungslosen Existenz in einer postheroischen Gesellschaft, wo man eben so vor sich hin lebt, zu entkommen und etwas wirklich Eingreifendes zu machen. Bis hin zu einem Amokläufer, der ohne islamistischen Hintergrund agiert, sondern einfach nur eine Bedeutsamkeit sucht. Bisky: Die Texte der Autoren aus Wolken.Heim sind überwiegend entstanden zwischen 1789 und 1848. Da gab es nicht nur die Französischen Revolution, die Ausdruck wirklich neuer Ideen wie Bürgerrecht und Volkswillen und Nationalstaat war. Das war eine Zeit ständiger Revolutionen, politischer, sozialer, technischer Art, und im Gegenzug gab es wenig, worauf man sich verlassen konnte. Verglichen damit ist in meiner Lebenszeit erstaunlich wenig wirklich Dramatisches geschehen. Ich kenne keinen, der ein vergleichbares Lebensgefühl heute aus seinem Alltag heraus irgendwie begründen könnte, obwohl sich vieles auch dramatisch verändert hat. Publikum: Was? Sie sitzen hier in Leipzig. Bisky: Ja, ich komme auch aus Leipzig. Publikum: Es ist jetzt alles aus den Fugen. Bisky: Das ist zwischen 1789 und 1848 nicht nur ein Mal passiert, sondern mehrfach. Und es ist ohne jede sozialstaatliche Absicherung geschehen. Publikum: Aber man muss doch schon ein bisschen Scheuklappen vor den Augen haben, wenn man diesem Zeitalter zubilligen möchte, dass es keine Dramatik oder keine weltumspannenden, höchstdramatischen und gefährlichen Situationen hatte. Auch das Identitätskonzept, wie Sie es beschreiben, ist für mich nur ein Stückwerk. Identität wird doch heutzutage teilweise benutzt als Abwehrreflex. Das „Wir“ ist doch deshalb so aufgebaut worden, auch beim „Sommermärchen“ etwa, um es vielleicht gegen jemand anderen zu stellen. Münkler: Aber das ist nichts Außergewöhnliches. Identität hat immer Alterität als ihren Begleiter. Ich kann nur etwas feststellen und beschreiben,

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„Je dramatischer die Unterlegenheitserfahrung, desto mehr wird nach Identität gesucht“

wenn ich das andere vor Augen habe. Das ist ein, wenn Sie so wollen, zutiefst dialektischer Gedanke. Ich bedarf des anderen, um mich meiner in meiner Selbigkeit zu versichern. Misik: Nur, ob der andere einen verunsichert oder nicht, ist dann immer noch ein Unterschied. Münkler: Genau. (zum Publikum) Sie haben sich vorhin auf 1989 bezogen, die friedliche Revolution, die hier alles verändert hat. Das aber ist ein Vorgang, der 17 Millionen Deutsche existenziell betrifft – und 61 Millionen erleben das so ungefähr am Fernseher. Die einen sind aktiv – und von denen auch längst nicht alle, aber viele – und die anderen sind kontemplativ. Das macht aber die Schwierigkeit im Hinblick auf die Gesamterzählung Deutschlands. Publikum: Wenn es damals eine neue Verfassungsdiskussion gegeben hätte, wäre es wahrscheinlich eine gesamtdeutsche Diskussion geworden. Münkler: Das glaube ich auch nicht, weil Verfassungsdiskussionen hochkomplexe Vorgänge sind, an denen letzten Endes nicht sehr viele Leute beteiligt sind. Aber das ist egal. Wichtig ist, denke ich, dass noch die alte Bundesrepublik ein Modell hatte, Leute zu beschreiben als Vorkriegsgeneration, Kriegsgeneration, Nachkriegsgeneration. Das hat auch relativ lange gut funktioniert. Aber dann brach plötzlich 70 Jahre Frieden aus, und es taucht der Begriff „Generation Golf“ auf. Florian Illies hat den geprägt. Da haben dann andere gesagt: Okay, wir sind die Generation Volkswagen. Das heißt, ein Konsumgegenstand wird zum Identitätsmarker für das, was man bis dahin sonst als die Nachkriegsgeneration bezeichnet hat. Das, denke ich, ist ein schönes Beispiel dafür, dass es nicht mehr große politische Auseinandersetzungen sind oder Katastrophen, die Identität markieren, sondern die Verfügbarkeit bestimmter Konsumgegenstände. Man kann sagen, das ist gewissermaßen der Eintritt in eine langweilige Gesellschaft, die Gesellschaft der „letzten Menschen“, wie Nietzsche das vermerkt hat, und die er im Zarathustra beschreibt als eine Ansammlung von Lebewesen, die mit der Sorge um ihre „Lüstchen“ beschäftigt ist. Aber vielleicht ist das ja auch nur eine Zwischenphase. Über die Frage „Was war eigentlich ’89?“ gibt es in der Historiographie einen tiefgreifenden Dissens: War es der Wunsch nach Freiheit? Oder war es der Wunsch nach Konsumgütern? Oder ist vielleicht auch dieses Entweder-Oder falsch? Das sind aber alles Auseinandersetzungen auch um

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Herfried Münkler und Robert Misik

die Frage: „Wer sind ‚wir‘?“ Und in welcher Weise haben wir Geschichte gemacht? Und Geschichte erlebt? Aber wenn es um die friedliche Revolution geht, ist dieses „Wir“ schon ein relativ kleines. Sie als Leipziger sagen vermutlich: Es ist das Leipziger Wir. Aber auch bei einem größeren Wir sind es keineswegs alle DDR-Bürger. Aber es sind Merkmale, über die wir uns streiten, und die wir akzeptieren oder zurückweisen können. Und das macht diesen Prozess der Identitätsfindung aus. Und so findet er statt. Und nicht, dass man sagt: Etwas ist der Fall.

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Weitere Informationen siehe Seite 81 ff.

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„KEIN STARKER ARM NIRGENDS“ Heinz Bude über das andere Proletariat im alten und neuen Kapitalismus

Vortrag am 11. Januar 2018 Zur Neuinszenierung von Ödön von Horváths Kasimir und Karoline anlässlich des 85. Jahrestages der Uraufführung in Leipzig war Prof. Heinz Bude eingeladen, Horváths Blick in die Gegenwart zu verlängern. „Zukunft? Fragen Sie mich doch mal etwas Leichteres. Es wird jedenfalls nicht besser. Oder glauben Sie, dass in nächster Zeit die Leute ihre Pakete selber von der Paketsammelstelle abholen werden?“ So äußerte sich ein Hermes-Fahrer im Rahmen eines groß angelegten sozialwissenschaftlichen Projekts, das wir über die Tatbestände einfacher Dienstleistungen in unserem Land durchgeführt haben.1 Stellen Sie sich einen Mann Ende vierzig vor, der in einem Auto unterwegs ist, das ziemlich ramponiert aussieht, und der jeden Tag eine außerordentlich komplexe Tätigkeit vollbringt: Er ist sein eigener Logistiker, weil er sich genau einteilen muss, wie er die Fahrten unternimmt; er ist sein eigener Packer, weil er das Fahrzeug selber mit den Paketen beladen muss; er ist der Fahrer und der Kontakter, der dienstleistungsfreundlich und verfahrenskorrekt sein muss, wenn er das Paket dem Kunden übergibt. Und er ist sein eigener Controller, der am Ende der Tour darüber befindet, welche Pakete man erneut am nächsten Tag abliefert, welche in einer Sammelstelle deponiert und welche als nicht zustellbar an den Absender zurückgeschickt werden. Ich vermute, der Mann kann seine Tätigkeit nicht länger als 25 Jahre ohne tätigkeitsspezifische gesundheitliche Beeinträchtigungen ausführen. Eine Flasche „Rotbäckchen“ zur Unterstützung des Immunsystems ist bei dem Verdienst nicht drin. Ich spreche von jemandem, der vollzeitig beschäftigt ist, der einen unbefristeten Vertrag hat und womöglich eine Berufsausbildung als Maler absolviert hat. Es handelt sich also nicht in dem Sinne um eine prekäre Beschäftigung, wie man sie heute definiert, nämlich als eine teilzeitige Beschäftigung, eine terminierte Beschäftigung oder eine nicht qualifikationsadäquate Beschäftigung. Mit der Bezeichnung „einfache Dienstleistung“ werden Menschen erfasst, die im Transportbereich tätig sind, also Fernfahrer oder Gabelstapler-

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fahrer, Menschen, die in der Zulieferung tätig sind, wie der Hermes-Fahrer, in der Gebäudereinigung oder im Sicherungsgewerbe, die bei einem Discounter arbeiten, in der Gastronomie oder in der Pflege. Das sind 12 bis 14 Prozent der Beschäftigten in Deutschland. Wer bei H&M oder Zara arbeitet, ist nur auf den ersten Blick im Bekleidungsfachhandel beschäftigt. Die sollen keine Kundengespräche führen, die sollen den ganzen Tag die Regale und Kleiderständer auffüllen, immer wieder die Sachen zurechtlegen, die durcheinandergeraten sind, und zwischendrin an der Kasse stehen. Kundengespräche würden nur von der Arbeit abhalten, jedenfalls diejenigen, die dort in einfacher Beschäftigung tätig sind. Die Gebäudereinigung, die Zulieferung, der Transport, auch die Discounter und erst recht die Pflege sind Wachstumsbereiche. Das Personal ist begehrt, aber die Fluktuation ist groß. Kennzeichnend für alle diese Bereiche ist, dass man im Durchschnitt 1000 Euro netto im Monat verdient. Und Sie alle wissen, mit 1000 Euro netto im Monat kann man auch in Leipzig nicht leben und nicht sterben. Vielleicht in Parchim, aber in Leipzig nicht, erst recht nicht in Wiesbaden, und schon gar nicht in Reutlingen. Und wenn Sie damit eine Familie ernähren wollen, dann müssen Sie ein Aufstocker sein. Das heißt, man kriegt noch Geld dazu von der Agentur für Arbeit, weil der Lebensunterhalt durch das Einkommen nicht gedeckt wird. Und die allermeisten sind auch Aufstocker und leben, wenn sie in einer Beziehung leben, in einem Haushalt, in dem die beiden Partner beschäftigt sind – und teilweise sogar mehrfach. Gemeinsam ist all diesen Tätigkeiten auch, dass es keine Aufstiegsmöglichkeiten gibt. Wer einmal als Fahrer bei Hermes anfangen hat, bleibt sein ganzes Leben lang auf dieser Position, sie können nicht Oberfahrer werden. Und ein weiteres verbindendes Merkmal ist sehr wichtig: Es gibt keine organisierte Stimme für Hermes-Fahrer. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist wie die politische Wahlbeteiligung bei einfacher Dienstleistung gering. Manche der von uns Befragten üben durchaus einen Ausbildungsberuf aus. Die Gebäudereinigung zum Beispiel ist ein Ausbildungsberuf. Darauf haben wir die Gebäudereiniger angesprochen: „Sie haben doch einen Ausbildungsberuf, dafür gibt es ein Zertifikat“. Antwort: „Na ja, Ausbildung? Ich würde sagen, anderthalb Stunden Ausbildung reicht, dann können Sie auch putzen.“ Was man wirklich lernen muss, ist nicht Gegenstand der Ausbildung. „Man muss vor allen Dingen lernen, den Unterschied zwischen Grundreinigung und Sichtreinigung hinzukriegen.“ Sichtreinigung heißt, dass es so aussieht, als ob geputzt worden ist. Das Zimmer im Hotel kann man gar nicht in der Zeit sauber kriegen, die dafür

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„Kein starker Arm nirgends“

vorgesehen ist. Da ist nur Sichtreinigung möglich. Das heißt aber, es kann immer ein Kunde, also in dem Fall ein Hotelgast oder ein Hotelmanager, kommen und Klage führen. Das kann jederzeit passieren. Es kann nämlich gar nicht sauber sein in der Zeit, die für die Reinigung eines Zimmers unter dem Preisdruck in der Branche zur Verfügung steht. Es sei denn, der Kunde zahlt Grundreinigung. Und selbst bei Grundreinigung sind aufgrund der Sache des Reinigens keine klaren Kriterien vorhanden. Was heißt schon Grundreinigung? Eine Ecke findet sich immer, die nicht sauber ist. Wenn man so drauf ist, ist das nicht so kompliziert. Sichtreinigung ist organisierter Pfusch. Das muss man lernen, wenn man in der Gebäudereinigung tätig ist. Wie man so pfuscht, dass es so aussieht, als ob alles in Ordnung ist. Sonst kommt man nicht über den Tag. Man muss nicht lernen zu putzen, sondern man muss lernen, so zu putzen, dass es so aussieht, als ob man geputzt hätte. Ich glaube, dass die Gruppe dieser einfachen Dienstleistungen, die ich hier skizziert habe, ein neues Proletariat in Deutschland bilden. Das ist kein Proletariat der Industrie mehr, sondern das ist ein Proletariat der Dienstleistung. Warum Proletariat? Es gibt von Joseph Schumpeter das schöne Bild von der Klassenlage als Omnibus, in den man einsteigen, aus dem man aber auch aussteigen kann. Das Personal fluktuiert, aber der Bus klappert weiter die Stationen ab.2 Im Fall der einfachen Dienstleistung ist der Omnibus immer voll. Wer in den Omnibus der einfachen Dienstleistung für eine gewisse Zeit eingestiegen ist und dann wieder aussteigen konnte, um einen anderen Bus zu nehmen, wird erleben, dass nach ihm sofort eine Person den freigewordenen Platz einnimmt. Warum? Weil wir eine Gesellschaft offener Grenzen sind und etwa im Zuge der europäischen Binnenmigration sich immer wieder Leute finden, um in dem Omnibus für die einfache Dienstleistung Platz zu nehmen – und zwar egal, was bezahlt wird, egal, was für Arbeitskonditionen existieren, und egal, was für Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Bus sich bieten. Man kann die Ausbildung der Manpower verbessern, das Bildungssystem für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte öffnen, soziale Aufstiege in die höherwertige Dienstleistung fördern, der Bus wird trotzdem immer voll besetzt sein. Charakteristisch für alle diejenigen, die mit einfachen Dienstleistungen ihren Lebensunterhalt verdienen, ist auch, dass sie in bestimmter Weise Herrschaft unterworfen sind. Diese Herrschaftserfahrung der einfachen Dienstleistung ist eine grundsätzlich andere, als man sie heute in den formalisierten Beschäftigungsverhältnissen in der Industrie oder in der Verwaltung findet. Betriebliche Herrschaft ist da überall viel indirekter geworden:

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Heinz Bude

Sie ist in Kooperationsbeziehungen eingebaut, beruht auf Ko-Management und ist Gegenstand von Zielvereinbarungen. Der Chef herrscht nur im Zweifelsfall im direkten Zugriff auf die Person der Mitarbeiterin und des Mitarbeiters. Bei der einfachen Dienstleistung erfolgt Herrschaft über etwas, von dem wir fast vergessen haben, dass es in beruflichen Tätigkeiten eine Rolle spielen kann: Die Herrschaft geht über den Körper. Herrschaft etwa in der Gebäudereinigung heißt: Schneller machen! Herrschaft heißt: Ranklotzen! Herrschaft heißt: Wie siehst du denn aus? Herrschaft heißt: Wie lange willst du denn das noch durchhalten? Herrschaft heißt: Schaffst du das eigentlich noch die Treppen rauf und runter? Und Herrschaft heißt, dass einem immer Jüngere im Nacken hängen, die alles besser, schneller und schlauer machen können.3 Und das dritte Element, das begründet, warum es sich hier um ein Proletariat handelt, besteht darin, dass die Betreffenden alle über Praktiken der Cleverness verfügen müssen im Sinne dessen, was ich eben am Beispiel der Sichtreinigung gesagt habe. Wer beispielsweise Pakete zustellt, braucht jemanden im Hause, der die Pakete für die Nachbarn abnimmt. Und wenn Sie die nicht ein bisschen umwerben, dass die die Pakete nehmen, dann müssen Sie die wieder mitnehmen, und das ist Arbeit, die Sie sich selber machen. Also sind Sie nett und sagen: Hören Sie mal, Frau Dozeleit, können wir noch mal wieder ein Paket nehmen? Und dann gibt es diese großen Wohnanlagen mit gesichertem Zugang. Aber den Leuten, die nicht von DHL sind, sondern nur von Hermes, gibt man vielleicht gar nicht den Zugangsschlüssel für diese Wohnanlagen. Sie müssen aber auch dort rein, um ihre Zettel abliefern zu können als Nachweis, dass Sie versucht haben, das Paket anzuliefern. Dafür müssen Sie eigene Lösungen finden, die nicht selten hart am Rande der Illegalität sind. Ein aus Kronkorken selbst zusammengebastelter Dietrich für die Schlösser der Eingangstüren zum Beispiel. Zusammengefasst bestimmt sich die Proletarität der von uns untersuchten einfachen Dienstleistung aus dem Vorhandensein dieser drei Faktoren: der Tatsache des vollen Omnibusses, der Unterworfenheit unter eine Macht, die direkt auf den Körper und die Person zielt, sowie den notwendigen Listen der Ohnmacht. Wichtig ist, dass es für dieses neue Proletariat keinen Karl Marx gibt. Es gibt keinen, der ihm erzählen kann: Jetzt seid ihr noch unten, aber irgendwann werdet ihr – und sei es als Sozialdemokraten – vorne stehen. Gibt es nicht. Das wissen auch alle. Es gibt keine Erzählung, die sagen würde: Die Geschichte ist auf eurer Seite. Es gibt keine Erzählung, die eine gesellschaftliche Zukunft ausruft, in der die Dienstleistung eine respektable Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Und es gibt keine glorreiche Organi-

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sation mit einem Anführer, der sagt: Wenn ein starker Arm es will, stehen alle Räder still. Andererseits gibt es auch kein gemeinsames Bewusstsein der Leute, die in einfachen Dienstleistungen tätig sind. Es gibt kein Bewusstsein der Gemeinsamkeit des Hermes-Fahrers mit demjenigen, der in der Gebäudereinigung oder denjenigen, die in der Pflege tätig sind. Es gibt nicht die Idee: Wir bilden ein Kollektiv der Werktätigen, so, wie man im alten Proletariat sagen konnte: Wir schaffen die Werte, wir lassen die Schornsteine rauchen, wir bilden die Basis. Einfache Dienstleistung ist überhaupt keine wertschöpfende Tätigkeit im ökonomischen Sinne von Marx, sondern es ist eine rein reproduktive Tätigkeit, die nur die Voraussetzung schafft, damit wertschöpfende Tätigkeit möglich ist. Das Interessante ist: Warum gibt es eigentlich diese vielen einfachen Dienstleistungen? Und warum ist das ein wachsender Bereich? Ganz einfach. Wer macht heute noch seinen Flur selber sauber? Wer geht eigentlich noch selber das Nötigste für den Alltag einkaufen? Die wunderbaren Internetkaufhäuser, die die kreative Klasse so liebt, weil man keine Zeit mehr für den einfachen Konsum verschwenden will, basieren alle auf Zustellungstätigkeiten. Die Leute müssen diese Pakete irgendwie abgeliefert bekommen. Und die Leute lassen nicht nur Bücher – die Leute lassen sich Rennräder schicken, Aluminiumfelgen, Balkonpflanzen oder günstige Designermöbel. Das muss alles transportiert werden. Heute sind viele Familien in der Situation, dass sie ein pflegebedürftiges Familienmitglied haben. Und wer will, dass Opa nicht in ein Heim kommt, sondern zu Hause im sogenannten Life-in-Modus gepflegt wird, 24 Stunden, wird eventuell auf illegalen Arbeitsmärkten Arbeitskraft einkaufen. Denn die Pflegerin aus Moldawien, die vielleicht gar kein Wort Deutsch spricht, die aber mit Opa gut zurechtkommt, macht das für 2000 Euro. Davon erhält sie übrigens nur 1200 Euro, 800 Euro gehen an die Vermittler. Aber reell bezahlt, würde das 6000 Euro kosten. Unbezahlbar für einen Mittelklassehaushalt. Also versucht man auf illegalen Arbeitsmärkten, eine Pflegekraft zu finden. Mit diesem Beispiel sehen wir noch einmal mehr, was dieses Proletariat heute auch charakterisiert: Erstens ist es vermehrt weiblich. Es ist nicht mehr männlich dominiert wie das alte Industrieproletariat. In der einfachen Dienstleistung sind heute etwa 35 Prozent Frauen tätig, Tendenz steigend – in der Gebäudereinigung, in der Pflege, aber mittlerweile auch in der Zustellung. Zweitens handelt es sich um ein Proletariat, in dem vielfältige Zuwanderungsgeschichten existieren. Es sind immer weniger „Bio-Deutsche“, aber viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Und das Dritte: Die Qualifikationsvoraussetzungen in der einfachen Dienstleistung sind,

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damit zusammenhängend, nicht selten diffus. Damit meine ich, dass in einer Putzkolonne, die wir befragt haben, eine ehemalige Staatsanwältin aus Moldawien tätig war. Das ist dieses neue Proletariat: weiblich, ethnisch divers und qualifikatorisch diffus. Und wie nimmt dieses Proletariat an unserer gesellschaftlichen Welt teil? Es kämpft um Anerkennung. Und damit steht die Frage: Wie wird eigentlich die Anerkennung von einfacher Dienstleistung dargestellt? Durch das Einkommen jedenfalls nicht. Das ist die normale Form der Anerkennung, die wir im Kapitalismus kennen: Je wichtiger die Tätigkeit, umso höher das Einkommen. So ist es in dem Fall nicht. Das heißt, die Frage der Respektabilität der Tätigkeit ist auf tägliche Anerkennungsversuche angewiesen. Das heißt aber auch, und das können wir tatsächlich feststellen: In dieser einfachen Dienstleistung gibt es durchaus eine gravierende Systemaversion gegen unsere Gesellschaft. Das heißt: Es ist doch gleichgültig, was wir wählen, es wird sowieso nicht besser für uns. Ein Friseur, auf den Mindestlohn angesprochen, sagte mir: „Früher habe ich für zwölf Euro die Haare geschnitten, und es gab eventuell vier Euro Trinkgeld. Jetzt kostet es 14 Euro wegen des Mindestlohns. Bekomme ich dann immer noch vier Euro Trinkgeld? Nein. Die Summe bleibt bei 16 Euro, ich bekomme nur noch zwei Euro Trinkgeld drauf. Das heißt, am Ende habe ich weniger als vorher durch den Mindestlohn.“ Unterm Strich, lautet die Schlussfolgerung, hat dem Angesprochenen der Mindestlohn nichts gebracht, im Gegenteil, vielleicht habe ich noch weniger als vorher. Und eine weitere Beobachtung ist ganz wichtig: Wen mögen die Dienstleistungsproletarier gar nicht? Es sind die Hartzer, die sich unentwegt über den Kahlschlag im Sozialstaat beschweren. Warum gerade die nicht? Die leben ja vom Amt, heißt es dann, die haben keine Ehre im Bauch. Ich verdiene nicht viel, aber ich verdiene mein Geld selbst. Der untere Teil unserer Gesellschaft ist zwischen den Hartzern und den Dienstleistern gespalten. Ist die Geschichte damit zu Ende? Nein, überhaupt nicht. Die Geschichte des Dienstleistungsproletariats geht weiter. Die diffuse, irreguläre Klasse derer, die einfache Dienstleistungen in unserer Gesellschaft vollziehen, wird größer werden. Es dauert nicht mehr lange, dann gehören zum Dienstleistungsproletariat auch die Klick-Worker, die man universell kaufen kann, um eine Website zu machen. Da wird auch wenig verdient, da gibt es auch keine Aufstiegsmöglichkeiten, weil ein Solo-Selbstständiger allein seines Glückes Schmied ist. Oder man nimmt die Leute, die als Boden- und Servicepersonal bei Air Berlin tätig waren. Deren Jobs waren einstmals eine qualifizierte Dienstleistung, weil die Leute Englisch konn-

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ten, weil sie in der Lage waren, aufgebrachte Gäste zu beruhigen, weil sie über eine gewisse Fähigkeit zur Moderierung und zur Beruhigung von Passagieren mit Flugangst verfügen. Diese Fähigkeiten wurden alle hoch geachtet und gut entlohnt. Heute nicht mehr. Tätigkeiten des Boden- und Abfertigungspersonals auf Flughäfen sind heute einfache Dienstleistung und werden in der Regel in der Höhe des Mindestlohns bezahlt. Kommt man raus aus der einfachen Dienstleistung? Ja. Es gibt einen Bereich, das ist die Pflege. Warum? Weil der Wohlfahrtsstaat Dokumentierungskompetenzen an Qualifikationen bindet. Da gibt es augenblicklich eine starke politische Diskussion, dass die Pflege ein Qualifikationsberuf ist und teilweise sogar eine Fachhochschulqualifikation erfordert. Damit erhöht sich der politische Preis für diese Art von Dienstleistung, und damit entstehen Aufstiegsmöglichkeiten und ergeben sich höhere Verdienste. Ähnliches gilt für alle Formen von Premiumservice: Wenn Sie ein gutes Lokal haben wollen, brauchen Sie einen guten Koch. Den müssen Sie gut bezahlen. Also, es gibt Möglichkeiten, die aber immer mit Zusatzqualifikation, mit symbolischen Sonderleistungen zu tun haben. Ohne das wird es schwer. Was heißt das fürs Ganze? Deutschland ist der große Gewinner der Globalisierung. Jedenfalls sagen mir das alle Kollegen, die mich besuchen, aus welchem Land auch immer sie kommen: „Der große Gewinner der Entwicklung der letzten 25 Jahre seid ihr“. Warum? Es gibt viele Jobs mit hoher Qualifikation, mit hohen Anforderungen an Kompetenzen und Selbstverantwortung, mit hohen Anforderungen an organisationeller Disposition und digitaler Aufbereitung. Alles lovely jobs – anstrengend, aber mit hohen Selbstwirksamkeitserfahrungen. Das hätten viele andere Länder gern in dieser Zahl. Aber neben den lovely jobs gibt es eben auch die lousy jobs. Das sind die in der einfachen Dienstleistung, und sie nehmen zu. Und das Auseinanderdriften, das wir zwischen den lovely jobs und den lousy jobs erleben, das nennt man Polarisierung.4 Diese Polarisierung beginnt in der Beschäftigungsstruktur, und manche Leute meinen, sie geht dann über auch in die politische Struktur. Es gibt Menschen in den lousy jobs, die sagen: Mit Politik wollen wir nichts zu tun haben. Was wir wollen, ist, dass wir mit unseren lousy jobs auch dazugehören und nicht zu Menschen abgestempelt werden, die auf Hilfe angewiesen sind. Und wir wollen niemanden, der uns diese lousy jobs streitig macht. Das heißt, es gibt ein Thema für die Leute, bei dem sie in Aufregung geraten und sich plötzlich für die politische Welt interessieren, und das ist das Thema Migration. Und diejenigen, die selber eine Zuwanderungsgeschichte haben, sind natürlich die, die zu denen, die mit einer

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anderen Zuwanderungsgeschichte neu hierherkommen, sagen: Ihr müsst euch hinten anstellen. Das nennt man Hierarchie des Hierseins.5 Und über diese Frage lässt sich politische Energie erzeugen. Wenn die dann zusammentrifft mit etwas, worüber ich heute gar nicht geredet habe, dass es nämlich auch eine Spaltung in der Mitte unserer Gesellschaft gibt – auch in der Mitte unserer Gesellschaft gibt es die mit den lovely jobs und die mit den lousy jobs –, und wenn die mit den gefährdeten Jobs in den Büros der Verwaltung, hinter dem Schalter der Banken und in den Newsräumen der Zeitungsredaktionen jemanden finden, der ihnen sagt: „Ihr werdet sowieso nur belogen und betrogen! Was soll das ganze Theater mit der EU, was soll das ganze Gerede von der boomenden Wirtschaft? Bei uns, bei euch kommt doch davon nichts an, seid doch mal ehrlich!“ Dann haben wir ein Syndrom vor Augen, wie wir es bei Horváth wiederfinden: Ein antikapitalistisches Rebellensyndrom, kombiniert mit Eliten-Verachtung und intensiviert durch Nachrichten von korruptiven Machenschaften überall. Dann haben wir eine Situation, die wir zwar in Deutschland nicht haben, aber bereits in manchen Leitgesellschaften des Westens: Dass ein „autoritärer Rebell“6 auftritt und behauptet: Ich spreche jetzt über die vergessenen Männer und Frauen in unserer Gesellschaft. Ich spreche jetzt über die angeblich Überzähligen in unserer Gesellschaft. Und ich will eine Solidarität, die nur auf uns beschränkt ist und gegen die gerichtet, die unsere Solidarität beeinträchtigen wollen. „Wir zuerst, und der Rest ist uns egal.“ Was wir auch in Deutschland haben – und das ist zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte der Fall –, das ist ein Proletariat ohne Zukunft. In der DDR hatte das Proletariat die Macht, in der Bundesrepublik hat es sich in verschiedenste Aufstiegsgeschichten verflüchtigt. Helmut Schelsky hatte recht, als er schon Mitte der fünfziger Jahre die These aufgestellt hat, dass die Bundesrepublik eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft ist, in der Aufstiege und Abstiege sich in einer immer breiter und immer tiefer werdenden gesellschaftlichen Mitte ausgleichen.7 Das stimmt nur heute so nicht mehr. Ich glaube, es ist in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland ein Proletariat entstanden, das uns so schnell nicht verlassen wird. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

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„Kein starker Arm nirgends“ 1

Philipp Staab: Macht und Herrschaft in der Servicewelt, Hamburg 2014, und Friederike Bahl: Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft, Hamburg 2014.

