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Bernd Stegemann ist Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ und Chefdramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Er hat zahlreiche Texte zur Dramaturgie und Schauspielgeschichte veröffentlicht.
Rücken 135 mm
Wir alle schauspielern im Alltag. Wenn wir flirten, verhandeln, streiten, loben, feilschen oder kritisieren. Wir nehmen eine Rolle ein, verkörpern ein Image und wollen ein bestimmtes Bild von uns produzieren. Im Alltagstheater sind wir mehr oder weniger erfolgreiche Darsteller unseres Selbst. Und doch gibt es in diesem alltäglichen Schauspiel Menschen, die das Spielen zu ihrem Beruf gemacht haben. Diese professionellen Menschen nennt man Schauspieler. Sie wiederholen das Theater des Alltags, verwandeln es in die sekundäre Realität der Bühne, um ein Publikum zu unterhalten, zu rühren, zum Lachen zu bringen oder zu belehren. Die schauspielerische Tätigkeit ist die älteste Kunst der Mitteilung und ihre Erscheinungsformen sind so vielfältig wie die Geschichte des Menschen. In diesem dritten Band der Lektionen wird ein Überblick gegeben über die Erfindung des Schauspielens als Beruf. Zwanzig Quellen, die systematisch unterteilt und kommentiert sind, stellen die wichtigsten Schauspieltheorien dar. Ein Handbuch für angehende und professionelle Schauspieler, ihre Regisseure, Dramaturgen, Kritiker und Zuschauer.
13 mm
Lektionen 3 Schauspielen – Theorie
17:35 Uhr
Cover 135 mm
Klappe vorn 100 mm
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Lektionen
Schauspielen
Theorie Theater der Zeit
TdZ_Lektionen3_Schausp_C_01 03.11.2010 Klappe 100 mm
Bernd Stegemann | Schauspielen | Schauspielen als Beruf. Die Erfindung des bürgerlichen Schauspielers im 18. Jahrhundert | Stanislawski und die Folgen | Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler | Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater
Theater der Zeit
Was als gutes Schauspiel gilt, wechselt im Laufe der Zeiten nicht nur die Gewänder, sondern mehr noch die Spielweisen. In diesem Band der Reihe Lektionen werden die wichtigsten schauspieltheoretischen Ansätze der Neuzeit vorgestellt. Es wird ein Überblick gegeben, was seit der Erfindung des Berufs „Schauspieler“ an ästhetischen Konzepten und methodischen Unterweisungen gedacht und geschrieben wurde. Diese Geschichte des Schauspielens ist eine Orientierungshilfe. Unsere Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr eine Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten gleichzeitig besteht. Wollte man diese multiplen Anforderungen in einem Überblick darstellen, so würde man auf die vier großen Bereiche menschlicher Darstellungskunst kommen: dramatisches Spiel, episches Spiel, Performance und Laienspiel. Diese vier unterschiedlichen Darstellungsweisen haben ihre jeweiligen historischen Wurzeln. Sie zu verstehen, kann helfen, um die Melange der aktuellen Spielweisen besser begreifen und erlernen zu können.
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Lektionen 3
Schauspielen Theorie
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Lektionen 3 Bernd Stegemann Schauspielen Theorie © 2010 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleitung Harald Müller Im Podewil | Klosterstraße 68 | 10179 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: Sibyll Wahrig Druck und Bindung: TASTOMAT Druck GmbH, Eggersdorf Printed in Germany ISBN 978-3-940737-95-3 ISBN 978-3-95749-184-8 (ePDF)
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Lektionen
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Schauspielen Theorie
Bernd Stegemann
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EINLEITUNG Leerzeile Leerzeile I. SCHAUSPIELEN
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Quelle 1 Eduard Devrient: Ursprung des Dramas aus dem Gottesdienste 28 Quelle 2 Julius Bab: Von Herkunft und Wesen der Schauspielkunst
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Quelle 3 Georg Simmel: Zur Philosophie des Schauspielers
42
Quelle 4 Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers
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Quelle 5 Erving Goffman: Dramatische Gestaltung
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Leerzeile Leerzeile II. SCHAUSPIELEN ALS BERUF. DIE ERFINDUNG DES BÜRGERLICHEN SCHAUSPIELERS IM 18. JAHRHUNDERT
68
Quelle 6 Denis Diderot: Das Paradox über den Schauspieler
84
Leerzeile Leerzeile III. STANISLAWSKI UND DIE FOLGEN
97
Quelle 7 Konstantin S. Stanislawski: Handlung · „Wenn“ · Vorgeschlagene Situationen
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Quelle 8 Konstantin S. Stanislawski: Von den physischen Handlungen 124 Quelle 9 Michael Tschechow: Werkgeheimnisse der Schauspielkunst
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Quelle 10 Lee Strasberg: Das emotionale Gedächtnis
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Quelle 11 Sanford Meisner: Über das Schauspielen
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Leerzeile
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IV. BERTOLT BRECHT ODER DER MODERNE SCHAUSPIELER
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Quelle 12 Bertolt Brecht: Aus einem Brief an einen Schauspieler
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Quelle 13 Bertolt Brecht: Schauspielerausbildung
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Quelle 14 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater
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Quelle 15 Bertolt Brecht: Zur Frage der Maßstäbe bei der Beurteilung der Schauspielkunst
187
Leerzeile Leerzeile V. VIELFALT DES SCHAUSPIELENS: MASKEN-, KÖRPER- UND VOLKSTHEATER
192
Quelle 16 Dario Fo: Kleines Handbuch des Schauspielers
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Quelle 17 Edward Gordon Craig: Über den Schauspieler
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Quelle 18 Edward Gordon Craig: Der schauspieler und die über-marionette Quelle 19 Wsewolod Meyerhold: Die Prinzipien der Biomechanik
217 221
Quelle 20 Heiner Goebbels: Wenn ich möchte, dass ein Schauspieler weint, geb’ ich ihm eine Zwiebel
Leerzeile Leerzeile WEITERFÜHRENDE LITERATUR
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EINLEITUNG Leerzeile I. „Alle, die im Theater sitzen, werden verbunden durch ein Gefühl. Die Zwistigkeiten erblassen, die Unterschiede schmelzen, das Menschliche bricht vor. Die Duse spielt ...“1 Schauspieler und Schauspielerinnen2 sind in allen Epochen Menschen gewesen, die eine besondere Beachtung erfahren haben. Am Beginn der europäischen Theatergeschichte, im antiken Griechenland, löste sich der erste Schauspieler aus dem Chor der Sänger, die den Mythos einer Gottheit vortrugen. Dieser Protagonist stellte sich dem einigen Gesang entgegen und begann mit dem Antagonisten des Chores einen Wechselgesang. Ritual und Orgie, wie der Gottesdienst auch genannt wurde, Tanz, Gesang und Maskenspiel bildeten ein Fest, das zu den jährlichen Dionysien als Wettkampf aufgeführt wurde. Bald traten der zweite und dritte Schauspieler heraus und das Drama, wie es uns in der griechischen Tragödie überliefert ist, spielte sich vor den Augen der Gemeinschaft des Chores und der Bürger der Stadt ab. In der christlichen Geschichte Europas wurde dem Stand der Schauspieler lange mit Argwohn begegnet. Das fahrende Volk, die Spaßmacher und Jahrmarktsgaukler brachten die Menschen zum Lachen und entzogen sie dadurch der strengen Aufsicht der Kirche und der weltlichen Macht für die kurzen Momente des Theaters. Auch waren ihre Verwandlungskunststücke suspekt, da sie die fest gefügte Ordnung als veränderbar erscheinen ließen. Konnte das machtvolle Gewand etwa nur ein Kostüm sein, das man wechseln kann? Im elisabethanischen Theater ging diese anarchische Tradition des Volkstheaters eine historisch einmalige Verbindung mit dem schriftstellerischen Genie Shakespeares ein. Es entstand das Welttheater nicht nur dieser Epoche. Die Aufklärung, deren entfernte und etwas orientierungslose Kinder wir sind, erfand das Drama und den Schauspieler wiederum neu. Dieser sollte nun ein Stellvertreter 1 2
Alfred Kerr: „Die Duse“, in: ders.: Essays Theater, Film, hg. von Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Frankfurt am Main 1991, S. 256. Historisch gesehen betritt die Schauspielerin sehr spät die Bühne. Die großen Frauenrollen der Antike und noch bei Shakespeare wurden von Männern gespielt. In diesem Buch wird nur vom „Schauspieler“ geschrieben, womit in unserer Gegenwart selbstverständlich weibliche und männliche Schauspieler gemeint sind.
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Einleitung
des bürgerlichen Zuschauers sein. In seiner Kunst der Verkörperung suchten die ernsten Themen der normalen Menschen ein Mittel, um über sich selbst nachdenken zu können. In der Folge dieser Fähigkeit – stellvertretend für die Zuschauer Gefühle und Gedanken zu haben, Handlungen zu vollziehen und Erfahrungen zu machen – wurden die Schauspieler zu bewunderten Menschen. Virtuosen der Leidenschaft, Meister der Verführung, Titanen der Tatkraft und Künstlerseelen der Empfindung – all diese Eigenschaften wurden ihnen vom Publikum zugeschrieben. Von nun an sind sie die ideale Projektionsfläche für eine Existenz, die aus verdrängten Gefühlen, unterdrückten Handlungen und abgestumpften Empfindungen besteht. Was der Alltag aus den Menschen macht, wird in den Stunden des Theaters vergessen. Im Spiel des Schauspielers verzaubert sich das Leben wieder. Sein Feuer entflammt die Herzen, seine Verführung berührt die Seelen und sein sprachliches Geschick betört die Vernunft. Die Grenze zwischen der dargestellten Figur und seinem Darsteller verschwimmt. Bei diesem Romeo wäre man selbst gerne Julia und für dieses Gretchen könnte man noch mal wieder jung werden. Dass die Texte auswendig gelernt, die Gefühle hergestellt und die Leidenschaften aufgebläht sind, nimmt man gerne in Kauf für das Erlebnis, an einem gesteigerten Leben teilnehmen zu dürfen. Die moderne Entwicklung der Theaterkunst kann und will diese Freude an der identifizierenden Projektion nicht weiter unterstützen. Sie zerstört im Gleichklang mit den Avantgarden der anderen Künste das genussvolle Verhältnis des Menschen zum Gegenstand seiner Betrachtung. Die Welt wird kriegerisch und unberechenbar. Die Dramen werden rauer, die Ästhetik der Theater verfährt ungnädig mit den Wahrnehmungsgewohnheiten seiner Zuschauer und das Spiel der Schauspieler muss sich dieser Entwicklung unterwerfen. Regisseure bestimmen nun die Interpretation und Spielweise. Der bewunderte Schauspieler wird zu einem Teil des großen Kunstwerks Theater. Heute hat sich der Beruf des Schauspielers in zahlreiche einzelne Professionen aufgesplittert. Wollte man diese multiplen Anforderungen in einem Überblick darstellen, so würde man auf die vier großen Bereiche menschlicher Darstellungskunst kommen: dramatisches Spiel, episches Spiel, Performance und Laienspiel.
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Die bürgerliche Geschichte des Schauspielers beginnt im 18. Jahrhundert mit der Anforderung, dass sein Spiel in einer vorgestellten Realität des Dramas und der Bühne glaubwürdig sein möge. Die Figur, die er spielt, soll nachvollziehbar handeln und emotional berühren. Damit die Figur auf der Bühne so wirkt, muss ihr Darsteller die Gefühle und Handlungen glaubwürdig herstellen können. Was jedoch unter „glaubwürdig“ verstanden wird, ist den Moden des Geschmacks unterworfen. Die Techniken der schauspielerischen Darstellung ändern sich mit diesen Moden, um die immer neuen Gewänder der Glaubwürdigkeit erzeugen zu können. Im Theater war das Spielen hinter der Vierten Wand seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für viele Jahrzehnte das bestimmende Paradigma. Der Schauspieler ließ seine Figur auf der Bühne, die meistens ein Zimmer war, so agieren, als gäbe es keine Zuschauer. Diese saßen hinter der vorgestellten „Vierten Wand“ und waren die abwesenden Zeugen des Dramas. Der Film hat diese Spielweise für sich übernommen und perfektioniert. Die Schauspieler spielen auf dem Filmset vor dem Auge der Kamera weder mit dieser noch nehmen sie die Künstlichkeit des Aufbaus wahr. Sie blenden während ihres Spiels das technische Arrangement und alle Zuschauer am Set aus, um ihre Figur als realen Menschen erscheinen zu lassen. Denn die dargestellte Figur hat natürlich kein Bewusstsein davon, dass sie gefilmt wird. Um dieses doppelte Bewusstsein als Filmschauspieler oder Schauspieler hinter der Vierten Wand herstellen zu können, benötigt er eine Technik, die eine besonders konsequente Form der Stanislawskischen psychophysischen Handlungen darstellt. (Siehe Kapitel 2 und 3) Der epische Spieler hingegen hat eine ältere Tradition. Der Volksschauspieler verfügt über die Technik, sich auf einem Jahrmarkt Aufmerksamkeit zu verschaffen. Er muss seinen Auftritt so gestalten, dass sich im allgemeinen Trubel die Blicke auf seine Figur richten. Ein buntes Kostüm, eine laute Stimme, eine akrobatische Einlage, eine auffällige Maske – alle diese Theatermittel sind notwendig, damit sich überhaupt ein Publikum aus dem Treiben des Marktes herausbildet. Ist die Theatersituation einmal hergestellt, muss sie durch ununterbrochene Reize weiter am Leben erhalten werden. Das Spiel dieser Schauspieler ist von dem permanenten Zwang getrieben, die Aufmerksamkeit der Menge bei sich zu halten. Sie spielen im
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Einleitung
vollen Bewusstsein über die Wankelmütigkeit der Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer. Ihr Spiel orientiert sich an diesen Schwankungen und kann durch Improvisationen und spielerische Erfahrung versuchen, Aufmerksamkeit zu bannen. Das epische Theater Bertolt Brechts nutzt diese doppelte Aufmerksamkeit des Spielers. Er spielt vor den Zuschauern und er spielt mit den Zuschauern. Durch das bürgerliche Theater sind die Zuschauer jedoch schon zu einem disziplinierten Publikum erzogen worden. Der Saal ist verdunkelt, man sitzt auf seinem Stuhl und bleibt für die Dauer der Vorstellung auch dort, und man kommentiert nicht laut das Gesehene. Man verhält sich gesittet und nicht wie auf einem Jahrmarkt. Da dieses Publikumsverhalten unumkehrbar erscheint, kann die doppelte Existenz des Schauspielers im epischen Theater nun für etwas anderes verwendet werden. Er muss seine spielerischen Energien nicht primär auf die Bannung der unruhigen Zuschauer richten. Er verwendet die gleiche doppelte Spielweise – er führt seine Figur vor und bleibt selbst als Spieler anwesend –, doch kann er nun diese hergestellte Theaterrealität kommentieren und lenken. Er hat dabei den Zuschauer im Blick, nicht um als Spieler die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu kontrollieren, sondern um ihnen eine doppelte Perspektive auf das Vorgeführte zu ermöglichen. Sie sehen die Vorführung, genießen diese, lachen oder ärgern sich – aber könnte nicht alles auch ganz anders sein? (Siehe Kapitel 4) Die Performance spielt ihrem eigenen Verständnis zufolge nicht, sondern sie ist real. In der Welt des Jahrmarktes wäre die Vorführung gefährlicher Kunststücke oder die Dressur wilder Tiere am ehesten damit vergleichbar. In der Moderne hat diese Kunst eine steile Entwicklung genommen. Die Konfrontation des Zuschauers mit einer künstlich hergestellten Realität, in der jedoch die Grenze zwischen Verabredung und ungeplanten Ereignissen verschwimmt, übt einen besonderen Reiz aus. Es gibt ein Bewusstsein darüber, dass die Performance vor Zuschauern stattfindet, doch ist gerade die Ausblendung eines möglichen Kontakts ein wesentliches Element in der Autonomie des Performers. Der Performer wird seine Handlungen nicht beschleunigen, wenn er Unruhe und aufkommende Langeweile bemerkt. Er nimmt keine Rücksicht auf die Erwartungen der Zuschauer und hat nicht die Absicht, ihre Aufmerksamkeit durch ein Spek-
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takel zu bannen. Auch der Performer agiert auf der Plattform der Aufmerksamkeit, die in der Folge der bürgerlichen Bildung entstanden ist: Der Zuschauer stellt sich und seine Bedürfnisse während des Kunstgenusses zurück. Doch nutzt er diese Errungenschaft gebildeter Aufmerksamkeit entgegengesetzt zum epischen Spieler. Es geht ihm in der Performance gerade um die Reaktion der Langeweile, der Genervtheit, der Unruhe und des Verlusts der anerzogenen Hemmungen. Er will den Betrachter performativ so verwickeln, dass dieser mit sich selbst einen Dialog über das gerade Erlebte beginnt. (Siehe Kapitel 5) Schließlich bestimmt das Laienspiel seit der Erfindung des Theaters die Möglichkeiten des Schauspiels. Zu allen Zeiten haben die Menschen zu ihrer eigenen Unterhaltung Theater gespielt. Sie erfüllten damit manchmal rituelle Aufgaben, wie in der Antike oder noch heute bei den Oberammergauer Passionsspielen, in denen ein ganzes Dorf alle zehn Jahre die Passion Christi aufführt. Hiermit erfüllt die Dorfgemeinschaft ein Gelübde, das ihre Vorfahren zur Zeit der großen Pest abgelegt haben. In der jüngsten Entwicklung des Fernsehens hat sich eine neue Spielform des Laienspiels entwickelt. In dieser neuen, rabiaten Form des Laienspiels wird das alltagstheatralische Verhalten von Menschen durch ein Casting selektiert. Ist jemand ausgewählt, so soll er seiner Erscheinung entsprechend in einer fiktionalen Geschichte genau diesen Typus von Mensch darstellen. Das Type-Casting entscheidet über den Rahmen, in denen der Mensch seine Verhaltensweisen aus dem Alltag innerhalb des fiktionalen Rahmens wiederholen darf. Hierdurch entsteht ein neuer, bedenklicher Authentizitätseffekt. Da der Laie über keine handwerklichen Fähigkeiten verfügt und somit in seiner individuellen Eigenart schutzlos vor dem Auge der Kamera agiert, erscheint sein Verhalten eben nicht als Schauspiel, sondern als echt.3 Die für das Laienspiel so wesentliche, da erkennbare Differenz zwischen den privaten Grenzen der Darstellung und den Anforderungen der Rolle verschwindet. Die 3
„Wer sich vor der Kamera so ungelenk gibt, kann nur echt sein. Der Laiendarsteller wird damit zum Hybridwesen: Er spielt jemand anderen, ohne dass sein Publikum dieses wahrnimmt. Gibt der Laie der Kamera seinen Körper preis, der oft stark übergewichtig, verlebt oder schwanger ist, muss außer der blauen Schminke, die vorhergegangene körperliche Gewalt bezeugen soll, nichts an ihm verändert werden. Der Darsteller soll sich so wenig wie möglich verstellen. Dass er meist nur über einen überschaubaren Wortschatz verfügt und selten mehrere Sätze in grammatisch korrekter Form vorbringt, ist sein kostbarstes Gut.“ Nina Pauer: „Der produzierte Prolet“, in: Die Zeit Nr. 32, 2010, S. 38.