2

Joseph Schumpeter: Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu, Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 57, 1927, S. 1–67.

3

Heinz Bude: „Alltägliche Kämpfe auf der unteren Etage“, in: ders., Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014, S. 83-90.

4

Maarten Goos und Alan Manning: „Lousy and Lovely Jobs. The Rising Polarization of Work in Britain“, Review of Economics and Statistics 89, Iss.1, 2007, S. 118–133.

5

Norbert Elias und John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main 1993.

6

Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs. Rekonstruiert und Herausgegeben von Wolfgang Bonß, Stuttgart 1980.

7

Helmut Schelsky: „Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft“ (1953), in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 331–336.

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„OSTDEUTSCH ISCH OVER“ Warum der Markenkern der Linken langsam hohl wird

Marc Reichwein, Die Welt, 2. November 2016 Was macht eigentlich Gregor Gysi? Gregor Gysi tingelt jetzt auch durch Bierzelte. Am vergangenen Wochenende sprach Gysi beim SchätzeleMarkt, einem Volksfest im Südbadischen, ganz unten nahe der Schweizer Grenze, als Hauptredner vor 2000 Leuten. Seit seinem Rückzug vom Fraktionsvorsitz der Linkspartei im Bundestag hat Gysi Zeit. Mehr Zeit, nicht nur in Talkshows zu sitzen, sondern auf Tuchfühlung mit Menschen zu gehen, die die Linkspartei, ebenso wie die Deutsche Einheit für etwas halten, das vor allem „koschtet“. Einen Abend später sitzt Gysi auf der Großen Bühne im Schauspiel Leipzig und unterhält sich mit Heinz Bude. Ein ostdeutscher Politiker und ein westdeutscher Soziologe diskutieren vor heruntergelassenem Eisernen Vorhang über das Thema: „Ist der Osten anders?“ Seit Pegida-Demonstranten und Mob-Szenen aus Clausnitz, Freital oder Bautzen die Bilder beherrschen, liegt die Frage in Sachsen besonders nahe. Bierzeltgemäß ist der Run aufs Gysi-Theater auch in Leipzig. Das studentische Hipster-Publikum wird im Anschluss aber wohl eher aus Longneckflaschen als aus schmerbäuchigen Biergläsern trinken. Der Abend, moderiert vom Journalisten Jens Bisky (Süddeutsche Zeitung), hätte in einer Bilanzpressekonferenz zur Lage der deutschen Einheit verunglücken können, wenn – ja, wenn Heinz Bude nicht schon sehr früh den entscheidenden Satz gesagt hätte: „Den Osten gibt es nicht mehr. So, wie es den Westen nicht mehr gibt.“ De facto, so Bude, habe Parchim heute mehr mit Duisburg als mit Leipzig zu tun. Ungleichheit in Deutschland habe heute vor allem ein ethnisches Gesicht. Es gebe ein neues Dienstleistungsproletariat in diesem Land, das sich vom Paketboten bis zur Pflegekraft vor allem aus Menschen mit Migrationshintergrund speise. Gysi, der von den Löhnen bis zur Lebensleistung gern den Anwalt der Ostdeutschen gibt, konterte mit einer Anekdote vom VEB Putzteufel. Bude lieferte die analytischen Stichwörter. Man hat, nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen AfD-Erfolge, den Eindruck, dass der Linkspartei der Markenkern Ostdeutschland abhandenkommt wie der Linken an sich ihr Klientel der kleinen Leute. Traditionell, so Bude, sei die Sozialdemokratie der politische Hort für gesellschaftliche Verlierer gewesen.

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„Ostdeutsch isch over“

Warum falle es der Linken so schwer, die „Verbitterungsenergien“ der Leute einzufangen? Warum kommt der „Würdelieferant“ (Bude) heute von rechts? Hierauf hatte auch Gysi keine überzeugende Antwort. Als südbadischer Zuhörer bekam man bei diesem Leipziger Abend den Eindruck: Die alte Einheit von links und ostdeutsch isch over.

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WOLKEN.HEIM Kurzinhalt / Inszenierungsfotos / Team


KURZINHALT Elfriede Jelinek: Wolken.Heim

Stimmen kreisen. Sie raunen, sie fragen, sie wissen. Bezugspunkt ihres Redens ist, wer und was „wir“ sind, die Deutschen und das Deutsche. Offenbar sind sie seit einiger Zeit schon mit dem Versuch der Beantwortung beschäftigt. Die Stimmen in Wolken.Heim verdichten sich und zerfallen wieder, zu ängstlichen Séancen oder aggressivem Fordern, zu begeisterten Visionen oder vehementer Abwehr. Elfriede Jelineks Wolken.Heim ist ein großer Textblock ohne jegliche Sprecheraufteilung oder Regieanweisung, dafür aber mit einem schlichten Nachsatz, dass die verwendeten Texte „unter anderem“ von Hölderlin, Hegel, Fichte und Kleist stammen. Das bedeutet einen Rückgriff auf sehr verschiedengestaltige Quellen: Aufsatz, Rede, Lyrik, Drama, Vorlesung. Jelinek verbindet und vereinheitlicht die Genres und Autoren, indem sie alle Zitate auf „Wir“ umformuliert – und in die Aussageform bringt. Abgesehen davon verwendet sie einige der Quellen ansonsten unverändert, andere formuliert sie zudem noch in der ihr üblichen Art und Weise wortund sprachspielerisch um. Diese Zitate konstituieren im raschen Wechsel wie ein Teppich den Stücktext; verwebt werden sie durch Passagen jelinekscher Texterfindungen, die sich um das „Wir“ gruppieren und leitmotivisch die Wendung „Wir sind bei uns zuhaus“ variieren. Der Kontrapunktik der Stimmen und Gedanken in Wolken.Heim entspricht die Vielheit der zitierten Titel: Hegels „Vorlesung über die Philosophie der Geschichte“, Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, von Hölderlin Der Rhein und Der Neckar ebenso wie An die Deutschen und Der Tod fürs Vaterland. Jelinek schaut in Wolken.Heim zurück auf diese Epoche. Allerdings erweitert sie ihren Text um jüngere Quellen: Zitate des wegen seiner Nähe zur NSDAP umstrittenen Philosophen Martin Heidegger ebenso wie den Briefwechsel der linksterroristischen RAF. Jelinek führt die Fragen und Debatten um die deutsche Identität bis an die jüngere Vergangenheit heran. Wolken.Heim erschien 1988 und bedeutete Elfriede Jelineks Durchbruch im Theater.

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Hubert Wild, Bettina Schmidt, Anna Keil, Tilo KrĂźgel

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Anna Keil, Bettina Schmidt, Hubert Wild

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INSZENIERUNGSTEAM UND BESETZUNG

Wolken.Heim von Elfriede Jelinek

mit Anna Keil Tilo Krügel Hartmut Neuber Bettina Schmidt Hubert Wild Regie Enrico Lübbe

Inspizienz Ute Neas

Bühne Titus Schade Marialena Lapata

Soufflage Maren Messerschmidt

Kostüme Sabine Blickenstorfer Musikalische Einstudierung Hubert Wild Dramaturgie Torsten Buß Licht Carsten Rüger

Regieassistenz Kristina Seebruch Kostümassistenz Lisa Kruse Maske Kerstin Wirrmann Anja Engert Donka Holeček Ute Markow

Video Kai Schadeberg

Requisite Sebastian Hubel André Sproete

Ton Alexander Nemitz

Dramaturgiehospitanz Lukas Schmelmer

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Inszenierungsteam und Besetzung

Bühnenmeister Andreas Presch

Leiter Beleuchtung & Licht Carsten Rüger

Technischer Direktor Günter Gruber

Leiter Ton & Video Daniel Graumüller

Bühneninspektor Mike Bäder

Premiere 16.11.17, Schauspiel Leipzig, Diskothek

Herstellung der Dekorationen in den Theaterwerkstätten der Oper Leipzig: Werkstattdirektor: Bernd Niesar; Konstruktionsabteilung/Produktionsleitung: Matthias Gollner Anfertigung der Kostüme unter Leitung von Silke Maria Wey; Damengewandmeisterin: Ellen Behrends; Herrengewandmeisterin: Heidrun Reinicke; Modistin: Doris Giesler; Spritzmalerei: Karen Haußner, Heike Schmidt; Schuhmacherei: Steffen Fels Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Reinbek bei Hamburg.

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DIE MAßNAHME / DIE PERSER Die Expertengespräche zur Inszenierung


Gerd Koenen, Jens Bisky

Martin Sabrow

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Willi Winkler

Karl Schlรถgel, Jens Bisky

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„DU WARST GESTERN NICHTS UND KONNTEST MORGEN ALLES SEIN“ Die Radikalität der Gedanken und die Radikalisierung der Wirklichkeit. Gerd Koenen über Erzählungen vom Kommunismus und ihr Verhältnis zur Realität

Gespräch am 12. Januar 2018 Bisky: Wir wollen heute nicht Die Maßnahme und nicht Die Perser erklären, wir wollen über Hintergründe eines Stücks reden, das von Berufsrevolutionären handelt. Also einer seltsamen Gattung von Menschen, deren Job es ist, die Revolution zu organisieren. Ich freue mich sehr, dass Gerd Koenen aus Frankfurt nach Leipzig gekommen ist, um mit mir über Radikalisierung in der kommunistischen Bewegung und über die Rolle der Literatur dabei zu reden. Gerd Koenen gehört zu den wichtigsten Historikern dieses Landes, und im vergangenen Herbst ist von ihm ein Buch erschienen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. Dieses Buch spannt den Bogen denkbar weit: von Ursprungserzählungen der Menschheit bis in die Gegenwart, bis in unsere postkommunistische Situation. Herr Koenen, von Berufsrevolutionären handelt Die Maßnahme. Ist das ein Job in dem Moment, als Karl Marx anfängt, das Manifest der Kommunistischen Partei zu schreiben? Koenen: Ja, er tut das im Namen eines „Bundes der Kommunisten“. Das ist ein halber Geheimbund, ganz in der Tradition der französischen Geheimbünde der Zeit. Deren prominenteste Figur war in den späten dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Auguste Blanqui, der 1839 einen Aufstand gegen den Bürgerkönig zu organisieren versuchte. In seiner „Gesellschaft der Jahreszeiten“ gab es schon Eingangsrituale: ‚Bist du bereit, das und das zu tun?‘ Der Gedanke einer völligen Selbstaufgabe für das Ziel einer Revolution war da schon explizit enthalten. Die Revolution selber wurde damit aber – wie Marx kritisierte – zum Unternehmen eines Geheimbundes. Die Marx’sche Entdeckung war dann ja gerade die zu sagen: Die Geschichte und industrielle Entwicklung selbst, die wir gerade erleben, ist revolutionär. Damit beginnt ja das Kommunistische Manifest. Der Bund der Kommunisten wird in der Revolution 1848/49 eigentlich aufgelöst, aber kurze Zeit danach, in der Zeit der Reaktion 1850, von Marx selbst noch mal reaktiviert, man könnte durchaus sagen, in einem blanqui-

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stischen Geist. Dann aber macht Marx sich ganz schnell davon los und zieht sich in die Bibliothek zurück. Nicht, weil er sich von der Revolution zurückzieht, sondern, weil er seinen Genossen sagt: Was jetzt passiert, das ist ein neuer Zyklus einer kapitalistisch-weltwirtschaftlichen Entwicklung, und der ist revolutionärer als alle eure Konspirationen. Deswegen löst er diesen kurzzeitig reaktivierten Bund der Kommunisten wieder auf und verabschiedet sich von allen Vorstellungen, man könne mit solchen Konspirationen die Revolution machen. Bisky: Der große Revolutionär, das ist also die Bourgeoisie, die alle Verhältnisse umwälzt. Und wenn man das eingesehen hat, kann man auch das Geheimbündische aufgeben, die Geheimnistuerei. Dann können, wie es im Manifest heißt, die Kommunisten offen vor aller Welt erklären, was sie wollen. Koenen: Ja. Eine politische Revolution muss dann mindestens eine Revolution der Massen sein – aber nicht diffuser Massen. Denen hat Marx gründlich misstraut, auch das lernte er in der Revolution von 1848/49. Die diffusen, gestaltlosen Massen nannte er „Lumpenproletariat“ und entwickelte eine ganze Soziologie des Lumpenproletariats und der revolutionären Bohème. Seine Idealvorstellung war der disziplinierte und organisierte Industriearbeiter. Der musste aber überhaupt erst mal heranwachsen, und insofern geht dann der Marxismus ein in die Bildungsgeschichte der Arbeiterbewegung. Bisky: Die Lumpenproletarier, so würde ich zusammenfassen, hat er verachtet, weil sie erstens kein ordentliches Leben geführt haben. Das hat er selber aber oft auch nicht. Vor allem aber, weil sie nicht genug Hegel und anderes gelesen hatten. Koenen: Nein, Marx’ Misstrauen war schon sehr viel handfester. In Paris finden 1848/49 die großen Aufzüge in ganz bestimmten proletarischen Vierteln statt. Und im Zuge der demokratischen Revolution war neben der Bürgergarde auch eine aus proletarischen Elementen gebildete Sondertruppe aufgestellt worden. Und die sind es vor allem, die dann den großen Juli-Aufstand blutig niederschlagen. Sie sind käuflich, haben keinen eigenen Kompass und sind daher konterrevolutionär missbrauchbar. Bisky: Nun wird das 19. Jahrhundert von Beginn bis ans Ende von einzelnen Terrorakten begleitet, eine ungeheure Terrorfurcht wird überall kultiviert. Die Obrigkeiten bauen ausgedehnte Geheimdienstapparate und Geheimpolizeiapparate auf, um Verschwörer und Attentäter zu kontrollieren.

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Und meistens gibt es, wie wir das auch aus der Gegenwart kennen, eine Art Zusammenarbeit von Polizei und Verschwörern. Welches Verhältnis haben Marx und Engels zu dieser Art von politischer Gewalt? Interessiert sie das? Koenen: Zum ersten Mal kommt ihnen das in der Internationalen Arbeiterassoziation nach 1864 näher, in Gestalt von Bakunin. Bakunin ist ein Prophet der Anarchie und Vertreter der wilden Volksrache. Außerdem kommt in der Pariser Kommune 1871 die blanquistische Tradition noch mal hoch, obwohl sie dort nicht dominiert. Die Pariser Kommune ist alles in allem ein ziemlich diszipliniertes Unternehmen und kennt eigentlich keine Akte von wildem Terrorismus. Die andere, bedeutendere Tradition ist die russische mit den berühmten Volkstümler-Terroristen. Und da ist die Haltung der deutschen Sozialdemokraten, auch von Marx, Engels oder Kautsky: Wir als Sozialisten lehnen das ab, wir haben das nicht nötig. Aber der russische Terrorismus hatte eine ungeheure Spannbreite. Da gab es die ganz düster Existenzialistischen wie Sergej Netschajew, einen aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen hochgekommenen Autodidakten, der 1870/71 einen „Katechismus des Revolutionärs“ entwickelte, in dem stand, dass man an keine Moral gebunden und lügen und betrügen darf. Je schlimmer sich die Dinge entwickeln, umso besser usw. Aber dann gab es eine zweite Stufe dieser Tradition, die sogenannten Narodowolzen, und die hat Marx bewundert, weil sie Leute mit einem Programm waren und auch theoretische Köpfe hatten, darunter die ersten Übersetzer seines Kapitals. Marx bewunderte diesen Ansatz, weil er selbst inzwischen von der Idee beseelt war, dass die europäische Arbeiterbewegung sich mit einer russischen Bauernkommune verbinden könne, und dass dies die Achse sein könne, mittels derer man die sich entwickelnde bürgerlich-kapitalistisch-imperialistische Welt aus den Angeln heben könnte. Engels setzte sich nach Marx’ Tod davon aber zunehmend ab und setzte ganz auf den Aufbau einer revolutionären Sozialdemokratischen Partei in Russland. Die liberale Intelligenz verfolgte mit einer gewissen Fassungslosigkeit, wie die Narodowolzen sich in den Terrorismus stürzten mit dem manisch verfolgten Ziel, den Zaren zu töten. Mit dem letzten Mann und mit der letzten Bombe haben sie 1871 tatsächlich den Reform-Zaren Alexander II. getötet, nur dass auf dessen Tod eine düstere Periode der Reaktion folgte. Bisky: Es gibt immer wieder literarische Reflexionen über revolutionären Nihilismus, über die Moral, über die Verbindung der Intelligenz zum Volk usw. Sie erwähnen in Ihrem Buch ein Beispiel, das, glaube ich, nicht so

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bekannt ist wie Die Dämonen von Dostojewski, das aber sehr an Die Maßnahme, wenn auch ein bisschen mit Faust gekreuzt, erinnert. Koenen: Ja, das war ein Gedicht, ein pädagogisches Poem von Turgenjew. 1861 hatte er in Väter und Söhne in Gestalt des Basarow den Prototypus eines Nihilisten entworfen und erlebt, dass dieser Basarow mit seinem ruppigen Stil, seinem betont verwahrlosten Habitus im jungen Publikum ganz gegen die Intention des Autors Kult wurde. Also schrieb er 1871, wieder in ahnungsvoller Antizipation der bevorstehenden Zuspitzung, ein Prosagedicht: Die Schwelle. Eine junge Revolutionärin – vom Typ der „geschorenen Weiber“, wie die Aktivistinnen der Narodniki wegen ihrer schmucklos kurz geschnittenen Haare genannt wurden – steht vor einem düster allegorischen Gebäude, aus dem eine hohle Stimme sie anspricht wie ein Jüngstes Gericht oder ein Weltgericht der Geschichte, um ihre Bereitschaft zu prüfen: Ob sie wisse, dass sie nicht nur jede Art von Leiden und Entbehrung auf sich zu nehmen, sondern selbst Verbrechen zu begehen haben werde, auf die Gefahr hin, dass sie ihr Handeln am Ende als Selbstbetrug erkennen werde, also umsonst getötet und sich und ihre Seele geopfert habe. Als das Mädchen mit zitternder Stimme erklärt, dass sie all das weiß und dennoch bereit ist, tritt sie über die Schwelle. Ein Vorhang fällt hinter ihr, und von irgendwo ruft eine Stimme: Närrin. Aber eine andere Stimme antwortet: Heilige. Archetypisch scheint in diesem Gedicht tatsächlich etwas von dem auf, was dann auch in der Maßnahme verhandelt wird. Bisky: Bevor wir jetzt auf den Ferrari unter den Revolutionären, auf Lenin, zu sprechen kommen, müssen wir noch mal schauen, dass es auch eine andere Möglichkeit gegeben hat, die Revolution zu seinem Beruf zu machen, aber vielleicht ohne sich zu radikalisieren: die deutsche Sozialdemokratie. Die setzt auch viele Leute in Lohn und Brot, ermöglicht ihnen sozialen Aufstieg, innerhalb der Partei und durch die Partei, und hat aber keine enge Verbindung, oder ich würde sagen, gar keine, zu Formen der Gewalt. Koenen: Gewalt gehörte eher zu den radikalen Bewegungen an den Rändern dieses europäischen Sozialismus, also den Anarchisten oder militanten Syndikalisten. Davon haben sich die Sozialdemokraten immer strikt abgegrenzt, was ihnen vielfach zum Vorwurf gemacht wurde. Aber die deutsche Sozialdemokratie war 1912 eben auch die stärkste Partei im Lande. Und was man ihnen nachträglich etwas spöttisch zugerechnet hat, eine Politik des „revolutionären Attentismus“, des revolutionären Abwartens, hatte ja schon eine gewisse Logik: Die Sozialdemokraten konnten sich tatsächlich getragen fühlen von den Auftriebstendenzen der Gesellschaft, von einem

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technischen und industriellen Fortschritt, der nicht nur Spielräume für eine Besserung des Lebensstandards bot, sondern ihnen letztlich in die Hände spielen würde. Womit sie immer rechnen mussten, aber womit niemand wirklich gerechnet hat, war das, was dann nach 1914 passierte: dass nämlich gerade die entwickeltsten Länder Europas und der bürgerlich-kapitalistischen Welt in einem verheerenden Krieg frontal aufeinandertrafen, sich gegenseitig zerfleischt und im Grunde um Stufen zurückgeworfen haben. Das war eben die Situation, in der der Leninismus, der bis dahin nur eine Randströmung des europäischen Sozialismus war, 1917/18 ein ganz neues Format gewann und nach der Macht greifen konnte. Bisky: Welche Konzeption, welche Vorstellung von einem Revolutionär hat Lenin? Koenen: Für ihn war die Partei das Zentrum von allem, und zwar eine Partei von Berufsrevolutionären. Bisky: Pflegt er einen Organisationsfetischismus? Koenen: Nein, das wäre viel zu wenig gesagt. Der „Berufsrevolutionär“ ist tatsächlich der Typus eines neuen Menschen, in dem Intellektueller und Arbeiter idealtypisch verschmelzen. Tatsächlich gab es in der russischen Sozialdemokratie einen sehr großen Anteil von „standeslosen“ Intellektuellen, weil Arbeiter gar nicht in solchem Maße aus ihren Zusammenhängen heraustreten konnten. Aber es waren auch junge Arbeiter mit dabei. Und die Intellektuellen proletarisierten sich, Männer wie Frauen, und zwar unabhängig von ihrer nationalen Herkunft in diesem Vielvölkerreich. Das war eine sehr pathetische Verschmelzungsfantasie: Jeder streift alles ab, was ihn bisher ausgemacht und gebunden hat, und wird ein reiner Revolutionär. Lenin hatte sehr früh schon gesagt: Gebt mir eine Organisation von Berufsrevolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben. Und dann wird uns die Geschichte die größte Aufgabe zuerkennen, die bisher irgendeiner proletarischen Partei zugewiesen worden ist. Denn wenn man in Russland nach der Macht griff, unter welchen Umständen auch immer, dann war das per se auch ein Griff nach Weltmacht. Aber die Bolschewiki waren nicht die Einzigen. Es gab in Russland verschiedene Arten von sozialistischen Revolutionsprofis, sei es in der Tradition des Terrorismus der Narodowolzen wie die Partei der Sozialrevolutionäre und ihre Kampforganisationen, oder auch wie die Menschewiki,