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Einleitung
Begrenztheit des Darstellungsvermögens wird der Figur zugerechnet. Diese ist so, dass sie sich nicht besser darstellen kann. Ob es sich hierbei noch um Schauspiel handelt oder lediglich um ein für das Gefilmtwerden produziertes menschliches Verhalten, ist sehr fraglich. Zumindest bestimmt auch diese Art des gefilmten Alltagsverhaltens das Bild des Schauspielers in unserer Gegenwart und führt bei jungen Menschen häufig zu einer verzerrten Vorstellung davon, was den Beruf des Schauspielers ausmacht. II. Betrachtet man den Beruf des Schauspielers als eine Kunst, die man erlernen möchte, so stellen sich eine Menge Fragen. Die Lehrbücher mit dem „sicheren Weg zum Erfolg“ sind ebenso zahlreich wie die immer wieder nachwachsenden jungen Menschen, die von dem Wunsch erfüllt sind, Schauspieler oder Schauspielerin zu werden. Die erste Wahrheit bei all diesen Büchern ist, dass Schauspielen ein Beruf ist, den man nicht aus Büchern lernen kann. Die Arbeit des Schauspielers ist die Mimesis von Menschen. Der Schauspieler arbeitet daran, eine geschriebene, erdachte oder beobachtete Rolle zu einer lebendigen Figur auf der Bühne werden zu lassen. Diese Arbeit der Mimesis heißt in ihrer ursprünglichen griechischen Bedeutung „tanzen lernen“. Tanzen lernt man bekanntlich, indem man mit jemandem tanzt, der es besser kann, oder indem man es einfach tut. Die zweite Wahrheit zum Beruf des Schauspielers ist jedoch, dass die Art der Tänze, die Art des Spielens, die Art der Darstellungen, die ein Schauspieler in seiner Gegenwart erleben und erschaffen kann, dem Zeitgeist und den Moden unterworfen ist. Es gibt keine ursprüngliche Form des Schauspielens, auf die sich alle Spielweisen zurückführen ließen.4 Die anthropologischen Konstanten wie das Spielvermögen, die Lust an der Nachahmung und die Freude am Betrachten dieser Nachahmungen sind jenseits ihrer historischen Form nicht erlebbar und beschreibbar. Ein Kind spielt nicht irgendetwas, sondern es spielt immer konkret. Es backt mit Förmchen Sandkuchen, die es verkaufen will, es spielt Verstecken oder im 4
Die formale Bestimmung, dass Schauspielen das Agieren von A vor B ist, wobei ein C dargestellt wird, ist so allgemeingültig, dass sie für praktisch jedes menschliche Verhalten zutrifft.
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Rollenspiel Vater, Mutter, Kind. Die Art und Weise, wie es diese Spiele spielt, ist aus seiner Beobachtung der Welt erfahren, und durch diese spielerische Wiederholung der Welt lernt es, sich darin zu bewegen. (Siehe Kapitel 1 und 2) Die Arbeit des Schauspielers, im mimetischen Spiel eine Rolle zu einer Figur zu machen, ist in den Epochen des Theaters immer wieder neu und anders verstanden worden. Das Verhältnis von Seele und Körper verändert sich. Die Gefühle haben immer wieder einen anderen Stellenwert in der Selbstbeschreibung des Menschen. Mal sind die Gefühle der in jedem Menschen lauernde Abgrund, den es zu beherrschen gilt (Antike und Barock), mal sind sie der Garant für ein ehrliches Miteinander (Aufklärung und Gegenwart). Je nachdem, wie das innere Verhältnis des Menschen als Doppelwesen von Seele und Körper gedacht wird, verändern sich seine Mittel, sich ausdrücken und selbst darstellen zu können. Die mimetische Arbeit des Schauspielers folgt diesen historischen Veränderungen und sucht nach dem „wahren“ schauspielerischen Ausdruck der jeweiligen Gegenwart. Die Fülle der Ratgeber und Schauspieltheorien ist also nicht nur der Sehnsucht nach dem schnellen Erfolg geschuldet, sondern zum Teil sind sie Reaktionen auf das sich wandelnde Verständnis des Schauspielens. Die Unterscheidung in praktische Ratgeber und die komplexen Versuche, Schauspielen als Kunst der Gegenwart denken zu wollen, ist manchmal schwer zu treffen, aber sehr ratsam, um oberflächliche Tipps von schauspieltheoretischem Handwerk unterscheiden zu können. III. Dieser Band der Lektionen stellt in fünf Kapiteln die wichtigsten schauspieltheoretischen Ansätze der Neuzeit vor. Hier wird ein Überblick gegeben, was seit der Erfindung des Berufs „Schauspieler“ an ästhetischen Konzepten und methodischen Unterweisungen gedacht und geschrieben wurde. Diese Geschichte des Schauspielens ist eine Orientierungshilfe. Unsere Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr eine Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten gleichzeitig besteht. Die oben skizzierten vier unterschiedlichen Darstellungsweisen haben ihre jeweiligen historischen Wurzeln. Diese zu verstehen, kann helfen, um die Melange der aktuellen Spielweisen besser begreifen und erlernen zu können.
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Einleitung In Lektionen 4 Schauspielen Ausbildung wird versucht, ein Bild der gegen-
wärtigen Schauspielausbildungen an den deutschsprachigen staatlichen Schauspielschulen zu geben. Die Schauspielausbildung wurde hierzu in fünf thematische Felder eingeteilt. Zu jedem Feld stellen Lehrer, die aktuell an Schauspielschulen unterrichten, die zu lernenden Fähigkeiten und Unterrichtsmethoden vor. Hier ist zu erkennen, dass die Methoden an den Schulen sich in allen Bereichen der historischen Möglichkeiten bedienen und jede für sich eine bestimmte Fokussierung vornimmt. Die dominierende Methode hierbei ist von Stanislawski und seinen Nachfolgern bestimmt. Beide Bände zusammen wollen einen historischen Überblick über den wandelbaren Beruf des Schauspielers und zugleich einen Einblick in die Möglichkeiten seiner Ausbildung geben.
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I. SCHAUSPIELEN Leerzeile I. „Auf der Bühne verwirrte mich die ungewöhnliche feierliche Stille und Ordnung. Als ich aus dem Dunkeln der Kulisse in das volle Rampenlicht hinaustrat, wurde ich benommen und blind. Das Licht so grell, daß es wie ein Vorhang zwischen mir und dem Zuschauerraum hing. Ich fühlte mich vor der Menge geschützt. Doch bald hatte sich das Auge an das Licht gewöhnt, und nun wurde die Schwärze des Zuschauerraums noch furchtbarer, sein Sog noch stärker. Mir war, als wäre das Theater erfüllt, als richteten sich unzählige Augenpaare auf mich, bewaffnet mit Operngläsern. Sie schienen ihr Opfer zu durchbohren, und ich fühlte mich als Sklave dieser tausendköpfigen Menge, wurde untertänig, prinzipienlos und war zu jedem Kompromiß bereit. Ich hätte mein Innerstes nach außen kehren, ich hätte schmeicheln und der Menge viel mehr geben mögen, als ich zu geben hatte. Doch mein Innerstes war so leer wie noch nie.“1 Mit diesem Erlebnis aus dem Leben eines Schauspielschülers beginnen Stanislawskis umfangreiche Ausführungen seines „Systems“. Am Beginn der schauspielerischen Erfahrung steht das Lampenfieber. Der Moment, in dem der Mensch bemerkt, dass er beobachtet wird, versetzt ihn in eine existentielle Situation. Das Erwachen aus dem Schlummer der Naivität ist von einem Schreck begleitet. Auch die Stufen der Selbstbewusstwerdung des Kindes sind von diesem Erschrecken begleitet. Das spielende Kind realisiert noch nicht, dass sein Spielen von den Eltern wachsam verfolgt wird. Es taucht in die vorgestellte Realität des Spiels ein und vergisst sein Dasein in der anderen Welt, in der es ein Kind ist, das Teil einer menschlichen Gesellschaft werden soll. In der Versunkenheit des Spiels erfüllen sich verschiedene der Entwicklung förderliche Prozesse. Es werden motorische, psychische und kommunikative Fähigkeiten geübt und zugleich macht ein ursprünglich mimetisches Verhalten die Umwelt des Spiels zum Gegenstand desselben. Was den Tag über erlebt und beobachtet wird, kann zum 1
Konstantin Stanislawski: „Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst“, in: Stanislawski Reader, hg. von Bernd Stegemann, Berlin 2007, S. 23.
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17 Thema eines Spiels werden. Im Sandkasten werden Straßen und Städte gebaut oder Sandkuchen gebacken. Emotionale Verhaltensweisen werden wiederholt und in der Realität des Spiels erkundet. Durch die spielerische und mimetische Weltaneignung bildet sich die menschliche Seele, und das Individuum erlernt seine sozialen Kompetenzen. Zu diesen gehören ab einer bestimmten Entwicklungsstufe die Hemmung und die Scham. Versucht man sich zu erinnern, wann man das erste Mal Scham empfunden hat, werden Situationen wieder lebendig, in denen man plötzlich eines doppelten Bewusstseins gewahr wurde. Eben empfand man sich noch in naiver Deckung zwischen dem eigenen Bewusstsein und Tun, plötzlich wird einem bewusst, dass das eigene Tun, der eigene Körper, die eigene Stimme Gegenstände der Beobachtung und Bewertung durch andere Menschen sind. Meistens ist diese Erfahrung eingebettet in eine Situation, in der die Umwelt ein Verhalten des Kindes beurteilt und dadurch eine Differenz zwischen der kindlichen Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung durch andere Menschen eröffnet. Im positiven Fall dient die Fremdbeobachtung der Stärkung des Selbstbewusstseins: Die Kuchen im Sandkasten sind aber besonders gelungen. Im erzieherischen Fall wird eine Differenz eröffnet, in der das Kind als anders und defizitär dargestellt wird. Es muss erzogen werden: Andere Kinder spielen in der Sonne Fußball, während du im Schatten Sandkuchen backst. In der plötzlichen Erkenntnis, dass schattiges Sandkuchenbacken ein weniger gelungenes Leben verspricht, als im Sonnenschein mit anderen Kindern hinter einem Ball herzurennen, entsteht die Scham über das eigene Tun und damit über die eigene Existenz. Jeder weitere Verbleib im Sandkasten benötigt nun eine zusätzliche Energie. Das ursprünglich naive Spiel wird zur Demonstration eines Verhaltens, das sich in Opposition – Ich backe weiter – oder in Opportunismus – Ok, ich renne auch hinter dem Ball her – zur elterlichen Erziehung befindet. Deren Bemühungen bestehen in diesem Beispiel in einer Sorge um die Konkurrenzfähigkeit des Kindes. Damit folgen sie einem Bild des Menschseins, das diesen als durch Rivalitäten bestimmtes Lebewesen charakterisiert. Der Mensch ist von Natur aus ein „leeres Gefäß“, das in der Sozialisation mit Wünschen, Gedanken und Bewertungen „gefüllt“ wird. Kommt ein anderes Kind in den Sandkasten und sieht die bunten Förm-
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chen und das Glück des Kindes, das mit diesen spielt, will es sofort genau diese Förmchen auch haben. Bis vor wenigen Augenblicken wusste es von solchen Spielmöglichkeiten noch nichts. Der Anblick des offensichtlich gelungenen Daseins im Spiel macht die dazu nötigen Spielsachen zum Zentrum des eigenen Begehrens. Ein klarer Wille formuliert sich: Ich will auch glücklich sein und dazu benötige ich genau diese Förmchen. René Girard nennt dieses Verhalten in seiner Anthropologie2 die Aneignungsmimesis. Die Gegenstände in der Welt bekommen ihren Wert für die Menschen dadurch, wie begehrenswert sie sind. Je mehr Menschen etwas als wertvoll erachten, desto wertvoller wird es für den Einzelnen. Die Eskalation der Konflikte ist also vorprogrammiert. Spiele, wie etwa Fußball, bilden dieses Verhalten ab und geben ihm eine Form, in der die Rivalität geübt und zugleich ohne blutige Folgen ausagiert werden kann. Der Streit um die Förmchen im Sandkasten hat hingegen keine spielerische Komponente, sondern ist tiefer Ernst und kann von den beteiligten Kindern nur unter lautem Gebrüll ausgetragen werden. Hier gibt es keine Lösung, sondern nur Sieger und Verlierer. Denn je schwieriger das begehrte Objekt zu erlangen ist, desto mehr wird es begehrt. Das Mosaik der ungezählten Scham erzeugenden Momente und die Erfahrung, dass das eigene Wollen sozial bedingt ist und von sozialen Begrenzungen diszipliniert wird, bildet das Gerüst menschlichen Verhaltens. II. „Es gibt eine ursprüngliche schauspielerische Attitüde, eine schöpferische gestaltende Reaktion gewisser Naturen gegenüber den Eindrücken des Lebens.“3 Spätestens seit dem Beginn der Neuzeit, also seit dem 17. Jahrhundert, wird der Menschen als doppeltes Wesen beschrieben: Er hat einen Körper, aber auch einen Geist. Mit dem Körper ist er an die Naturgesetze gebunden. Er kann krank werden und sterben. Die Seele hingegen steht jenseits dieser harten Gesetze. Sie ist keinem Naturgesetz unterworfen. Ihre Gedanken und Träume tragen sie in Sekunden zu allen Orten der Welt und 2 3
René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt am Main 1992. Georg Simmel: „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: ders.: Das individuelle Gesetz, Frankfurt am Main 1987, S. 79 (Quelle 3).
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darüber hinaus. Sie ist zumindest nach christlichem Glauben unsterblich und von Gott gegeben. Ist der Mensch einmal als ein so gedoppeltes Wesen gedacht, entstehen in der Folge weitere Aufspaltungen. Der Mensch ist ein Naturwesen und hat zugleich ein soziales Wesen. Hat er Hunger und Durst, ist er dennoch in der Lage, die knappe Nahrung zu teilen. Er ist Teil einer bestimmten Familie, hat eine Stellung in der Welt und verfügt über mehr oder weniger reale Macht, symbolische Macht und intellektuelle Macht. All diese Eigenschaften gründen sich auf bestimmten Verhaltensweisen und produzieren wieder bestimmte Verhaltensweisen. Der Priester übt sich in Askese, Gebet und Seelsorge. Sein Habitus wird bescheiden, konzentriert und gottgefällig sein. Dieser Habitus folgt aus der Wahl eines bestimmten Lebens und der dafür notwendigen Ausbildung. Zugleich ist dieser Habitus aber als gesellschaftliche Rolle unabhängig vom einzelnen Priester in der Welt vorhanden. Er bietet eine Form, in der die langjährigen Übungen des Glaubens gerinnen können, und bietet zugleich ein äußeres Korsett, in dem die individuellen Zweifel und Besonderheiten einen Halt und eine Erkennbarkeit erfahren. Der Habitus des Priesters ist aus der einen Perspektive, der des gläubigen Menschen, keine Rolle, sondern der Ausdruck eines Amtes. Aus der Perspektive einer soziologischen – also ungläubigen – Analyse ist dieses Amt eine gesellschaftliche Rolle, die in zwei Richtungen zugleich wirkt. Sie gibt dem Träger dieser Rolle ein Modell, an dem er sein Verhalten und Handeln orientieren kann, und sie gibt ihm eine erkennbare Stellung in der Welt, die der Orientierung seiner Umwelt dient. Um das Amt des Priesters als öffentliche Rolle bekleiden zu können, braucht es also einen schauspielerischen Anteil. Selbst im Kloster unter Gleichgläubigen könnte nicht auf jede Form der Darstellung des Glaubens verzichtet werden, die notwendig ist, wenn dieser in einer Öffentlichkeit auftreten soll. Anhand der Frage, ob die Feier der Messe ein ritueller Akt, ein Glaubensakt oder eine Theatervorstellung ist, lässt sich das Verhältnis von Funktion und Schauspiel beispielhaft zeigen. Die Messe ist ein ritueller Akt, da sie nach einem wiederkehrenden Ablauf vollzogen wird. Jede einzelne Handlung in diesem Ablauf ist festgelegt und ruht auf einer langen Tradition, die den einzelnen Handlungen eine Bedeutung verleiht. Im Zentrum der ka-
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tholischen Messe steht die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Sie ist damit eine rituelle Wiederholung des ersten Abendmahls, das Jesus vor seiner Verhaftung mit seinen Jüngern gefeiert hat. Zugleich ist die Feier der Messe ein Glaubensakt, da die dort verhandelten Behauptungen nur erlebbar sind, wenn der Besucher der Messe gläubig und damit Teil der christlichen Gemeinschaft ist. Dem Ritual könnte man ohne Glauben folgen und durch das Erlebnis des gemeinsamen Singens, der räumlichen Überwältigung, der Predigt des Priesters etc. eine gemeinschaftsstiftende Erfahrung machen. Als heilige Messe ist sie jedoch nur erlebbar, wenn sie von einem Gläubigen mitvollzogen wird. Dieser erlebt das Ritual als Vollzug seines Glaubens, der sich darin immer wieder neu bekräftigt und seiner Zugehörigkeit zur Gemeinde versichert. Nur wer an die tatsächliche Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi glaubt, erlebt das Ritual als heilige Messe. Diese Kraft des Glaubens an eine unmöglich erscheinende Veränderung ist der Anteil, den der Gläubige an dem Gelingen der Messe erbringen muss. Völlig anders ist das Erlebnis der Messe als Theatervorstellung. Hier wird ein zuvor aufgeschriebener Text in einer bestimmten Art und Weise inszeniert und von einer Schar von Darstellern aufgeführt. Da die Zuschauer Teil der Aufführung sind, handelt es sich um die Inszenierungsform des Happenings. Der Priester spielt die Rolle des die Messe feiernden Priesters mehr oder weniger überzeugend. Seine Stimme ist voll und sein Gesang einnehmend, oder er wirkt unsicher, seine Gesten einstudiert und seine Stimme zittert vor Aufregung. Eine gute oder schlechte, eine mitreißende oder eine langweilende Messe sind die Folge. Der Vorschlag an einen unsicher und gehemmt wirkenden Priester, doch Schauspielunterricht zu nehmen, wäre plausibel und unverschämt zugleich.4 Beobachten wir in einem normalen Berliner Café eine Bedienung und vergleichen diese Beobachtungen dann mit dem Verhalten eines Kellners in einem teuren Restaurant, so fallen bemerkenswerte Unterschiede auf: Beide vollziehen im Prinzip die gleichen Tätigkeiten, sie nehmen eine Be4
Ein Dokument genau eines solchen Versuchs ist Thomas Kabel: Handbuch Liturgische Präsenz. Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes, Gütersloh 2003. Hier werden die Gesten, Gänge und Abläufe der einzelnen liturgischen Abschnitte eines protestantischen Gottesdienstes dargestellt. Der Ablauf eines Gottesdienstes wird wie ein Regiebuch mit praktischen Hilfen abgebildet. Ob es sich um eine Messe handelt, wenn diese Aufzeichnungen von einem Schauspieler genau nachgespielt werden, bleibt ein theologisches Problem.
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stellung entgegen und bringen nach mehr oder weniger langer Zeit die gewünschten Speisen und Getränke. In dem einen Fall werden die Wünsche beiläufig, teilweise nachlässig oder durch vertrautes Duzen entgegengenommen. Im andern Fall wird der Auswahl der Speisen und Getränke mit einer ernsten, bedeutsamen Miene gelauscht und als persönliche Wünsche des Gastes ohne Notizblock memoriert. Welcher der beiden Kellner schauspielert mehr? Auf den ersten Blick würde man sagen: der Kellner im Nobelrestaurant. Doch bei näherer Betrachtung fällt eine weitere Unterscheidung auf: Beide Kellner haben eine Rolle eingenommen, die sie ihrer Umgebung und ihrem Selbstbild gemäß gestalten. Die Rolle des noblen Kellners ist durch eine Vielzahl von Verhaltensweisen wie Berufskleidung, Körperhaltung, Abläufe des Servierens etc. vorgegeben. Diesen Anweisungen gemäß erlernt der Mensch seine Rolle, in der er sich dann mehr oder weniger souverän bewegen kann. Im Fall der lässigen Cafébedienung hingegen gibt es praktisch keine Vorgaben. Jeder Aspirant muss aus der Beobachtung seiner Kollegen und nach seinem eigenen Verständnis sinnvoller Arbeitsabläufe sein Auftreten zurechtlegen. Er hat somit keinen Schutz durch ein vorgegebenes Rollenverhalten. Er steht mit seiner privaten Person für das Gelingen seiner Tätigkeit ein. Seine Verstellung in der Rolle des Kellners ist weniger formal, sondern resultiert aus seinem persönlichen Bedürfnis, eine Form für sein privates Verhalten in dieser öffentlichen Situation zu finden. Er spielt im Alltagstheater eine „naturalistische“ Variante des Kellners, während der durch Konventionen und Regeln angeleitete eine „formale“ Variante des Kellners spielt. Über die Fähigkeit, das eigene Verhalten der Situation gemäß zu verändern, verfügen die Menschen als soziale Wesen in großem Maße. Diese Fähigkeit zur mimetischen Tätigkeit äußert sich in zwei unterschiedlichen Bereichen menschlichen Verhaltens. Zum einen wird eine Tätigkeit durch Nachahmung erlernt. So wird z. B. das Brotbacken durch die Ausführung der notwendigen Handgriffe erlernt. Der andere Lebensbereich neben diesen herstellenden Tätigkeiten umfasst die menschlichen Handlungen. Wer in ein Geschäft geht, um ein Brot zu erbetteln, muss seinen Wunsch formulieren. Ob er dann auch sein Ziel erreicht, ist prinzipiell ungewiss. Der Verkäufer könnte ihn missverstehen, ein Feind des Bettelns sein oder sich
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als Menschenfreund zeigen. Das Handeln hat, da es auf das Verhalten anderer Menschen bezogen ist, unendliche Variationen und unvorhersehbare Konsequenzen. Im Alltag wird diese Kontingenz – es gibt viele Möglichkeiten, aber keine Notwendigkeit – durch Verabredungen begrenzt. Beim Bäcker kann man sehr wahrscheinlich Brot kaufen, aber nur manchmal erbetteln. Doch bleibt jede Handlung im Gegensatz zur herstellenden Tätigkeit von der offenen Zukunft abhängig, die das erwartete Verhalten des Anderen bedeutet. Wird nun mimetisch dieses Handeln erlernt, werden die Darstellung und der Ausdruck des Wollens zum Gegenstand der Wiederholung. In dieser mimetischen Tätigkeit kommt zur reinen Wiederholung der Handlung eine bewusste Veränderung hinzu. Wer das erste Mal in einer ungewohnten Umgebung versucht, eine eben beobachtete Handlung zu wiederholen, vollzieht diese konzentrierter, deutlicher und darum theatralischer als der alltäglich so Handelnde. Nun gibt es innerhalb dieses Spielraums der Nachahmung Variationen, die das Gespieltsein selbst in den Blick rücken. Ist ein Kellner in dem studentischen Café z. B. besonders devot und zuvorkommend, ironisiert er dadurch das aus seiner Sicht unnatürliche Verhältnis zwischen konsumierenden Studenten und bedienenden Studenten. Er spielt eine Persiflage des Kellners. Sein Schauspielen bekommt einen subversiven Charakter, indem es im Vollzug der Handlung einen Kommentar zur Situation liefert. Im Alltagstheater reagieren die meisten Menschen sehr sensibel auf jede Art von Theatralisierung. Es gibt im gesellschaftlichen Miteinander Regeln und Maßstäbe für ein rollenadäquates Verhalten, die genau beobachtet und durch zahlreiche Sanktionen durchgesetzt werden. Der seine Rolle ironisierende Kellner hat sicherlich wenig Zukunft in dem Café. Sein Versuch, die Distanz zwischen sich als Privatperson und dem Zwang der dienenden Rolle möglichst groß zu machen, wird als Aggression empfunden. Trotz der Tatsache, dass wir wissen und erkennen, dass die meisten Verhaltensweisen in unserer Umwelt Teil einer sozialen Rolle sind, reagiert unsere Wahrnehmung auf jede Variante und Nuance des schauspielerischen Umgangs damit. Wir unterscheiden offensichtlich zwischen dem schauspielerischen Vermögen, das erforderlich ist, um die unterschiedlichen sozialen Rollen einnehmen zu können, und einem schauspielerischen Vermögen, das
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genau diese Rollen thematisiert. Die perfekte Darstellung des professionellen Kellners wird im Alltag als unsichtbare schauspielerische Leistung goutiert, während die schauspielerische Demonstration der eigenen Person in der Rolle des Kellners als Zumutung empfunden wird. Die verstellte Stimme, ein besonderer Gang, eine seltsame Körperhaltung, ein verzerrtes Gesicht, ein ungewöhnliches Sprechen und ungezählte andere Möglichkeiten können aus einer „normalen“ Handlung einen theatralischen Vorgang machen. Im Alltagstheater werden diese Mittel häufig eingesetzt, um einer Verhaltensaufforderung in einer Situation humorvoll oder kritisch auszuweichen. Ist ein Zusammentreffen besonders förmlich und steif, können aufgerissene Augen und ein leichtes „uiuiui“ die Situation als steif und förmlich rahmen. Man unterläuft hiermit die Verhaltenszumutung und löst entweder ein entspanntes Lachen oder pikierte Blicke aus. Die Alltagstheatralisierungen US-amerikanischer Filmschauspieler sind inzwischen zur Form geronnene Verhaltensweisen, die gerne im Alltag kopiert werden. Sie sind leicht nachzuahmen, da sie eine hohe Expressivität mit einfachen Emotionen verbinden. Das schauspielerische Vermögen hierfür entspricht eher der Nachahmung einer vorgegebenen Rolle als der Erfindung eines persönlichen Ausdrucks. Die Kodifiziertheit der Gesten und Betonungen lässt sie fast wie ein Ausdrucksvokabular erscheinen, das schnell verfügbar ist und gerne angenommen wird. Die Sprechweise deutscher Synchronstimmen hat zu dieser Kanonisierung wesentlich beigetragen. Das Missverständnis in der schauspielerischen Tätigkeit liegt häufig in der Verwechslung dieser beiden Ausdrucksarten – Wiederholung des kodierten Ausdrucksvokabulars und Fähigkeit zum individuellen Ausdruck –, die dem Alltagstheater entlehnt sind. III. Die alltagstheatralischen Ausdrucksmöglichkeiten haben ihre Entsprechung in der schauspielerischen Tätigkeit, die sich innerhalb des Theaters und der Theatergeschichte entwickelt hat. Gegenstand der Mimesis können neben den Varianten des Alltagstheaters auch traditionelle Darstellungsformen sein. Der tänzerische Ausdruck z. B. beim Karneval, der hinter der Verkleidung der Maske eine Enthemmung und Entgrenzung der individuellen Rollen
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in eine anonyme Gemeinschaft ermöglicht, hat seinen entfernten Vorläufer im rituellen Maskenspiel, aus dem die griechische Tragödie hervorgegangen ist. Die Darstellung von Figuren in der Tragödie, die in einer ganzkörperlichen Verkleidung und Maske mit tänzerischen, gesanglichen und rhetorischen Ausdrucksmitteln gespielt wurden, erinnern von Ferne an das priesterliche Amt, der im reichen Gewand die Sätze, Bewegungen und Melodien aus einer langen Tradition vergegenwärtigt. Die Lust an der Nachahmung und karikaturhaften Überzeichnung, wie sie im Alltagstheater häufig vorkommt, findet in der Commedia dell’Arte eine Theaterform, die sich virtuos dieser Fähigkeiten bedient. Die Figuren der Commedia sind dem Alltag entlehnt. Ihre wesentlichen Züge sind in den Ausdruck einer Maske, einer Körperhaltung und einem Verhaltensvokabular zu einer lebendigen Kunstfigur konzentriert. Diese Figur gehört ihrem Spieler, der sie nach den Anforderungen der Dramaturgie der Handlung agieren lassen kann. Der Text, der hierfür verwendet wird, ist weitestgehend improvisiert. Der Schauspieler ist als „Besitzer“ seiner Figur autonomer Spieler und Autor der Theatervorstellung. Meistens beginnt ein junger Schauspieler seine Lehre bei einem älteren Kollegen, der ihn in die Techniken, Tricks und Geheimnisse seiner Figur einweiht. Im Laufe seines Lebens perfektioniert er die Darstellungsmöglichkeiten seiner Figur, die sich dann in jeder Situation ihrer eigenen Logik gemäß pointiert und richtig verhalten kann. Dieses Verständnis von Schauspiel unterscheidet sich prinzipiell vom Bild des Schauspielers, wie es in der Renaissance entsteht. Parallel zu Shakespeares dramatischer Neuerfindung des Theaters formt sich ein neues Bild des Schauspielers, der sich als Menschendarsteller begreift. Hervorgegangen aus einer Melange von Gauklern, Commedia-Spielern und Jahrmarktsschreiern, bildet sich die Fähigkeit, mithilfe eines geschriebenen Textes komplexe menschliche Verhaltensweisen darstellen zu können. Die Neuerungen dieser Entwicklung sind grundlegend und bestimmen bis in unsere Gegenwart das Bild des Schauspielers. Der Schauspieler ist nicht mehr Vertreter nur einer Figur, über die er die künstlerische Hoheit hat, sondern er wird zum „leeren Gefäß“, das immer wieder neue Rollen darstellen können muss. Zugleich verliert er die Möglichkeit, den Text seiner Figur selbst erfinden zu können. Seine Figur existiert nicht mehr durch seine Anwesenheit auf der Bühne,
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sondern sie existiert zuerst durch den geschriebenen Text eines Autors. Die Erfindung der Figur und der schauspielerischen Mittel, die zu ihrer Darstellung notwendig sind, haben ihren Ursprung nicht mehr in der Phantasie und Erfahrung des Schauspielers, sondern werden nun vom geschriebenen Rollentext inspiriert und erzwungen. Es entsteht die Notwendigkeit, eine Theatervorstellung durch Proben vorzubereiten. Der Rollentext muss auswendig gelernt werden, und es gebraucht Zeit, um die verschiedenen Situationen, in denen die Figur handeln und erleben muss, zu begreifen und zu üben. Die schauspielerischen Fähigkeiten verlagern sich – im Vergleich zum Commedia-Spieler oder zum antiken rituellen Maskenspiel – von der lebenslangen Perfektionierung einer Darstellungstechnik hin zu einem permanenten Neuerfinden menschlicher Verhaltensweisen und Ausdrucksmöglichkeiten. Mit der Renaissance beginnt im Theater die Zeit, in der der Schauspieler ein professioneller Menschendarsteller wird. Da sich das Bild des Menschen in den Epochen sehr stark voneinander unterscheidet, sind die schauspielerischen Mittel seiner Darstellung einem steten Wandel unterworfen. Mit dem sich wandelnden Menschenbild verändern sich zugleich Mode und Geschmack, denen dann auch das Theater unterworfen ist. Die Vorlieben und Abneigungen, in welchem schauspielerischen Gewand die menschlichen Tragödien und Komödien den Zuschauern gefallen, sind so veränderlich wie alles andere in der Welt. Und dennoch bleibt ein Ereignis für das Theater und das Schauspiel wesentlich. Menschen spielen vor Menschen, um diese zu berühren, zu begeistern, zu belehren und zu unterhalten. Dieser Wunsch unterscheidet das Schauspiel von anderen öffentlichen Ereignissen wie etwa einer Sportveranstaltung, einer politischen Rede oder einer heiligen Messe. Die Absicht, spielerisch die Aufmerksamkeit einer Ansammlung von Menschen auf sich zu lenken und möglichst lange bei sich zu behalten, stellt die Lust und die Herausforderung des Schauspiels dar und seine größte Schwierigkeit. Aus dem Alltag ist das Phänomen bekannt, dass ein plötzliches Ereignis die Aufmerksamkeit einer Menschengruppe bannt. Im grausamen Fall ist es ein Unfall, im komischen ein seltsames Missgeschick. Die schauspielerische Wiederholung einer solchen Plötzlichkeit stellt den Dar-
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steller vor große Probleme. Der Weg, der durch die Erfindung des Schauspielers als Menschendarsteller eingeschlagen wurde, führt jedoch ins Zentrum dieses Problems. Da das Publikum durch die Vorführung menschlichen Verhaltens fasziniert werden soll, muss die Vorführung dieses Verhaltens durch genau die Qualität auffallen, die menschliches Verhalten auszeichnet: seine Unberechenbarkeit. Eine plötzliche große Geste kann innerhalb einer Gruppe zu einem Verstummen der Gespräche führen. Alle Blicke richten sich auf denjenigen, der durch diese Geste auf sich aufmerksam gemacht hat. In diesem Moment ist die theatralische Situation etabliert. Alles, was nun folgt, wird unter der Behauptung wahrgenommen, dass der Eine vor den Vielen etwas zeigen wird. Nun beginnt die Arbeit des Theaters, das geweckte Interesse lebendig zu halten. In der Commedia-Spielweise wird dieses durch eine Komik der Voraussehbarkeit erzeugt: Eine am Boden liegende Bananenschale wird ihre Wirkung tun, und die Vorfreude darauf ist schon der halbe Genuss. In der Menschendarstellung seit der Renaissance ist das Interesse an der Menschen-Spielweise ungleich komplizierter. Die Verfeinerung in der Wahrnehmung menschlichen Ausdrucksvermögens ist Folge und Herausforderung der Darstellung des Menschen auf der Bühne. So wie wir im Alltag ein feines Gespür für die Glaubwürdigkeit des Verhaltens unseres Gegenübers haben, so reagieren die Zuschauer auf die beiden Ebenen des Schauspiels höchst sensibel. Sie nehmen den spielerischen Anteil ebenso wie den darstellerischen Anteil daran als Genuss oder als Ärgernis wahr. Das gelungene Schauspiel zeichnet sich durch eine verblüffende Auflösung des unlösbaren Widerspruchs aus, dass etwas absichtlich Gezeigtes wie unabsichtlich passiert wirkt. Das Ausrutschen auf der Bananenschale kann ebenso reales Ereignis werden wie die differenzierten Gefühle hinter der Vierten Wand in einer vorgestellten Situation. Beiden ist gemein, dass sie geübt und verabredet sind. Und beiden ist gemein, dass sie in der theatralischen Behauptung vor Zuschauern stattfinden. Und beide können gelingen oder als schlechtes Theater ausgebuht werden. Wie teuflisch dieses Verhältnis in der Seele des Menschen gestrickt ist, hat Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz über das „Marionettentheater“ in ein Bild gefasst. Den Ausgang aus dem so beschriebenen Gefängnis des Narzissmus suchen die unterschiedlichen Schauspielmethoden in den ästhetischen Prä-
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missen ihrer jeweiligen Epochen. „Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Manne, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir gerade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf dem Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in ebendiesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: – Von diesem Tag, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.“5
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Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater“, in: ders.: Erzählungen, Frankfurt am Main 1986 S. 478 f.