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die mehr im Stil der deutschen Sozialdemokraten versuchten, eine solide Organisation mit Theoriearbeit zu verknüpfen, aber die Massenmilitanz nicht scheuten. Als die Revolution losgebrochen ist, waren sie es, die die spontan gebildeten Räte führten und dann niedergeschlagen wurden. Aber mit dem Ausbruch des Weltkriegs 1914 begann, und das hat Lenin instinktsicher erkannt, noch mal ein ganz neues Spiel: Er saß im Exil, er hatte noch ganze zwanzig Namen in seinem Notizbuch, seine Fraktion der Bolschewiki war nur noch eine winzige Organisation, fast ohne Verbindungen nach Russland selbst. Aber er hatte den Instinkt, dass in einer Situation eines totalen Zusammenbruchs im Krieg ganz neue Möglichkeiten entstehen würden. Statt für einen allgemeinen Frieden sollten die russischen Sozialdemokraten für die Niederlage des eigenen Landes eintreten. Lenin war daher auch derjenige, der sich 1917 allen Bemühungen entgegenstellte, die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen in Russland wiederherzustellen. Die Errichtung einer demokratischen Republik war für ihn nur eine bürgerliche Revolution, im Grunde Konterrevolution, und bald schon werde der Punkt kommen, an dem sie, die Bolschewiki, die Macht würden ergreifen und auf ein ganz neues historisches Terrain vorstoßen können. Das war etwas vollkommen Neues, das alle Horizonte des traditionellen Sozialismus und Marxismus sprengte. Bisky: Auch ein Berufsrevolutionär muss doch von irgendwas leben. Wovon? Die deutsche Sozialdemokratie sammelt Mitgliedsbeiträge ein, hat Verlage, Wirtschaftsbetriebe, Vereine. Wovon leben die bolschewistischen Berufsrevolutionäre? Wovon lebt Lenin, bevor der deutsche Geheimdienst ihn nach Russland bringt? Koenen: Vor dem Krieg leben sie auch von der europäischen sozialistischen Publizistik. Trotzki ist zum Beispiel ein Literat, der in verschiedensten europäischen Zeitungen schreibt und sich von seinen Honoraren gar nicht so schlecht ernähren kann. Lenin hat von Haus aus Vermögen, er kommt aus einer geadelten Familie, die Pacht- und Pensionseinnahmen hat. Aber er bekommt auch durchaus Gehälter von der Partei, die Gelder einsammelt, teilweise auch erpresst oder sich durch die berühmten Überfälle, die Expropriationen, finanziert. Hier kommt ein terroristisches Element mit hinein, aber das bleibt streng funktional: Alles muss der Partei abgeliefert werden. Der junge Stalin zum Beispiel erwirbt sich einen Ruf als Organisator solcher Überfälle. Für Lenin sind die Finanzen der Partei durchaus ein Nervus Rerum einer revolutionären Politik. Deshalb hat er keine Skrupel, als ihm und seiner

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Partei von deutscher Seite Gelder aufgedrängt werden. Deutschland verfolgt ja ganz offen selbst das Programm einer Revolutionierung Russlands. Lenin denkt sich: Die deutschen Imperialisten sind unsere nützlichen Idioten. Alle Gelder, die ihm direkt oder indirekt zufließen, sind dazu da, den Kern einer professionellen Organisation aufrechtzuerhalten. Im Laufe des Revolutionsjahres 1917 wird die bolschewistische Partei dann tatsächlich zu einer proletarisch-militärisch geprägten, relativen Massenpartei, und vollends dann im Bürgerkrieg nach der Machteroberung. Da erhält sich der Machtorden der Bolschewiki in den Städten durch Requisitionen aus dem ganzen Land. Wer auf der Liste des neuen Regimes steht, der bekommt Lebensmittelkarten und eine Wohnung. Das ist ein äußerst wirksames Mittel, um einen neuen Machtorden zu bilden. Im Bürgerkrieg entwickelt er gleichzeitig aber auch ein ungeheures Kampfethos, einschließlich der Bereitschaft zum Selbstopfer. Diese Bedingungslosigkeit speist sich gerade aus der undefinierten Offenheit der Ziele. Du warst gestern nichts und konntest morgen alles sein. So entsteht eine neue Kohorte von Berufsrevolutionären, und die weitet sich auf die internationale Ebene aus und bildet den professionellen Kern einer Kommunistischen Internationale. In ihr sammelt sich in den frühen zwanziger Jahren ein fantastisches Sammelsurium von Abenteurern aller Länder, und es entsteht der Typus des internationalen Revolutionärs, den Brecht in der Maßnahme schildert. Bisky: Was zeichnet diese internationalen Revolutionäre aus? Welche Tugenden? Koenen: Un cadre, das ist ursprünglich ein französischer Militärbegriff. Somit ist der revolutionäre „Kader“ von vornherein ein politisch-militärisch umschriebener Begriff. Die Partei wird wie eine Armee aufgestellt: Man hat erst einen Generalstab und ein Offizierskorps, dann schafft man sich einen professionellen „Kader“ und schließlich eine Massenarmee. Nach dem Oktoberumsturz entsteht so tatsächlich ein neuer Typus von bürgerkriegsgehärteten Revolutionären, die fast natürlicher Weise einen totalitären Machtanspruch verkörpern. Das Vorbild der Sowjetunion für die chinesischen Revolutionäre etwa besteht nicht in erster Linie in dem Versprechen, bald schon werde ein wunderbarer, gerechter Sozialismus aufgebaut. Sondern das Attraktive ist die Struktur und Organisation selbst. Der junge Mao Tse-tung, ein etwas verbummelter Student, hat von Marxismus und ähnlichen Dingen gar keine Ahnung, als er die KP Chinas mitgründet. Aber er hat das Vorbild der Bolschewiki, die das große Russländische Vielvölkerreich gegen die

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Übermacht der Imperialisten und alten Elite zusammengehalten haben. Das ist es, was ihn elektrisiert. Bisky: Sie haben in Ihrem Buch die, wie ich finde, zutreffende Bemerkung gemacht: wenn man Beiträge zahlt, dann knüpfen sich daran Ansprüche, gefragt und gehört zu werden. Wenn man ein Gehalt von der Partei bekommt, sieht das anders aus. Nun ist Brecht, als er anfängt, Die Maßnahme zu schreiben, gerade Lieblingsautor des bürgerlichen Amüsierbetriebs geworden mit der Dreigroschenoper. Inwiefern trifft er in der Maßnahme wirklich die Berufsrevolutionäre der Komintern? Oder ist das eine freie Fantasie? Koenen: Es ist eine halbe Fantasie, aber es gibt Vorbilder. Es gab eine Art China-Fraktion in der Komintern, mit Emissären und Residenten aus aller Herren Länder. Was das Stück aber dann doch anachronistisch macht, könnte man sagen, ist, dass Brecht in der Maßnahme ein Idealbild des Revolutionärs vor Augen hat, der nach bolschewistischem Vorbild die Revolution in den Städten organisieren will. Dieses Konzept ist zu diesem Zeitpunkt aber in China grausam gescheitert, mit dem Massaker in Shanghai 1927, und nachher noch mal in Kanton, durch die Kuomintang-Regierung. Die Kommunisten werden aus den Städten vertrieben und ziehen sich nach dem Vorbild oder unter der Führung Mao Tse-tungs, halb einer Strategie folgend, halb der Not gehorchend, in die Landgebiete zurück. Die chinesische Revolution hat ein anderes, ein fast entgegengesetztes Muster wie die russische. Die Macht der Bolschewiki geht von den großen Städten aus und erobert das Land in militärischen Feldzügen zurück. In China kommen die roten Truppen aus den entlegenen Stützungsgebieten und kreisen im oder nach dem Zweiten Weltkrieg die Städte ein, und dabei werden alle von Moskau entsandten Komintern-Instrukteure von der Kommunistischen Partei Chinas an den Rand gedrängt, teilweise auch verhaftet oder sogar exekutiert. Das hat Brecht, glaube ich, noch gar nicht mitbekommen zu dieser Zeit. Es ist ein sehr romantisiertes Bild, das er hat und das der Lage schon nicht mehr wirklich entsprach. Bisky: Was außerdem Ende der dreißiger Jahre ungeheuer merkwürdig gewirkt haben muss an dem Stück: dass man es ja als eine Art Rechtfertigung der Schauprozesse lesen könnte – was es, glaube ich, nicht ist. Aber das ist eine andere Frage. Wir haben den Stalin’schen Terror, und wir haben den Zweiten Weltkrieg. Sehe ich das richtig, dass sich dadurch und dann 1943 durch die Auflösung der Komintern auch das Bild des Berufsrevolutionärs in der kom-

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munistischen Bewegung weitgehend ändert, und dass an dessen Stelle der Funktionär tritt? Koenen: Ja, in der Sowjetunion und der Internationale der Funktionär – oder auch der „Kundschafter des Friedens“ und der professionelle Agent in einer halbmilitärischen Funktion beim Militärgeheimdienst. Die Internationale wurde immer mehr ein Anhängsel und Instrument der sowjetischen Weltpolitik. Stalin hatte übrigens Hitler schon mal 1940 angeboten, sie aufzulösen. Bisky: Ich würde hier einen Schnitt machen und in die siebziger Jahre springen, in denen die Berufsrevolutionäre wieder so eine Art Rollenvorbild werden. Man kostümiert sich dann ganz gerne ein bisschen im Stil früherer Zeiten, der dreißiger Jahre, der späten zwanziger Jahre. Was war so faszinierend an einem ethisch-strengen, disziplinierten, die Genüsse der Konsumgesellschaft verweigernden Leben? Koenen: Diese Seite, die der „Großen Verweigerung“ im Sinne Herbert Marcuses, hatte das natürlich. Aber – ich spreche jetzt als der prototypische 68er, der sich auch in eine der neokommunistischen Gruppen der siebziger Jahre hineinbegeben hat – auch hier war die Radikalisierung der Gedanken und Lebensgefühle ein Reflex der Radikalisierung der Realität. Wir wuchsen im Schatten zweier Weltkriege auf, waren im Brecht’schen Sinne Nachgeborene, die aufstiegen aus einer Flut. Und damit musste man ja auch erst mal fertig werden. Und die sogenannte freie westliche Welt war ringsum ja damit beschäftigt, sich selbst zu desavouieren. Nehmen Sie Indonesien 1965: Da wurden, ich glaube, eine halbe Million hingemetzelt, die man als Kommunisten verdächtigte. Dazu kamen die lateinamerikanischen Militärdiktaturen oder der Vietnamkrieg mit seinen Flächenbombardements. Andererseits hatte man die Vorstellung, dass es ganz real so etwas gebe wie einen Aufbruch einer „Dritten Welt“, unterstützt von der rebellischen Jugend der Welt. Weder den futuristischen Zukunftserwartungen noch dem scheinbaren Wohlstand um uns herum trauten wir. 1968 war in vielem eine eher düstere und desperate Sache. Eine Arbeiterklasse, an die wir uns klassischerweise hätten wenden können, gab es zwar durchaus noch, aber die war solide sozialdemokratisch organisiert und holte sich, wie man damals sagte, ihren Teil vom Kuchen. Dafür waren einige der jüngeren Absprengsel für so einen berufsrevolutionären Romantismus erreichbar. Dieses Denken war noch einmal ganz neo-leninistisch: Wir müssen gar nicht so viele sein, wir müssen nur wissen, wo es langgeht, wenn die große Krise kommt. Wir müssen uns schulen und

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fest organisieren. Ich habe zum Beispiel meine universitäre Karriere 1975 aufgegeben, und wir sind wie die Narodniki in Russland hundert Jahre zuvor „ins Volk“, in die Fabriken gegangen. Ich habe mich tatsächlich als Berufsrevolutionär gesehen. Bisky: Ich kenne das „Rote Jahrzehnt“ aus Ihrem Buch und von Erzählungen. Und wenn ich mich richtig erinnere, dann ist die entscheidende Frage damals nicht wie in Brechts Maßnahme gewesen: Zeige ich jetzt Mitleid, oder zeige ich zu viel Mitleid? Sondern: Würdest du Andreas Baader verstecken? Kannst du diese Waffen dort- oder dahinbringen? Ist das richtig, und wie hat man auf solche Fragen damals geantwortet? Man braucht ja vor sich selber doch meistens mehr Begründungen als man denkt. Koenen: Ja, man brauchte ziemlich viele, sogar komplizierte Begründungen. Die RAF und die anderen terroristisch operierenden Organisationen wie der „2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ trafen bewusst die Entscheidung, erst mal in den Untergrund zu gehen; und dann würde man weitersehen. Das setzte alle anderen, die sich in dieser außerparlamentarischen Linken bewegten, unter Druck. Wir – das war in meinem Fall der „Kommunistische Bund Westdeutschland“ – haben darauf so reagiert, dass wir erst recht versucht haben, eine Kaderorganisation zu bilden, die Ernst macht mit der Organisierung der Massen. Und dabei redeten wir ständig von einem bewaffneten Aufstand, aber immer in Kategorien einer klassischen großen Revolution. Wir machten uns in gewisser Weise sogar lustig über diese RAF-Leute, die glaubten, irgendwie einen kleinen Privatkrieg führen zu können. Wenn sie allerdings ihre Hungerstreiks durchzogen, dann haben wir auch Flugblätter produziert, in denen stand, dass der Staat seine politischen Gegner in den Gefängnissen ermordet. Eine Reihe von unseren Leuten sind dafür oder für verschiedene militante Straßenaktionen damals auch in die Gefängnisse gegangen. Na ja, wie man in Polen so schön sagt: Irgendwann wachten wir auf mit der Hand im Nachttopf. Nachdem wir die Sache bis zum Extrem getrieben hatten, fiel auch international Mehltau auf alle Erwartungen der großen Weltrevolution. In China, auf das wir uns positiv bezogen haben, war nach Maos Tod plötzlich Deng Xiaoping am Ruder und eröffnete einen völlig anderen Kurs. Andererseits haben wir mehr als alle anderen die Streiks in Polen 1980 sehr ernst genommen, als eine legitime und sehr proletarische Opposition gegen den „realen Sozialismus“ sowjetischer Prägung. So sind wir schließlich wieder auf dem Boden der wirklichen Geschichte angekommen und haben uns schließlich aufgelöst.

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Bisky: Am Ende Ihres Buches gibt es eine Betrachtung über die postkommunistische Situation, und völlig zu Recht steht dahinter ein Fragezeichen: Leben wir wirklich im Postkommunismus? Die Chinesen sind stark wie nie, Russland ist unter einem ehemaligen KGB-Offizier wieder auf der Bühne der Weltpolitik zurück. Und in Washington überlegt man, welchen Einfluss der russische Geheimdienst auf die Besetzung im Weißen Haus genommen hat. Ich glaube, postkommunistisch könnte auch anders aussehen. Koenen: China ist das wirklich irritierende Beispiel, von dem her ich versucht habe, die Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert noch einmal zu re-interpretieren. Denn so sehr Mao seine ganz eigenen Strategien verfolgt hat, ist die chinesische Partei in ihrer Grundstruktur doch klassisch leninistisch, und das ist sie bis heute. Das bedeutet, dass man weiterhin eine Machtstruktur hat, die von denen, die drin sind, verlangt, dass sie sich dem strikt unterordnen, was die Parteiführung ihnen sagt. Die fängt jetzt zum Beispiel an, in allen Privatbetrieben, die als eine Art Lizenznehmer des Staates operieren, wie in den großen Staatsbetrieben wieder Parteizellen zu etablieren. Kein CEO in einem der formell privaten Konzerne und kein Professor in einer Universität kann ohne die Genehmigung des Parteikomitees oder des Provinzkomitees ernannt werden. Die Partei hat nach wie vor Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur unter Kontrolle, zumindest dem Anspruch nach. Und das ist das Verwirrende an dieser Volksrepublik China: dass eine eisern aufrechterhaltene Diktatur der Partei sich kombiniert mit einer kapitalistischen, weltwirtschaftlichen Dynamik, die natürlich etwas ganz anderes ist, als was wir aus der Geschichte der sowjetischen Sphäre kennen. Wenn ich das „Post-Kommunismus“ nenne, dann mit einem Bindestrich, der beides betont. Für diese Verbindung zweier scheinbar unvereinbarer Elemente, die ja sogar eine Art globales Erfolgsmodell darstellt, haben wir eigentlich noch überhaupt keinen Begriff.

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„ES GING DARUM, DEN AUFGESTAUTEN HASS LOSZULASSEN UND IHM EINE FORM ZU GEBEN“ Karl Schlögel über literarische Fiktion und Moskauer Realität

Gespräch am 9. Dezember 2017 Bisky: Ruth Fischer, hier in Leipzig geboren, Schwester von Hanns und Gerhart Eisler, hat gesagt, dass Die Maßnahme eine Verherrlichung der stalinistischen Partei sei, und hat ihrem Bruder Hanns vorgeworfen, dass er gemeinsam mit Brecht in seinem Stück Die Maßnahme die Moskauer Schauprozesse vorweggenommen habe. Ob das stimmt, werden Sie, wenn Sie es gesehen haben, selber beurteilen können. Wir wollen heute über die Schauprozesse in Moskau reden. Ich freue mich sehr, dass Karl Schlögel nach Leipzig gekommen ist, um uns Auskunft über die Schauprozesse und die Sowjetunion in der Zeit des stalinistischen Terrors zu geben. Karl Schlögel ist der Osteuropa-Historiker des Landes, er ist zugleich ein Spezialist für die Geschichte der Sowjetunion. Vor wenigen Wochen ist ein sehr umfangreiches Buch von ihm erschienen, das heißt Das sowjetische Jahrhundert. Die Archäologie einer untergegangenen Welt. Da vergegenwärtigt er das Leben, die Geschichte der sowjetischen Zivilisation. Da geht es um sehr vieles: Man kann etwas über Sport, über Parfüm, über das Tanzen, über Palmen und über sehr, sehr vieles mehr erfahren. Und vor fast zehn Jahren hat er Terror und Traum. Moskau im Jahr 1937 veröffentlicht. Das Jahr 1937 beginnt in Moskau im Januar mit dem zweiten Schauprozess, und im Dezember des Jahres feiert die Tscheka ihr 20-jähriges Bestehen. In wenigen Tagen also, wenn man, was ich tue, von einer Kontinuität dieser Geheimdienste ausgeht, feiert im Grunde der Geheimdienst, der sich sehr oft umbenannt hat, seinen 100. Geburtstag. Herr Schlögel, dieser zweite Schauprozess in Moskau im Januar 1937 findet im Gewerkschaftshaus statt, im Oktobersaal. Wo ungefähr ist das in Moskau, und wie muss ich mir diesen Schauplatz vorstellen? Schlögel: Wer von Ihnen in Moskau war, kann das ganz einfach orten. Das ist direkt im Zentrum, wo dieses riesige Hotel Moskwa stand, das 1937 erbaut wurde von Alexej Schtschussew, dann abgerissen worden ist von Bürgermeister Luschkow und jetzt als Remake wiedererrichtet ist. Wenn man vor dem Moskwa steht, geht auf der linken Seite der Prospekt Marxa

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„Es ging darum, den aufgestauten Hass loszulassen und ihm eine Form zu geben“

ab mit dem Haus des Gosplan, ein monumentales Gebäude auch aus den dreißiger Jahren. Und gleich daneben, fast zierlich klein, steht ein wunderbares Barockgebäude, von Kasakow gebaut als Versammlungshaus für die adlige Moskauer Gesellschaft. Nach der Revolution wurde es das Haus der Gewerkschaften und war neben dem Bolschoi-Theater, was auch gleich um die Ecke ist, einer der wichtigen Versammlungsorte. Im Gewerkschaftshaus haben viele wichtige Versammlungen stattgefunden, der Schriftsteller-Kongress 1934 und andere. Und es ist von dort nicht weit zu einem anderen Gebäudekomplex: Die Lubjanka ist nur sieben Gehminuten entfernt. Das heißt, als Bucharin beispielsweise im dritten Schauprozess aus dem inneren Gefängnis in der Lubjanka in den Oktobersaal geschafft wurde, ist das um die Ecke gewesen, in Sichtweite. Bisky: Die Schauplätze sind im Grunde alle gut zu Fuß zu erreichen. Im ersten Schauprozess hat man Sinowjew und Kamenew verurteilt wegen einer trotzkistisch-sinowjewistischen Verschwörung. Wer sind im zweiten Schauprozess die Angeklagten? Warum werden die angeklagt, und wie werden diese Rollen besetzt? Schlögel: Es geht auch um den oppositionellen Block von Trotzkisten, aber wenn man genau hinguckt, wer dort vorgeführt und angeklagt und verurteilt wird, dann geht es offensichtlich sehr stark um Angehörige aus den verantwortlichen Wirtschaftsressorts. Etwa Juri Pjatakow, eine ganz bedeutende Gestalt in der Gosplan- und Schwerindustrie-Branche. Es ging nicht nur um den üblichen Verschwörungskontext, sondern – und das hat Stalin sehr früh betont – es sollten Repräsentanten von etwas Bestimmtem angeklagt werden. Und in diesem Prozess spielten eine ganz große Rolle die Schwierigkeiten und Störungen in der Industrialisierung: schwere Unfälle in den Kombinaten, dass die Eisenbahn nicht fertig wird mit den Planvorgaben, dass es im Konsum zu Mangel, Schlangen usw. kommt. Man bringt alle Krisen, die die Sowjetunion im Zuge dieser überstürzten Industrialisierung durchgemacht hat, mit auf die Bühne. Und da sind wir dann beim Thema: Wenn man den Prozess nur als sozusagen juristische Fiktion behandelt, dann trifft man die eigentliche Sache gar nicht: Es ist eine im großen Stil angelegte und mit sehr viel Raffinesse durchgeführte Aufführung eines großen Dramas, nämlich des Dramas einer von ungeheurem Stress und Konflikten erfüllten Gesellschaft, für das man Verantwortliche sucht. Die werden dort präsentiert. Und wie das vor sich geht, das muss man untersuchen, und nicht die juristischen Spitzfindigkeiten.

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Karl Schlögel

Bisky: Wenn man die Prozesse nicht als vor allem juristisches Schauspiel, sondern wirklich als Schauspiel, als große Inszenierung begreift, wer ist der Regisseur dieses Stücks? Ist es Stalin persönlich? Schlögel: Alles, was wir wissen – und es gibt ja eine neue, grandiose Stalin-Biografie von Stephen Kotkin –, ist, dass die Skripte für die Prozesse vorher besprochen worden sind im inneren Zirkel der Macht, im Politbüro. Und dass dort nicht nur über die Argumentationslinien, sondern auch schon über die Urteile gesprochen wurde. Es ist klar, dass zuerst politisch entschieden worden ist, wer ausersehen wird, wer den gesuchten Projektionen entspricht, und dass danach die, wie soll man sagen, Verschwörungslinien entworfen worden sind. Vorher stand fest, um wen es geht, und dann hat man die Linien nachgeliefert. Deswegen sind die Details der Anklagen auch zum Teil so fantastisch, die Orte und Schauplätze der Verschwörung, die jedem Theater- und Filmskript Ehre machen würden, mit ganz genauen Erinnerungen, wer wen getroffen hat in welchem Zug, in welchem Café auf der Friedrichstraße, welche Gespräche mitgehört wurden. Wer vor Gericht gebracht werden soll und was vor Gericht gebracht werden soll, war nicht das Ergebnis einer aufgedeckten Verschwörung – das sind Produktionen der politischen Macht gewesen. Bisky: Ich vergröbere mal und sage: Da werden Angeklagte als Sündenböcke präsentiert für all das, was nicht vorangeht im Land, für den zermürbenden Alltag, für die ständigen Probleme in der Wirtschaft. Nun hat es ja in den zwanziger Jahren schon Schauprozesse gegeben, etwa gegen die Sozialrevolutionäre, die wirklich antibolschewistisch aktiv waren, zumindest zum Teil. Es hat 1928 einen Prozess gegen „bürgerliche Spezialisten“ gegeben, da haben die Angeklagten zum Teil Geständnisse widerrufen, haben widersprochen. Die Schauprozesse in den dreißiger Jahren sind vor allem dadurch berühmt, dass die Angeklagten gestehen und alles zugeben, zum Teil auch Dinge, die faktisch nicht möglich gewesen sind. Wie kommt es zu diesen Geständnissen? War das Parteidisziplin? Folter? Schlögel: Das hat schon Generationen beschäftigt oder aufgewühlt, sich darauf einen Reim zu machen, was und wie das abgelaufen ist. Die Schauprozesse sind in der Anfangszeit der Sowjetmacht eingeführt worden als Demonstration der Überlegenheit des Volksgerichts gegenüber der Klassenjustiz des Zarenregimes. Die ersten Gerichte, die 1918 ff. eingeführt worden sind, sollten das Urteil des Volkes zum Ausdruck bringen, da sollte das Klassenbewusstsein oder der Gerechtigkeitsinstinkt zum Zuge