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Quelle 1 Eduard Devrient Ursprung des Dramas aus dem Gottesdienste Unter allen Kunsttrieben, welche dem Menschen angeboren sind, äußert sich keiner so früh und in solcher Stärke als der dramatische. Die ersten Spiele der Kinder sind Nachahmungen, Darstellungen von Tieren und Menschen. Alle Eindrücke des jungen Lebens fordern sie zunächst zu einer mimischen Reproduktion derselben auf, und wir bemerken, daß sie sich mit einer Stärke der Einbildungskraft diesen Spielen hingeben, die zu völliger Selbstverleugnung wird, und die wir in dem Maße nicht wahrnehmen, wenn das Kind anders als unmittelbar mit seiner eignen Persönlichkeit nachbildet. Welches Kind hätte wohl nicht Soldat oder Schule, Vater, Mutter und Kind, Pferd und Kutscher, Jäger, Hund und wildes Tier usw. gespielt, und wie wenige dagegen versuchen aus eignem Antriebe mit dem Griffel oder in Lehm oder Wachs nachzubilden? – Der dramatische Kunsttrieb ist der stärkste und allgemeinste. Auf der Kindheitsstufe des Völkerlebens treten uns dieselben Erscheinungen entgegen. In den untergeordneten Kulturzuständen, die noch kein Bildwerk irgendeiner Art aufweisen, werden schon pantomimische Tänze und Darstellungen angetroffen, und überall, wo das gesprochene Wort recht eindringlich lebendige Vorstellungen erzeugen will, gerät es auf die Wechselrede. Was ist nun wohl natürlicher, als daß dieser vorherrschende Darstellungstrieb im Menschen sich zum bereitesten Organe für die höchste Begeisterung anbietet, und so sehen wir denn in allen Religionen symbolische Gebärden, liturgische Wechselreden oder Gesänge den ursprünglichen Gottesdienst bilden. Aus diesen symbolisch dramatischen Liturgien aber ist bei allen Völkern das Drama hervorgewachsen; vom reinsten Quell des Geisteslebens, vom Gottesdienste, hat es seine erste Nahrung empfangen. [...] Daß das antike Drama aus gottesdienstlichen Gesängen und Tänzen zu Ehren des geheimnisvoll zeugenden Gottes Dionysos entstanden, ist be-
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kannt genug. Weniger besprochen ist die vielfach, schon von Luther unterstützte Behauptung, daß das dramatische Element dieses Kultus aus dem Judentume übertragen worden sei, daß Davids reicher Tempeldienst, die Wechselgesänge seiner Psalmen, sein Tanz vor der Bundeslade, die ursprünglich dramatische Form der Bücher Hiob, Judith, Tobias, Esther, ja selbst des Hohenliedes, auf die frühe Existenz eines jüdisch dramatischen Gottesdienstes schließen lasse. Gewiß ist nur, daß eine wahrhaft dramatische Kunst bei den Juden nicht existiert hat. Die zu verschiedenen Zeiten, vornehmlich von den Heroden eingeführten griechisch-römischen Schauspiele haben im jüdischen Volke nie Wurzel geschlagen; im Gegenteile wurden sie mit religiösem Abscheu betrachtet. Da das jüdische Gesetz aus dem Gottesdienst die bildenden Künste verweist, konnte die Freude an der mit jenen innig verwandten dramatischen Kunst auch nicht erlaubt scheinen. Dasselbe ist bei den Muhammedanern der Fall, und gewiß ist dies der Grund, daß bei ihnen im allgemeinen kein Drama zu finden ist; nur neuerdings hat ein französischer Reisender die Existenz von großen Schauspielen in Persien entdeckt, welche den Kampf der Nachkommen des Muhammed und die große Glaubensspaltung des Islam zum Gegenstande haben. An die religiösen Interessen knüpft also auch dies einzelnstehende muhammedanische Schauspiel an. So ist es auch bei den Chinesen, deren Theater aber eine große Verbreitung und deren Drama auch eine weitläufige novellistische, ja biographische Ausdehnung gewonnen hat. Die Entstehung der griechischen Schauspielkunst aus dem Gottesdienste des Dionysos ist so oft und ausführlich nachgewiesen, daß ich hier nur an die vornehmsten Entwicklungsmomente zu erinnern brauche. Die dithyrambischen Chöre hatten einen Vorsänger, der Gefahren, Kampf und Sieg des Gottes rezitierend darstellte und so einen Wechselgesang erzeugte. Diese redende Person wurde durch Thespis, mit Hülfe der Masken und sonstiger Verkleidungen, zur Darstellung verschiedener Gestalten benutzt, die an der Stelle der bloßen Erzählung, in Wechselwirkung mit dem Chore, eine Art von lebendig gegenwärtiger Handlung hervorbrachten. Allmählich entfernten sich die Stoffe dieser Dramen von dem unmittelbaren Dienste des Dionysos und gewannen national-politische Bedeu-
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tung. Das Theater bildete sich aus. Die auf Rädern ruhende Bühne des Thespis, auf welcher diese Handlungen der Heroen dargestellt wurden, damit sie den tanzenden und singenden Chorus überragten, wurde zum Logeion, dem Chor des Volkes blieb die niedrigere Region der Orchestra; die bekannten bedeutungsvollen Konventionen der alten Bühne stellten sich fest. Bis zu Äschylus hatte man sich mit einem einzigen Schauspieler begnügt, welches allemal der Dichter selbst war, der auch zugleich Musik und Tanz des Chors zu ordnen hatte; denn das feine Gefühl der Griechen für die Harmonie eines Kunstwerkes konnte sich erst spät darein finden, Dichter und Schauspieler voneinander getrennt zu denken. Äschylus brachte einen zweiten Schauspieler auf die Bühne und damit auch die größere Lebendigkeit der sichtbar gegenwärtigen Handlung. Sophokles fügte den dritten hinzu, über welche Zahl man auch später nur ausnahmsweise hinausgegangen zu sein scheint. Durch den Wechsel der Masken und Kleider konnte man nun schon eine große Zahl von nacheinander erscheinenden Gestalten hervorbringen. Daß die Frauenrollen ebenfalls von Männern gespielt wurden, ist bekannt, vielleicht aber tue ich wohl, an dieser Stelle sogleich an andere Eigentümlichkeiten der antiken Darstellungsweise zu erinnern, um den Vergleich mit der christlichen und modernen Schauspielkunst von vorn herein abzuweisen. Die Amphitheater waren von ungeheurem Umfange, ohne Dach, boten also der Stimme wenig Resonanz dar, und obschon die Masken der Schauspieler Schalltrichter an der Mundöffnung hatten, welche den Ton ungemein verstärkten, so gehörte dennoch ein sehr kräftiges Organ dazu, den Fernsitzenden dieser Tausende von Zuhörern das gewaltige Pathos dieser Tragödien eindringlich zu machen.1 Die Rezitation mußte also gewaltsam, der Gang auf dem Kothurn, der die Gestalten für die Fernsitzenden erhöhen sollte, mußte schwerfällig werden und der Gesichtsausdruck der Maske starr bleiben. Die moderne Kunst hingegen hat gerade in den feingemessenen Biegungen des Redeausdrucks, im wechselnden Spiele der Mienen und in der Zwanglosigkeit und Anmut 1
Sophokles war der erste Dichter, der seiner schwachen Stimme wegen nur in zweien seiner Tragödien mitspielen konnte.
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der Gebärden ihre Mittel zur künstlerischen Täuschung zu suchen. Sie hat sich treu an die Natur zu halten, während die antike Darstellungsweise mehr auf künstlerischen Konventionen beruhte, welche aus den räumlichen Bedingungen und der religiösen und nationalen Bedeutsamkeit des attischen Theaters hervorgingen. Wenn dessen abgeschlossene Vollendung also auch für die dramatische Dichtkunst in vielfacher Beziehung eine ewige Mustergültigkeit bewahren wird, so hat dagegen die Schauspielkunst äußerst wenig Anknüpfungspunkte für ihre Fortbildung darin zu finden. Doch nicht in den heidnischen Religionen nur,2 auch in der christlichen Kirche ist das dramatische Element schnell zum Kultus herbeigezogen und zu ganz besonderer Eigentümlichkeit ausgebildet worden. Es war eine Lebensbedingung für die Bildung der christlichen Kirche inmitten von Juden und Heiden, unter den Völkern, die nur in Anschauungen und Gefühlen lebten, dem Gottesdienste symbolische Formen, sinnbildliche Handlung zu geben. Die Bekehrten sollten in dem neuen Gottesdienste alles und schöner wiederfinden, was ihnen der alte geboten. Den Anteil der Gemeinde stets lebendig zu erhalten, wurde die Wechselrede zur Grundlage des liturgischen Systems, das aus Antiphonen und Responsorien bald den großen zwölfstündigen Sonntagsgottesdienst, die christliche Urliturgie, erschuf, die ein neuerer Schriftsteller3 in ergreifender Weise beschreibt und mit Recht das großartigste symbolisch-liturgische Drama nennt. Wir müssen uns in jene Zeiten zurückversetzen, da die Gemeinde schon am Vorabende sich versammelte und bis Mitternacht in der spärlich beleuchteten Kirche in stillen Gebeten verharrte. Da plötzlich öffnen sich, beim Klange der Glocken, die heiligen Türen4 auf der Altarerhöhung, gleich den Pforten des Himmels. Der Presbyter, das Rauchfaß schwingend, durchschreitet die Kirche bis zur Vorhalle; die Thymianwolken lagern sich über die Gemeinde hin, ein Bild des Geistes Gottes, der da schwebt über den 2 3 4
Römischer Gottesdienst und römische Kunst können hier nicht in Betracht gezogen werden, beides war von den Griechen entlehnt. Vgl. Heinrich Alt in seinem Buche Theater und Kirche, das überhaupt von großer theatergeschichtlicher Wichtigkeit ist. Es ist merkwürdig genug, daß die drei Türen in der den Altarraum abschließenden Gitter- oder Bilderwand genau den drei Türen im Hintergrunde der Schaubühne des klassischen Altertums entsprechen und daß dort, wie hier, die Tür in der Mitte »die königliche« heißt.
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Wassern. Der Diakon, eine brennende Kerze in der Hand, erinnert an den ersten Schöpfungsakt, da Gott sprach: „Es werde Licht!“ Die Stimmen der Gemeinden singen den 104. Psalm, die Priester kehren zurück in das Heiligtum, und die Türen werden, ein Sinnbild des Sündenfalles und der Verstoßung aus dem Paradiese, verschlossen. Der Chor spricht jetzt in Psalmenversen sein Schuldbewußtsein und die Sehnsucht nach göttlicher Hülfe aus; „bei dem Herrn“, so schließt er, „ist Gnade und viel Erlösung bei ihm; und er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden“. Da eröffnen sich die heiligen Türen wieder, der Presbyter erscheint, tröstet die Gemeinde durch die prophetischen Verkündigungen des einstigen Erlösers und schließt mit Gebet und Segen den ersten Teil der Feier. Mit Buß- und Klageliedern und dem wiederholten Rufe: „Herr erbarme dich!“ (Kyrie eleison) beginnt sie wieder und dauert so, bis die ersten Strahlen der Sonne den Anbruch des Tages des Herrn verkünden und man drinnen im Heiligtume den Priester den Lobgesang der Engel „Ehre sei Gott in der Höhe!“ anstimmen hört. Die Geburt des Heilandes wird gefeiert. Der Bischof tritt einfach gekleidet, um die glanzlose Erscheinung Christi auf Erden zu bezeichnen, begleitet von den übrigen Geistlichen, gleichsam den Jüngern, aus den heiligen Türen, er stellt, unter lobsingenden Chören, den in Israel wandelnden Erlöser dar. Verschiedene biblische Lektionen, endlich die Predigt, vergegenwärtigen das Lehramt Christi und schließen den zweiten Teil des Gottesdienstes. Jetzt beginnen neue Wechselgebete zwischen Priester und Gemeinde um Gnadenverleihung; der Bischof sammelt die von Gemeindegliedern mitgebrachten Opfergaben an Wein und Brot, eines wird zum Opferlamm erwählt, dem Herrn dargebracht (Offertorium), das Leiden und der Kreuzestod symbolisch daran dargestellt und das Abendmahl vollzogen, so daß der Kulminationspunkt des Gottesdienstes, die Vereinigung Christi mit den Gläubigen im Sakrament, auch äußerlich mit der Mittagshöhe der Sonne zusammenfällt.5 – Wir werden sehen, welche theatralische Wichtigkeit weiterhin diese gottesdienstliche Feier erhält. 5
Diese Urliturgie, welche sich im vierten Jahrhundert in der Kirche verbreitete, wird noch jetzt in den Kirchen Syriens und Palästinas in ihrer ganzen Ausdehnung von Mitternacht bis mittags 12 Uhr gehalten.
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Noch deutlicher bildete sich das kirchlich dramatische Element in der Feier der einzelnen Feste aus. In der Weihnacht wurde vor der aufgebauten Krippe die Geburt des Heilands in Wechselgesängen zwischen Engeln und Hirten, zum Feste der unschuldigen Kindlein wurden die Klagen der Mütter von Bethlehem und ihre Flüche gegen Herodes in die Homilie eingeführt. Am Epiphanienfeste hielt Maria mit den drei Königen ein Gespräch, und in dieser Weise gestalteten sich fast alle Kirchenfeste. Ganz besonders aber zeichnete sich schon frühzeitig die Feier des Ostertages durch seine dramatische Form aus. Zwei junge Priester erschienen während des Gottesdienstes, in ihre Mäntel nach Art der orientalischen Weiber vermummt – ad similitudinem mulierum, wie noch spätere Rituale besagen –‚ welche die beiden Marien vorstellten und sich einer Seitenkapelle näherten, die als Grabeshöhle dekoriert war. Dort erschien ein weißgekleideter junger Priester als Engel, den goldnen Schein ums Haupt, und sang: „Wen suchet ihr im Grabe, ihr Christusverehrer? Die Frauen Jesum von Nazareth, den Gekreuzigten, du Himmelsbewohner. Der Engel Er ist nicht hier, er ist auferstanden, wie er vorher gesagt. Geht, verkündiget, daß er auferstanden aus dem Grabe. Die Frauen Die Juden mögen nun sagen, wie die das Grab bewachenden Soldaten den König verloren haben, trotz des davorgelegten Grabsteines, und warum sie den Fels der Gerechtigkeit nicht besser bewacht haben. Sie mögen uns entweder den Leichnam herausgeben, oder mit uns den Auferstandenen anbeten, das Halleluja anstimmend.“ Hiermit waren die Frauen zum Hochaltar zurückgekommen, wo die übrigen Geistlichen, als Darsteller der Jünger Jesu, standen, und sie berichteten ihnen: „Zu dem Grabe kamen wir trauernd, wir sahen den Engel des Herrn dort sitzen und hörten ihn sagen, daß Jesus auferstanden.“ Auf diese Worte brachen Priester und Chor in den Lobgesang aus.
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I. Schauspielen So haben wir mit dieser Osterfeier schon eine abgeschlossene dramati-
sche Handlung vor uns. Als nun die zwölfstündige Sonntagsliturgie allmählich immer mehr, zuletzt bis auf die Dauer der heutigen Messe eingeschränkt wurde, die Kirche aber die anschauliche Darstellung der Geheimnisse des Erlösungswerkes nicht missen wollte, gab sie diesen eine selbständige Form, und aus dem dramatischen Gottesdienste wurde nun ein gottesdienstliches Drama, das Mysterium. An bestimmten Festtagen wurde in der Kirche eine Bühne aufgeschlagen, auf welcher die Geistlichen den Inhalt der Liturgie dialogisch vorstellten, anfangs in seinem ganzen Umfange, bald geteilt in die verschiedenen Momente der Geburt, des Lebens, Leidens und der Auferstehung Christi; wobei die Gemeinde mit eingeschalteten Chorgesängen sich lebendig beteiligte. Der Einfluß des attischen Theaters, der bei all diesen kirchlichen Einrichtungen unverkennbar ist, trat nun bei der Ausbildung des Kirchendramas immer deutlicher hervor. Die Grundelemente waren dieselben, die beabsichtigte Wirkung war es ebenfalls, und das griechische Drama bot eine schon vollendete Form dar. Wie im indischen und griechischen Drama die Erdenlaufbahn eines Gottes, der die Vergeistigung des menschlichen Geschlechtes vermittelte, der erste begeisternde Gegenstand gewesen, so war es im christlich kirchlichen Drama das Erdenleben des Gottessohnes. Christus, im ganzen Umfange seiner Mittlerschaft, war die erste Aufgabe für das christliche Drama. Der Gottmensch war der Anfangspunkt für unsere Kunst der Menschendarstellung, wie er in allen ihren Erscheinungen ihr Gedankeninhalt und ihr Ausgangspunkt sein soll.
Eduard Devrient: „Ursprung des Dramas aus dem Gottesdienste“, in: ders.: Geschichte der deutschen Schauspielkunst Band 1, Henschel Verlag, Berlin 1967, S. 37 – 42 (Erstveröffentlichung 1848) Philipp Eduard Devrient (1801 – 1877) war ein deutscher Schauspieler, Sänger und Theaterleiter. Seine mehrbändige Geschichte der Schauspielkunst hat bis in die Gegenwart grundlegende Bedeutung.
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Quelle 2 Julius Bab Von Herkunft und Wesen der Schauspielkunst Was also ist Schauspielkunst? Man bringt allzuoft die Geschichte des Theaters mit der der Schauspielkunst durcheinander. Aber das sind zwei sehr verschiedene Dinge! Das Theater ist eine sehr komplexe Erscheinung: zum Theater gehört das Haus, in dem gespielt wird, gehören die Bühne und ihre technischen Einrichtungen, gehört der Autor und sein Stück, gehört ein Publikum, das zuhört und bezahlt; zum Theater gehören außer den Schauspielern Musiker, Maler, Bühnenarbeiter, Büroangestellte, Platzanweiser und viele andere. Die Geschichte des Theaters ist also unendlich viel komplizierter als die der Schauspielkunst, die freilich nur als Teil des Theaters vorkommt. – Aber nun soll man auch nicht meinen, daß die Schauspielkunst, von der wir ja später allein reden wollen, nur ein Teil des Theaters ist wie viele andere. Schauspielkunst ist die Urzelle des Theaters, aus der alles andere sich entwickelt hat und ohne die alles andere im Grunde noch heute nicht leben kann. Was man bei den abendländischen Völkern Theater nennt, hat sich ganz wesentlich wie unsere ganze Kultur aus der Kunst Griechenlands entwickelt. Aber neuere Berichte über primitive Völker in Afrika und Südamerika und Sibirien zeigen genau die gleichen Ansätze, aus denen Genie und Glück die Bühnenkunst Athens entwickelt haben: auf einem freien Platz, in einer Waldlichtung oder schon in der Mitte eines Dorfes versammeln die Frauen und Männer sich in einer gemeinsamen Erregung religiöser Art. Sie suchen Schutz vor der großen dunklen Lebensangst, die allen Naturmenschen innewohnt, denen ja wie uns noch Geburt und Tod so Gesundheit und Krankheit, Regen und Wind, Tiere, Pflanzen und Steine bedrückende Rätsel sind. Sie „verstehen“ nichts und wittern in allem böse Geister, die sie sich gnädig stimmen wollen. Sie beten, schreien, singen, tanzen – sie beschwören die bösen Geister, sie rufen die guten an. Und in der Mitte des Kreises springt ein Einzelner, ein Besessener, noch voller entzündet als die anderen und vielleicht schon durch soziale Gewohnheit als ihr Sprecher festgelegt: der Schamane, der Medizinmann, der Priester, der Sänger des Stamms. Er ruft den Dämon, den Gott an, und in der Ekstase
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verwandelt er sich in ihn. Mit Wort und Gebärde spricht er zu dem Kreis der Erregten als der Dämon, der Gott, der Held, an den sie glauben. Und sie antworten ihm singend und tanzend. – – – Und da ist Schauspielkunst entstanden, da ist ein Dialog, da ist der Keim des Dramas und des Theaters. Der Mensch, den die Ekstase verwandelt und der durch Ansteckung seine Volksgenossen mitverwandelt, das war der erste Schauspieler, und das wird im Grunde genommen der letzte sein! Im Wesen nicht anders ist es geschehen bei den großen Festen der Athener im 6. Jahrhundert v. Chr. in Eleusis, wo Dionysos, der große Gott der Fruchtbarkeit, geehrt werden sollte. Ein Abbild des Schiffs, auf dem er aus Asien herübergekommen war, war die erste Tribüne, war die Bühne, von der aus der Sänger im Namen des Gottes, als der Gott zu seiner Gemeinde sprach. Ihn umgab ein Kreis von Gestalten, tanzend im Bocksgewand – denn die Böcke waren Sinnbild der Fruchtbarkeit. „Tragos“ heißt auf griechisch der Bock – und das ist der Ursprung der Tragödie. Wie in jeder menschlichen Betätigung trat dann auch hier das ein, was der Soziologe Arbeitsteilung nennt. Der Sänger improvisiert nicht mehr in seiner Ekstase die Worte, die er zu sprechen hat, sie werden festgelegt durch besonders begabte Menschen vor dem Festakt – das heißt, der Dramatiker ist da, der dem Schauspieler seine Rolle vorschreibt. Auf dem erhöhten Schauplatz stehen nun bald mehr Sprecher, die miteinander handeln können, aber noch immer umgibt sie, wenn auch nicht mehr immer in Bockgestalt, ein Chor, der den Gefühlsüberschwang zwischen den Einzelsprechern und der großen Gemeinde vermittelt. Der Schauspieler ist da, aber es darf nicht verkannt werden, daß dieser Schauspieler, der Tragöde in Athen, doch noch entscheidend von dem getrennt ist, was wir heute einen Menschendarsteller nennen: er steht, schon um in dem Theater in freier Luft sichtbar zu sein, auf hohem Kothurn, und er trägt vor dem Gesicht eine Maske, in die ein kleines Schallrohr eingebaut ist. Er kann also höchstens durch die Macht seiner Stimme und gewisse, sehr stilisierte Gebärden wirken, aber er hat überhaupt kein Mienenspiel und kann auch mit Stimme und Gebärde nirgends einem natürlichen Menschen gleichen. Bei diesem Träger der Ekstase, bei diesem ersten Tragiker fehlt das Moment der Naturnachahmung völlig.
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Aber nun entwickelt sich im Altertum neben der feierlichen, der immer gottesdienstlichen Tragödie bereits eine Volkskunst, deren Träger ganz auf das Moment der Naturnachahmung gestellt sind: das ist der Mimus. Auch diese Kunst stammt wahrscheinlich ursprünglich aus religiöser Gemeindehandlung, aber sie hat sich lange von ihrem Ursprung entfernt; der Mimus will die Menge belustigen durch spottende Nachahmung menschlicher Schwächen. Der „Mime“ hat nicht das unendlich schwere Gewand des Tragikers, er hat nicht die Masken, nicht den Kothurn, nicht das Sprachrohr, er stellt lebendige Menschen dar. Und hier treten sogar schon Frauen auf, die durch die Schwere der Ausrüstung, die man dort tragen mußte, schon körperlich von der tragischen Bühne ausgeschlossen waren. Hier also ist Menschendarstellung, aber freilich nur zu Spaß und Spott. Das ekstatischpathetische Element, das die tragische Bühne kennzeichnet, fehlt hier völlig. Das Altertum hat in seltsamer Trennung die beiden Elemente, deren Ineinander für uns den großen Menschendarsteller ausmacht. Soweit das Mittelalter überhaupt Theaterkunst kennt, bleibt auch im christlichen Jahrtausend diese Trennung bestehen. Es bleibt ja sehr charakteristisch, daß sich auch unmittelbar aus dem christlichen Gottesdienst die „Mysterienspiele“ jener Epoche entwickelt haben. Und unter die Männer und Frauen, die dort feierlich agierten, drängten sich erst allmählich zu heiteren Randglossen die Gaukler ein, die sonst mit ihren Späßen und Schwänken das Volk der Schenken belustigten und etwas vom alten Mimus lebendig erhielten. Auch in diesem großen Abschnitt der Geschichte gab es etwas wie den ekstatischen Sprecher und den bloß belustigenden Naturnachahmer. Aber einer vollen Entwicklung der Bühnenkunst war die Gesinnung des Jahrtausends mit ihrer außerweltlichen Hauptbetonung allzu ungünstig. Aber dann kam das große Jahrhundert der Renaissance – die Wiedergeburt der Freude am Menschen, Freude an seiner sinnlichen Erscheinung und an seiner geistigen Kraft. In Spanien und in England zugleich entsteht neues Theater – neues Drama und neue Schauspielkunst. Der große Shakespeare ist Schauspieler, wenn auch seine mächtigste Begabung die des Wortes ist. Aber was er der Welt als sein innerstes Erlebnis darzustellen wünscht, das ist diese große neue Freude am Menschen, Freude auch an seinem Schrecklichen und an seinem Lächerlichen – Freude an dem Erha-
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benen, das schicksalgestaltend aus dem Menschen herausbricht. „Ist der Mensch so schön?!“ ist das letzte Wort, das in Shakespeares Werk von einer Frau gesprochen wird. Die ekstatische, die religiöse Erschütterung gilt jetzt der Erscheinung des Menschen selber. In seiner Nachahmung kann das Höchste und Letzte gesagt werden, was auf der Bühne gesagt werden soll. Erst seit Shakespeares Tagen gibt es Ekstase durch Menschennachahmung. Tragödie und Mimus fließen ineinander, und seitdem erst ist der Menschendarsteller da, so wie wir ihn heute empfinden. Die ganze Geschichte der Schauspielkunst in den letzten 400 Jahren ist im Grunde nichts als ein leichtes Schwanken zwischen beiden Polen pathetischer Ekstase und naturtreuer Nachahmung. Jeder schauspielerische „Stil“ drückt nur den Punkt aus, auf dem sich die betreffende Kunstübung zwischen diesen beiden Polen angesiedelt hat. Aber der rein Pathetische fällt uns als bloßer Deklamator ebenso aus dem Rahmen der Schauspielkunst wie der rein Nachahmerische als Possenreißer. Wo wir heute echte Menschendarstellungskunst empfinden, da ist (in welchem Mischungsverhältnis auch immer) ekstatische Hingerissenheit und nachahmerische Lust zugleich am Werk. Von allen Irrtümern über die Schauspielkunst ist der schwerste und verhängnisvollste jener, der sich in der kleinbürgerlichen Prägung auswirkt: „Der Schauspieler ist der große Versteller“ – das heißt ein Mann, der die Fähigkeit hat, etwas vorzuspiegeln, was er nicht im mindesten ist. Das stimmt allenfalls für jene Imitatoren, die im Varieté auftreten und die durch Kostüm, Maske, Tonfall für einen Augenblick irgendeinem bekannten Mann ähnlich sehen können. Aber diese Geschicklichkeiten haben höchstens eine punktweise Berührung mit dem, was eigentlich Schauspielkunst ist. Das Höchste, was sie erreichen können, ist eine augenblickliche Verblüffung, und mit den seelischen Erschütterungen, die von großer Menschendarstellung ausgehen, haben sie auch nicht das mindeste zu tun. Viel näher kommt man der Wahrheit mit dem Satz, daß der Schauspieler der „wahrhafteste“ aller Menschen ist, daß er eine Fähigkeit und einen Willen hat, seine inneren Regungen äußerlich sichtbar zu machen – eine Fähigkeit und einen Willen, mit denen man freilich im normalen sozialen Leben nicht existieren könnte. Gewiß entfaltet der Schauspieler seine Wahrheit
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erst auf das Signal hin, das ihm die Rolle eines dramatischen Dichters gibt – aber nur wenn in seinem Innern Leben bereitliegt, das in den dichterischen Umriß eintreten kann, wird ihm eine irgendwie bedeutsame Leistung gelingen, und daß er unter Umständen im allabendlichen Wechsel sehr verschiedene Leben aus sich heraufbeschwören kann, das bezeugt den ungewöhnlichen Reichtum an Lebenskräften in einem großen Schauspieler und zugleich die ihm eigene einzig schnelle Beweglichkeit, diese verschiedenen Kräfte ans Licht zu bringen. Ich will ein Beispiel geben für den vollkommenen Unterschied zwischen Verstellungskunst und Schauspielkunst. Ich sah die berühmte Sarah Bernhardt, als sie schon 70 Jahre alt war, in ihrer berühmtesten Rolle als Kameliendame. Diese Marguerite Gautier soll ein Mädchen von höchstens 25 Jahren sein. Die alte Sarah war nun bemüht, sich mit Hilfe von Schminke und jugendlichen Kleidern in ein so junges Geschöpf zu verstellen. Das Ergebnis war geradezu schauerlich. Man hatte das Gefühl, eine aufgeputzte Leiche zu sehen – äußerste Unwahrheit. Aber dann begann Sarah Bernhardt zu spielen, und es begann das große alte Wunder der schauspielerischen Verwandlung. Stimme, Gestalt, Bewegung und Mienenspiel machten diese Frau in wenigen Minuten jung. Die Wahrheit, die in ihrem Innern lebte, die Fähigkeit, ein junges Geschöpf in Liebe und Haß, Glück und Verzweiflung, in Leidenschaft jeder Art zu sein – diese Fähigkeit trat ans Licht. Die innere Wahrheit wurde körperliche Sichtbarkeit, die junge Marguerite stand ergreifend vor uns. Die Verstellung war mißlungen, aber das Wunder der Schauspielkunst triumphierte. […] Die Frage ist nun, wie kommt diese außerordentliche Leistung des Schauspielers zustande? Vor bald 200 Jahren hat der berühmte Meister der Französischen Enzyclopädie, Diderot, diese Frage in einer Weise beantwortet, die noch heute die Theaterfreunde nicht zur Ruhe kommen läßt und immer wieder Gegenstand lebhaftester Diskussion wird. In einem Dialog, der als das „Paradox über den Schauspieler“ berühmt geworden ist, erklärt Diderot: „Der gute Schauspieler bedarf keines Empfindungsvermögens, sondern nur des kalten Verstandes, um den Anschein der Sensibilität zu erwecken.“ Das Kernbeispiel, mit dem er seine Theorie rechtfertigt, nimmt Diderot von dem
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größten französischen Schauspieler seiner Tage, von Lekain. Er sah ihn in der „Semiramis“ von Voltaire. Lekain spielte den Ninias, den Sohn, der im Grabmal des Vaters die eigene Mutter tötet und der dann (etwa wie der von Furien verfolgte Orest) aus dem Grabmal herausgestürzt kommt. Da sieht Lekain auf der Szene ein Schmuckstück liegen, das die ermordete Königin und Mutter vorher verloren hat, es stört ihn in seinen Ausdrucksbewegungen, er befördert es mit einem Fußtritt hinter die Kulissen und spielt weiter. „Also“, sagt Diderot triumphierend, „ist es ganz klar, daß ein Schauspieler, der so reagiert, gar nichts fühlt. Er ist keineswegs verwandelt in Ninias, den Sohn und Mörder – er ist der Schauspieler Lekain, der mit voller Überlegung den Schein eines Gefühls erwecken will und der Gegenstände beseitigt, die ihm bei der Ausführung seiner Absicht hinderlich wären.“ – Die Anekdote, die Diderot erzählt, ist sicher wahr, und beinahe jeder Theaterbesucher könnte sie aus seiner Erfahrung mit einer ähnlichen ergänzen. Aber die Folgerungen, die Diderot daraus zieht, sind doch von einer sehr primitiven Psychologie. Sie unterstellen eine Einfachheit und Einheitlichkeit der psychologischen Vorgänge, die anzuerkennen wir längst aufgegeben haben. Zunächst wissen wir, daß es gar nicht möglich ist, daß ein Schauspieler ohne Empfindung bleibt, denn selbst wenn er mit eiskalter Ruhe anfinge, Töne und Bewegungen zu setzen, die nur Empfindungen bedeuten sollen, so wissen wir, daß die Verbindungen von Gefühl und Ausdruckszeichen so eng sind, daß die Anwendung von Lachen auf die Dauer Heiterkeit, von Tränen auf die Dauer Traurigkeit erzeugen muß! Die Anekdote von dem großen alten Schauspieler, der an einem schönen Wintermorgen fröhlich ins Freie tritt und, durch die plötzlich einwirkende Kälte zu Tränen genötigt, in tiefe Melancholie versinkt, ist doch zum mindesten sehr gut erfunden. – Also der völlig empfindungslose Schauspieler ist überhaupt eine Unmöglichkeit, er ist aber nach allem, was ich bisher über Entstehung und Wesen dieser Kunst gesagt habe, auch gar nicht vorhanden. Der große Schauspieler ist von vornherein in einem ekstatischen Rausch, der ihn bis an die Grenze der völligen Verwandlung bringt. Allerdings – und darin steckt der richtige Kern von Diderots falscher Behauptung – nur bis an die Grenze. Ein Schauspieler, der sich völlig verliert, der etwa die Kraft seiner Stimme in der Erregung des zweiten Akts so aufbraucht, daß er im dritten
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heiser ist oder daß er in blinder Rage die Kulissen umrennt, ein solcher Schauspieler ist ein Dilettant. Aber (was eben Diderots zu einfache Psychologie nicht weiß!) der Lekain, der das störende Requisit von der Bühne fegt, hat trotzdem die ganze Leidenschaft seiner Rolle. Es gibt im Schauspieler das, was am besten Friedrich Kayßler genannt hat: „das kleine wachsame Auge“, das den eigenen Körper und die Umgebung der Bühne kontrolliert, und inmitten aller Hingerissenheit, inmitten aller echten Verwandlung die Zusammenstöße vermeidet, die das Weiterspielen gefährden könnten. Gäbe es nicht diese Notwendigkeit des kleinen wachenden Auges, so wäre es vollkommen unsinnig, Schauspielkunst lehren zu wollen. Jeder wirkliche Künstler weiß freilich, daß das Wesentlichste, das eigentlich Geniale, hier so wenig wie bei irgendeiner andern Kunst lehrbar ist. Aber es gibt in der Schauspielkunst genau wie in der Malerei und in der Musik ein Handwerkliches, das gelehrt werden kann und gelehrt werden muß. Das ist die Ausbildung der Stimme und der Gebärden, kraft deren ein Schauspieler dann ein Gefühl ausdrücken und übertragen kann, ohne daß vorzeitiges Verausgaben seiner Kräfte ihn unfähig macht, seine Rolle durchzuführen. Da ist der Umgang mit den vielen technischen Einrichtungen und Apparaten auf der Bühne, der geübt werden muß, wenn der Schauspieler in seinem Verwandlungsakt nicht greulich unterbrochen und gar lächerlich dementiert werden soll. Es muß also Theaterschulen geben.
Julius Bab: „Von Herkunft und Wesen der Schauspielkunst“, in: ders.: Kränze dem Mimen, Verlag Lechte, Emsdetten (Westf.) 1954; S. 7 – 14 Julius Bab (1880 – 1955) war ein jüdischer Dramatiker, Schriftsteller sowie Theaterkritiker der Weimarer Republik. Er gab von 1923 – 1932 die Dramaturgischen Blätter heraus und war an der Gründung des Kulturbunds deutscher Juden beteiligt. Er leitete dessen Theaterressort bis zu seiner Emigration 1938, danach war er als Theaterund Literaturkritiker für die New Yorker Staats-Zeitung tätig.
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Quelle 3 Georg Simmel Zur Philosophie des Schauspielers Was allgemein als die künstlerische Beziehung von Stoff und Form gilt: die gegebene greifbare Wirklichkeit liefere den Stoff, den der Künstler in die artistische Form überführe, über alle Realität hinweg zum Kunstwerk bilde – diese Beziehung dreht der erste und populäre Eindruck der Schauspielkunst geradezu um. Während jede Kunst sonst die Lebensrealität in ein objektives lebensjenseitiges Gebilde überträgt, tut der Schauspieler das Umgekehrte. Denn den Stoff für die Leistung des Schauspielers bildet ja gerade schon ein Kunstwerk, und seine Leistung ist es nun, dies bloß Ideelle, bloß Geistige des Dramas zu verwirklichen, es wieder in einen Wirklichkeitsausdruck überzuführen. In der Tat: das Drama besteht als abgeschlossenes Kunstwerk. Hebt der Schauspieler dies nun in eine Kunst zweiter Potenz? Oder wenn dies sinnlos ist, führt er als leibhaftig lebende Erscheinung es in die überzeugende Wirklichkeit zurück? Warum aber, wenn dies der Fall ist, fordern wir von seiner Leistung den Eindruck von Kunst und nicht den von bloß realer Natur? Aus dieser Verknotung müssen die kunstphilosophischen Probleme über den Schauspieler vorsichtig herausgelöst werden. Die Bühnenfigur, wie sie im Buche steht, ist sozusagen kein ganzer Mensch, sie ist nicht ein Mensch im sinnlichen Sinne – sondern der Komplex des literarisch Erfaßbaren an einem Menschen. Weder die Stimmen noch den Tonfall, weder das ritardando noch das accelerando des Sprechens, weder die Gesten noch die besondere Atmosphäre der lebenswarmen Gestalt kann der Dichter vorzeichnen oder auch nur wirklich eindeutige Prämissen dafür geben. Er hat vielmehr Schicksal, Erscheinung, Seele dieser Gestalt in den nur eindimensionalen Verlauf des bloß Geistigen verlegt. Als Dichtung angesehen ist das Drama ein selbstgenugsames Ganzes; hinsichtlich der Totalität des Geschehens bleibt es Symbol, aus dem diese sich nicht logisch entwickeln läßt. Jenen eindimensionalen Ablauf nun überträgt der Schauspieler gleichsam in die Dreidimensionalität der Vollsinnlichkeit. Und hier liegt das erste Motiv jener naturalistischen Verbannung der Schauspielkunst in die Wirklichkeit: es ist die Verwechslung
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der Versinnlichung eines geistigen Gehalts mit seiner Verwirklichung. […] Indem wir die ganze Irrigkeit der Idee einsehen, daß der Schauspieler die dichterische Schöpfung „verwirkliche“, da er doch dieser Schöpfung gegenüber eine besondere und einheitliche Kunst übt, die der Wirklichkeit genau so fernsteht wie das Dichtwerk selbst – begreifen wir sogleich, warum der gute Imitator noch kein guter Schauspieler ist, daß das Talent, Menschen nachzuahmen, nichts mit der künstlerisch-schöpferischen Begabung des Schauspielers zu tun hat. Denn der Gegenstand des Nachahmers ist die Wirklichkeit, sein Ziel ist, als Wirklichkeit genommen zu werden. Der künstlerische Schauspieler aber ist so wenig wie die Porträtmaler der Nachahmer der wirklichen Welt, sondern der Schöpfer einer neuen, die freilich dem Phänomen der Wirklichkeit verwandt ist, da beide aus dem Vorrat der (ideellen) Inhalte alles Seins überhaupt gespeist werden. Darum ist es ein ganz irriger Ausdruck, dem freilich als Ausdruck auch unsere Klassiker verfallen sind, daß die Kunst überhaupt, und insbesondere die Schauspielkunst, ihre Substanz im Schein habe. Denn aller Schein setzt eine Wirklichkeit voraus, entweder als seine tiefere Schicht, deren Oberfläche er ist, oder als sein Gegenteil, das er heuchlerisch vertreten will. Kunst aber steht jenseits dieses Gegensatzes, ein für sich bestehendes Reich, in dem man die Wirklichkeit nicht suchen und deshalb auch nicht den Schein finden kann. Die künstlerische Selbständigkeit der Schauspielkunst stellt dem kunstphilosophischen Begreifen die schwerste Aufgabe. Denn nicht nur ist die Versklavung abzuweisen, in die der rohste Naturalismus sie bannen möchte: als sei es das Ideal des Schauspielers, sich als Hamlet so zu benehmen, wie sich ein realer Hamlet benommen hätte; sondern noch die viel verführerischere Vorstellung: als ob die ideale Art, eine Rolle zu spielen, mit dieser Rolle selbst eindeutig und notwendig gegeben wäre; als stiege für den, der nur hinlänglich scharf zu sehen und logisch zu folgern wüßte, aus den Buchseiten des Hamlet selbst eine ganz theatralische Versinnlichung heraus; so daß es, genau genommen, von jeder Rolle nur eine einzige „richtige“ schauspielerische Darstellung gibt, der sich der empirische Schauspieler mehr oder weniger nähert. Allein dies wird durch die Tatsache widerlegt, daß drei große Schauspieler die Rolle in drei völlig verschiedenen Auffassungen spielen werden, jede der anderen gleichwertig und keine „richtiger“