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kommen. Es hatte auch die pädagogische Funktion klarzumachen, wo die Linie verläuft zwischen Unterdrückung und Nicht-Unterdrückung, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit usw. Und es ist eine tragische Ironie, dass in einem der großen ersten Schauprozesse Juri Pjatakow Richter gewesen ist. Bisky: Pjatakow, der dann im Januar 1937 angeklagt ist und zum Tode verurteilt wurde. Schlögel: Ja, er war der Hauptangeklagte im zweiten Moskauer Schauprozess. Er selber hat in den zwanziger Jahren im Prozess gegen die Sozialrevolutionäre die Argumentation entwickelt, der er später zum Opfer gefallen ist. Aber zur Frage nach den Geständnissen – man kann viele Argumente und Analysen beibringen, aber was letztlich in den Köpfen eines im öffentlichen Raum ausgestellten und unter Druck stehenden Menschen, was im Gehirn oder in der Seele eines solchen Menschen vor sich geht, da einzudringen und sich darüber ein Urteil anzumaßen, das ist sehr schwierig. Von Anfang an gab es ein Rätselraten: Wieso gestehen die Angeklagten? Das war die Generation der alten Garde – Leute, die alles auf sich genommen hatten, also die in Gefängnissen gesessen hatten, die verbannt worden sind, die im Exil waren, die eigentlich bewiesen hatten, dass sie etwas durchzustehen vermögen und der Repression widerstehen können. Wieso gestehen die, wie ist das möglich? Es gab die verschiedensten Interpretationen, etwa, dass sie hypnotisiert worden seien. Bucharin hat ja selber in seinem Auftritt sich darüber lustig gemacht. Es gibt klare Beweise, dass die Leute geschlagen worden sind oder ihnen Schläge angedroht wurden. Oder dass man sie bedroht hat, die Ehefrauen, die Kinder zu verfolgen usw. Ich glaube, dass alles zusammenkam – Druck, Angst und ein ganz spezielles Moment, mit dem man sich erst in der letzten Zeit intensiver beschäftigt hat, nämlich: Wie machten sich die Angeklagten selber einen Reim? Wie versuchten sie sozusagen noch bis zum Letzten, der Sache zu dienen und unter Beweis zu stellen, dass sie möglicherweise gefehlt haben, aber dass sie das nie böse gemeint haben. Dass sie objektiv schuldig geworden sind, obwohl sie subjektiv das nie vorhatten – eine fast hegelianische Selbstinterpretation. Man kann das über mehrere Seiten in den Prozessprotokollen gegen Bucharin verfolgen, also im dritten Prozess. Wo sich, das muss man sich vorstellen, der Ankläger Wyschinski und der Angeklagte Bucharin eine philosophische Kontroverse erlauben über die Differenz von objektiver

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Schuld und subjektiver Schuld. Bucharin wird beschuldigt, dass er vorgehabt habe, 1918 ein Attentat auf Lenin durchzuführen oder ihn festzunehmen und zu töten. Und es ging um die Verhandlungen in Brest-Litowsk. Da hatte Bucharin eine linksradikale Linie, dass man die Friedensverhandlungen nicht akzeptieren soll. Im Schauprozess sagte er: Ja, ich habe einen schweren Fehler gemacht, aber es ist falsch, mir zu unterstellen, dass ich Lenin verhaften und umbringen wollte. Das habe ich nie vorgehabt, aber objektiv wäre es darauf hinausgelaufen. Das war der letzte Versuch, eine Legitimation vor sich selbst zu entwickeln für die Kapitulation eines solchen Geständnisses, oder wie man das bezeichnen will. Aber ich schrecke selbst vor einem Wort wie Kapitulation zurück, angesichts von Menschen in Todesangst. Und dann gibt es noch die Nahbetrachtung. Lion Feuchtwanger war Zuschauer in diesem Prozess und hat sich gewundert, wie ruhig, ordentlich, gelassen die ungeheuerlichsten Dinge verhandelt wurden. Bisky: Das ist auch Thema in Ihrem Buch Terror und Traum. Schlögel: Ja, ich habe hier einen kleinen Auszug, der aber sehr wichtig ist, weil Feuchtwanger ja doch ein sensibler, aufgeklärter, kundiger, skeptischer Europäer war: „Im Oktobersaal des Gewerkschaftshauses waren neben den freigestellten und abkommandierten Arbeitervertretern, Funktionären der Partei und NKWD-Leuten zahlreiche Zuschauer anwesend, die die Angeklagten aus früheren Tagen von Verhandlungen, diplomatischen Empfängen, aus dem Gesellschaftsleben in der Hauptstadt persönlich kannten. Sie wussten, dass sie einem außerordentlichen Verfahren beiwohnten und nahmen es mit ihren Beobachtungen genau. Einer der Beobachter ist Lion Feuchtwanger, der unabhängig von seinem Schlussurteil genau wissen wollte, was da vor sich ging. Ein anderer ist der amerikanische Botschafter Joseph Davies, der sich schon aus beruflichen Gründen einen genauen Eindruck verschaffen musste. Beide wussten, was reguläre Gerichtsverfahren in einem Rechtsstaat waren, beide sahen genau hin, beide sind von Zeitgenossen, vor allem Historikern, als naiv oder direkt apologetisch angegriffen worden. Davies pries in seinem Schreiben an Roosevelt die Errungenschaften der Habeas-corpus-Akte, für Feuchtwanger war der Trotzkisten-Prozess die härteste Prüfung. Was sah er im Oktobersaal? „Der Raum‚ in dem die Verhandlung stattfand, ist nicht groß, er fasst etwa 350 Menschen. Richter, Staatsanwalt, Angeklagte, Verteidiger, Sachverständige saßen auf einer niedrigen Estrade, zu der Treppen hinaufführten. Es war keine Schranke zwischen Gericht und Zuhörern. Auch war nichts da, was an eine Ankla-

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gebank erinnerte. Die Barriere, welche die Angeklagten von den Übrigen trennte, wirkte eher wie die Umrahmung einer Loge. Die Angeklagten selber waren gut gepflegte, gut gekleidete Herren von lässigen natürlichen Gebärden. Sie tranken Tee, hatten Zeitungen in den Taschen und schauten viel ins Publikum. Das Ganze glich weniger einem hochnotpeinlichen Prozess als einer Diskussion, geführt im Konversationston, von gebildeten Männern, die sich bemühten festzustellen, welches die Wahrheit war und woran es lag, dass geschehen war, was geschehen war. Ja, es machte den Eindruck, als hätten Angeklagte, Staatsanwalt und Richter das gleiche, ich möchte fast sagen, sportliche Interesse, die Geschehnisse lückenlos aufzuklären. Sie gestanden alle, aber es gestand ein jeder auf verschiedene Art. Der eine mit einem zynischen Unterton, der Zweite mit soldatischer Bravheit, der Dritte mit innerem Widerstand sich windend, der Vierte wie ein Schüler, der bereut, der Fünfte dozierend. Ein jeder aber mit dem Ton, der Miene, dem Gestus der Wahrheit. Ich werde nie vergessen, wie dieser Mann, Georg Pjatakow, vor dem Mikrofon stand: ein mittelgroßer Herr in mittleren Jahren, etwas beglatzt, mit einem rötlich-blonden, altmodischen, schütteren Spitzbart und wie er dozierte. Ruhig und dennoch beflissen setzte er auseinander, wie er das gemacht hatte, die ihm unterstellten Industrien zu sabotieren. Er erklärte, deutete mit dem Finger. Er wirkte wie ein Hochschullehrer, ein Historiker, der einen Vortrag hält über das Leben und die Taten eines längst verstorbenen Mannes namens Pjatakow, und der bemüht ist, alles bis ins Kleinste klarzumachen, damit ihn ja seine Hörer und Studenten richtig verstünden. Auch den Schriftsteller Karl Radek werde ich schwerlich jemals vergessen. Nicht, wie er dasaß in seinem braunen Rock, das hässliche, fleischlose Gesicht von einem kastanienfarbenen, altmodischen Bart umrahmt. Nicht, wie er ins Publikum hinausschaute, das er zu einem großen Teil kannte, oder auf die anderen Angeklagten, häufig lächelnd, sehr gelassen, häufig gewollt ironisch. Nicht, wie er beim Hereinkommen dem oder jenem der Angeklagten den Arm mit leichter, zarter Gebärde um die Schulter legte. Nicht, wie er, wenn er sprach, gern ein wenig posierte, sich über die anderen Angeklagten ein bisschen lustig machte, seine spielerische Überlegenheit zeigte, arrogant, skeptisch, gewandt, literarisch. Brüsk etwa schob er Pjatakow fort vom Mikrofon und stellte sich selber hin. Manchmal schlug er mit der Zeitung auf die Barriere, oder er nahm sein Teeglas, warf ein Scheibchen Zitrone hinein, rührt herum, und während er die ungeheuerlichsten Dinge vorbrachte, trank er in kleinen Schlucken. Ganz frei indes von jeder Pose war er, während er sein Schlusswort sprach, in welchem er bekannte, warum er gestanden habe. Und es wirkte dann auch dieses Bekenntnis, so ungezwungen er sich gab und trotz der vollendet schönen Formulierung, als die Offenbarung eines

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Menschen in großer Not und ergreifend. Am erschreckendsten aber, und schwer deutbar, war die Geste, mit der Radek nach Schluss der Verhandlung den Gerichtssaal verließ. Es war gegen 4 Uhr morgens und alle Richter, Angeklagte, Zuhörer waren erschöpft. Von den 17 Angeklagten waren 13, darunter nahe Freunde Radeks, zum Tod, er selber und drei andere nur zu Gefängnis verurteilt worden. Der Richter hatte das Urteil verlesen. Wir alle hatten es stehend angehört, Angeklagte und Zuhörer, unbeweglich, in tiefem Schweigen, und unmittelbar nach der Verlesung hatten die Richter sich zurückgezogen. Soldaten erschienen, sie traten zunächst zu den Vieren, die nicht zum Tod verurteilt worden waren. Einer legte Radek die Hand auf die Schulter, ihn offenbar auffordernd, ihm zu folgen. Und Radek folgte ihm. Er wandte sich, grüßend hob er die Hand, zuckte ein ganz klein wenig mit den Achseln, winkte den anderen zu, den zum Tod Verurteilten, seinen Freunden, und lächelte. Ja, er lächelte.“ Diese Beschreibung deckt sich weitgehend mit den Notizen von Davies. Der Hauptangeklagte erscheint Davies dem Habitus nach wie ein College-Professor, der eine Vorlesung hielt. Feuchtwanger und Davies beschrieben die Reaktionen von Leuten, die wussten, dass alles gesagt und entschieden ist und dass an ihrem Auftritt nichts mehr hing. Die Angeklagten berichteten in aller Seelenruhe über geschmuggelte Briefe, Vorbereitung von Terrorakten, Treffen in Cafés in Berlin und Paris, über einen Flug Pjatakows von Berlin-Tempelhof nach Oslo, über Treffen Trotzkis mit Rudolf Heß. Alles geschah verbindlich, geradezu formell und zuvorkommend. Alles wohleinstudiert und wohlvorbereitet.“1 Damit reicht es vielleicht erst mal, und man ist zurückversetzt in diese schockierende und unglaubliche Szenerie. Bisky: Das ist eine sehr genaue Beschreibung. Karl Radek ist auch für die deutsche Geschichte keine unwichtige Figur. Er war der Berater der Spartakus-Revolutionäre, 1918/19, und der jungen KPD. Schlögel: Er war zusammen mit Ernst Reuter aus Sowjetrussland über Ostpreußen nach Berlin gekommen. Bisky: Und war dann in Berlin eine Schreckensfigur für alle, die sich vor Revolution und den Bolschewiki, der Bolschewisierung Deutschlands damals gefürchtet haben. Wenn wir jetzt zum Gewerkschaftshaus, dem Oktobersaal und dem Geschehen dort ein bisschen auf Distanz gehen: An wen hat sich diese Inszenierung gerichtet? Wer ist das Publikum? Im Grunde kann die ganze Welt davon erfahren und erfährt es auch über Berichte. Aber richtet sich die Inszenierung an die Gefolgsleute Stalins, an

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die Leute im Apparat, die vielbeschworenen mittleren Kader? Denen zu sagen: Niemand ist sicher, jeder muss immer aufpassen? Oder richtet es sich an auswärtige Mächte, denen zu sagen: Wir kontrollieren hier alles, wir sind stark? Schlögel: Nach außen hin war es sicher eine Demonstration, dass die Zeit der Unruhe, der Instabilität und des weltrevolutionären Elans definitiv vorbei ist und dass die Macht alle Zügel in der Hand hat, trotz aller Kollektivierungs- und Industrialisierungsschwierigkeiten. Und so ist es auch wahrgenommen worden: Man hat im Ausland die Prozesse tatsächlich zum Teil als Beglaubigung der Stabilität der Sowjetunion in einer tumultuösen Welt wahrgenommen. Es war ja eine schwierige Zeit. Es gab den Nationalsozialismus, es gab in Italien Mussolini. Es gab den japanischen Imperialismus. Und es gab vor allem den spanischen Bürgerkrieg, Europa stand in Flammen in gewisser Weise. Und einer der Gründe, warum Feuchtwanger das so geschrieben hat, war natürlich: Er wollte etwas tun im Kampf gegen Hitler. Das darf man nicht vergessen. Also, es gab eine nach außen berechnete Wirkung. Aber in erster Linie ging es doch um die Beschwörung und Demonstration der Einheit des Sowjetvolkes selbst gegen innere Feinde, die man haftbar machte für alles, was an Zumutungen, an Erniedrigung und auch an schlimmen Dingen über die Bevölkerung niedergegangen ist. Dazu muss man sich die Situation in der Sowjetunion um 1937 in Erinnerung rufen: Die verheerende Geschichte mit der Kollektivierung ist gerade vier, fünf Jahre her, mit Abertausenden von Opfern im zweiten Bürgerkrieg, mit Anschlägen, NKWD- und Armeeeinsätzen, die das Land aufgewühlt haben, mit der Deportation von Hunderttausenden von Bauern und der dann folgenden Hungersnot, mit, man weiß es ja immer noch nicht genau, drei, vier oder fünf Millionen Toten. Und dieses Wissen ist mit in die Städte gekommen, Moskau war durch die ungeheure Immigration sozusagen eine Bauernmetropole, wie David Hoffmann das genannt hat. Jeder wusste, was los war im Land. Und man musste seitens der Partei eine Form finden, das zur Sprache zu bringen. Man konnte es nicht einfach unterdrücken, das Wissen war da, und es ging darum, den aufgestauten Hass loszulassen und ihm eine Form zu geben. Deswegen finden diese Massenkundgebungen auf dem Roten Platz statt: Wir feiern das Urteil, wir feiern die Vernichtung dieser faschistischen Spione, Agenten, Schädlinge. „Schädlinge“, ein unglaublich wichtiges Wort: Der Schädling, der alles zu verantworten hat, was nicht funktioniert hat und wofür das Volk büßte mit Lebensmittelknappheit und Opfern.

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Daher sind diese Massenaufmärsche auf dem Roten Platz, wiederum um die Ecke vom Gewerkschaftshaus, wirkliche Hass-Ausbrüche. Die Prozessregie und die Öffentlichkeitsregie steuert diese Hass-Ausbrüche nur. Man kann selbst in Emigrationszeitungen lesen: Endlich werden diese Leute hingerichtet, die haben es verdient. Es gab eine Stimmung, eine Bereitschaft, die jederzeit abgerufen werden konnte. Und die war nicht bloß inszeniert – es gab einen wirklichen Furor und einen Hass, den man instrumentalisieren konnte. Bisky: Und es gab ja Gründe für Hass, für Verzweiflung. Die Leute lebten in Baracken, lebten unter erbärmlichen Bedingungen, hatten endlos lange, schwere Arbeitstage hinter sich. Wenig klappte, es gab schwere Arbeitsunfälle. Und jetzt konnten sie den Chefs, die dafür verantwortlich waren, mal die Meinung sagen, was ja sonst nicht möglich war. Schlögel: Ja, man konnte es ihnen heimzahlen. Auf diesem Grundgefühl spielt das, und das kommt in der Diskussion über die Schauprozesse oft viel zu kurz. Im Kalten Krieg hieß es immer: Die Prozesse verfehlten die Maßstäbe des Rechtsstaates. Ja, natürlich. Aber die wichtigste Aufgabe der Prozesse war, das Land oder das Sowjetvolk in einer kritischen Situation zusammenzuschließen. Und das macht man nicht nur mit positiven Dingen, die es ja gab: den Palast der Sowjets, 420 Meter hoch, Musicals oder unglaubliche Filme wie Wolga Wolga … Bisky: … die Metro. Schlögel: Es gab die Metro, es gab den Umbau ganz Moskaus, es gab neue Industrien, es gab amerikanische Automatenrestaurants und Konserven usw. usf. Aber das reichte letztlich nicht. Es bedurfte einer – um einen Terminus von Lew Gudkow aufzunehmen – Negativmobilisation, die die Emotionen gegen etwas lenkte. Bisky: Ist damit ein Prozess in Bewegung gesetzt worden, den keiner mehr kontrollieren konnte oder der schwer wieder einzufangen war, der eine Eigendynamik gewann? Schlögel: Ja, ich glaube mittlerweile, dass dieser Prozess ab einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich außer Kontrolle geraten ist. Man merkt, dass das eine Dynamik bekommt, in der die bolschewistische oder stalinistische Macht selbst in Gefahr gerät. Zu einem bestimmten Augenblick, am 17. November 1938, wurden dieser Furor und die Welle des Tötens einge-

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stellt. Schlagartig wurden die Massenoperationen beendet, wurde Jeschow aus dem Verkehr gezogen … Bisky: NKWD-Chef Jeschow. Schlögel: …, ja, er selber wurde verhaftet und gefoltert und getötet. Damit war klar, dass das gesteuert war. Man konnte es anstellen und abstellen. Aber zuvor hatte es eine eigene, gefährliche Dynamik bekommen, und es gibt meiner Meinung nach ganz viele unbestreitbare Indizien, dass man große Angst hatte, dass sich diese Dynamik hin zum Kontrollverlust entwickeln konnte. Auf dem sehr bedeutenden Plenum des Zentralkomitees Februar/März 1937 sitzen die Führungsleute zusammen, und aus der Mitte der Versammelten heraus werden zwei Hauptakteure abgeführt, Rykow und Bucharin, und direkt in die Lubjanka geschafft, weil sie dort angeklagt werden. Auf diesem Plenum bereits wird diskutiert, wie jetzt weiter vorzugehen ist. Es ging vor allem um die Einlösung der Verfassungsversprechen von 1936, an der auch Bucharin mitgewirkt hatte: Vorgesehen war, dass alle, die bisher außerhalb des Rechts standen – Ex-weiße Offiziere, Ex-Parteimitglieder, Unternehmer, Priester, also eine kleine, aber sehr bemerkenswerte Gruppe –, ihre Bürgerrechte zurückerhalten und wieder teilnehmen sollten am politischen Leben, Wahlrecht inbegriffen. Und da melden sich sehr viele, vor allem Provinzchefs aus Westsibirien, Robert Eiche und Myronow und andere und sagten: Wenn wir das zulassen, dann kommt es zu Aufständen, dann entgleitet uns die Macht. Ein weiterer wichtiger Punkt war: Die Frist der meisten verbannten Kulaken war nach fünf Jahren abgelaufen, 1932 bis 1937. Die setzten sich alle aus den Deportationsorten ab, kamen zurück und wollten ihr Land wiederhaben. Sie wollten diejenigen, die sie enteignet und terrorisiert hatten, zur Rechenschaft ziehen und wollten an den Wahlen teilnehmen. Das war höchst beunruhigend. Auf einem Plenum im Juni 1937 dann wurden zwei widersprüchliche Dinge beschlossen: die Durchführung tatsächlich offener Wahlen, wie in der Stalin’schen Verfassung versprochen, und eine Massenoperation im Geheimen: Der berühmte Befehl 00447, mit dem den Provinzchefs erlaubt wird, alle kulakischen, antisowjetischen und kriminellen Elemente, derer sie habhaft werden können, entweder zu töten oder ins Lager zu schicken. Diese Parallelität von Massenmobilisierung einerseits, wie man sie mit den Prozessen verbinden kann, und dieser im Geheimen sich vollziehenden Operation, die, wie wir jetzt wissen, 700 000 Menschen erfasst hat, dieses Zusammenspiel von Massenbewegung und gezielter, chirurgischer

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Operation, das ist meiner Meinung nach ein Schlüsselmoment. Es gab die Strategie, wir mobilisieren einerseits weiter, aber wir beseitigen die Gruppen, die als Konkurrenten infrage kommen. Im Oktober hat die Parteiführung die Bremse gezogen und hat die ursprünglich offenen Wahlen eingestellt, obwohl die Wahlzettel zum Teil schon gedruckt waren. Stattdessen hat man das eingesetzt, was dann jahrzehntelang gegolten hat: den gemeinsamen Block von Partei und Parteilosen. Die Partei bekam die Kontrolle darüber, wer aufgestellt wird, und hat sich gleichzeitig den einzigen Kandidaten, der gewählt werden kann, gesichert. Man hatte Angst – und berechtigte Angst –, dass sonst etwas passieren könnte. Bisky: Es trifft zu einem großen Teil auch den eigenen Herrschaftsapparat. In Ihrem Buch steht, von den Leuten, die in der Lubjanka höhere Positionen innehatten, überlebt einer diese Hochzeit des Terrors, alle anderen werden umgebracht. Andere sagen: Stalin schalte in dieser Zeit die Partei Lenins im Grunde aus. Also die eigene Herrschergruppe, die Gruppe, auf der seine Macht beruht. Warum trifft es die? Schlögel: Es scheint dieselbe Logik zu sein. Man initiiert diese Massenbewegung ja nicht, um die Demokratie zur Entfaltung zu bringen, sondern man benutzt sie, um eine Kritik zu mobilisieren gerade gegen die unteren, mittleren und dann auch höchsten Partei- und Gewerkschaftsebenen. Mich erinnert das stark an das, was dann in der chinesischen Kulturrevolution gelaufen ist. Man gibt den Startschuss frei für eine Kritik an den Verantwortlichen für Missstände. Die Führung wollte diese Kritik benutzen, um Parteileute kleinzukriegen, zu kontrollieren und abzuschießen. Weil sie, und zum Teil berechtigt, der Auffassung war, dass diese alte Garde für die neuen Aufgaben nicht mehr taugte. Sie war verbraucht durch Revolution, Bürgerkrieg, nervöse Erschöpfung, Überarbeitung. Sie war skrupulös, sie war immer noch in einer Welt aufgewachsen, die gewissermaßen die alte Welt war. Diese alte Garde war für die gewaltförmige Industrialisierung oder Modernisierung oder wie man das nennen will, nicht mehr zu gebrauchen. Und Stalin zog seine eigenen „Falken“ heran. Diese Aufsteiger, die auf den Trümmern der alten Partei vorwärtsgingen, die Generation von 1937/38, wird die künftige Führungsschicht. Bisky: Leute wie Chruschtschow und Beria ... Nun sollen wir hier über Realität und Fiktion reden. Wenn ich rekapituliere, was wir gehört haben und was man in Ihrem Buch nachlesen kann: keiner, außer vielleicht Stalin

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selber, kann sich sicher sein, ob er nicht am nächsten Morgen verhaftet wird. Kinder verschwinden aus den Schulklassen. So richtig darüber zu reden, traut man sich nicht. Es kommen neue Leute empor, es hält immer noch der Zuzug der Menschen vom Lande an. Ständig werden Verschwörungen aufgedeckt, ständig Attentate. Hat es überhaupt einen Sinn, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden in Moskau, 1937? Schlögel: Das war das große Problem aller, die irgendwie mitgekriegt haben, was um sie herum vor sich ging … Die Hauptfrage in diesem Jahr war: Was passiert da eigentlich? Niemand konnte sich das erklären. Man war konfrontiert mit einer Welt der Gerüchte, der fantastischen Verschwörungen und mit einer Realität. Es gibt in der Literaturtheorie den Terminus des magischen Realismus. Ich glaube, dass es das ganz gut trifft: das Verschwimmen der Grenze – heute würde man sagen – von News and Fake News. Das löste sich auf, sodass man eigentlich nicht mehr genau sagen konnte, was nun real und was erfunden war.

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Karl Schlögel: Terror und Traum, München 2008, S. 177ff.