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als die andere; ja so wenig sind sie einer höchsten, übersingulären Norm zugewandt, daß irgendein Passus, dem einen Schauspieler etwa besonders gelungen, dennoch nicht in die Auffassung des anderen eingefügt werden kann, ohne diese ganz widrig zu zerstören. So wenig man also den Hamlet einfach aus der Wirklichkeit heraus spielen kann (zudem eine ganz unrealisierbare, naturalistische Phrase), so wenig kann man ihn einfach aus der Dichtung heraus spielen. […] Die bestehende Theorie, daß sich aus der Rolle als Dichtwerk allein ergäbe, wie sie gespielt werden muß, bedeutet ein literarisches Ideal, aber kein schauspielerisches. Der Schauspieler ist nicht die Marionette der Rolle. Sondern zwischen der bloßen Wirklichkeitsanschauung und dem Versuch, aus der Literatur herauszupressen, was sie für sich allein nie hergeben kann – steht die schauspielerische Kunst als ein Drittes, aus eigener Wurzel wachsend, weder aus der Wirklichkeit noch aus dem Drama zu erschließen, oder als „Synthese“ zu gewinnen. Sowenig wie man einem Gemälde gegenüber sich die Wirklichkeit vorstellen soll, für die das Bild nur Reproduktionsmittel der Phantasie wäre (das ist die Photographie), sondern wie das Bild sein eigener Endzweck ist, in das die Wirklichkeit hineingeleitet ist, das aber nicht wieder in die Wirklichkeit hineinleitet – so ist auch die schauspielerische Darstellung Hamlets nicht ein Medium, durch das die Phantasie einen realen oder den literarischen Hamlet sieht. Die schauspielerische Kunstleistung ist selbst das Ziel des Weges und nicht eine Brücke, über die hin es zu einem weiterhin gelegenen Ziel ginge. Es gibt eine ursprüngliche schauspielerische Attitüde, eine schöpferisch gestaltende Reaktion gewisser Naturen gegenüber den Eindrücken des Lebens – gerade wie es eine malerische und eine dichterische gibt. Nur ist all dieses nicht gleich eine für sich stehende Kunstleistung, sondern verwebt in die mannigfaltigen Äußerungen und Praktiken des Tages. Das „Spielen einer Rolle“ – nicht als Heuchelei und Betrug, sondern als das Einströmen des persönlichen Lebens in einer Äußerungsform, die es als eine irgendwie vorbestehende, vorgezeichnete vorfindet – dies gehört zu den Funktionen, die unser tatsächliches Leben konstituieren. Eine solche Rolle mag unserer Individualität adäquat sein, aber sie ist doch noch etwas anderes als diese Individualität und ihr innerlicher und totaler Verlauf. Wer Geistlicher oder
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Offizier, Professor oder Bürochef ist, benimmt sich nach einer Vorzeichnung, die jenseits seines individuellen Lebens gegeben ist. Wir tun nicht nur Dinge, zu denen die Kultur und Schicksalsschläge uns äußerlich veranlassen, sondern wir stellen unvermeidlich etwas dar, was wir nicht eigentlich sind. Das ist freilich nicht, oder nicht immer, Darstellung nach außen um eines Effektes willen, nicht Vorstellung und Unehrlichkeit, sondern das Individuum geht wirklich in die vorgezeichnete Rolle hinein, es ist jetzt seine Wirklichkeit, nicht nur der und der, sondern das und das zu sein. Im großen und kleinen, chronisch und wechselnd finden wir ideelle Formen vor, in die unsere Existenz sich zu kleiden hat. Sehr selten bestimmt ein Mensch seine Verhaltungsart ganz rein von seiner eigensten Existenz her, meistens sehen wir eine präexistierende Form vor uns, die wir mit unserem individuellen Verhalten erfüllt haben. Dieses nun: daß der Mensch ein vorgezeichnetes Anderes als seine zentraleigene sich selbst überlassene Entwicklung darlebe oder darstelle, damit aber dennoch sein eigenes Sein nicht schlechthin verläßt, sondern das Andere mit diesem Sein selbst erfüllt und dessen Strömung in jene vielfach geteilten Adern leitet, deren jede, obgleich in einem vorbestehenden Flußbett verlaufend, das ganze innere Sein zu besonderer Gestaltung aufnimmt – das ist die Vorform der Schauspielkunst. Sie wird Kunst, indem sie aus der Lebensrealität heraus abstrahiert und aus einer bloßen, als Mittel in das Leben verwebten Form zu einem eigenen, jenseits der Realität stehenden Leben ausgestaltet wird. Damit soll natürlich kein historischer oder bewußter Prozeß beschrieben sein, sondern nur der Punkt aufgezeigt, wo die Schauspielkunst sich ihrem Sinn nach innerhalb des Lebens erhebt und an dem sich ihr völlig selbständiges Wesen zeigt. In eben dieser Bedeutung sind wir alle irgendwie Schauspieler, wie fragmentarisch auch immer – gerade wie wir alle in abgestuften Maßen Dichter und Maler sind. Wir schauen die Welt um uns herum nie in dem kontinuierlichen Flusse und der Gleichberechtigtheit ihrer Elemente an, wie der wissenschaftliche Verstand uns ihre Objektivität zeigt; sondern unser Auge schneidet allenthalben Stücke heraus, die es gleichsam einrahmt und als geschlossene Ganzheiten behandelt, es gliedert sie nach Vorder- und Hintergründen, es umreißt die Formen und konstatiert die Verhältnisse von Farben – kurz es übt diejenigen
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Funktionen, die, aus der Praxis gelöst und zu eigener Vollständigkeit erhoben, die malerische Kunstleistung sind. Und so sind wir alle auch Dichter. Nicht nur, wo wir das sprachliche Gefüge über den Telegrammstil hinaus, durch den Reiz von Rhythmus und Ton bestimmen lassen; sondern auch an der inneren Vision, in der sich Existenzen, Schicksale, Gefühle unser selbst und anderer Menschen uns darstellen, wirken die Formen und Geschlossenheiten, die Stilisierungen, Vereinfachungen, die, aus dem Leben herausgehoben und von sich allein aus die Lebensinhalte zu Bildern gestaltend, eben damit das dichterische Kunstwerk zustande bringen. In diesem Sinne also, in dem wir Dichter und Maler sind, sind wir auch Schauspieler; d. h. das kulturelle Leben zeigt allenthalben die Form: daß das Individuum ohne Falschheit oder Heuchelei seine persönliche Existenz in eine vorbestehende Gestalt metamorphisiert, die zwar aus den Kräften des eigenen Lebens genährt, aber doch nicht die Erscheinung des eigenen Lebens ist. Eine solche – irgendwie fremde – Gestalt anzunehmen, kann durchaus in seiner eigenen Natur liegen, diese Paradoxie gehört nun einmal zu unserer Ausstattung. Und daß hier das Prototyp des Schauspielertums liegt, daß eben diese Funktion Kunst wird, wenn sie für sich, von sich aus die Betätigung bestimmt, statt ihrerseits von der Lebensbetätigung bestimmt zu werden – das ist deshalb so wichtig, weil sich die Schauspielerkunst von diesem Wurzelboden her als etwas genau so Selbständiges zeigt wie Malerei und Dichtkunst. Schauspielen ist keine reproduktive Kunst, denn es ist gar nichts da, was sie als Schauspielkunst reproduzieren könnte, da der Dichter ja nur ein literarisches Werk gibt. Reproduktiv ist ein Schauspieler, der einen anderen kopiert. Soweit wir sie freilich in dieser Vorform, diesem bloß Lebensmäßigen verwirklichen, bleiben wir noch sozusagen mit halbem Leibe in unserer sonstigen personalen Wirklichkeit stehen, wir fühlen unser eigentliches individuelles und totales Leben noch immer in einer Spannung, wenn auch nicht in einer gegensätzlichen, gegen die Rolle, die uns aus Gründen der Sozialität oder der Religion, des Schicksals oder der Lebenstechnik vorgezeichnet ist, mögen wir sie auch aus tiefsten Trieben und Notwendigkeiten heraus ergriffen haben. Der Schauspieler aber, dem das formale Gleiche in völlig anderer Spezifikation obliegt, täglich wechselnd, in genauester Vor-
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geschriebenheit des einzelnen, behält nun während dieser Leistung gar keine davon abweichende Persönlichkeit zurück, sein autochthones Dasein geht ohne Rest in die vorgefundene Gestaltung auf. Gerade durch diese Absolutheit des Verhaltens aber läßt er seine „Wirklichkeit“, die ja eine ganz andere ist, die Interessen, Aktionen, Verflochtenheiten des sonstigen Lebens hinter sich, d. h. er übt Kunst – während eben das formal gleiche Verhalten als fragmentarisches zwar eine Vorform der Kunst, aber doch Seite oder Element der empirische Realität bleibt. Das Zentrum des kunstphilosophischen Problems dem Schauspiel gegenüber lag in der scheinbar ganz einzig dastehenden Tatsache: daß hier ein schon bestehendes Kunstprodukt zum Stoff einer nochmaligen künstlerischen Formung wurde. Dies trieb zu der Alternative: die schauspielerische Leistung sei entweder die Reduktion des Literaturdramas auf den Wirklichkeitseindruck; oder die bloße Vermittlung und Sichtbarmachung des Dramas, seine Überführung in den andern Aggregatzustand, wobei das Schauspielerische mit dem Drama selbst schon gegeben sei und nur herausgeholt zu werden brauche. Die erste Theorie vernichtet den Kunstcharakter der Schauspielkunst, die andre ihre Selbständigkeit und Produktivität. Aber dieser verzweifelten Auswege bedarf es gar nicht, sobald man sich klarmacht, daß die schauspielerische Aufgabe gar kein solches künstlerisches Unikum ist, sondern sich genau wie alle andern Künste aus einer durch das Leben gebildeten Vorform erhebt, die genau so fundamental, nur etwas komplizierter ist wie die der Malerei und der Dichtung. Irgendwelche Gegebenheiten brauchen doch auch diese. Um einzusehen, daß die Kunstform des dramatischen Stoffes gar nicht das radikale Problem aufgibt, bedenke man jene früheren Formen des Theaters, in denen den Schauspielern ihre Rollen überhaupt nicht Wort für Wort, sondern nur in den allgemeinen Umrissen der Handlung vorgezeichnet waren. Indem der Schauspieler hier, was ihm sonst der Dichter vorzeichnet, selber schuf, indem also die Problematik der Kunst, die über eine schon fertige Kunst kommt, nicht bestand, war doch das Wesentliche und Spezifische des Schauspielertums genau dasselbe, was es in den späteren Fällen war: die Erzeugung eines Bildes von Persönlichkeit und Schicksal, die nicht Persönlichkeit und Schicksal des vorzeigenden Individuums sind.
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Indem dies aber nicht Verstellung und Lüge ist (da es nicht Realität vortäuschen will), indem dieses Ein-Anderer-Sein vielmehr aus der tiefsten, eigensten Wesens- und Triebschicht des Individuums hervorgeht, erzeugt sich in dieser Paradoxie das spezifisch künstlerische Phänomen. Daß dem Schauspieler die Rolle bis zu jedem einzelnen Wort vorgeschrieben ist, ist nur eine Zuspitzung und Kanalisierung dieser allgemeinen, auch bei einer Improvisation geltenden Aufgabe, prinzipiell schließlich nichts anderes, als wenn dem Porträtmaler sein Modell gegeben ist. So schön die Formel klingen mag, daß der Schauspieler nur dem Drama Leben einflößen soll, nur die Lebendigkeitsform des Dichters darstellen soll – sie läßt zwischen Drama und Wirklichkeit die eigentliche unvergleichliche schauspielerische Kunst als solche verschwinden. Daß jemand die Lebenselemente schauspielerisch gestaltet, ist ebenso ein Urphänomen, wie daß er sie malerisch oder dichterisch oder auch daß er sie erkenntnismäßig oder religiös neu schafft. Diese Deutung der Schauspielkunst als einer ganz eignen, aus dem Schöpfungsgrund aller Kunst ursprünglich aufsteigenden artistischen Betätigung scheint nun doch über ein letztes Problem nicht zu beruhigen, das aus einem ganz einfachen Erlebnis entgegenkommt. Wer je eine und dieselbe Rolle von zwei bedeutenden Schauspielern in ganz verschiedenen Auffassungen gespielt sah, muß eigentlich von dem Rätsel erregt werden: hier ist eine Gestalt, die der Dichter als eine und nach einem Sinn bestimmte geschaut und geschaffen hat – und nun werden auf der Bühne daraus zwei unvereinbare, nach ganz verschiedenen Richtungen orientierte; und doch eine jede mit seelischer und künstlerischer Konsequenz, in sich geschlossen, keine falscher und keine richtiger als die andere, jede eine erschöpfende und voll befriedigende Ausgestaltung der dichterischen Figur und doch deren Einheit so dementierend, daß ein Zug, der in der einen Auffassung überzeugendste Wahrheit besitzt, gar nicht in die andere zu überpflanzen wäre, ohne deren Wahrheit gänzlich zu zerstören. Nicht um die Mehrdeutigkeit handelt es sich, die an manchen dramatischen Figuren schon als dichterischen haftet, wie am Hamlet. Vielmehr auch die dichterisch völlig eindeutige Gestalt, Coriolan oder Posa, Iphigenie oder Gregers Wehrle, ist schauspielerisch eine vieldeutige. Wie aber ist dies zulässig, ja möglich, wenn die schauspielerische Leistung, bei allem artistischen Eigenbestand, doch von der Intention
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des Dichters, die eine und nur eine ist, ideell bestimmt ist? Die Selbständigkeit der schauspielerischen Leistung hat sich hier zu der Selbständigkeit der schauspielerischen Individualität zugespitzt. Jetzt ist nicht die Frage nach der künstlerischen Selbständigkeit des Schauspielertums überhaupt, sondern der Individualität des einzelnen Schauspielers. Und auch diese kann weder bestehen, wenn der Schauspieler die eine dichterische Figur darstellt, noch wenn er naturalistisch diejenige Person spielt, die dieser Figur in der Realität entsprechen würde. Wie sehr seine Leistung jenseits beider steht, offenbart jetzt auch die empirische Tatsache, daß es schauspielerisch viele Hamlets gibt, während es sowohl dichterisch wie real nur einen gibt. […] Dies führt noch einen Schritt weiter in die metaphysische Bedeutung der Kunst. Diese ganze Deutung der idealen schauspielerischen Aufgabe ruht auf der Verselbständigung der Schauspielkunst gegenüber den falsch laufenden Ansprüchen, die einerseits von der Wirklichkeit, der äußeren und der subjektiven, anderseits von dem Drama als Dichtwerk an sie gestellt werden. Es galt einzusehn, daß sie weder von der Natur in irgendeinem Sinn, noch von der Literatur ressortiert, sondern wie ihre Geschwister die autonome Kunstwendung eines ursprünglichen Verhaltens des menschlichen Lebens ist. Nur gleichsam die Verwirklichung, das konkrete Lebendigwerden dieser artistischen Selbständigkeit der Schauspielkunst als solcher war es, daß jeder einzelnen Rolle gegenüber die ideale Forderung sich als die Relation zwischen ihr und der Individualität des Schauspielers enthüllte. Und nun offenbart sich hier mit unerhört weiter Umfassung das Wunder der Kunst überhaupt. Die Schauspielkunst, aus eignem Lebenspol durchaus eigner Kunstnormen entwickelt, von ihrem Letzten her alle Untertänigkeit unter die Wirklichkeit, unter die Dichtung, unter das nackte Naturell ablehnend – erfüllt nun dennoch in ihrer Vollendung die Ansprüche, die von all diesen Seiten erhoben werden. Georg Simmel: „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: ders.: Das individuelle Gesetz, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 75 – 89 Georg Simmel (1858 – 1918), deutscher Philosoph, Soziologe, lehrte an den Universitäten Berlin und Straßburg. Seine wichtigen Veröffentlichungen zum Geld, zur Stadt- und Gefühlssoziologie und zur Mode machen ihn zu einem der maßgeblichen Soziologen des beginnenden 20. Jahrhunderts.
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Quelle 4 Helmuth Plessner Zur Anthropologie des Schauspielers Daß sich die philosophische Anthropologie einmal mit dem Schauspieler beschäftigt, mag auf den ersten Blick befremden. Befremdlicher ist die Tatsache, daß sie es bisher meistens unterlassen hat.1 Der Schauspieler stellt Menschen dar. Ein Mensch verkörpert einen anderen. Nirgends sonst wird uns das gezeigt. Dichtung und bildende Kunst verkörpern „auf Umwegen“ und „im Abstand“, in Wort, Farbe und Form, nicht in Menschen selbst. Im täglichen Leben begegnen wir dem Menschen, „wie er ist“, ungeschminkt und unverstellt. Ohne Zweifel bildet solche unvermittelte Zugänglichkeit in den Augen der Anthropologie einen methodisch nicht zu unterschätzenden Vorzug, da sie wissen will, wie und was der Mensch ist. Die Situation des Schauspielers ist immerhin eine komplizierte, in sich reflektierte Einheit, in der die verkörperte Person der Rolle die verkörpernde Person des Schauspielers überdeckt. Herr X. als Othello und Frau Y. als Desdemona sind Personen der Vorstellung und gehören, nimmt man den Ausdruck beim Wort, dem Reich der Phantasie an. Othello und Desdemona sind Bilder, die eine Wirklichkeit bedeuten, zwischen die wirklichen Theaterbesucher und die wirklichen Schauspieler geschoben, Bilder einer imaginären Welt, die der Wirklichkeit gleicht, aber sie selbst nicht ist. Die Anthropologie will das Menschenwesen in seiner vollen Wirklichkeit studieren. Muß sie sich dazu eine Situation aussuchen, in welcher der Blick auf die Wirklichkeit durch Bilder verschleiert wird, durch Bilder nota bene, die diese Wirklichkeit produziert? In der Tat nota bene: diese Bilder stellen Menschen dar von Fleisch und Blut, von Geist und Herz. Sie existieren nicht als farbige Figuren auf einer Fläche, auch nicht als lebende Bilder und bewegte Skulpturen. Sie sind von Menschen verkörperte und bedeutete Menschen. Othello und Desdemona 1
Wertvoll für die Problematik sind Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) mit einem Anhang über Pirandello, Jürg Zutt, Die innere Haltung. Mschr. für Psychiatrie und Neurologie (1929), Hans Kunz, Die anthropologische Bedeutung der Phantasie (1946), J. P. Sartre, L’imaginaire (1938; dt. Das Imaginäre, 1971) und L’être et le Néant (1944) dt. Das Sein und das Nichts, 1962), D. J. van Lennep, Het wezen van de projectie, Diss. Utrecht 1948. Ferner die Arbeiten von Huizinga, Buytendijk und Bally über das Spiel.