„DAS MANDAT DER GEWISSHEIT“ Martin Sabrow über das Selbstverständnis kommunistischer Herrschaft im 20. Jahrhundert

Vortrag am 1. April 2017 Nur wenige Waggons zieht die Lokomotive in David Leans Filmepos Doktor Schiwago, die während des russischen Bürgerkriegs die eisigen Weiten Russlands durchmisst, um die Truppen der Roten Armee in ihrem Kampf gegen die Weißgardisten zu unterstützen. Der rote Panzerzug fährt durch ein verheertes Land. Aber auf ihm knattern und künden zwei flatternde rote Stander vom Anbruch einer besseren Zeit. Sie markieren den Wagen, in dem ein einsamer Mann über militärischen Operationsplänen und anfeuernden Reden brütet – Strelnikow, der Leo Trotzki nachempfundene Kriegskommissar der jungen Sowjetmacht. Ohne Gruß und Dank passiert er unzählige, die Gleise säumenden Soldaten und Zivilisten, deren Zug endlos lange auf freier Strecke warten muss, um dem seinen die Vorfahrt zu lassen. Und sein kalter Blick gleitet an dem namenlosen Elend der geschundenen Bevölkerung vorbei in die Ferne einer verheißungsvollen Zukunft. Er kann so handeln, er muss so handeln, weil die Lokomotive, die seinen Wagen zieht, die Lokomotive der Geschichte ist. Und weil sein Tun einem höheren Ziel dient als dem der mitmenschlichen Caritas, nämlich dem Sieg der Revolution. David Leans Filmszene fängt einen in der Tat welthistorischen Moment ein. Mit der Russischen Oktoberrevolution vor bald 100 Jahren trat ein neuer Herrschaftstypus in die Gegenwart, der sich für berechtigt hielt, Zwang im Interesse der Freiheit auszuüben, das Recht mithilfe des Unrechts durchzusetzen und Gewalt zu gebrauchen, um die Gewalt zu besiegen. Diese Form politischer Machtbegründung, die dem traditionalen wie dem legalen, aber auch dem charismatischen Typus legitimer Herrschaft gleichweit entfernt steht – Max Webers Herrschaftssoziologie, die ich hier zitiert habe, vermochte sie noch nicht in den Blick zu nehmen. Dafür hat Bertolt Brecht sich dieser Herrschaftsform mit dem Blick und dem Mittel des Dramas genähert und der konstitutiven Diskrepanz zwischen Weg und Ziel im Handeln des kommunistischen Revolutionärs in seinem 1930 uraufgeführten Lehrstück Die Maßnahme Verse von lakonischem Pathos gewidmet: „Wer für den Kommunismus kämpft, der muß kämpfen können und nicht kämpfen; die Wahrheit sagen und die Wahrheit nicht sa-

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gen; Dienste erweisen und Dienste verweigern; Versprechen halten und Versprechen nicht halten. Sich in Gefahr begeben und die Gefahr vermeiden; kenntlich sein und unkenntlich sein. Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur die eine: daß er für den Kommunismus kämpft.“1 Auf dieser Grundlage heißt das in Brechts Stück als Kontrollchor firmierende Parteigericht die Tötung eines jungen Genossen eines Agitationstrupps für gut. Denn es verhandelt die Sache eines Genossen, der sich viermal zur Unzeit von den tugendhaften Empfindungen des Mitleids, der Gerechtigkeit, der Ehre und der Solidarität hat übermächtigen lassen und dadurch die revolutionäre Agitation gefährdet. Nur, indem er seine eigene Schädlichkeit erkennt und selbst um seine Auslöschung bittet, vermag er, der revolutionären Sache einen letzten Dienst zu erweisen, wie seine Genossen dem Kontrollchor unterbreiten: Die drei Agitatoren: „Wir fragten: Willst du es allein machen?“ Der junge Genosse: „Helft mir.“ [...] Die drei Agitatoren: „Dann erschossen wir ihn und warfen ihn hinab in die Kalkgrube. Und als der Kalk ihn verschlungen hatte, kehrten wir zurück zu unserer Arbeit.“2 Die Denkfigur, die hier Gestalt gewinnt, ist die der politischen Avantgarde. Die Avantgarde handelt in einem Auftrag, der ihr nicht erteilt wurde. Sie bezieht ihre Legitimation von einer unterdrückten sozialen Gruppe, die nicht selbst aktiv sein kann, weil sie eben unterdrückt ist. Das Mandat, das die Avantgarde innehat, ist weder imperativ noch repräsentativ, sondern geschichtlich. Und der Wille, der sie lenkt, geht auf unwissende, auf ahnungslose Auftraggeber zurück. Die theoretische Begründung für das Selbstverständnis der kommunistischen Avantgarde lieferte Lenin 1902 in seiner Schrift Was tun?, die eine sozialistische Organisationstheorie unter den besonderen Bedingungen Russlands entfaltet, also für eine autokratisch beherrschte Gesellschaft ohne starkes Bürgertum, ohne breites Proletariat. Unter Berufung auf die von Karl Kautsky vorgetragene Auffassung, dass das sozialistische Bewusstsein nicht urwüchsig aus dem Klassenkampf des Proletariats entstehe, sondern von außen hineingetragen werden müsse, entwickelte Lenin das Konzept einer Avantgarde-Partei, die in der Lage wäre, die Arbeiterbewegung von ihrer reformistischen, gewerkschaftlichen Haltung abzubringen und unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen. „Das einzige ernste Organisationsprinzip muss für die Funktionäre unserer Bewegung

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sein – strengste Konspiration, strengste Auslese der Mitglieder, Heranbildung von Berufsrevolutionären. Sind diese Eigenschaften gesichert, so ist noch etwas Größeres gesichert als der ‚Demokratismus‘, nämlich das volle kameradschaftliche Vertrauen der Revolutionäre zueinander. Und dieses Größere ist für uns unbedingt notwendig, denn bei uns in Russland kann überhaupt keine Rede davon sein, es durch eine allgemeine demokratische Kontrolle zu ersetzen.“3 Damit war ein neuartiges Modell politischen Handelns beschrieben, das auf revolutionäre Bewegungen ebenso wie auf bereits etablierte sozialistische Staaten anwendbar war und in der Auseinandersetzung mit den beiden großen Gegenspielern das 20. Jahrhundert bestimmte: die Gegenspieler Faschismus und Nationalsozialismus einerseits sowie Demokratie, Liberalismus, Rechtsstaat andererseits.4 Von der bloßen Idee in die politische Wirklichkeit verwandelte sich das von Lenin entwickelte Selbstverständnis der revolutionären Avantgarde im kurzen 20. Jahrhundert der Jahre 1917 bis 1991/93 nirgendwo so nachdrücklich wie in der sowjetischen Hemisphäre, die sich später in verschiedenen Ausprägungen von China bis Albanien weiter differenzieren würde. In der Schaffung einer Partei neuen Typs erreichte die Diktatur im Namen einer Klasse die institutionelle Form, die sich in der Sowjetunion wie in den ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten rasch zur Autokratie des Politbüros und ihrer Generalsekretäre fortbilden sollte. Die schrankenlose, durch keine formalen Regeln eingehegte Macht der beiden großen Diktatursysteme des 20. Jahrhunderts, sie hat eine furchtbare Schneise der Verwüstung durch die Geschichte der Menschheit geschlagen. Wir wissen, welche Terrorherrschaft aus der Selbstermächtigung einer revolutionären Avantgarde folgte. Während aber der faschistische, der nationalsozialistische Herrschaftstypus die unbeschränkte Alleinherrschaft eines befähigten Einzelnen ausdrücklich bejahte und in seinem Führerkult verherrlichte, bezog die kommunistische Avantgarde-Herrschaft ihre stärkste Kraft gerade daraus, dass sie sich nicht als das verstand, was sie in Wirklichkeit war – eine personengebundene Cliquenwirtschaft ohne institutionalisierte Nachfolgeregelung, die auf ihre Infragestellung durch Teile der Gesellschaft regelmäßig mit deren Unterdrückung bis hin zum offenen Terror antwortete. Was aber ließ die sozialistische Avantgarde an ihr Recht auf Selbstermächtigung glauben? Woraus schöpfte sie eigentlich ihre Legitimation? Auf drei Säulen, so glaube ich, ruhte die Sinnwelt des Kommunismus an der Macht, die das Bewusstsein ihrer Repräsentanten 70 Jahre lang prägte: Erstens die unumstößliche Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Zweitens auf der vermeintlich engen, völlig geschlossenen Verbundenheit

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mit den von ihnen geführten Massen. Und drittens, schließlich, auf der Entsagung und Selbstopfer einschließenden Bewährung der Kader gegenüber der Partei, die ihnen ihr Vertrauen schenkte. Und das möchte ich im zweiten Teil meines Vortrags ausführen. Ich beginne mit dem ,Wissen um die Wahrheit‘. „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Lenins Diktum von 1913 fasst in einem Satz zusammen, was eine der mächtigsten Triebfeder an der sozialistischen Bewegung darstellte: der Glaube, dass sie wissenschaftlich begründet und fundiert sei.5 Ausgehend von Friedrich Engels’ Schrift über die Verwandlung des Sozialismus von einer Utopie in die Wissenschaft entwickelte die kommunistische Denkwelt unter dem Gesamttitel des ML, des Marxismus-Leninismus, ein ideologisches Lehrgebäude, das die kategoriale Unterscheidung von Sein und Sollen, Erkenntnis und Handeln aufhob. In diesem Verständnis besteht der Kern der Politik nicht im Sinne Carl Schmitts in der Unterscheidung zwischen Freund und Feind oder, in einem allgemeineren Verständnis, in der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten, sondern in der Verwirklichung oder Verhinderung des Richtigen, wie in der DDR unablässig propagiert wurde: „Die Entdeckung der objektiven Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung bedeutete eine revolutionäre Umwälzung aller vorangegangenen Gesellschaftstheorien. Mit ihr entstand zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit, eine exakte und umfassende Wissenschaft von der Gesellschaft auszuarbeiten, die es gestattet, die Welt nicht nur richtig zu erklären, sondern sie im Interesse der Arbeiterklasse und aller anderen Werktätigen zu verändern.“6 Machtfragen wurden auf diese Weise im Verständnis des Politbüros der SED zu Erkenntnisproblemen und die revolutionäre Durchsetzung der eigenen Ziele zur wissenschaftlichen Schlussfolgerung. Folgerichtig liebte die Propagandasprache der sozialistischen Welt es über Jahrzehnte hinweg, politische Verlautbarungen als Thesen in den Rang einer wissenschaftlichen Erörterung zu heben. War das nur verhüllende Phrase? Vielleicht. Für die meisten Opfer kommunistischer Unterdrückung gewiss, und sicherlich auch für viele, die dem sozialistischen Entwurf der Gesellschaft gleichgültig gegenüberstanden oder ablehnend. Aber für dessen Protagonisten zumindest, und vielleicht auch für viele Anhänger, lag im Glauben an die wissenschaftlich erhärtete Wahrheit ihres Einsatzes für die kommunistische Sache eine entscheidende Ressource ihrer Unbeirrbarkeit, ihrer Siegesgewissheit. Nicht auf blinde Folgsamkeit war der sozialistische Ordnungsentwurf des 20. Jahrhunderts ausgerichtet, sondern auf gesicherte Erkenntnis. Er

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verlangte nicht bloße Unterwerfung, sondern immer auch nachvollziehbare Einsicht, Kritik und Selbstkritik. Politische Disziplinierungen erfolgten in der sozialistischen Welt unter der Flagge von Diskussionen und Auseinandersetzungen. (Und so sind sie auch im Parteiarchiv bis heute abgelegt.) Am Ende der Auseinandersetzung folgte die Einsicht. Und sie verlangte in ihrem habituell als Kritik und Selbstkritik institutionalisierten Verfahren die glaubwürdige Absage des Delinquenten an seinen Irrtum. Dann erst war Parteistrafe möglich. Die zweite Säule des kommunistischen Selbst- und Politikverständnisses bestand in meinen Augen in dem immer wieder neu geführten Nachweis der Übereinstimmung von Avantgarde und Massen, von Führern und Geführten. Die endlosen Aufmärsche und Kampfdemonstrationen, die zahllosen Treuebekundungen und Massenakklamationen, die das öffentliche Bild des politischen Lebens im Ostblock prägten, dienten dem immergleichen Ziel: die Existenz einer einheitsverkörpernden Öffentlichkeit zu beglaubigen. Die Leidenschaft für die Einstimmigkeit, wie das früher schon die Totalitarismus-Forschung nannte, sie trat auch in der Obsession der Herrschenden zutage, regelmäßig Wahlrituale anzuberaumen, die Zustimmungsraten von 98,5 bis 99,93 Prozent ergaben. Sie manifestierte sich im ständigen Appell an die Geschlossenheit der Partei ebenso wie im Verbot der Fraktionsbildung und in der habituellen Einmütigkeit der Entscheidungsfindung auf allen Ebenen des politischen Handelns, vom kleinen Parteiaktiv bis zum großen Politbüro, in dem noch die Verstoßung aus dem Amt als Ausdruck von Einmütigkeit inszeniert wurde. Der Konflikt ist kein Wesensmerkmal des Sozialismus. Nirgendwo tritt die legitimatorische Kraft dieses natürlich inszenierten Konsenses so deutlich hervor wie in der brutalsten Phase im Großen Terror in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, wie selbst westliche Intellektuelle bezeugten. Das bekannteste Beispiel liegt in Lion Feuchtwangers Reisebericht vor, Moskau 1937, in dem der nach Moskau eingeladene Schriftsteller die Suggestionskraft des kommunistischen Konsenskultes in einer beklemmenden Eindringlichkeit vorführt. Die von rückhaltlosem Einverständnis getragene Beziehung zwischen Avantgarde und Massen erreichte Feuchtwanger und anderen Beobachtern zufolge ihren stärksten Ausdruck in den juristisch inszenierten Säuberungskampagnen, in denen Stalin sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit seiner engsten Weggefährten entledigte. Feuchtwanger wohnte dem zweiten Moskauer Schauprozess vom Januar 1937 als Zuhörer bei, und es war die suggestive Kraft des Einverständnisses, die ihn, den Außenstehenden, in den Bann schlug. Es ging um Leben und Tod, und doch atmete die Verhandlung gerade nicht den Geist eines verbissenen Kampfes, wie Feuchtwanger notierte, sondern

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den einer gemeinsamen Suche nach Problemlösungen: „Das Ganze glich weniger einem hochnotpeinlichen Prozess als einer Diskussion, geführt im Konversationston von gebildeten Männern, die sich bemühten festzustellen, welches die Wahrheit war und woran es lag, dass geschehen war, was geschehen war.“7 Auch Feuchtwanger tat sich schwer, die Geständnisse für bare Münze zu nehmen, in denen Angeklagte sich in äußerster Selbsterniedrigung ungeheuerlichster Verbrechen bezichtigten und bis zum Todesurteil eine Gemeinschaft von Verfolgern und Verfolgten vorzustellen vorgaben. Die Erklärung, die er fand, stellte auf das besondere Zustimmungsprinzip, das Konsensprinzip ab, das die Sinnwelt kommunistischer Führungskader so dramatisch auszeichnete. „Es ist nun ein Irrtum anzunehmen, ein Mann, der vor ein Parteigericht geladen ist, könnte sich verhalten wie ein Mann vor einem üblichen westlichen Gericht. Auch der Angeklagte fühlte sich der Partei noch verbunden. Und so ist es kein Zufall, dass der Prozess von Anfang an jenen, den westlichen Menschen so befremdenden Charakter einer Diskussion trug. Richter, Staatsanwalt und Angeklagte schienen nicht nur, sie waren durch einen gemeinsamen Zweck verbunden. Es ist dieses Grundgefühl, welches Richter und Angeklagte veranlasst, so einträchtig zusammenzuarbeiten.“8 Mit seinem Stück Die Maßnahme hat Bertolt Brecht dieses Ankläger und Angeklagte zusammenführende Konsensprinzip dramatisch verarbeitet. Im Interesse der kommunistischen Sache bejaht der junge Genosse nicht nur sein Todesurteil, sondern bittet seine Genossen auch um Hilfe beim Vollzug. Umgekehrt zögern seine Mörder nicht, ihren Fall dem Kontrollchor in schonungsloser Selbstbezichtigung darzulegen, um am Ende mit dem Satz freigesprochen zu werden, der der Selbstermächtigung der kommunistischen Avantgarde sein entscheidendes Fundament gibt: „Wir sind einverstanden.“ Welche Instanz aber konnte diese Bestätigung geben? Und damit komme ich zum dritten Punkt: Dies konnte einzig und allein die marxistisch-leninistische Partei sein, die die beiden Säulen des avantgardistischen Mandats miteinander verband. Die Partei als Inkarnation der Massen war im Selbstverständnis der Avantgarde-Herrschaft diejenige Institution, die das Mandat der Massen an die Kader weitergab. Sie war es, die den Einzelnen lenkte und seine Aufgabe bestimmte, die Vertrauen schenkte und durch Bewährung prüfte, die Aufträge erteilte und deren Erfüllung feststellte. Ihre Autorität war unantastbar. Und allein die bedingungslose Unterordnung unter sie eröffnete dem Parteimitglied die Aufnahme in die Avantgarde. Ich zitiere einen unverdächtigen Zeugen, Robert Havemann: „Ich war zu unbedingter Bescheidenheit gegenüber der kollektiven Weis-

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heit der Partei erzogen“, so schrieb er in einer rückblickenden Betrachtung zu der Frage, warum er Stalinist war. „Für mich galt: Die Partei hat immer Recht.“9 Das Charisma der Partei überwölbte das gemeinsame Interesse, die eigenständige Überzeugung der Parteimitglieder, und schuf den alle persönlichen Interessen übersteigenden Verpflichtungswert als Treue des Einzelnen zur Partei. In der politischen Kultur des Kommunismus war die Partei die sakrosankte und mit anthropomorphen Zügen ausgestattete Überperson, die unbedingte Treue verlangte und mit unbedingtem Schutz vergalt. Auch hier griff die Konsensfixierung des kommunistischen Weltentwurfs. 22 Jahre lang kannte das SED-Statut überhaupt nicht das Recht zum Parteiaustritt. Und selbst, als sie das Recht auf Parteiaustritt 1974 wiedereinführte, behielten sich die Parteigremien die souveräne Entscheidung vor, ob sie eine entsprechende Bitte gewährten oder verweigerten. „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei“, lautete der 1971 von Honecker eingeführte Slogan. Und dieses von der Partei gewährte Vertrauen macht eben die dritte Säule aus, auf der die Selbstermächtigung der kommunistischen Avantgarde vom Ersten ZK-Sekretär bis zum einfachen Parteimitglied ruhte. „Im Begriff der bolschewistischen Parteilichkeit“, so schrieb Lew Kopelew, „lag etwas Mystisches, das sich konkreten Vorstellungen entzog, etwas Allumfassendes, etwas Universales. Hauptvoraussetzung der Parteilichkeit war eiserne Disziplin.“10 Was die Partei ihren Kadern an Vertrauen schenkte, verlangte sie an Treue zurück. Kommunistische Lebensgeschichten sind in ihrem innersten Kern Bewährungsbiografien. Sie erzählen von Loyalität, von Standhaftigkeit – sie erzählen aber auch von äußerster Herausforderung und von vereinzeltem Versagen an der gestellten Aufgabe. Die Prüfung der Avantgarde schloss das Privatleben ein. Die beiden wichtigsten Steuerungsinstrumente, mit denen die kommunistische Avantgarde ihre Macht nach innen wie nach außen ausübte, waren Geheimnis und Gewalt. Avantgardistische Selbstermächtigung bedeutete auch Gewaltermächtigung. Bis in das kriegerische Vokabular seiner Sprache hinein offenbart der kommunistische Ordnungsentwurf eine starke Gewaltorientierung, die in der Ästhetisierung des rücksichtslosen Klassenkampfes und seines Feindbilddenkens ebenso zum Ausdruck kommt wie in den Kampfdemonstrationen mit erhobener Faust marschierender Massen und in der charakteristischen Liebe zur Radikallösung und der rücksichtslosen Brechung aller Widerstände, die den Politikstil sozialistischer Regime kennzeichnet. Dieses Konzept der revolutionären Avantgarde schrieb Weltgeschichte. Es prägte die sozialistische Bewegung, und es schuf einen eigenen Typus,

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so behaupte ich, politischer Herrschaft in der Moderne. Seine Prägekraft reichte von der Bildung der Partei neuen Typs und der verfassungsmäßigen Verankerung ihrer Führungsrolle bis hinunter zum Selbstverständnis der isoliertesten Genossen. „In dem stolzen Bewusstsein, nun im wahrsten Sinne des Wortes ein Lenin-Schüler zu sein“, reiste im Sommer 1930 der noch nicht 18-jährige Jung-Kommunist Erich Honecker zum Besuch der Lenin-Schule nach Moskau und sandte sogar seinem Friseur einen Kartengruß in die saarländische Heimat.11 Als Honecker wenige Jahre später seinen Kampf gegen Hitler mit der Verurteilung zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe zu bezahlen hatte, mochte es ihm ergangen sein wie seinem Haftkameraden Wilhelm Thiele, den nur der feste Glaube an die Mission der Avantgarde davor bewahrte, am Undank des Volkes zu verzweifeln, für dessen Befreiung er ins Zuchthaus ging. In den zwölf Jahren danach wiederum bot einem kommunistischen Häftling, dessen Gegenwart trostlos, dessen Überleben ungewiss war, allein der Glaube an die Gewissheit der kommunistischen Weltanschauung inneren Halt. Als 1939 das Undenkbare Wirklichkeit wurde und der Pakt zwischen Stalin und Hitler dem antifaschistischen Widerstandskampf und dem Leiden seiner kommunistischen Träger jeden Sinn raubte, trugen die politischen Häftlinge erbitterte Auseinandersetzungen untereinander aus, weil die linientreuesten Genossen sich kategorisch weigerten, die sie stützende Avantgarde-Gewissheit zu opfern, dass die Partei immer recht habe. Zu ihnen rechnete sich auch Honecker, der in seine Autobiografie von 1980 den Satz aufnehmen ließ: „Wir waren uns einig, daß der Abschluß des Vertrages ein diplomatischer Erfolg der Sowjetunion war.“12 Jahrzehnte später, als sich die Herrschaft des Sozialismus mit der Teilung der Welt in zwei Lager dauerhaft etabliert zu haben schien, mochte es hinreichen, die Legitimität der eigenen Ordnung bereits in der bloßen Existenz begründet zu sehen. Aber für viele Altkommunisten galt auch zu dieser Zeit noch der Gedanke, dass nicht die Gewissheit der Macht den Kern ihres Selbstverständnisses ausmacht, sondern weiterhin die Macht der Gewissheit. Die Macht der Gewissheit, dass die marxistisch-leninistische Idee so unverwundbar ist, wie das Wissen um ihre Verwirklichung unwiderlegbar. Als abermals 20 Jahre später der Realsozialismus unterging, zerbrach darum nicht zugleich auch die Denkwelt der entmachteten Altkommunisten. Ungerührt wischte im Lobetaler Kirchenasyl der gestürzte Honecker die Vorhaltung seines Interviewers Reinhold Andert vom Tisch, dass das SED-Regime doch von der eigenen Bevölkerung unter dem Schlachtruf „Wir sind das Volk“ davongejagt worden sei. Honecker, so alt und greise er war, er blieb Avantgardist: „Wir sind das Volk?“, schleuderte er Andert

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entgegen, „schön und gut, ich liebe das Volk, aber um welches Volk handelt es sich? Um ein manipuliertes oder eines, dessen Handeln von der Vernunft bestimmt ist? Ist es ein aufgeklärtes Volk, ein mündiges Volk, oder ist es ein Volk, das den Rattenfängern nachläuft?“13 Im Selbstverständnis der altkommunistischen Avantgarde war und blieb das Volk ein wankelmütiger Auftraggeber. Ganz im Sinne Lenins vermochte es seine historische Mission nicht spontan und aus eigener Kraft zu erfüllen, sondern war auf die Führung durch eine selbstermächtigte Avantgarde angewiesen.

1

Bertolt Brecht: „Die Maßnahme. Lehrstück“, in: ders., Lehrstücke, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 28.

2

Ebd., S. 44.

3

W. I. Lenin: „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“, in: ders., Ausgewählte Werke. Bd. 1. Berlin (O) 1979, S. 139−314, hier S. 267.

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Nur randständig blieb dieses Modell in Deutschland in der Studentenbewegung der sechziger und frühen siebziger Jahre, die sich selbst Avantgarde-Funktion zuschrieb. Allein im Stadtguerilla-Konzept der radikalen Abspaltungen der Neuen Linken, die zum Terror übergingen, wahrte die Selbstermächtigung der Avantgarde in den siebziger Jahren noch ihre Bedeutung. Namentlich die RAF als selbsternannte „Speerspitze des Widerstands gegen den Staat“ verstand sich als politische Avantgarde, die durch terroristische Initialzündungen das angeblich gewaltbereite Proletariat mitreißen wollte. Ulrike Meinhof bezog sich zur Stärkung ihrer revolutionären Moral gerne auf Brechts Lehrstück und rechtfertigte in einem Kassiber für Gudrun Ensslin sogar den palästinensischen Mord an der israelischen Olympiamannschaft im September 1972 mit einem Zitat aus Die Maßnahme: „Klar, ein ekelhafter Gedanke, aber welche Niedrigkeit begingst du nicht, um die Niedrigkeit abzuschaffen?“

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Bis heute kompensieren kommunistische Splittergruppen ihre politische Marginalität durch wissenschaftliche Rhetorik, wenn sie im Internet schweifen, und argumentieren in ihren Sektenstreits gleichermaßen gern mit der wissenschaftlich-belegbaren Richtigkeit ihrer Anschauungen und Strategien, die ihren Gegner somit als Leugner erwiesener Wahrheiten erscheinen lassen.

6

„Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“, in: Neues Deutschland, 18.4.1968.

7

Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde [1937]. Berlin 2000, S. 9.

8

Ebd., S. 99.

9

Robert Havemann: „Ja, ich hatte unrecht. Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde“, in: Ders., Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde. Texte eines Unbequemen, hg. von Dieter Hoffmann und Hubert Laitko, Berlin 1990, S. 192−197, hier S. 192.

10 Lew Kopelew: Aufbewahren für alle Zeit!, Hamburg 1976, S. 64 f. 11 Martin Sabrow: Erich Honecker. Das Leben davor. 1912−1945, München 2016, S. 81. 12 Erich Honecker: Aus meinem Leben, Berlin (O) 1980, S. 98. 13 Sabrow: Erich Honecker, S. 505.

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„HIER SPRICHT DER DEUTSCHE IDEALISMUS“ Die grauenhafte Unbedingtheit. Willi Winkler über den deutschen Linksextremismus und Die Maßnahme

Vortrag am 22. November 2017 Bertolt Brecht steht am Anfang der RAF. Lassen Sie sich nichts vormachen, lassen Sie sich nichts erzählen von Studentenbewegung, Vietnam, Springer, Dritter Welt, Stadtguerilla, noch vor Terror und entsetzlicher Gewalt geht es in dieser furchtbaren Episode der Nachkriegszeit um Brecht. „Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?“, heißt es im ersten Manifest, mit dem sich die Baader-Befreiungs-Armee um Horst Mahler, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof im Mai 1970 von der übrigen Welt in den Untergrund verabschiedet. „Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?“, schreien die Freischärler frohgemut in die bürgerliche Welt hinaus, der sie den Gefangenen Andreas Baader entrissen haben. Der Vers stammt aus Brechts Lob der Dialektik, einem Gedicht aus einer Zeit mit einem ganz anderen revolutionären Überschwang. Die Autorin dieser revolutionären Schrift, die ehemalige Pädagogik-Studentin Ulrike Meinhof, wird das Gedicht über eine Platte von Ernst Busch vielleicht schon bei ihren Besuchen in der DDR kennengelernt haben. „Nicht Marx und Engels überzeugten uns, sondern Brecht und Busch überzeugten hier eine ganze Generation“1, wie Klaus Rainer Röhl erzählt, der seine spätere Frau Ulrike Meinhof für die in Westdeutschland illegale KPD warb. Beim Barrikadensänger Ernst Busch in Ostberlin hörten sie die Lieder, die man im Westen nicht hören sollte, Lieder aus dem Spanischen Bürgerkrieg, aus dem Arbeiterkampf der Weimarer Republik, Lieder, und das ist das Entscheidende, voller Verlierer-Pathos. Der Spanische Bürgerkrieg ging verloren wie zuvor der Kampf der KPD gegen die Nationalsozialisten. Es handelt sich bei der RAF um einen eklatanten Fall von Zeitverschiebung. Eine Revolution sollte nachgeholt werden, die schon einmal wenig glanzvoll gescheitert war. Die Tatsache, dass sie gescheitert war, genügte bereits als Beweis für ihre Berechtigung. Der Kommunist Brecht, der vor den Nazis aus Deutschland und vor Senator Joseph McCarthy aus Amerika flüchten musste, diente ihr als Kronzeuge. Brecht kehrte nach Europa zurück und ging nach Ostberlin. Im Westen war er Konterbande, eine verbotene Frucht und besonders süß, eben weil sie verboten war oder jedenfalls amtlicherseits abgelehnt wurde.