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leben nicht mehr und nicht weniger wie X und Y in ihrer Privatexistenz, in der Sorgen um Engagement und Gage vielleicht größeren Raum einnehmen als Liebe und Eifersucht, durchschnittlich, verglichen mit dem Schicksal, an dem ihre Verkörperung sie selbst und die Zuschauer teilnehmen läßt. Menschen, fertige Charaktere werden hingestellt. Menschen lösen sich von sich ab, verwandeln sich in andere. Sie spielen ein anderes Sein. Bietet diese Situation nicht doch auch besondere Vorteile für die anthropologische Erkenntnis? Ist es nicht gerade methodisch von unschätzbarem Wert, daß die menschliche Existenz sich hier bis auf den Grund durchsichtig macht, indem sie sich verwandelnd selbst schöpft? Ist es nicht zumindest der Mühe wert, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen? Wenn sich die anthropologische Analyse an die Auslegung hält, welche der Mensch von sich selbst gibt, indem er von sich und anderen und von der Welt spricht, handelt, urteilt, bildet; zu sich, zur Gesellschaft, zu Natur und Gott ein Verhältnis findet; warum soll sie dann, ja wie darf sie dann an einem Verhalten vorübergehen, das menschliches Sein selber gestaltet? 1. Entwicklungsphasen Wenn es richtig ist, daß das Schauspiel ursprünglich zum kultischen Handeln gehört, das Drama sich aus der heiligen Handlung entwickelt hat, so wird seine Emanzipation und endgültige Verweltlichung, die auf der modernen Schaubühne und im Film erreicht ist, an dem Schauspieler, als dem Träger der Handlung, nicht spurlos vorübergegangen sein. Figur und Funktion des Darstellers richten sich nach dem Ziel, dem Inhalt und der Form der Aufführung. Der uns vertraute Schauspielertyp ist ein Kind der Literatur, das Lieblingskind ihrer bürgerlichen Epoche, der berufene Dolmetscher des frei schaffenden Bühnendichters. Er allein verwirklicht den Willen des Dichters, geführt, bisweilen gegängelt vom Regisseur. Seiner Auffassung der Rolle sind durch die Deutlichkeit der dichterischen Absicht und den Zeitgeschmack Grenzen gezogen, aber innerhalb ihrer ist Raum genug für die Originalität und Unwiderstehlichkeit persönlicher Verkörperung. Entscheidend bleibt der Rückhalt an der Rolle, in der seine Individualität sich entfaltet und zugleich verschwindet. Die Verwandlung bleibt durch die Persönlichkeit getragen.
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I. Schauspielen So war es in den Anfängen des kultischen Spieles nicht: „Die Priester
oder sonstigen Darsteller sind eben nur Darsteller der heiligen Macht … Nur so wird verständlich, daß das Kostüm und die Maske im kultischen Handeln unentbehrlich sind … Die Maske macht den kultisch Handelnden zum Vertreter. In den Maskentänzen so mancher primitiver Völker re-präsentieren die Tänzer im buchstäblichen Sinne die Dämonen oder Götter und das Ereignis, das vorgeführt wird … sie sind die Geister oder Dämonen, und das Ereignis findet wiederum statt.“2 Als Stellvertreter verschwinden die Menschen hinter dem in Maske und zeremoniöser Bewegung festgelegten Schauspiel, dessen Rollen keine Rücksicht auf Individualitäten nehmen, dessen Autor und Aktor der Gott ist. Ihr Handeln ist rituelle Wiederholung. Anonymität und Bewegungsvorschrift beherrschen die Szene. Sie lockerte sich im Zuge der Entstehung und Ausbildung eines von Dichtern geschaffenen dramatischen Textes. Die Maske fiel, und langsam trat der Schauspieler mit seiner Person in die Verwandlung ein. Freilich blieben noch lange gewisse Typen respektiert, nicht nur weil die Konvention das Hochkommen frei erfundener Typen oder neuer Auffassung traditioneller Rollen verbot, sondern auch weil das Publikum die gleiche Figur immer wieder sehen wollte wie die Kinder den Kasperl oder den Teufel im Puppentheater. Der Befreiung von der Übergewalt der Tradition im gesellschaftlichen Leben mußte schließlich auch die Schaubühne folgen und an die schöpferischen Verwandlungsmöglichkeiten des Darstellers appellieren. Doch erreichte der Naturalismus des modernen Problemstücks mit seiner psychologischen Vertiefung und seinem Ideal von Lebenswahrheit noch nicht den Höhepunkt dieser Emanzipation des Schauspielers. Er blieb schließlich auch hier an die Rolle gebunden. Der hochgestimmte Deklamationsstil des klassischen Dramas war „überwunden“, die Natürlichkeit des Vortrags und der Gesten suchte den Abstand zwischen Bühne und Zuschauer zu verleugnen, noch nicht aber das In-einer-Rolle-Sein, das Spiegelverhältnis des Darstellers zum Zuschauer selbst. […]
2
G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 1933, S. 350. Vgl. ferner desselben Autors Wegen en Grenzen, 1932. Zur Entstehung des Dramas H. Reich, Der Mimus, 1903.
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2. Verkörperung Zwischen dem anonymen Maskentänzer, dessen Bewegungen den Vorschriften der kultischen Handlung entsprechen und nicht expressiv sein wollen, sondern erzählen und Expressivität durch Mitteilung eines Vorgangs erreichen, und dem Filmstar, der sich selbst spielt, auf dem Hintergrund einer Rolle, liegt eine Welt. Doch zeigen beide, wenn auch in ganz verschiedene Richtungen weisende Möglichkeiten eines und desselben Verhaltens, die Verkörperung einer Figur mit dem eigenen Leibe. Darstellung in objektivem Material von Farben, Formen, Stoffen, Worten und Klängen mag dann prinzipiell von der Darstellung des Schauspielers nicht abweichen, und gewisse ästhetische Gesetze haben sie sicher gemeinsam, doch verrät die Darstellung im Material der eigenen Existenz eine Abständigkeit des Menschen zu sich, über deren Umfang und Art man sich in der Anthropologie weniger Gedanken macht als in der Ästhetik über ihre Konsequenzen. Man vergißt, daß die „Selbstbeherrschung“, welche das tägliche Leben vom Menschen fordert, die Beherrschung der Rolle, die er in ihm spielt, die Verwandlungs- und Verstellungsfähigkeit, welche Umgang und Beruf einem jeden mehr oder weniger aufzwingen, beim Darsteller auf das Bild gerichtet sind, das er für den Zuschauer sein will. In der normalen Hingegebenheit an irgendeine Beschäftigung kann der Mensch, ja muß er sich vergessen. Nur das Stück seiner selbst, das für die Durchführung seiner Absichten als Mittel besonderer Beherrschung und Pflege bedarf, macht er sich bewußt, spaltet er von sich ab. Beim Schauspieler umfaßt dieses Stück ihn selbst, als Leib und Seele. Er selbst ist sein eigenes Mitleid, d. h. er spaltet sich selbst in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spaltes, hinter der Figur, die er verkörpert, stehen. Er darf der Aufspaltung nicht verfallen, wie etwa der Hysteriker oder der Schizophrene, sondern er muß mit der Kontrolle über die bildhafte Verkörperung den Abstand zu ihr wahren. Nur in solchem Abstand spielt er. Begreiflicherweise führt der Zuschauer die Ausdrucksmächtigkeit des Darstellers auf die Intensität seines Gefühls zurück, dem das Ausdrucksbild entspricht, vergißt aber dabei, daß hinter diesem Bild – auch dann, wenn unmittelbare Natürlichkeit erstrebt wird – nicht das Gefühl, sondern die bildnerische Absicht des Schauspielers steht, der sich mit einer Figur in
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einer bestimmten Situation identifiziert, aber sie nicht einfach ist. Auch der Darsteller-Interpret einer Rolle, auch der Filmspieler bleibt Repräsentant, bleibt Träger einer Maske. Der Unterschied zum anonymen Maskentänzer der „Primitiven“ liegt nur darin, daß seine Maske nicht aus Holz, sondern sein eigener Körper ist. Mit dem Fortfall der künstlerischen Maske wird der Leib selbst zum Kunstmittel. Der Darsteller bleibt hinter seinem eigenen Aussehen genauso verborgen wie der kultische Tänzer. Nur mischt er in das Bild der Rolle seine eigene Individualität oder durchtränkt die eigene Individualität mit dem Bild einer Rolle. Gut ist der Darsteller nicht darum, weil im gegebenen Augenblick seine Gefühle echt sind und er das und das wirklich erlebt, was den Handlungen seiner Rollenfigur entspricht, sondern weil er durch seine Gesten, seine Mimik, seine Stimme imstande ist, für sich und andere jene Illusion der Tiefe zu erzeugen, welcher die Handlungen entsprechen. Man darf die schauspielerische Gestaltung nicht in das Schema einer Alternative: von innen nach außen oder von außen nach innen zwängen. Beide Wege stehen ihr offen und sind zueinander komplementär. Auf beiden Wegen kann die Bildgestaltung entgleisen. Die Geste, eine Spur zu spät, zu übertrieben, wirkt leer und mechanisch, wenn sie sich nicht in das Bild fügt. Das stärkste Gefühl teilt sich nicht mit, wenn es die Darstellungsfläche des Tonfalls und der Bewegung nicht erreicht. Wie der Zeichner und Maler die Umwege beherrschen muß, welche ihm die Mittel der Linie und Farbe, die Aufteilung einer begrenzten Fläche vorschreiben und ihn zu einer Verkürzung, zu einer Verdichtung ins Wesentliche drängen, von der die Erweckung der Illusion des Gesehenen, des in dem optischen Datum Gemeinten abhängt, so muß auch der Darsteller um die Bildkomposition bemüht sein, der er den Tonfall seiner Stimme, seinen Gang, seine Gesten, seinen Blick zur Verfügung stellt. Eine wirkliche Aufwallung, ein echtes Gefühl kann ihm dabei helfen, den echten Ausdruck zu finden, hat aber nur dann Wert, wenn sie dem Darsteller wirklich zu Gebote steht. Er ist nur, wenn er sich hat. Mit solchen Feststellungen ist nicht für einen besonderen Darstellungsstil Partei ergriffen, sondern allein die schauspielerische Situation getroffen. Der expressive, ganz in der Aktion aufgehende, ausdrucksmäßige, selbst der übersteigerte Stil gehört mit dem Stil der vollkommenen Natürlichkeit,
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Nüchternheit, Trockenheit und Selbstverständlichkeit zu jener Form der Darstellung, welche den Darsteller als den Produzenten der Illusion gewissermaßen überspringt und von der Bildfläche verdrängt. Ihr sind die Stile der klassischen Deklamation, der Commedia dell’arte, aber auch gewisse persönliche Formen einer Schauspielkunst, die mit sich selbst spielt, sich selber zuhört (u. U. zur Improvisation übergeht) oder aber in der entgegengesetzten Richtung die Objektivität des Rollenbildes bis zur Marionettenhaftigkeit steigert, als Formen einer den Darsteller in das Bild mit einbeziehenden Darstellung entgegengesetzt. Sie alle sind wahr, eine jede auf ihre Weise. Keine hat vor der anderen den Vorrang an Echtheit, Größe, Eindringlichkeit oder Schönheit. In jeder manifestiert sich der Mensch auf eine zugleich unmittelbare und vermittelte, natürliche und künstliche Weise. Darum sagen sie uns in einem etwas über den Schauspieler und seine Kunst und über die menschliche Natur, deren Darstellungsfähigkeit als Gabe der Verkörperung im Schauspieler gesteigert hervortritt, als Darstellbarkeit menschlichen Seins durch die Verkörperung sichtbar wird. 3. Bildentwurf Natürlich steht es frei, den Schauspieler als Subjekt von der Figur, die er spielt, als Objekt zu unterscheiden, falls man sich bei dieser Unterscheidung nur der Tatsache bewußt bleibt, daß dieses Objekt ein Subjekt sein soll, mit dem er sich während des Spiels identifiziert. Dieser Identifikation geht beim künstlerischen Darsteller ein besonderer Bildentwurf voraus, dem er in seiner Verkörperung sich angleicht. Sein Spiel beruht auf der hierfür geforderten Abspaltung eines Selbst, das er in der Rolle zu sein hat, einer Abspaltung, die ihm, wie die soeben kurz angedeuteten Stilformen beweisen, auf sehr verschiedene Weise möglich ist. Wie kommt es, daß dieser künstliche Vorgang, dessen Schwierigkeiten der Textwiedergabe, des Sprechens, der guten Koordination zwischen Sprechen und Bewegung, vom Bildentwurf noch ganz zu schweigen, bekannt sind, zu einem Ergebnis führen kann, das – einerlei ob man seine Natürlichkeit, Echtheit, Größe, Eindringlichkeit oder Schönheit rühmt – die Illusion einer Menschlichkeit uns vor Augen stellt? Anders gefragt: wäre es dem Menschen möglich, in einer ihm vorgespielten Figur „sich“, eine Seite, eine Möglichkeit von sich, einen
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Menschen im Lichte einer Idee wiederzuerkennen, wäre es ihm möglich, die Figur auf die Beine zu stellen, wenn er nicht von Natur bereits „etwas vom“ Schauspieler in sich hätte? Muß er nicht auch in dieser Hinsicht das schon sein, zu dem er sich macht? Enthüllt der Schauspieler nicht, wenn sein Darstellungsbereich der Möglichkeit nach unbegrenzt ist, jedenfalls in einer besonderen Hinsicht die menschliche Konfiguration? Hier wird ein Mensch durch eine Figur zum Leben erweckt, nicht mit einer bloßen Figur an ihn erinnert. Darin liegt gerade der Reiz des Schattenspiels, des Puppen- und Marionettentheaters, des Zeichenfilms nicht zu vergessen, daß es bloße Figuren als Stellvertreter von Menschen zeigt, Repräsentanten von allem, was auf, über und unter der Erde ist. Die Repräsentation, erschwert durch den Abstand der Figur zu dem, was sie vorstellt, und insofern wieder erleichtert, als die Augenscheinlichkeit des wirklichen Menschen wegfällt, spielt hier über einen besonders großen Abstand hinweg zugleich mit dem Abstand. Kein Wunder, daß diesem Appell an die Einbildungskraft Kinder und „Primitive“ leichter folgen als die ernüchterten Realisten unserer Zivilisation. Zudem sind Puppen und Marionetten den Figuren des sakralen Maskenspiels verwandt, ihr genau festgelegter Ablauf hat im Mechanismus der von außen bewegten Figuren seine verwandte Ausdrucksform. Tritt jetzt der wirkliche Mensch in der Rolle eines Menschen oder menschenähnlichen Wesens auf die Bühne, dann verändert sich zwar die Situation für den Zuschauer insofern, als ihm die Illusion der Verwandlung erleichtert, der Abstand der Figur zu dem, was sie vorstellt, verringert wird. Aber er hat, obwohl in dieser Hinsicht erschwert, noch stets den Zugang, wenn man will: die Rückgangsmöglichkeit zu der in der Verkörperung gezeigten Figur. Indem sich die Augenscheinlichkeit eines wirklichen Darstellers, der eine wirkliche Person spielt, zwischen den Zuschauer und die dargestellte Person schiebt, wird der scheinbar verringerte, im Grenzfall des Filmstars vernichtete Abstand zur Figur wiederhergestellt, freilich nur in den Menschen selbst verlegt und als das Verhältnis des Menschen zu sich selbst entdeckt. Als das Verhältnis seiner selbst zu sich selbst ist er die Person seiner Rolle, für sich und für den Zuschauer. In dieser Verhältnismäßigkeit wiederholen Spieler und Zuschauer jedoch nur die Abständigkeit des Men-
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schen zu sich und zu einander, die ihr tägliches Leben durchdringt, eine Abständigkeit allerdings, die – verführt sie auch zum Spiel und behält sie auch latent Spielcharakter – die Basis seines Ernstes bildet. Denn was ist schließlich dieser Ernst der Alltäglichkeit anderes als das Sich-einer-Rolleverpflichtet-Wissen, welche wir in der Gesellschaft spielen wollen? Freilich will dieses Spiel nicht darstellen, es kennt nur Mit-Spieler, d. h. Mit-Menschen, und die Last des Bildentwurfs für unsere soziale Rolle ist uns durch die Tradition, in die wir hineingeboren werden, abgenommen. Trotzdem müssen wir, als virtuelle Zuschauer unserer selbst und der Welt, die Welt als Szene sehen. Der Dichter tut es, der Philosoph, der Historiker, der Soziologe und wer immer sich mit dem Menschen als Phänomen auseinandersetzt. Die unverbrüchliche Einheit von Sein und Auffassung des Seins in der Rolle einer menschlichen Lebensführung fordert vom Menschen Einfügung in einen sinnvollen Zusammenhang. Er bestimmt einem jeden Platz, Funktion und „Ansehen“ in und für die Gesellschaft. […] Von der schauspielerischen Aktion her verstehen wir menschliches Leben schließlich als Verkörperung einer Rolle nach einem mehr oder weniger feststehenden Bildentwurf, der in repräsentativen Lagen bewußt durchgehalten werden muß. Nicht jeder wird das Zeug dazu in sich fühlen, nicht immer sind derartige Qualitäten am Platze. Doch gehören sie zweifellos zu den Bedingungen menschlicher Existenz. Sie weisen nämlich zugleich auf jenen anderen Aspekt ihrer Abständigkeit zu sich, der von sozialem Rang und sozialer Funktion weitgehend unabhängig ist, den Aspekt der Nachahmung und Verstellung. Man bringt ihn zu Unrecht mit Tücke und Hinterhältigkeit, mit Falschheit und Unechtheit in einen notwendigen Zusammenhang. Mauvaise foi kann Anlaß zur Verstellung sein und beherrscht vielfach das menschliche Verhalten im diplomatischen Verkehr. Aber mit verstellter Stimme Sprechen, ohne schlechte Absichten, gehört auch in den Bereich des „anders Scheinen, als man ist“: man will dann die Haltung eines Anderen annehmen, jemanden nachahmen. Die Nachahmung, nicht jedem in gleicher Weise verfügbar, weist auf eine Bildbedingtheit der Äußerungsmöglichkeiten, welche den Nachahmenden innerlich mit umformen. Er wird durch seine veränderte Haltung ein Anderer. Abgesehen von den mimisch-imitatorischen Darbietungen, die der schauspie-
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lerischen Aktion verwandt sind und zur Erheiterung beitragen, sind hier besonders diejenigen nachahmenden Angleichungen an einen bestimmten Lebensstil aufschlußreich, der im Zeichen der Nachfolge eines Vorbilds von einer Gefolgschaft gefordert wird. Das religiöse, kriegerische, staatliche Leben bietet hierfür viele und mächtige Beispiele. Freilich ist dann von Verstellung keine Rede mehr. Hier empfängt der Mensch Richtung und Form aus einem Vorbild. Er bildet sich ihm nach. Er wird durch den Anderen er selbst. Seine Gedanken und Gefühle sind die Gedanken und Gefühle seines Ordens, seines Korps, seines Standes, seines Landes, seiner Klasse, seines Gottes, Vorbilds und Führers, doch darum nicht weniger echt und ihm eigen. In der Rolle des Abbilds geht er auf, Identifikation, Einswerdung mit ihm wird erstrebt. Alle derartigen Erscheinungen des menschlichen Verhaltens muß man sich vor Augen führen, um in der schauspielerischen Aktion typische Bedingungen menschlichen Daseins wiederzufinden, mit denen der Darsteller spielt. Sein Spiel macht sie uns bewußt, analysiert sie in der Schöpfung der Figur, die er auf die Bühne bringt, und gewinnt damit die Bedeutung eines anthropologischen Experiments. Daß seine Verkörperung künstlerischen Forderungen wie jede Darstellung zu gehorchen hat, daß die Schwierigkeiten des Textes, des Sprechens, der Koordination zwischen Sprechen und Bewegung nicht fühlbar werden dürfen und der Bildentwurf, dem die Figur in allen ihren Äußerungen folgt, originell oder traditionell, überzeugend oder gewollt, echt oder gemacht, übertrieben oder unauffällig, überladen oder einfach und was nicht alles noch sein kann, in jedem Falle aber beherrscht, gekonnt und zwingend sein muß, will er ästhetisches Niveau erreichen, dafür ist der Schauspieler als Darsteller und schöpferische Persönlichkeit verantwortlich. Dafür gibt es auch keine Regeln, es sei denn negative der Vermeidung aller möglichen Fehler, ganz wie in den Künsten überhaupt. Auch für ihn gilt der Satz Liebermanns: Zeichnen ist Weglassen. Was aber wegzulassen ist, wie die Geste sein muß, um im Zwang des Augenblicks frei, überzeugend, ergreifend wirken zu können, das bleibt in letzter Linie dem bildschöpferischen Können des Darstellers anheimgegeben. Jedoch übernimmt der Schauspieler, ob gut oder schlecht, in jedem Fall die Aufgabe, seiner Rolle eigene Figur zu sein. In dieser extremen Möglich-
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keit, zu der das Leben in Ausnahmen und festlicherweise Gelegenheit bietet und nur die Träger seiner großen Rollen, zur Hauptsache den Priester und den Herrscher, befugt, wird der Menschendarsteller zum Repräsentanten menschlicher Würde. Der Menschheit Würde ist in seine Hand gegeben. Aber diese Würde hat ihre Wurzel nicht allein in der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott, sondern ebensosehr in dem mit der Abständigkeit zu sich gegebenen Abstand zu ihm. Würde besitzt allein die gebrochene Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform. Ihre Überlegenheit über das bloße Leben, die in ihren geistigen Äußerungen vernehmbar wird, erkauft sie mit Hemmung und Unterlegenheit im bloßen Leben. So erweist sich in Kleists Erzählung Über das Marionettentheater der Bär dem Fechter überlegen. Mit der Entdeckung seiner selbst, diesem Über-sich-selbst-hinaus-Sein, dieser fatalen présence à soi hat der Mensch seine Freiheit gewonnen und die ungebrochene Sicherheit seiner Animalität verloren. Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz Selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst sich präsentiert. Er besitzt weder die ungehemmte Präzision der Marionette bzw. die Instinktsicherheit des Tieres noch die vollkommene Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung. Er ist gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über sich selbst verfügt. Er fällt nicht mit dem zusammen, was er ist: dieser Körper, dieses Temperament, diese Begabung, dieser Charakter, insofern als er sie, sich von ihnen distanzierend, als dieses ihm gegebene Sein erkennt. Sie sind ihm zugefallen und ihrer Zufälligkeit bleibt er sich bewußt, ob er nun ihrer Herr wird oder nicht. Das, was er hat, hat er zu sein – oder nicht zu sein.