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Die Schuldramaturgie machte Brecht seit je Schwierigkeiten, die Tragödie zu wenig Spaß, von den Klassikern las er lieber den Horaz, aber beinah aus Versehen gelang ihm 1930 tatsächlich eine Tragödie, und das ist die Maßnahme. Das Stück ist in Verruf geraten, weil wenige Jahre später in den Moskauer Prozessen genau das passiert ist, was sich bei Brecht vor dem Kontrollchor abspielt: Der Genosse wird nicht nur seiner Fehlbarkeit überführt, sondern es wird ihm noch vor seiner Hinrichtung das Einverständnis mit dieser Parteimaßnahme abgezwungen. Du bist nichts, die Partei ist alles, und im Interesse der Partei musst du für die Sache sterben. Brecht sah in seinem Stück das Theater der Zukunft, wollte es aber nach der Rückkehr aus dem Exil nicht mehr aufgeführt haben. Abgesehen von einzelnen Inszenierungen an Schul- und Studiobühnen blieb es ein unbekanntes Meisterwerk, wohlversargt in Sammel- und Werkausgaben. Die erste Aufführung, die von den Brecht-Erben legitimiert wurde, kam erst vor zwanzig Jahren, 1997, zustande. Für die Rezeptionsgeschichte wichtig war aber die Edition, die Reiner Steinweg 1972 bei Suhrkamp veranstaltet hat: der Text der Maßnahme in allen Varianten und Bearbeitungsstufen, dazu sämtliche greifbaren Aufführungskritiken und Kommentare von Brecht und seinen Mitarbeitern wie Hanns Eisler und Hans Bunge.2 1972 ist auch das Jahr, in dem sich die RAF mit diesem schwierigen Stück, mit der vielfach tabuisierten Maßnahme, zu beschäftigen beginnt. Er wird ihr als Rechtfertigung dienen: Die Gefangenen begreifen die Maßnahme als Referenzwerk; im Knast spielen sie die entscheidenden Teile der Tragödie in einem erbarmungslosen Textkampf nach. Für den Opfergang, den die RAF 1970 antrat, war der Pathetiker Brecht ideal, der selbst in den Niedrigkeiten des Alltags helfen musste. Für Bernward Vesper ist es ganz selbstverständlich, dass er seiner ehemaligen Verlobten Gudrun Ensslin mitten im Sorgerechtsstreit um das gemeinsame Kind Brechts Kaukasischen Kreidekreis ins Gefängnis liefert. Gudrun Ensslin selber zitierte immer die bekannte Passage aus der Maßnahme: „Furchtbar ist es zu töten. / Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut / Da doch nur mit Gewalt diese tötende / Welt zu ändern ist, wie Jeder Lebende weiß.“ Jeder Lebende weiß, dass die RAF eine Terrorgruppe war, die sich einem absurden „Kampf in den Metropolen“ verschrieben hatte. Trotz ihres medialen Aufsehens war sie aber ein eher kleines Ereignis. Heinrich Böll sprach nicht ohne Grund vom Kampf der sechs gegen sechzig Millionen, die damalige Bevölkerungszahl der Bundesrepublik. Töten – uns, andere? Ab einem gewissen Punkt geht es der RAF nur noch ums Umbringen, und die Literatur muss die Rechtfertigung dafür liefern. Wann genau ist der Umschlag eingetreten? In der Nomenklatur

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der RAF ist es die „Propaganda der Tat“, die sie von anderen Gruppen und Bewegungen der späten Sechziger unterscheidet. Worte reichen bald nicht mehr hin, Worte reichen vor allem für die Journalistin Ulrike Meinhof nicht mehr aus, es muss zur Tat geschritten, es muss zur Waffe gegriffen werden. Im Rückblick klingt es wie der reine Irrsinn, aber die RAF verstand sich als deutscher Arm des Vietcong und nahm sich allen Ernstes vor, mit ihren Mitteln den Dschungelkrieg aus Asien in die deutschen Städte zu tragen. Das Leid der vietnamesischen Bevölkerung, die mit Napalmbomben beschossen wurde, war im Zweifel größer als die Sorge um die eigenen Kinder, die in Deutschland ja sicher und im Wohlstand leben konnten. Wer bei diesem idealistisch gestarteten Unternehmen nicht mitzog, wurde ausgestoßen. Diese leninistische Kaderorganisation macht sich ihre eigenen Gesetze, aber noch immer geht es nicht ohne Rückversicherung durch die Literatur. Horst Mahler, wenn nicht der Gründer, so doch der Anstifter dieser deutschen Volksbefreiungsarmee, legte Wert darauf, dass die RAF ursprünglich mit einem Gefühl der moralischen Überlegenheit in den Krieg gezogen war. „Man musste sich schon vorstellen können, dass man in einer historischen Tendenz zum Besseren tätig ist, um dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Wem es ernst ist mit der Revolution, der muss sich befähigen, die schlimmsten Schandtaten zu begehen.“3 Ist das nicht reiner Brecht, der Brecht der Maßnahme? „Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um / Die Niedrigkeit auszutilgen?“ Die Niedrigkeit begann sechs Wochen nach der Befreiung Andreas Baaders. Wir befinden uns immer noch im Sommer 1970. Die Gruppe, die sich zur RAF zusammenschließen wollte, reist nach Jordanien, um sich von den Palästinensern das Schießen beibringen zu lassen. Die schlimmste Schandtat war die Verbrüderung ausgerechnet mit den Palästinensern, die doch die Juden ins Meer treiben wollten. Brecht hat auch dafür den schönsten Ablasszettel geschrieben: „Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / konnten selber nicht freundlich sein.“ Der Revolutionär muss sich vor allem dazu befähigen, die Welt so religiös als verkommen zu betrachten, dass sie nach Erlösung hungert und dürstet, und zwar nach Erlösung durch ihn, den Revolutionär. „Eine traumatische Geschichte“, sagt Mahler, „aber wir haben uns darauf eingelassen.“4 Kollateralschäden sind möglich, sogar eingeplant und beweisen, dass es die Revolutionäre ernst meinen und jederzeit zu einem Opfer bereit sind. Nicht andere nur töten wir … Brecht erlaubt diese Radikalisierung, und ich möchte annehmen, dass es die Wiederveröffentlichung der Maßnahme war, die diesen Lesern, die sich in den Untergrund verlaufen hatten, nachträglich die Rechtfertigung

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für ihre revolutionäre Moral lieferte, die nur mehr mörderisch war. Im Mai 1972 ziehen die Aktivisten eine Blutspur des Terrors durch Deutschland und werden sofort danach festgenommen. Der Kampf scheint zunächst zu Ende. Das Gefühl der Ohnmacht, das Ulrike Meinhof erlebte, muss nach der Festnahme einen Monat später noch viel stärker geworden sein. Die Parteisoldaten der Roten Armee Fraktion werden das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen. Nur drei Monate nach der eigenen Verhaftung müssen sie erleben, wie den befreundeten Palästinensern ein Coup gelingt, der die ganze Welt bewegt. Während Ulrike Meinhof selber wegen der Baader-Befreiung vor Gericht steht, schreibt sie ein antisemitisch loderndes Manifest, in dem sie das Massaker von München zur „menschlichen action“5 hochjubelt. Sie selber ist hilflos, aber sie versichert sich des Klassikers und zitiert wieder Brechts vierzig Jahre altes Lob der Dialektik: „An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns!“ Nicht zitiert sie die folgenden Verse: „Wer verloren ist, kämpfe! / Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?“, denn inzwischen ist sie, anders als die Palästinenser, aufgehalten worden. Den israelischen Verteidigungsminister schimpft sie den „Himmler Israels“ und verlegt Auschwitz nach Israel: „Es hat seine Sportler verheizt wie die Nazis die Juden – Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik.“6 Gern würde man sich hier auf die Gefängnis-Paranoia, auf den abgeschnittenen Kontakt mit den anderen hinausreden, aber diese Verkrampfung der Sprache ist kein Zufall, kein Jargon, sondern reinster Ausdruck der Brutalisierung, die im Untergrund stattgefunden hat. Die Gefangenen haben in sich jedes menschliche Organ abgetötet, sie umarmen die Schlächter, die auf der größtmöglichen Bühne, vor den Fernsehkameras der ganzen Welt, auf ihr Anliegen hinweisen konnten und dafür bereitwillig in den Tod gingen. Und doch ist die RAF nie mächtiger als in den fünf Jahren, die ihre Anführer zwischen 1972 und 1977 im Gefängnis verbringen. Bald gelingt es ihnen, die sympathisierende Öffentlichkeit als Geisel zu nehmen und sich als Opfer des Systems aufzubauen. Auch wenn sie zunächst über Deutschland verstreut in verschiedenen Gefängnissen sitzen, bleiben die Gefangenen der RAF durch ein hervorragend organisiertes Informationssystem miteinander verbunden. Hier wird nicht nur die jeweilige Lage besprochen, hier werden neue Pläne ausgeheckt, und es wird, als wär’s ein germanistisches Oberseminar oder eine Psycho-Gruppe, alles diskutiert und kritisiert. In einem dieser Kassiber beschwört Ulrike Meinhof „Die Waffe Mensch“ und setzt damit die aus der Studentenbewegung bekannte Ge-

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waltdiskussion fort. „Waffen sind Instrumente, mit denen Gewalt ausgeübt bzw. gebrochen werden kann. Deswegen sagen wir: Die Waffe Raf.“7 Diese Militarisierung – die RAF versteht sich schließlich als Abteilung einer fiktiven, vielleicht auch nur literarischen Roten Armee – diese Militarisierung ist nicht ganz neu, sondern unerhört vertraut, denn auch sie stammt aus der Weimarer Republik, im Zweifel sogar aus nächster Brecht-Nähe. Selbst der friedfertige Walter Benjamin meinte vom Kritiker, das Kunstwerk müsse „in seiner Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister“ sein.8 Die Waffe RAF wird geschärft, der Mensch oder doch sein Körper wird in die Schlacht geworfen. Während die Bundesanwaltschaft den Prozess gegen sie vorbereitet, greifen die Häftlinge vor und halten ihrerseits Gerichtstag: über sich, über die RAF, über ihren Erfolg, ihre Niederlagen. Selbst das Scheitern wird – nicht anders als bei Brecht – als Station in der revolutionären Entwicklung interpretiert. Große Namen werden als Nothelfer angerufen: neben Lenin und Brecht auch Régis Debray, der Mitstreiter Che Guevaras, der gleichzeitig mit Baader und Meinhof eingesperrt ist, in Bolivien allerdings und nicht in Deutschland. Erst im Gefängnis, so berichtet der vom intellektuellen Sympathisanten zum Guerillero gewandelte Debray, habe er sich entschließen können, „mich vorbehaltlos der Revolution zu verschreiben […], mein ganzes Leben der Revolution zu weihen. Und erst jetzt kann ich wirklich sagen, daß es nichts mehr gibt, was mich davon abhalten kann, an der Revolution voll teilzunehmen“.9 In einem Kassiber an Gudrun Ensslin empfiehlt ihr Ulrike Meinhof einen Aufsatz, in dem sich Debray mitteilt. „Freiheit“, setzt die Gefangene hinterher, „Freiheit ist nur im Kampf um Befreiung möglich.“ Die RAF beginnt ihre Todesfahrt, denn die letzte Befreiung bringt erst der Tod. Holger Meins versteht vorbildlich zu sterben, wie er in seinem letzten Brief an Manfred Grashof zeigt. Das Dokument ist vor allem interessant, weil sich hier der ehemalige Pfadfinder und nach Aussagen seiner früheren Freunde, der sanftmütigste Mensch, an einen ehemaligen Bundeswehrsoldaten, eben an Grashof wendet, weil der aufgibt und den Hungerstreik abbricht. Wieder geht es um die Niedrigkeit, die begangen werden muss, und wieder vergewissert man sich bei Brecht: „Wer seine Lage erkannt hat – wie soll der aufzuhalten sein?“ Während sein Schüler Max Frisch die „durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers“ jedenfalls im Theater sieht, kommt Brecht den Gefangenen gerade recht. Der antiimperialistische Kampf verlangt seinen Toten. Holger Meins sollte bei diesem dritten Hungerstreik geopfert werden. Hunger, Entsagung, also Idealismus ist ungleich glaubwürdiger als Unterwerfung, Anpassung, Mittun oder der Opportunismus, den Ulrike Meinhof in ihrer Erklärung beim Prozess in Berlin angeprangert hat: „Die Opportunisten

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gehen vom entfremdeten Bewußtsein des Proletariats aus – wir gehen von der Tatsache der Entfremdung aus, aus der sich die Notwendigkeit der Befreiung ergibt.“10 Ohne Opfer keine Befreiung, die Gruppe sorgt schon dafür, auch dafür, dass das Opfer fast schon freudig in den Tod geht. „Es stirbt allerdings ein jeder“, tröstet sich Holger Meins. „Frage ist nur, wie und wie Du gelebt hast, und die Sache ist ja ganz klar: KÄMPFEND GEGEN DIE SCHWEINE als MENSCH FÜR DIE BEFREIUNG DES MENSCHEN: Revolutionär, im Kampf – bei aller Liebe zum Leben: den Tod verachtend. Das ist für mich: dem Volk dienen – RAF.“ Als Sterbebegleiterin fungiert die ehemalige Germanistikstudentin Gudrun Ensslin: „Du bestimmst, wann Du stirbst. Freiheit oder Tod.“ In seinem Brief an Manfred Grashof nimmt Holger Meins wie ein Echo die Meinhof’sche Dialektik vom bewegten Sommer 1970 auf. Was damals noch wie Siegesgeheul klang, die absolute Rechthaberei, ist jetzt Resignation, der Opfergang eines weiteren jungen Genossen. Ich sterbe, damit ihr lebt. Noch ein Jesus, noch mal Che Guevara. In der Überlieferung sind es gebrochene Zeilen, und natürlich könnte das Gestammel eines Todgeweihten auch ein Gedicht von Erich Fried sein, nach einer Vorlage von Eldridge Cleaver: Entweder Schwein oder Mensch Entweder überleben um jeden Preis oder Kampf bis zum Tod Entweder Problem oder Lösung Dazwischen gibt es nichts.11 Ganz so fremd kann einem das nicht sein, denn hier spricht der deutsche Idealismus, hier weist jemand sein Jahrhundert in die Schranken, greift dem Schicksal in den Rachen und kann sich sogar auf einen ganz unverdächtigen Vorläufer berufen. Nicht Brecht diesmal, sondern Martin Luther, von dem die ehernen Gewissensworte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ überliefert sind, die er auf dem Reichstag in Worms dem Kaiser entgegengeschleudert hat. Am 9. November 1974 ist ein Revolutionär im Kampf gegen die Schweine gestorben. „Nun ist wieder einer gefallen“12, notiert ein Mitstreiter in seinem Tagebuch. Aus Verlegenheit, so sei freundlicherweise angenommen, verfällt auch Rudi Dutschke in diesen kriegerischen Jargon. Er spricht von „Halb-Mord“, zitiert aber immerhin einen „D. in Frankfurt“ (bei dem es sich möglicherweise um einen weiteren Kombattanten handelt, um Daniel Cohn-Bendit), „die Zerstörungs- und Selbstzerstörungs-Logik ist offensichtlich“.

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Eine Selbstzerstörung im Wahn, dem Volke zu dienen, das Opfer bringen zu müssen, das die Partei, die Bewegung, die Zukunft, die Utopie oder wer auch immer erwartet und verlangt. Es ist die in der Maßnahme vorgeführte tragische Logik: Menschenfreundlichkeit lindert möglicherweise den einzelnen Härtefall, aber sie schadet der Partei, dem Großen Ganzen. Das ist, in der Anwendung von Holger Meins, die Fortsetzung der Maßnahme, das Opfer im Interesse der Sache, damit die anderen mitziehen, mit einem Totalitarismus jedoch, wie ihn sich Brecht nicht träumen ließ. Aus dem Gefängnis kamen dann nur noch Drohungen. Von „Sonderbehandlung“ ist die Rede, von „Selektion“ sogar, aber in der Logik der RAF wird ein schwarzer Vernunftgrund daraus: Der Polizeistaat ist zum Nazi-Staat pervertiert, jeder Widerstand damit legitimiert. Für den Selbstmord, für den Tod wären wieder einmal die Wohlmeinenden schuld, die sich zum eigenen Einsatz nicht aufraffen konnten: „wenn ihr das zulaßt, daß die schweinerei [gemeint ist: Isolationshaft] jetzt auch noch bei gudrun so durchzischt – dann habt ihr wirklich nur noch zwei möglichkeiten, wenn ihr noch menschen sein wollt: strick oder knarre.“13 Wenn ihr Menschen sein wollt – Mensch ist nur, wer unmenschlich handelt, das ist die Botschaft, die die RAF mit Bezug auf Brecht – „umarme den Schlächter“ – aus dem Gefängnis propagiert. Anders wäre nicht zu rechtfertigen, was sie getan hat, wäre auch ihre hoffnungslose Lage nicht zu rechtfertigen. Zwar keine Revolution, aber doch einen massenwirksamen Erfolg erreicht die RAF durch das gelebte Opfer ihrer Mitglieder. Denn die Welt ist ab jetzt nur noch manichäisch zu begreifen: drinnen oder draußen, RAF oder Staat, Mensch oder Schwein, tertium non dabitur. Zuletzt hatte Meins noch geschrieben: „Menschen, die sich weigern, den Kampf zu beenden – sie gewinnen entweder oder sie sterben, anstatt zu verlieren und zu sterben.“14 Das klingt fast schon nach Hemingway, und in dieser Brüderschaft war es dann nur konsequent, dass ihm Rudi Dutschke am offenen Grab und mit erhobener Faust gelobte: „Holger, der Kampf geht weiter!“ Der Kampf ging weiter, er hatte gerade erst begonnen. Der Anwalt und Schriftsteller Peter O. Chotjewitz besuchte den Häftling Baader 1974 in Ziegenhain. „Ihr sitzt im Knast“, fragte er den Gefangenen. „Ist das schon die Niederlage?“ und fragte nicht, ob das nicht schon das Ende sei. Baader ist anderer Meinung. Er ist erschöpft und dünn vom Durststreik, der doch wohl Holger Meins bereits das Leben gekostet hatte, aber selbstverständlich ungeschlagen: „Der Kampf hat erst angefangen.“15 Der Kampf ging weiter, nur anders: härter, todessüchtiger, und es war wichtig, dass Stellver-

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treter ihn führten, gelenkt natürlich durch die Märtyrer „in den Knästen“ oder wenigstens durch ihr Leid. Der Revolutionär muss Revolution machen, und wenn er auch im Gefängnis Revolutionär bleibt (und nicht abfällt wie der feige Grashof), wendet er die revolutionäre Gewalt gegen sich. Das ist erst die wahre Abtötung des Fleisches. Meins war für alle sichtbar gestorben, und deshalb überlebte die RAF ein weiteres Mal. Die Abtötung des Einzelnen, des Selbst, des Individuums, zeigt sich beispielhaft am weiteren Schicksal Ulrike Meinhofs. Im Trakt, den sie „Todestrakt“ nennt und mit Buchenwald vergleicht, mit Auschwitz und sich selber mit den verfolgten Juden, spricht sie vom „versuch, einen selbstmord zu erpressen“.16 Es ist aber weder der Staat noch das Gefängnis, es ist der Gruppendruck, es ist die Ideologie, es ist das, was der Kontrollchor gefordert hat. Sie präpariert sich für das Tribunal, vor dem sie sich empfindet, und folgerichtig exekutiert sie das Urteil dann selber. Davor wird Selbstkritik fällig, ein katholisch-kommunistischer, ein brechtischer Bußakt, wie ihn die „dritte Sache“ verlangt, die hier Volkskrieg, Stadtguerilla oder eben Rote Armee heißt. War ihr Kommentar zum Massaker von München schon unerträglich, ist die folgende Selbstkritik, die nach ihrem Tod auftauchte, womöglich noch widerwärtiger, weil der Text beweist, wie weit sich die Brecht-Schülerin mit der Logik der Maßnahme eingelassen hatte: „eine scheinheilige sau aus der herrschenden klasse“ nennt sie sich und hält das für Selbsterkenntnis. Das „Traktpapier“, jener berühmte Text aus der Isolation in der weißen Zelle in Köln, fällt ebenfalls der Geißelungssucht der Nonne, die keine mehr sein will, zum Opfer: „es ist wirklich nur dreck“, schimpft sie, „in der identifikation mit schriftstellern und intellektuellen, die dadrin zum ausdruck kommt“, und beginnt zu rasen gegen ihr altes Ich, das sie aufgegeben hat und das anscheinend doch ständig aufs Neue niedergerungen werden muss. Jetzt endlich hat sie ihre wahre Lage erkannt: Sie ist eine Verräterin, sie hat die Gruppe verraten, da sie sich ihr nicht vollständig unterworfen hat. Hören wir noch einmal hinein, nur um eine Ahnung davon zu bekommen, welche Niedrigkeit, welche Erniedrigung die Logik der Maßnahme möglich macht: „scheinheilig ist das richtige wort. weil das eben schon immer, von anfang an, soweit ich überhaupt nur zurückdenken kann – familie, sozialisation, religion, kp, mein job bei konkret – genau das wollte ich nat. nicht bleiben, ein schwätzer, als ich zur raf ging, ich bin es aber geblieben, bis jetzt [...] ich dachte dann, ihr müßtet mich doch kritisieren. im trakt hatte ich auch ne zeitlang gedacht, daß das eigentlich klar sein müßte,

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„Hier spricht der deutsche Idealismus“

daß die niederlage 72 hauptsächlich durch meine scheiße kam. aber das war nat. – so – auch nur der umgedrehte größenwahn. aber in der erwartung, kritisiert zu werden, steckte die kapitulation vor der schwäche, es nicht selbst zu bringen – wollte geführt werden. eine nonne, weil dadrin – immer, bei mir: religiöser wahn.“17 Wahn trifft es, nur dass sie diesmal auch ihre Vorgeschichte diskreditiert, ihren Erkenntnisprozess und sogar den Gang in den Untergrund, auf den sie am Anfang so stolz war, nur mehr als Großen Verrat verstehen kann, weil sie es am letzten Einsatz hat fehlen lassen. Folgerichtig exekutiert sie das Urteil selber – „wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?“ Am 8. Mai 1976 erhängt sich der pflichtbewusste kommunistische Kader, die junge Genossin Ulrike Meinhof. Anderthalb Jahre später, nachdem der Versuch der zweiten Generation gescheitert ist, die Gründer der RAF aus dem Stammheimer Gefängnis freizupressen, bringen sich auch Baader, Ensslin und Raspe um. Wieder soll der Tod nicht vergeblich gewesen sein. Diese, in den Worten der Meinhof-Nachfolgerin Brigitte Mohnhaupt: suicide action, von einigen versprengten Fans bis heute als staatlicher Mord verstanden, wird der weiteren Mobilisierung dienen und helfen, das „Projekt RAF“ noch bis ins Jahr 1998 fortzuschleppen. Erich Fried ließ sich nach dem Tod Ulrike Meinhofs zu einem furchtbar schlechten Gedicht hinreißen. Er sprach den Mehrwert des Selbstmords an. Danach war die Genossin nicht der Parteiraison geopfert worden, es war der Staat, der sie hingerichtet hatte: Wie hätte Brecht das zu zeigen versucht, wenn da Eine gestorben wäre? Wie die Justiz dann den Fall untersucht Und alles sicherstellt, alles verbucht, dass nichts die Ermittlung erschwere, denn Genauigkeit ist ihre Ehre.18 Brecht also wieder und damit noch einmal zurück zum echten Brecht. „Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde“, sagt er 1934 zu Walter Benjamin. Da ist die Maßnahme mehrfach aufgeführt worden, sie ist von den Nazis verboten worden, Brecht musste aus Deutschland fliehen, „öfter als die Schuhe die Länder wechselnd“, inzwischen ist er in Svendborg angekommen. Er weiß nicht, dass er ein gutes Jahrzehnt später tatsächlich vor einem Tribunal stehen würde, dass er nach Washington geladen würde, um sich vor dem Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten zu rechtfertigen, dem er als Verfasser revolutionärer Schriften gilt,

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Willi Winkler

ein Umstürzler. Auf Benjamins Frage, ob ihm ganz ernst sei mit diesem Tribunal, antwortet er: „Ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als dass es mir ganz ernst sein könnte.“ 19 Den Genossen von der RAF war es leider tödlich ernst.

1

Klaus Rainer Röhl: Fünf Finger sind keine Faust. Eine Abrechnung. München 1998 [zuerst 1974]. S. 79.

2

Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Frankfurt a. M. 1972.

3

Gespräch mit Horst Mahler am 11. Januar 1997 in Berlin.

4

Ebd.

5

Archiv Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS), RA 02/013,007.

6

Ulrike Meinhof: „Die Aktion des ,Schwarzen September‘ in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes“. Zitiert nach: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Berlin 1997, S. 173.

7

HIS, Kassiber, handschriftlich datiert auf 1976.

8

Walter Benjamin: „Einbahnstraße“. Zitiert nach: Ders., Gesammelte Schriften. Band IV.1 Werkausgabe Band 10. Herausgegeben von Tillman Rexroth. Frankfurt a. M. 1980, S. 109. Zuerst erschienen: Berlin 1928.

9

Régis Debray, zitiert nach: Peter Brückner, „Debray und andere. Drei Versuche über die Ratlosigkeit“, in: Kursbuch 25 (1971), S. 151.

10 Zitiert nach: https://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/RAF/brd+raf/018.html 11 „Entweder Mensch oder Schwein“. Der letzte Brief von Holger Meins. Zitiert nach: Der Spiegel 47/1974, 18. November 1974. 12 Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979. Herausgegeben von Gretchen Dutschke. Köln 2003, S. 223. 13 Selbstkritik Ulrike Meinhofs, im Ordner datiert auf den 13. August 1974. Me, U/008,002, HIS. 14 „Entweder Mensch oder Schwein“. Der letzte Brief von Holger Meins. Zitiert nach: Der Spiegel 47/1974, 18. November 1974. 15 Peter O. Chotjewitz: „Nicht versöhnt“, in: stern.de, 24. November 2003. 16 Me, U/008,002, HIS. 17 Me, U/008,001, HIS. 18 Erich Fried: „Klage über das Fehlen des Stückeschreibers Bertolt Brecht“. Zitiert nach Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen. München 2014, S. 418. 19 Zitiert nach: Walter Benjamin, Versuche über Brecht. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1975, S. 118.

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„DIE PARTEI HAT TAUSEND AUGEN“ Das Lehrstück und die politische Religion. Helmuth Kiesel über Die Maßnahme im Spannungsfeld zwischen liturgischen und totalitären Strukturen

Vortrag am 6. Mai 2017 Die Einladung, über die Perser des Aischylos und Bertolt Brechts Maßnahme gleichsam in einem Atemzug zu sprechen, wirkte zunächst nicht nur überraschend, sondern befremdlich. Auf den ersten Blick sind es zwei hochgradig unterschiedliche Stücke: unterschiedlich die Kulturstufen, aus denen sie stammen; unterschiedlich die Inhalte und Sprechweisen; unterschiedlich die Genres: das eine eine Tragödie, die den Charakter eines Trauerspiels annimmt; das andere ein modernes politisches „Lehrstück“ härtester Art. Aber je länger ich über die beiden Stücke nachdachte, desto reizvoller wurde mir der Gedanke einer vergleichenden Betrachtung eben unter den Kategorien „Lehrstück“ und „Trauerspiel“. Brecht meinte mit dem Begriff „Lehrstück“, den er um 1930 einführte,1 zunächst einmal ein Stück, das den Mitwirkenden Gelegenheit bieten sollte, durch die theatralische Umsetzung der dichterischen Vorlage etwas zu lernen. An der Berliner Uraufführung der Maßnahme im Dezember 1930 waren neben vier Akteuren etwa vierhundert Mitglieder von Berliner Arbeiterchören beteiligt; sie bildeten einen fragenden, kommentierenden und schließlich urteilenden „Kontrollchor“. Zudem wurde das Publikum mit einbezogen. Über Fragebögen2 konnte es Stellung nehmen, und die Auswertung der Fragebögen führte zu Modifikationen in dem Stück, das nicht zuletzt deswegen in mehreren Fassungen vorliegt. Sie sind das Dokument eines Versuchs, im Theater gemeinsam zu lernen. Der Zweck des Ganzen wurde vermutlich von Brecht selbst auf einem Programmzettel für die Uraufführung knapp und unmißverständlich benannt. Die abschließenden Sätze lauten: Der Zweck des Lehrstückes ist es also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren. Zur Diskussion soll durch diese Aufführung gestellt werden, ob eine solche Veranstaltung politischen Lehrwert hat.3 Gelehrt und gelernt wird also auf zwei Ebenen, die zwar miteinander kommunizieren, aber auch getrennt betrachtet werden können. Auf der einen

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Ebene geht es um politische Verhaltensnormen, die zu entwickeln und zu vermitteln sind, auf der anderen um die Eignung des Stücks und der Aufführung für diesen Zweck. Läßt man die Einengung auf das Politische weg, kann man wohl sagen, daß jedes seriöse Theater Lehrtheater ist: Dichter schreiben Stücke und Theaterleute bringen sie auf die Bühne, weil sie uns zeigen wollen, und wir sehen uns diese Aufführungen an, weil wir sehen wollen, wie wir Menschen beschaffen sind und wie es unter uns zugehen kann, zumal unter extremen Bedingungen, in katastrophalen Situationen und Ausnahmezuständen, in denen die Härte des Lebens die Natur des Menschen herausfordert und seine Sittlichkeit auf die Probe stellt. Was Brecht und Eisler mit der Maßnahme zwecks gemeinsamer Reflexion vor Augen führen wollten, wird im Programmzettel der Uraufführung prägnant beschrieben: Vier kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt durch den Massenchor. Sie haben in China kommunistische Propaganda getrieben und dabei ihren jüngsten Genossen erschießen müssen. Um nun dem Gericht die Notwendigkeit dieser Maßnahme der Erschießung eines Genossen zu beweisen, zeigen sie, wie sich der junge Genosse in den verschiedenen politischen Situationen verhalten hat. Sie zeigen, daß der junge Genosse gefühlsmäßig ein Revolutionär war, aber nicht genügend Disziplin hielt und zuwenig seinen Verstand sprechen ließ, so daß er, ohne es zu wollen, zu einer schweren Gefahr für die Bewegung wurde.4 Das wird in neun Handlungsbildern oder, etwas vereinfacht, in drei Abschnitten vorgeführt. Der erste Abschnitt umfaßt die Konditionierung zum Agitator: Ein junger Kommunist wird auf die „Lehren der [kommunistischen] Klassiker“ eingeschworen und damit zugleich einer Art Gehirnwäsche unterzogen, die ihn zum „leeren Blatt“ macht, also von allen ethischen Prädisponierungen etwa humanistisch-bürgerlicher Art reinigt. Damit gewinnt er die Freiheit, im Kampf für den Kommunismus das Nötige unter allen Umständen und ohne jede Rücksicht auf Tugenden wie Menschlichkeit, Treue und Aufrichtigkeit zu tun. Das Chorlied des fünften Bildes steht unter der Überschrift „Ändere die Welt, sie braucht es“ und lautet: Mit wem säße der Rechtliche nicht zusammen Dem recht zu helfen? Welche Medizin schmeckte zu schlecht Dem Sterbenden?

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„Die Partei hat tausend Augen“

Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um Die Niedrigkeit auszutilgen? Könntest du die Welt endlich verändern, wofür Wärest du dir zu gut? Versinke in Schmutz Umarme den Schlächter, aber Ändere die Welt: sie braucht es! Aber nicht nur alle traditionellen Tugenden soll der Agitator im Dienst der revolutionären kommunistischen Weltveränderung verraten; auch alle Selbstachtung muß er preisgeben. Auf die eben zitierten Verse folgen in der Versuche-Fassung von 1930 fünf weitere Verse, die Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung über den Tod hinaus verlangen und nichts weniger als „Kadavergehorsam“5 erniedrigendster Art beschreiben: Wer bist du? Stinkend verschwinde aus Dem gesäuberten Raum! Wärest du Doch der letzte Schmutz, den du Entfernen mußt!6 Der zweite Abschnitt offenbart aber, daß die Konditionierung nicht durchschlagend war: Der junge Genosse folgt in drei Fällen nicht den Vorgaben der Partei, die darauf angelegt sind, die Massen durch die Verschärfung ihres Elends zur Revolution zu drängen; stattdessen hält er sich an die ihm anerzogenen ethischen Normen – Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Rechtlichkeit – und gefährdet damit das Leben der Agitatoren und den Erfolg ihrer revolutionsvorbereitenden Arbeit. Damit diese untertauchen und dann weiterarbeiten können, muß der junge Genosse – dritter Teil – erschossen und in eine Kalkgrube geworfen werden, sodaß keine Spur von ihm übrig bleibt. Die Revolution hat absolute Priorität und verlangt auch die Tötung eines Genossen. Das geschieht freilich nicht hinterrücks auf meuchelmörderische Weise wie bei den rechtsradikalen Fememorden der zwanziger Jahre; vielmehr wird der junge Genosse über die aussichtslos scheinende Lage informiert und um sein Einverständnis gebeten, obwohl für die andern feststeht, daß er „ganz und gar verschwinden muß, auch wenn er nicht einverstanden ist“.7 Aber die kommunistische Schulung und Vergatterung war nicht vergebens: Der junge Genosse stimmt seiner Tötung und restlosen Vernichtung klaglos zu, weil er weiß, was er der Revolution schuldig ist. Die kommunistische Publizistin Ruth Fischer, die Schwester des Komponisten Hanns Eisler, sah später Analogien zu den Moskauer Prozessen

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Helmuth Kiesel

mit ihren gefügigen Selbstbezichtigungen und Einverständniserklärungen und interpretierte die Maßnahme 1948 als deren „Vorwegnahme“.8 Der junge Genosse wird dann, von den andern kameradschaftlich gestützt, erschossen und in eine Kalkgrube geworfen. Der Fortgang der Agitation wird nicht gezeigt, aber der Kontrollchor läßt wissen, daß die Revolution in China „marschiert“, und zeigt sich „einverstanden“9 mit der „Maßnahme der Erschießung eines Genossen“. Daß damit gegen jenen kategorischen Imperativ verstoßen wird, der besagt, daß man einen Menschen nie als bloßes Mittel betrachten und einsetzen dürfe, und daß zugleich auch gegen die elementare Kameradschaftsregel verstoßen wird, die besagt, daß man einen Kameraden unter allen Umständen zu retten, aber nicht zu töten hat – all das spielt in den Überlegungen der Agitatoren und in der Urteilsbildung des Parteigerichts keine Rolle. Dieser ungeheuerliche und erschütternde Vorgang wird im Stil des epischen Theaters vorgeführt: Die Handlung wird erzählerisch eingeleitet, durch Fragen und reflektorische Einlassungen des Chors sowie kommentierende Hinweise der Akteure unterbrochen und neu begründet. Die offensichtlich schwer hinnehmbare „Maßnahme der Erschießung eines Genossen“ wird auf diese Weise mehrfach in Frage gestellt, zugleich aber Schritt für Schritt gegen Kritik abgesichert: Es gab keine Alternative, wenn die Revolution auf den Weg gebracht werden sollte, und die Arbeit war erfolgreich! Nicht die drei anderen Agitatoren sprachen dem jungen Genossen „sein Urteil, sondern die Wirklichkeit“!10 Es wird zwar diskutiert, aber eigentlich nur pro forma, weil ohnehin klar ist, was zu geschehen hat und wie das Geschehene zu beurteilen ist. Das epische Theater, das zum kritischen Beobachten und Denken statt zum Ein- und Mitfühlen anregen sollte,11 geriet mit der Maßnahme in die Gefahr, zum planen Lehr- oder Überzeugungstheater zu werden, das seine Glaubenssätze – die „Lehren der Klassiker“, das „Lob der U.S.S.R.“, das „Lob der Partei“ – in formelhafter Verdichtung zur Sprache bringt, durch eine zwingend wirkende Handlung exemplifiziert und durch eine suggestive, teils agitatorische, teils triumphale Musik wirkungsvoll unterstreicht. Brechts episches Theater, schrieb Alfred Polgar 1932 nach der Uraufführung der Mutter, „vermittelt dem Zuschauer Kenntnis und Erkenntnis auf kaltem Wege, nicht ohne ihm durch Klavier, Trompete, Posaune und Schlagwerk einzuheizen“.12 Die Maßnahme ist mit dem Etikett „episches Theater“ ja auch nur ganz unzureichend charakterisiert. Typenhafte Figuren, formelhafte Sprache, modellhaft profilierte Handlung, musikalische Untermalung von Geschehen und Dialogen sowie agitatorische Choreinlagen veranlaßten mehrere Rezensenten dazu, das Stück als „Oratorium“ zu bezeichnen.13 In den

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„Die Partei hat tausend Augen“

von Brecht, Dudow und Eisler verfaßten Anmerkungen zur Maßnahme heißt es überdies, die Musik zum zweiten Bild („Auslöschung“) stelle „einen Versuch dar, eine gesellschaftliche Umfunktionierung [des jungen Genossen] als heroischen Brauch zu konstituieren“, und lasse den Vorgang „rituell“ wirken.14 Mit all dem erhielt die Maßnahme einen ästhetischen Charakter, der einen der Rezensenten, den Musikwissenschaftler Hans Heinz Stuckenschmidt, an die Vorstellungen von Kunst erinnerte, die kurz vor der Uraufführung der Maßnahme und andernorts Joseph Goebbels entwickelt hatte.15 Andere Rezensenten gingen einen Schritt weiter und attestierten der Maßnahme, deren Problemlösung mehrfach als unmarxistisch bezeichnet wurde,16 eine Affinität zum nationalsozialistischen Denken.17 Das geht an Brechts und Eislers Gesinnung bekanntlich ganz und gar vorbei, wird aber verständlich, wenn man die Maßnahme im Sinne der vergleichenden Totalitarismusforschung betrachtet, die schon Ende der zwanziger Jahre aufkam und deren Berechtigung Brecht selbst mit zwei Journaleinträgen vom 27. Oktober 1941 und vom 19. Juli 1943 bestätigt hat. Dann zeigen sich nämlich einige Parallelen, etwa in der Tendenz, Menschen für bestimmte Zwecke zu opfern; in der Bereitschaft zu töten; in der Verabsolutierung der je eigenen Ziele und Prinzipien; in der restlosen Unterwerfung des Individuums unter die Doktrin und die Führung; in der Verwendung ritueller oder liturgischer Mittel und bekenntnishafter Formeln zur Konditionierung der Anhängerschaft. Die Affinität wird noch deutlicher, wenn man einen Blick auf die nationalsozialistischen „Spiele“ wirft, die in den Jahren um 1933 entstanden.18 Auch in ihnen werden in modellhafter Profilierung Situationen der Not, Entscheidung und Bewährung vor Augen geführt, werden in spruchartiger Form Bekenntnisse abgelegt und Losungen ausgegeben, wird Gericht gehalten und werden Urteile gesprochen. Keines dieser Stücke erreicht auch nur annäherungsweise die ästhetische Qualität der Maßnahme; aber wie diese sind sie Realisationen eines epochenspezifischen Typus von Theater, der Formen des expressionistischen und des neoklassizistischen Dramas sowie der Arbeitersprechchorbewegung verbindet. Zugleich erinnert dieser Typus, wie der Rezensent der Linkskurve, Otto Biha, anmerkte, auch an die „Tragödien des Äschylos“, „in denen mit Hilfe von großen Chören in Wechselwirkung von Spiel und Gesang die überpersönlichen Schicksale der Götter und Helden dargestellt wurden“.19 Ob man die Maßnahme tatsächlich als totalitäres Theater bewerten kann und soll, ist eine schwer lösbare Frage. Dafür sprechen das Fehlen von Distanzierungssignalen sowie der rituelle oder liturgische Charakter, der auf Vereinnahmung und Zustimmung zielt. Dagegen sprechen – nach Meinung

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Helmuth Kiesel

apologetischer Exegeten – einige Momente, die die Maßnahme als eine Art von Passionsspiel erscheinen lassen: die imitatio Christi im Ende des jungen Genossen, der für das Heil der Welt geopfert wird; die Anklänge an die Passionsgeschichte in den Titeln für die Bilder 7 („Verrat“) und 8 („Grablegung“); die Anklänge an Bachs Matthäus-Passion gleich im Präludium (Takte 71–75); nicht zuletzt auch der Umstand, daß der Bericht der erfolgreich zurückgekehrten Agitatoren nicht etwa von Stolz, sondern eher von Trauer getragen ist. Aber ausdrücklich thematisiert wird Trauer nicht, und die wenigen Takte der Passionsmusik, die kaum dreißig Sekunden dauern, nur für Kenner wahrnehmbar sind und in Manfred Grabs Analyse der Musik keine Rolle spielen,20 werden von Hunderten von Takten übertönt, in denen auch noch im dritten Abschnitt die unerbittlichen „Lehren der Klassiker“ und das „Lob der Partei“ dem Publikum oft in vierfachem Forte eingehämmert werden. Faßt man nun die Perser ins Auge und fragt, inwiefern sie als ,Lehrstück‘ (wenn auch nicht im engeren Brecht’schen Sinn) betrachtet werden können, so sind vor allem wohl drei Momente zu nennen. Die Perser sind erstens eine Warnung vor verderblichem Ehrgeiz der Herrschenden: Xerxes will Dareios übertreffen, was zu dem desaströsen Feldzug gegen die Griechen führt. Sie geben zweitens einen eindringlichen Hinweis auf die letztliche Unkalkulierbarkeit von politischen und militärischen Großunternehmungen: Xerxes dringt mit einer großen Flotte und einem mächtigen Landheer bis nach Griechenland vor, was eine gewaltige logistische Leistung darstellt; aber ein dämonisches Schicksal und die List der gegnerischen Strategen machen alles zunichte. Die Perser enthalten drittens einen Hinweis auf die Schwäche der monarchischen Herrschaft und die Überlegenheit der freiheitlich organisierten Völker: Die Perser kämpfen, weil ihr vermessener König es will – und gehen zugrunde. Die Griechen hingegen kämpfen, um ihre Freiheit zu bewahren – und tragen den Sieg davon. Im Traum der Königsmutter wird die Überlegenheit des griechischen Freiheitsbegehrens bestätigt. Das alles steht im Kontrast zur marxistischen Siegesgewißheit der Maßnahme und zugleich zu ihrem bolschewistischen Prinzip der restlosen Verfügung über die Menschen. Unter diesen Umständen werden die Perser zu einem dezidierten und durchgängigen Trauerspiel. Von Anfang an dominieren Angst, Besorgnis und Klage: Denn alles, was wehrhaft ist und in Rüstung, Die auf dem Streitroß und die zu Fuß, Hat nun die Stadt verlassen, […] Tauschend den einen Kontinent mit dem andern.

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„Die Partei hat tausend Augen“

Von Tränen durchtränkt ist das Bettzeug Vor Sehnsucht nach dem Ehemann oder Sohn […] Und jetzt klopft uns das Herz im Brustkorb wie wild Aus Angst, was vom persischen Heer Die Stadt demnächst hören muß! Das persische Landheer kann siegreich bis nach Athen vordringen, dann aber gewinnen die Griechen die Seeschlacht bei Salamis und fügen den Persern Verluste zu, die nicht wieder auszugleichen sind. Ein Bote berichtet in der persischen Hauptstadt Susa davon mit einer langen Liste von Namen und Zahlen: „Arternbares jedoch, Kommandeur über zehntausend Reiter, zerschellte / Vor Sileniai an den Klippen […].“ Die Reaktion auf die Schreckensnachricht beschreibt der Chor: O Zeus, großer König, jetzt, da das Heer Der völkerreichen, starrsinnigen Perser vernichtet liegt, Hast du in schwarze Trauer gehüllt Susa, die Stadt, und Agbatana! Viele der Frauen, vom Schmerz gepackt, Zerreißen den Schleier mit zarter Hand. Tränen Durchnässen das Kleid, das die Brüste bedeckt. Persische Gattinnen klagen mit heller Stimme Vor Sehnsucht um ihren Frischvermählten. Brach liegt das Ehebett mit den weichen Decken. Eben erst hatten die Jungen dort ihren Spaß, Jetzt weinen sie bitterlich, und kein Trost ist da. Auch ich kann, untröstlich, nur jammern Um das Los der Verschollenen dort. Auch Xerxes wird vom Schmerz überwältigt und kann nur noch zur Trauer aufrufen: „Trauert! Trauert um sie, die auf den Schiffen / Dreirudrig zum Meeresgrund fuhren.“ Das steht nun aber nicht etwa in einem persischen Stück, sondern in einem griechischen, und es wird letztlich nicht einem persischen, sondern einem griechischen Publikum zugerufen, so, als sollten auch die Griechen um die toten Feinde trauern, anstatt sich über den Sieg über sie zu freuen. Aber offensichtlich wollte Aischylos den Untergang der unüberwindbar scheinenden persischen Streitmacht, der im Jahr der Uraufführung der Perser erst acht Jahre zurücklag, nicht aus national-griechischer, sondern aus geschichtsphilosophischer und religiöser Sicht betrachtet haben. Indem sein Stück die Trauer der Feinde vergegenwärtigt und die Traueraufrufe

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Helmuth Kiesel

ihres schrecklich belehrten Königs wiederholt, ruft es die Sieger zu Mitgefühl auf und hält sie zu Trauer an. Diese gilt nicht nur den Zehntausenden, die durch den Ehrgeiz eines Monarchen in den Tod getrieben wurden; sie gilt – als eine Art geschichtsphilosophischer Trauer – den geschichtlichen Katastrophen, die aus vermessenen und nicht sicher kalkulierbaren geschichtlichen Großunternehmungen resultieren. Von solcher Trauer ist die Maßnahme weit entfernt. Der „Kontrollchor“ läßt am Ende wissen, daß die Revolution in China „marschiert“ und daß er mit der Liquidierung des jungen Genossen, der ihre Einleitung durch seine Disziplinlosigkeit gefährdete, einverstanden ist. Die Musik des Schlußteils greift das Material des Präludiums auf und drückt wie dieses „erhabene Größe und eherne Festigkeit“ aus.21 Daß der Kommunismus zeitgenössischer Art ein verfehltes geschichtliches Großunternehmen mit katastrophalen Folgen sein könnte, liegt außerhalb des Denkhorizonts. Statt Skepsis gegenüber der Ausbreitung der Revolution oder gar Trauer um ihre Opfer herrscht reine Heilsgewißheit, und das Glück der Menschheit, das aus der kommunistischen Veränderung der Welt hervorgehen wird, läßt über die Opfer der revolutionären Anstrengungen und Kämpfe hinwegsehen. Sie sind das anonymisierte Menschenmaterial, das der Siegeszug des Kommunismus braucht. Trauer um den jungen Genossen ist deswegen – und nicht etwa, weil er ein Versager war – unangebracht. Vielleicht schwingt Trauer in der Überschrift „Grablegung“ und in einigen Takten der Musik mit; ausdrücklich artikuliert wird sie nicht. Anzumerken bleibt, daß Brecht die Aufführung der Maßnahme in den fünfziger Jahren im Einverständnis mit Eisler untersagt hat. Zur Begründung schrieb Brecht einmal: „Aufführungen vor Publikum rufen erfahrungsgemäß nichts als moralische Affekte für gewöhnlich minderer Art beim Publikum hervor.“22 Auch Elisabeth Hauptmann, Brechts engste Mitarbeiterin, beteuerte, Brecht habe „natürlich keine Einwände gegen das Stück“ gehabt, sondern damals nur „die Mißdeutungen bei Inszenierungen und Aufführungskritik“ für „schädlich“ gehalten.23 Soll heißen: Nicht das Stück zeigte etwas Verkehrtes oder zumindest Fragwürdiges, sondern Regisseure, Publikum und Kritik waren ihm nicht gewachsen. Das Aufführungsverbot wurde 1998 von Brechts Erben aufgehoben, und seitdem wird das Stück gelegentlich wieder gegeben. Zu Recht! Es ist, indem es die „Maßnahme der Erschießung eines Genossen“ zur Diskussion stellt, trotz des Einverständnisses, das verkündet wird, kein zweifelsfreies Propagandastück, sondern eine künstlerisch großartige wie intrikate, mitreißende und erschütternde, abstoßende und faszinierende Vorlage für die Urteilsbildung. Das dichte Zusammenspiel von ideologischer Härte, gedanklicher Konsequenz, sprachlicher Eindringlichkeit und musikali-

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„Die Partei hat tausend Augen“

scher Suggestivität machen die Maßnahme zur Herausforderung für die politische, ethische und ästhetische Urteilskraft.

1

Die folgenden Ausführungen beruhen auf dem reichen Material der „Kritischen Ausgabe“ der Maßnahme, die Reiner Steinweg 1972 im Suhrkamp-Verlag vorgelegt hat (edition suhrkamp 415) sowie auf der einschlägigen Forschungsliteratur und auf Klaus-Dieter Krabiels Maßnahme-Artikel in dem von Jan Knopf 2001 im Metzler-Verlag herausgegebenen Brecht-Handbuch (Band 1: Stücke).

2

Reiner Steinweg: Kritische Ausgabe, S. 236 f.

3

Ebd., S. 236; ähnlich S. 343.

4

Ebd., S. 236.

5

So schon der schweizerische Historiker und Publizist Herbert Lüthy 1952: ebd., S. 418.

6

Ebd., S. 54 f.

7

Ebd., S. 95.

8

Ebd., S. 416.

9

Ebd., S. 96.

10 Ebd., S. 94. 11 Siehe dazu Brechts Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ vom Herbst 1930 und Kritische Ausgabe, S. 251: „für die spielweise gelten die anweisungen des epischen theaters“ (Brecht). 12 Alfred Polgar: Kleine Schriften. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Band 5: Theater I. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1985, S. 535. 13 Ebd., S. 324, 329, 338, 362,367 und 374. 14 Ebd., S. 240 f. 15 Ebd., S. 325. 16 Ebd., S. 336, 342, 355 und 381 ff. 17 Ebd., S. 334 und 401. 18 Vgl. dazu Helmuth Kiesel: Die Maßnahme im Licht der Totalitarismustheorie. In: Maßnehmen: Bertolt Brecht/Hanns Eislers Lehrstück „Die Maßnahme“. Kontroverse, Perspektive, Praxis. Hrsg. von Inge Gellert, Gerd Koch, Florian Vaßen. Berlin: Theater der Zeit, 1999, S. 83–100, und ders.: Brecht und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie: ein zweites Mal. In: Totalitarismus und Literatur. Hrsg. von Hans Jörg Schmidt und Petra Tallafuss. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 77-89. 19 Kritische Ausgabe, S. 356. 20 Ebd., S. 216 f. 21 Ebd., S. 216 und 232. 22 Ebd., S. 258. 23 Ebd., S. 271.

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„SCHLACHTEN OHNE SIEGER“ Enrico Lübbe inszeniert Die Maßnahme und Die Perser am Schauspiel Leipzig

Irene Bazinger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. April 2017 Die Partei, heißt es im Liede, hat immer recht, und das ist geradezu ein geflügeltes Wort geworden. Aber wer ist eigentlich die Partei? „Du und ich und ihr – wir alle. In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf“, heißt es bei Bertolt Brecht in seinem Lehrstück Die Maßnahme, zu dem Hanns Eisler die Musik geschrieben hat, samt dem Lob der Partei mit Pauken und Trompeten. Was aber, wenn dieses „Du“ oder „Ich“ irgendwann nicht mehr mit der Partei übereinstimmt oder die Partei nicht mehr mit dem „Du“ oder „Ich“? Das kann den Abweichler das Leben kosten. So wie in der Maßnahme: Vier russische Agitatoren beginnen mit Unterstützung eines jungen Genossen ihre „illegale Arbeit“ in China, um die proletarischen Massen zu befreien. Weil der Genosse jedoch in Krisensituationen stets von der Parteilinie abweicht und dadurch ihre geheime Revolutionsmission gefährdet, bringen sie ihn um. Diese Geschichte tragen sie, indem sie seine Fehlentscheidungen vorspielen, einem Kontrollchor zur Beurteilung vor – der ihr Verhalten natürlich vollständig billigt. Denn wer für den Kommunismus kämpfe, singen sie, habe nur eine Tugend: dass er, ungeachtet von Moral, Gesetz oder Gefühl, für den Kommunismus kämpft. Die Uraufführung fand 1930 in Berlin statt. Unter dem Eindruck der stalinistischen Schauprozesse hatte Brecht sein Lehrstück dann lange gesperrt, es wurde erst 1997 wieder am Berliner Ensemble gezeigt. Im Schauspiel Leipzig schlägt der Intendant und Regisseur Enrico Lübbe nun an einem zweistündigen Doppelabend einen Bogen von Die Maßnahme – quasi einem Endpunkt der Dramatik – zu Die Perser von Aischylos, dem ältesten bekannten, vollständig erhaltenen Theaterstück, 472 vor Christus in Athen uraufgeführt – als Nullpunkt der Dramatik. Das ist konsequent und differenziert gedacht, schließlich heben sich in ersterem Werk die konträren Argumente gegenseitig auf, energetisch gibt es keinerlei Bewegung mehr, thematisch zählt der einzelne Mensch nichts, während bei Aischylos nach der Niederlage der Perser im Krieg gegen die Griechen alles in Bewegung gerät und der einzelne Mensch, die hingeschlachtete „Blüte Persiens“ beklagt wird. Es handelt sich bei diesem spektakulären Programm um eine Koproduktion des Schauspiels Leipzig mit den

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„Schlachten ohne Sieger“

Ruhrfestspielen Recklinghausen in Kooperation mit dem Gewandhaus zu Leipzig. Von dort nämlich kommen die Musiker, die der Maßnahme mit Hanns Eislers Kompositionen unter der souveränen Leitung von Marcus Crome die ideologisch-rhythmischen Beine machen. Bläser, Schlagzeuger und ein Pianist sind im ersten Rang zusammen mit dem vielstimmigen, gern fugierenden Kontrollchor untergebracht und erfüllen den riesigen Saal von oben mit eisig klirrender, schroff gesetzter Sphärendogmatik. Auf der Bühne stehen ihnen vor einer Wand mit verwaschen grauem Rastermuster die vier völlig anonymisierten Agitatoren gegenüber. Alle tragen blonde Perücken, helle Gesichtsmasken und Handschuhe, rote Jacketts, schwarze Schlipse, blaue Hosen (Kostüme: Bianca Deigner) und agieren wie ferngesteuerte Roboter. Anna Keil, Thomas Braungardt, Tilo Krügel und Dirk Lange wechseln sich in der Rolle des jungen Genossen ab – jeder könnte das austauschbare Opfer sein. Manchmal stoßen andere zu ihnen, die genauso aussehen wie diese Klone ohne Namen und Gesicht. Ihre Schritte, Gesten, Fingerzeige sind in der Choreographie von Stefan Haufe streng wie beredt formalisiert, tragen weder eine persönliche Note noch eine individuelle Prägung. Wenn die Videoprojektionen von „fettFilm“ immer wieder das Bühnenbild von Etienne Pluss überlagern, die Flächen auflösen und die Konturen verrücken, erhält das Geschehen zusätzlich eine unheimliche Dimension. Am Schluss schieben die Agitatoren die Mauer gemeinsam nach hinten, wo sie umfällt und dichten Nebel aufwirbelt, aus dem eine Frau in hellem Kleidchen auf hölzernen Kothurnen auftaucht. Hannelore Schubert als Chorführerin erzählt vom Krieg, zu dem die Perser ausgezogen sind, und fragen sich, warum kein Sendbote von Erfolgen kündet. Der halbnackte, gefesselte Bote, der dann über die umgestürzte Wand nach vorne taumelt, bringt freilich keine frohe Botschaft. Mit vor Erschütterung fast tonloser Stimme muss er stattdessen vom schlimmsten Gemetzel seit Menschengedenken berichten, in dem die persische Armee bei Salamis vernichtet wurde. Felix Axel Preißler wird später auch als König Xerxes auftreten, der für diese Niederlage verantwortlich ist, weil er sich arrogant „den Feldzug als eine Art Urlaub und als bloßen Durchmarsch“ vorstellte, wie Durs Grünbein zu seiner Übersetzung anmerkte. Xerxes wird seine Krone auf der langsam kreisenden Drehbühne ablegen, die der entsetzte, gebrochene Chor der Frauen und Alten verlassen hat und wo jetzt Haufen von Kleidern, Schuhen und Masken ein grausiges Schlachtfeld markieren. Ohne Hoffnung, ohne Illusionen weist Enrico Lübbe in seiner atmosphärisch packenden, diskursiv eindrucksvollen Inszenierung nach, dass in beiden Stücken keine Sieger existieren können. Um „der Sache“ willen müssen sich die Agitatoren die Menschlichkeit selbst austreiben, der König

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Rezension

will die Menschen seines Volkes in seiner Hybris lieber gar nicht kennen. Wie ein angeschossenes Tier schreit er herum, wenn ihm die Chöre Namen um Namen zubrüllen, den Tod ihrer Eliten und ihrer Angehörigen anklagend. Die zeitlich so weit voneinander entfernten Dramen korrespondieren in dieser schönen wie intelligenten Aufführung aufregend miteinander und mit uns, sie geben keine Ruhe und kein Pardon. Fast erlösen Die Perser die verpönte Maßnahme. Man muss viel Vertrauen zum Theater und zur Welt haben, um von solchen historischen Balancen zu träumen. Enrico Lübbe hat es, und seine beherzt aufrechte und sinnlich vergeistigte Inszenierung ist dafür ein wahrhaftiges Plädoyer.

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DIE MAÃ&#x;NAHME / DIE PERSER Inszenierungsfotos / Kurzinhalt / Team


Felix Axel PreiĂ&#x;ler, Chor Die Perser

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Anna Keil, Bühnenchor Die Maßnahme

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Thomas Braungardt, Dirk Lange, Anna Keil, Tilo KrĂźgel

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Bühnenchor Die Maßnahme

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Felix Axel PreiĂ&#x;ler, Chor Die Perser

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KURZINHALT

Die Maßnahme Vier Agitatoren annoncieren vor dem Kontrollchor der Kommunistischen Partei den Tod eines jungen Genossen. Sie berichten, warum sie ihn während einer Untergrund-Aktion in China erschossen haben. Anhand verschiedener Situationen, in denen sie jeweils den jungen Genossen selber darstellen, zeigen sie sein Verhalten – und warum sie zur „Maßnahme“ der Erschießung gegriffen haben. Der Kontrollchor ist einverstanden, die Revolution kann weitermarschieren. Die Maßnahme, das prominenteste der sogenannten Lehrstücke, wurde 1930 in Berlin uraufgeführt, unter großer Beteiligung der Arbeiterchor-Bewegung.

Die Perser Vor dem Königspalast des Xerxes in Susa warten die Ältesten der Perser auf die Rückkehr der Männer, die nach Europa ausgezogen sind, um die griechischen Städte zu erobern, allen voran Athen. In die Erwartung des sicheren Sieges mischt sich die Unsicherheit ausbleibender Nachrichten. Atossa, die Mutter des Xerxes, berichtet von einem seltsamen Traum. Als ein Bote erscheint, wird die rückhaltlose Niederlage zum Fakt: Namen über Namen der gestorbenen Perser und ihrer Verbündeten, die der Bote vermeldet, lassen klar werden, dass kaum jemand zurückkehren wird. Einer der wenigen Rückkehrer ist Xerxes – aber sein Reich ist ein anderes geworden. Er hat es vertan. Uraufgeführt 472 v. Chr. in Athen, gelten Die Perser derzeit als das älteste erhaltene Drama der Menschheit – und als eines der wenigen antiken Dramen, das sich auf reales Geschehen bezieht, die Schlacht bei Salamis 480 v.Chr.

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INSZENIERUNGSTEAM UND BESETZUNG

Die Maßnahme / Die Perser Bertolt Brecht / Hanns Eisler & Aischylos (Deutsch von Durs Grünbein) Die Maßnahme Agitatoren: Anna Keil, Thomas Braungardt, Tilo Krügel, Dirk Lange Der Kontrollchor: Petra Bally, Melanie Berger, Birgit Blaßkiewitz, Ulrike Christl, Annette Cotta, Jennifer Demmel, Kerstin Dorn, Anke Dück, Sophie Graf, Carina Großer-Kaya, Maxie Herzberg, Elisabeth Hoppe, Kerstin Kiaulehn, Luise Kind, Friederike Küstner, Rosemarie Langberg, Annett Müller, Stephany Mundt, Carmen Orschinski, Brigitte Puhlmann, Elena Rose, Jule Roßberg, Uta Sander, Merle Scheiner, Anne Schildt, Mandy Tanneberger, Sybil Vocke-Follner; Sebastian Bau, Steven Bauers, Martin Biederstedt, Jens Brosig, Dirk Fehse, Jeroen Finke, Heiko Fischer, Florian Fochmann, Klaus Follner, Alexander Hemmann, Christian Humer, Thomas Jahn, Michael Jokisch, Bernd Knorr, Tim Kranhold, Paul Kumpfe, Max Latinski, Dimitrij Morlang, Hanno Petersen, Ingbert Puhlmann, Ron Uhlig, Wolf-Georg Winkler Kinderstatisterie: Lina EI-Bekai, Emilia Kietz, Selma Kreibig; Wenzel Berger, Moritz Kraus, Long Nguyen Orchester: Trompete: Jonathan Müller*, Johann Clemens*, Ulf Lehmann* Posaune: Tobias Hasselt*, Tino Mönks* Horn: Jan Wessely*, Wolfram Straßer* Schlagzeug: Steffen Cotta*, Philipp Schroeder* Pauke: Marek Stefula* Klavier: Francesco Greco * Mitglieder des Gewandhausorchesters

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Inszenierungsteam und Besetzung

Die Perser Chorführer: Hannelore Schubert Atossa: Wenzel Banneyer Ein Bote/Xerxes: Felix Axel Preißler Dareios: Michael Pempelforth Chor des persischen Ältestenrates/Bühnenchor Die Maßnahme: Nicole Berger, Sabine Brückner, Lenore Dietsch, Ulrike Feibig, Stefanie Garbade, Janina Kunz, Johanna Mathei, Birgit Morkramer, Theresa Neumann, Katharina Nürnberger, Henrike Schmidt, Mirjam Schneider, Ulrike Schulze, Birgit Steiner, Susanne Zaspel; Thomas Becher, Frank Blumentritt, Len-Henrik Busch, Kornelius Friz, Matthias Hartmann, Günther Heinicke. Robert Keller, Joachim Marks, Ronald Mettke, Michael Peter, Miloslav Prusak, Tim Schüler, Kay Schwarz, Sören Zweiniger Inszenierung Enrico Lübbe

Korrepetitor Francesco Greco

Musikalische Leitung / Einstudierung der Chöre Marcus Crome

Licht Ralf Riechert

Bühne Etienne Pluss Kostüme Bianca Deigner Video fettFilm (Momme Hinrichs, Torge Møller) Choreographie Stefan Haufe Dramaturgie Torsten Buß Clara Probst

Videotechnik Kai Schadeberg Ton Alexander Nemitz Anko Ahlert Inspizienz Ulrich Hänsch Soufflage Maren Messerschmidt Regieassistenz Kristina Seebruch Chorleitungsassistenz Caroline-Sophie Pilling

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Inszenierungsteam und Besetzung

Bühnenbildassistenz Marialena Lapata

Orchesterwart Lothar Petrausch

Kostümassistenz Leonie Kramp

Übertitel Nele Winter

Dramaturgische Recherche Marie Lemser

Regie-/Dramaturgiehospitanz Jakob Cieslinski, David Kind

Maske Kerstin Wirrmann, Kathrin Heine, Donka Holeček, Katrin Kluge, Cordula Kreuter, Ute Markow, Barbara Zepnick

Technischer Direktor Günter Gruber

Requisite Sebastian Hubel

Leiter Beleuchtung & Licht Carsten Rüger

Bühnenmeister Joris Walleneit

Leiter Ton & Video Daniel Graumüller

Bühneninspektor Mike Bäder

Herstellung der Dekorationen in den Theaterwerkstätten der Oper Leipzig: Werkstattdirektor: Bernd Niesar; Konstruktionsabteilung/Produktionsleitung: Matthias Gollner Anfertigung der Kostüme unter Leitung von Silke Maria Wey; Damengewandmeisterin: Uta Schmidt; Herrengewandmeisterin: Petra Nerlich; Modistin: Doris Giesler; Spritzmalerei: Heike Schmidt; Schuhmacherei: Steffen Fels Aufführungsrechte: Suhrkamp Verlag, Berlin. Eine Koproduktion des Schauspiel Leipzig mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen in Kooperation mit dem Gewandhausorchester Premiere: 30. März 2017 Schauspiel Leipzig, Große Bühne

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Jens Bisky wurde 1966 in Leipzig geboren, studierte Germanistik und Kulturwissenschaft in Berlin und arbeitete nach der Promotion im Feuilleton der Berliner Zeitung. Seit 2001 ist er als Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung verantwortlich für Sachbücher und Kulturkorrespondenz aus Berlin. 2004 erschienen seine Erinnerungen Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich, 2007 Kleist. Eine Biografie, 2011 Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit. 2017 erhielt er den Johann-HeinrichMerck-Preis für literarische Kritik und Essayistik. Heinz Bude hat seit 2000 den Lehrstuhl für Makrosoziologie an der Universität Kassel inne. Zuvor war er seit 1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und seit 1997 dort Leiter des Bereichs „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“. Er gehört zu den profiliertesten Analysten der gesellschaftlichen Zustände der Republik. Zu seinen jüngsten Buchpublikationen zählen: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee (2019), Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen (zusammen mit Philipp Staab, 2016), Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen (2016) sowie Gesellschaft der Angst (2014). Torsten Buß studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Leipzig. Seit 2000 kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Regisseur Enrico Lübbe. Von 2008 bis 2013 war er Leitender Schauspieldramaturg an den Theatern Chemnitz. Seit 2013 ist er Chefdramaturg und Stellvertreter des Intendanten am Schauspiel Leipzig. Johann Hinrich Claussen, nach seiner Promotion und Habilitation zuletzt Hauptpastor in Hamburg, ist seit 2016 Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zudem ist er als Autor und Publizist tätig, zuletzt erschien 2018 Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen. Daniel Cohn-Bendit wurde in Frankreich geboren, machte sein Abitur in Hessen und ging zum Studium wiederum nach Paris. Er wurde einer der

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Die Autorinnen und Autoren

führenden Köpfe der Pariser Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre. Von 1994 bis 2014 war er abwechselnd für die französischen Les Verts bzw. Europe Écologie-Les Verts und Bündnis 90 / Die Grünen Abgeordneter im Europäischen Parlament. Von 1994 bis 2003 moderierte er zudem für den Schweizer Fernsehsender DRS die Sendung „Literaturclub“. Gregor Gysi war von Ende 1989 bis 1993 Vorsitzender der SED-PDS und ihrer Nachfolgepartei PDS. Nach den Volkskammerwahlen 1990 war er deren Fraktionsvorsitzender, von 1990 bis 1998 Vorsitzender der Bundestagsgruppe der PDS und von 1998 bis 2000 Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion. Seit 2005 ist Gysi wieder Mitglied des Deutschen Bundestages, bis 2015 als Vorsitzender der Linksfraktion. Seit 2016 ist er Präsident der übernationalen Europäischen Linke. Gregor Gysi arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin. Helmuth Kiesel hatte von 1990 bis zu seiner Emeritierung 2015 den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg inne. Der Schwerpunkt seiner Arbeit galt der Geschichte der literarischen Moderne vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Er veröffentlichte u.a. die Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert (2004), Ernst Jünger: Die Biographie (2007) sowie die Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933 (2017). Gerd Koenen, Historiker und Publizist, hat mit Das rote Jahrzehnt und Vesper. Bader, Ensslin Standardwerke der Forschung zur RAF vorgelegt. Zuletzt erschien von ihm 2017 Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. Für Der Russland-Komplex erhielt er 2007 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Enrico Lübbe studierte Kommunikations-, Medien- und Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Von 2008 bis 2013 war er Schauspieldirektor an den Theatern Chemnitz. Seit der Spielzeit 2013/14 ist er Intendant am Schauspiel Leipzig. Robert Misik arbeitet als Journalist und Publizist in Wien regelmäßig für die taz, den Falter, den Standard und profil. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt gesammelte Feuilletons, als Liebe in Zeiten des Kapitalismus (2018), sowie Herrschaft der Niedertracht (2019). Herfried Münkler hatte bis zu seiner Emeritierung im Juni 2018 die Professur für Politikwissenschaft und Theorie der Politik an der Humboldt-

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Die Autorinnen und Autoren

Universität Berlin inne, die er 1992 eingenommen hatte. Zuvor Promotion und Habilitation an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 1992 Berufung in die neukonstituierte Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und bis Ende 2017 Vorsitzender der Leitungskommission Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Jüngste Publikationen: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, Deutsches Trauma (2017) und, zusammen mit Marina Münkler, Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft (2016). Für Die Deutschen und ihre Mythen (2009) wurde Herfried Münkler mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet. Oliver Nachtwey ist seit 2017 Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel. Er promovierte 2008 an der Universität Göttingen, anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Jena, Trier und Darmstadt tätig. Er war Fellow am Hamburger Institut für Sozialforschung, dem Kolleg Postwachstum in Jena sowie am Institut für Sozialforschung Frankfurt, wo er noch zur Gruppe der assoziierten Wissenschaftler gehört. 2016 erschien seine vielbeachtete Studie Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne über das Ende des Modells der sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegsordnung und den gesellschaftlichen Bruch, den dieser Paradigmenwechsel bedeutet. Martin Sabrow ist seit 2009 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und seit 2004 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Unter anderem ist er Mitglied des Fachbeirats der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Geschichte und war 2005/2006 Vorsitzender der Expertenkommission der Bundesregierung zur Erarbeitung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“. 2017 erhielt er den Golo-Mann-Preis für Geschichtsschreibung für seine Erich-Honecker-Biographie Das Leben davor. 1912–1945 (2017). Karl Schlögel lehrte bis zu seiner Emeritierung 2013 Osteuropäische Geschichte, zuerst an der Universität Konstanz, seit 1995 an der Europäischen Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Zu seinen Themenschwerpunkten zählen die Kultur der Moderne im östlichen Europa, insbesondere in Russland, und die Geschichte des „Stalinismus als Zivilisation“. Darüber hinaus widmet er sich der Stadtgeschichte und Urbanität im östlichen Europa und theoretischen Problemen einer räumlich aufgeschlossenen Geschichtsschreibung. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (2003) sowie

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Die Autorinnen und Autoren

Terror und Traum. Moskau 1937 (2008). Zu seinen Auszeichnungen gehören der Sigmund-Freud-Preis für Wissenschaftsprosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2004 und der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2009. Zuletzt erhielt er für Das sowjetische Jahrhundert (2017) den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch. Am Schauspiel Leipzig war er bereits Gast im Rahmen der Expertengespräche zu Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen. Rena Tali ist in Beirut aufgewachsen. Nach ihrem Universitätsabschluss in Finanzwirtschaft ist sie 2015 aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet. Sie ist Mitautorin des Bandes 95 Thesen für die Zukunft (2017), in dem sie die Vorrangstellung der Religion in den arabischen Staaten kritisiert. Aktuell lebt sie mit ihrer Familie in Berlin. Róża Thun ist seit der Europawahl 2009 Abgeordnete des Europaparlaments für die liberale polnische Platforma Obywatelska. Sie war führend in der polnischen Solidarność-Bewegung aktiv. Von 1981–1991 lebte sie in der Bundesrepublik Deutschland, anschließend in Nepal. Von 1992 bis 2005 war sie Direktorin und später Leiterin des Vorstandes der Robert-Schuman-Stiftung in Warschau; in dieser Zeit baute sie ein Netz proeuropäischer Nichtregierungsorganisationen auf. Ab 2005 war sie Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Polen. Im Rahmen ihrer Arbeit im EP ist sie Vizepräsidentin der „Europäischen Bewegung International“. Hans Vorländer hat seit 1993 die Professur für politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden inne und gründete dort 2007 das Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung (ZVD), dessen Direktor er ist. Von 2001 bis 2005 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundeszentrale für politische Bildung, von 2003 bis 2005 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Er ist Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Forschungsschwerpunkt seiner Arbeit und zahlreicher Publikationen sind die Themengebiete Politische Kulturen, Ideengeschichte, Liberalismus und Populismus. Jüngste Publikation, zusammen mit Maik Herold und Steven Schaller: PEGIDA and New Right-Wing Populism in Germany (2018), eine Überarbeitung und Aktualisierung von PEGIDA: Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung (2015), der ersten Studie zur Pegida-Bewegung.

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Die Autorinnen und Autoren

Willi Winkler, geboren 1957, war Redakteur der Zeit, Ressortchef Kultur beim Spiegel und schreibt heute für die Süddeutsche Zeitung. Er ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. dem Standardwerk Die Geschichte der RAF (2007), Luther. Ein deutscher Rebell (2016) und jüngst Das braune Netz über den Übergang der Eliten von der Zeit des Nationalsozialismus in die neugegründete Bundesrepublik (2019). 1998 erhielt Willi Winkler den BenWitter-Preis, 2010 den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, 2013 den Michael-Althen-Preis.

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RECHERCHEN 140 Thomas Wieck . Regie: Herbert König 139 Florian Evers . Theater der Selektion 137 Jost Hermand . Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers Brecht-Studien 135 Flucht und Szene Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 133 Clemens Risi . Oper in performance 132 Helmar Schramm . Das verschüttete Schweigen Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 131 Vorstellung Europa – Performing Europe Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 130 Günther Heeg . Das Transkulturelle Theater 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 128 Torben Ibs . Umbrüche und Aufbrüche 127 Günter Jeschonnek. Darstellende Künste im öffentlichen Raum 126 Christoph Nix . Theater_Macht_Politik 125 Henning Fülle . Freies Theater 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 123 Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen 116 Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 113 Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität 112 Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 108 Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate 107 Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit


RECHERCHEN 105 Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen 104 Theater im arabischen Sprachraum 103 Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 102 Lorenz Aggermann . Der offene Mund 101 Rainer Simon . Labor oder Fließband? 100 Rimini Protokoll . ABCD 99

Dirk Baecker . Wozu Theater?

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Das Melodram . Ein Medienbastard

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Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals

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Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater

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Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche

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Adolf Dresen . Der Einzelne und das Ganze Dokumentation

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Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

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B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos

83

Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays

82

Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch

81

Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays

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Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays

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Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation

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Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen

74

Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay

72

Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze

71

per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays

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Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen

67

Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Aufsätze

66

Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008

65

Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht

64

Theater in Japan Aufsätze

63

Vasco Boenisch . Krise der Kritik?

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Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler?

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Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays

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Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze

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Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater

57

Kleist oder die Ordnung der Welt

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Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Essay und Gespräch


RECHERCHEN 55

Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945

54

Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays

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Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht

49

Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit

48

Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion

46

Sabine Schouten . Sinnliches Spüren

42

Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch

41

Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays

40

Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze

39

Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays

37

Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation

36

Politik der Vorstellung . Theater und Theorie

32

Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze

31

Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen

30

VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze

28

Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze

27

Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze

26

Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze

23

Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Vorträge und Diskussionen

22

Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“

19

Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk

15

Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze

14

Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR

13

Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef

12

Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays

11

Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen

10

Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze

9

Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht

8

Jost Hermand . Brecht-Aufsätze

7

Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche

6

Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR Vorträge und Diskussionen

4

Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen

3

Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze

1

Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de



Wenn die großen, sinnstiftenden Erzählungen verblassen, kommt die Zeit des Theaters. Über zwei Spielzeiten diskutierten die Expertengespräche am Schauspiel Leipzig das Erbe des Kommunismus, deutsche Identitäten, gesellschaftliche Dynamiken und die Zukunft Europas. . Róz a Thun, Karl Schlögel, Martin Sabrow, Herfried Münkler und Willi Winkler waren neben vielen Anderen die Gäste, die über neue Ordnungen und die Kraft des Alten debattierten. Aischylos trifft Brecht, und die Leipziger Doppelbefragung aus Die Maßnahme/Die Perser erweist sich als Drama der Gegenwart.

Ist der Osten anders? – Expertengespräche am Schauspiel Leipzig

TdZ_Rech_143_Osten anders_Cover_Vorschau 6.qxp__ 05.04.19 17:58 Seite 1

Ist der Osten anders? Expertengespräche am Schauspiel Leipzig

ISBN 978-3-95749-200-5

www.theaterderzeit.de

Recherchen 143

Jens Bisky, Enrico Lübbe und Torsten Buß (Hg.)


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