Helmuth Plessner: „Zur Anthropologie des Schauspielers“, in: ders.: Ausdruck und menschliche Natur, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 403 – 417 (Erstveröffentlichung 1948) Helmuth Plessner (1892 – 1985), deutscher Philosoph, Soziologe und zentraler Vertreter der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Er lehrte an den Universitäten Köln, Groningen und Göttingen.
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Quelle 5 Erving Goffman Dramatische Gestaltung Vor anderen durchsetzt der Einzelne gewöhnlich seine Tätigkeit mit Hinweisen, die bühnenwirksam ihn bestätigende Tatsachen illustrieren und beleuchten, welche sonst unbemerkt oder undeutlich bleiben könnten. Denn wenn die Tätigkeit des Einzelnen Bedeutung für andere gewinnen soll, muß er sie so gestalten, daß sie während der Interaktion das ausdrückt, was er mitteilen will. Es kann in der Tat vorkommen, daß von dem Darsteller Beweise seiner Fähigkeiten nicht nur im gesamten Verlauf der Interaktion, sondern auch innerhalb eines Sekundenbruchteils verlangt werden. Wenn etwa der Schiedsrichter beim Baseballspiel den Eindruck erwecken will, er sei sicher in seinen Entscheidungen, so muß er auf den Augenblick der Reflexion verzichten, der ihm gerade die Sicherheit geben könnte. Er muß sofort eine Entscheidung fällen, damit das Publikum sicher sein kann, daß sein Urteil richtig ist. Dazu ist anzumerken, daß die Gestaltung bestimmter Rollen deshalb kein Problem bietet, weil einige der Handlungen, die für die Erfüllung der Hauptaufgabe der Rolle unbedingt nötig sind, gleichzeitig unter dem Aspekt der Kommunikation vorzüglich dazu geeignet sind, die von dem Darsteller beanspruchten Eigenschaften und Fähigkeiten sichtbar zu machen. Die Rollen des Preisboxers, des Chirurgen, des Violinisten und des Polizisten sind gute Beispiele dafür. Diese Tätigkeiten erlauben ein solches Maß an dramatischem Ausdruck, daß vorbildliche Praktiker – in der Wirklichkeit oder in Romanen – berühmt werden und einen besonderen Platz in den kommerziell organisierten Träumen der Nation einnehmen. In zahlreichen Fällen stellt aber die dramatische Gestaltung der eigenen Arbeit ein Problem dar. Als Beispiel kann ein Abschnitt aus einer Untersuchung der Arbeitsbedingungen in einem Krankenhaus zitiert werden. Hier wird ein spezifisches Problem des Pflegepersonals für nicht operativ behandelte Patienten sichtbar: Die Dinge, die eine Krankenschwester im Operationssaal für einen frisch operierten Patienten tut, haben häufig eine auch für den Patienten erkenn-
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bare Bedeutung, auch wenn dieser mit dem Funktionsablauf eines Krankenhauses nicht vertraut ist. So sieht der Patient beispielsweise, daß die Krankenschwester seine Verbände wechselt oder orthopädische Apparate reguliert, und kann erkennen, daß es sich um eine sinnvolle Tätigkeit handelt. Auch wenn sich die Krankenschwester nicht direkt mit ihm beschäftigt, weiß er ihre Tätigkeit zu schätzen. Auch Pflege und die Behandlung mit Medikamenten ist eine Arbeit, die große Vorkenntnisse verlangt … Die Diagnose des Internisten muß sich auf sorgfältige Beobachtung der Symptome über einen längeren Zeitraum stützen, während die des Chirurgen viel stärker von sichtbaren Faktoren abhängig ist. Der Mangel an Sichtbarkeit wird hier für das Pflegepersonal zum Problem. Der Patient sieht, wie die Stationsschwester am Nachbarbett stehenbleibt und einen Augenblick plaudert. Er weiß nicht, daß sie Atmung und Gesichtsfarbe des anderen Patienten beobachtet. Er glaubt, sie besuche ihn. Das gleiche glaubt bedauerlicherweise seine Familie, die daraufhin diese Krankenschwester nicht besonders respektiert. Wenn sich die Krankenschwester länger am Nachbarbett aufhält als an seinem eigenen, mag sich der Patient vernachlässigt fühlen … Man meint, die Krankenschwestern verschwenden ihre Zeit, wenn sie nicht umherrennen und etwas Sichtbares tun, etwa eine Spritze geben. Ebenso kann es den Inhabern von Dienstleistungsbetrieben schwerfallen, das, was wirklich für den Kunden geschieht, wirkungsvoll vor Augen zu führen, weil der Kunde die laufenden Kosten der Dienstleistung nicht „sehen“ kann. Leichenbestatter müssen deshalb sehr viel für ihre sichtbare Leistung – einen Sarg, der in einen Sarkophag verwandelt wird – verlangen, weil zahlreiche andere Unkosten bei der Durchführung einer Beerdigung nicht so sichtbar gemacht werden können. Auch Kaufleute müssen hohe Preise für Gegenstände verlangen, die teuer aussehen, um Unkosten, die der Kunde nicht sieht, wie Versicherung, Umsatzstockungen und dergleichen, auszugleichen. Die Darstellung der eigenen Arbeit vor den Augen anderer besteht nicht allein darin, unsichtbare Kosten in sichtbare zu verwandeln. In vielen Fällen ist die Tätigkeit einer Person von einem bestimmten sozialen Rang so wenig dazu geeignet, diesen Rang offenbar zu machen, daß der Darsteller einen
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beachtlichen Teil seiner Energie auf die Aufgabe verwenden muß, seine Rolle wirkungsvoll zu gestalten, und diese auf die Übermittlung gerichtete Tätigkeit verlangt häufig gerade andere Eigenschaften als die, die dramatisch dargestellt werden sollen. So muß etwa der Hausbesitzer, um ein Haus so einzurichten, daß es ruhige und schlichte Würde repräsentiert, auf Auktionen rennen, mit Antiquitätenhändlern feilschen und alle Läden am Ort nach geeigneten Tapeten und Vorhangstoffen durchstöbern. Will er eine Ansprache im Radio halten, die wirklich zwanglos, spontan und natürlich wirkt, ist der Sprecher genötigt, sein Manuskript sorgfältig vorzubereiten und Satz für Satz zu prüfen, um die Aussage entsprechend zu formulieren, sich dem Rhythmus und der Geschwindigkeit der Alltagssprache anzupassen. Ebenso ist ein Photomodell von ‚Vogue‘ imstande, durch Kleidung, Haltung und Gesichtsausdruck Verständnis für das Buch auszudrücken, das es in der Hand hält; aber diejenigen, die sich so sehr um den angemessenen Ausdruck bemühen, finden meistens sehr wenig Zeit zum Lesen. Wie Sartre schreibt: Der aufmerksame Schüler, der aufmerksam
sein
will, den Blick an den
Lehrer geheftet, die Ohren weit aufgetan, erschöpft sich damit, den Aufmerksamen zu spielen, derart, daß er schließlich gar nichts mehr hört. So findet sich der Einzelne häufig im Widerstreit zwischen Ausdruck und Handeln. Gerade diejenigen, die genügend Zeit und Talent haben, eine Aufgabe gut zu erfüllen, haben manchmal deswegen weder die Zeit noch das Talent, anderen vorzuführen, wie gut sie sie erfüllen. Man kann sagen, daß einige Betriebsorganisationen dieses Dilemma so lösen, daß sie die dramatische Funktion offiziell einem Spezialisten übertragen, der seine Zeit darauf verwendet, die Bedeutung der Aufgabe auszudrücken, und keine Zeit darauf, sie tatsächlich zu erfüllen. Wenn wir nun zunächst von einem anderen Bezugspunkt ausgehen und uns statt der Darstellung selbst dem Darsteller zuwenden, können wir interessante Beobachtungen über den Bereich verschiedener Rollen machen, an denen eine Gruppe oder Klasse von Individuen als Darsteller teilnimmt. Untersucht man eine Gruppe oder Klasse, so wird man feststellen, daß ihre Mitglieder dazu neigen, besonders ihre Vorstellungen von sich selbst in bestimmte Rollen zu kleiden und den anderen Rollen, die sie ebenfalls spie-
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len, weniger Bedeutung beizumessen. So kann ein Berufstätiger durchaus bereit sein, auf der Straße, in einem Geschäft oder zu Hause eine sehr bescheidene Rolle zu übernehmen, wird aber in dem Bereich, in dem er seine beruflichen Fähigkeiten zu beweisen hat, großen Wert darauf legen, sich wirksam in Szene zu setzen. Bei der Mobilisierung seines Verhaltens, soweit es der Schaustellung dient, macht er sich wenig Gedanken über den gesamten Bereich der verschiedenen Rollen, die er spielt, ist aber sehr um die eine Rolle besorgt, auf der seine berufliche Einschätzung basiert. An Hand dieses Kriteriums unterscheiden einige Autoren Gruppen mit aristokratischen Lebensgewohnheiten von Gruppen mittelständischen Charakters (unabhängig von ihrem Sozialstatus). Als aristokratisches Verhalten wird hier ein Habitus bezeichnet, der alle kleineren Tätigkeiten des Lebens, die außerhalb der speziellen Rollen anderer Klassen liegen, kultiviert und ihnen den Ausdruck des Charakters, der Macht und hohen Ranges verleiht. Welche bedeutenden Fertigkeiten werden dem jungen Adligen beigebracht, um die Würde seines Ranges aufrechtzuerhalten und sich jener Überlegenheit über seine Mitbürger würdig zu erweisen, zu der ihn die Tugend seiner Ahnen erhoben hat? Geht es um Wissen, um Fleiß, um Geduld, um Entsagung oder um Tugend irgendwelcher Art? Da alle seine Worte, alle seine Bewegungen beobachtet werden, erlernt er eine selbstverständliche Aufmerksamkeit allen Situationen des täglichen Lebens gegenüber und bemüht sich, alle diese kleinen Pflichten mit größter Korrektheit zu erfüllen. Da er weiß, wie sehr er beobachtet wird und wie bereit die Menschen im allgemeinen sind, sich seinen Neigungen gewogen zu erweisen, handelt er auch bei den unwichtigsten Anlässen mit jener Freiheit und Erhabenheit, die diese Gewißheit ganz natürlich hervorruft. Seine Miene, seine Art, sein Benehmen – sie alle bekunden durch Gewandtheit und Grazie die eigene Überlegenheit, die diejenigen, die zu niederem Stand geboren sind, wohl niemals erreichen können. Dies sind die Künste, durch die er erreichen will, daß sich die Menschen seiner Autorität leichter unterwerfen und sich nach seinen Wünschen lenken lassen, und er wird hierin nur selten enttäuscht. Diese Künste genügen im gewöhnlichen Leben, wenn sie von Stand und anderen äußeren Vorrechten unterstützt werden, um die Welt zu regieren.
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I. Schauspielen Existieren derartige Darstellungskünstler tatsächlich, so bilden sie sicher
eine sehr geeignete Gruppe, an der man die Fertigkeiten studieren kann, durch die Tätigkeit zur Schaustellung wird. […] Ausdruckskontrolle Wie schon angedeutet kann sich der Darsteller darauf verlassen, daß sein Publikum kleine Hinweise als Zeichen für wichtige Momente der Vorstellung annimmt. Diese bequeme Tatsache hat eine unbequeme Folge. Auf Grund eben dieser Neigung des Publikums, Zeichen zu deuten, kann es die Hinweise mißverstehen oder zufällige beziehungsweise versehentliche Gesten und Ereignisse, die nach dem Willen des Darstellers keinerlei Bedeutung übermitteln sollten, falsch interpretieren. Um diesen Komplikationen bei der Kommunikation zu begegnen, versuchen die Darsteller im allgemeinen, sich zu vergewissern, daß möglichst viele Nebenereignisse innerhalb der Darstellung, wie unwichtig sie auch sein mögen, so eintreten, daß sie entweder überhaupt keinen Eindruck oder den machen, der mit der allgemeinen Definition der Situation vereinbar ist. Wenn wir wissen, daß das Publikum insgeheim der Realität, die ihm aufgezwungen wird, skeptisch gegenübersteht, können wir seine Neigung, die kleinsten Fehler als Anzeichen dafür zu nehmen, daß das ganze Schauspiel unwahr ist, leicht verstehen; aber daß auch unvoreingenommene Zuschauer durch die Entdeckung einer winzigen Unstimmigkeit in dem ihnen übermittelten Eindruck gestört, empört und in ihrem Glauben erschüttert werden können, ist für den Beobachter des sozialen Lebens schon schwieriger zu verstehen. Manche dieser kleineren Mißgeschicke und ungewollten Gesten sind so sehr dazu angetan, einen Eindruck zu erwecken, der im Gegensatz zu dem vom Darsteller geschaffenen steht, daß das Publikum gegen seinen Willen aus der Teilnahme an der Interaktion herausgerissen wird, auch wenn es bei einiger Überlegung einsieht, daß das störende Ereignis wirklich bedeutungslos war, und übersehen werden sollte. Der springende Punkt liegt nicht darin, daß die flüchtige Deutung der Situation, die durch eine ungewollte Geste geschaffen wird, in sich besonders tadelnswert wäre, sondern eher darin, daß sie von der vorher entworfenen Definition abweicht. Diese Abweichung treibt einen äußerst störenden Keil zwischen den allge-
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mein anerkannten Entwurf und die Realität, denn es gehört gerade zur Projektion, daß sie als die unter den gegebenen Umständen einzig mögliche akzeptiert werden kann. Vielleicht sollten wir also Darstellungen nicht mechanisch beurteilen, als könne auch hier ein großer Gewinn einen kleinen Verlust ausgleichen. Eine Metaphernsprache aus dem Bereich der Kunst wäre angemessener; denn sie weist uns auf die Tatsache hin, daß eine einzige Note in der falschen Tonart den Klang eines ganzen Konzerts zerstören kann. In unserer Gesellschaft treten einige ungewollte Gesten in so verschiedenartigen Darstellungen auf und vermitteln Eindrücke, die so unvereinbar mit den gewünschten sind, daß diese Mißgeschickte innerhalb der Gesellschaft eine symbolische Bedeutung angenommen haben. Wir können drei Hauptgruppen derartiger Ereignisse erwähnen. Erstens mag ein Darsteller ungewollt Unfähigkeit, schlechtes Benehmen oder mangelnden Respekt beweisen, indem er momentan die Muskelkontrolle über sich selbst verliert. Er mag stolpern und fallen, rülpsen, gähnen, sich versprechen, sich kratzen oder Wind lassen; er mag jemanden versehentlich stoßen. Zweitens mag der Darsteller den Eindruck erwecken, er sei entweder zu stark oder zu wenig an der Interaktion beteiligt. Er mag stottern, seinen Text vergessen, nervös oder schuldbewußt wirken, befangen sein; er mag im ungeeigneten Augenblick in Gelächter ausbrechen, Wutanfälle haben oder sonst Affekten nachgeben, die ihn als Teilnehmer an der Interaktion disqualifizieren. Drittens mag die Wirkung des Darstellers durch mangelhafte Inszenierung beeinträchtigt sein: Das Bühnenbild ist nicht oder für die falsche Vorstellung aufgebaut worden, es gerät im Verlauf der Vorstellung in Unordnung, unvorhergesehene Zufälle verschieben Auftritt und Abgang des Darstellers auf den falschen Zeitpunkt, oder es entstehen peinliche Pausen in der Interaktion. […] Unwahre Darstellungen Wie schon erwähnt, kann das Publikum sich in einer Situation dadurch orientieren, daß es den Hinweisen der Darsteller Vertrauen schenkt und sie als Anzeichen für etwas Größeres als die Zeichen selbst, bzw. als etwas von diesen Unterschiedenes behandelt. Besteht nun einerseits wegen dieser
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I. Schauspielen
Neigung des Publikums, Zeichen zu deuten, für den Darsteller die Gefahr, mißverstanden zu werden, und wird er gezwungen, bei allem, was er in Gegenwart seiner Zuschauer tut, darüber zu wachen, was sein Tun in den Augen der anderen implizieren könnte, so wird andererseits das Publikum durch diese Neigung der Gefahr ausgesetzt, getäuscht und irregeführt zu werden; denn es gibt nur wenige Zeichen, die nicht mißbraucht werden könnten, um die Existenz von etwas, das in Wirklichkeit nicht vorhanden ist, zu beweisen. Es ist auch klar, daß viele Darsteller sowohl die Fähigkeit als auch Grund dazu hätten, die Tatsachen falsch darzustellen; nur Scham, Schuldgefühl oder Furcht hindern sie daran, dies zu tun. Als Zuschauer können wir natürlich spüren, ob der Eindruck, den der Darsteller erwecken will, wahr oder falsch, echt oder unecht, gültig oder „gemacht“ ist. Derartige Skepsis ist so gang und gäbe, daß wir, wie schon angedeutet, unser Augenmerk primär oft gerade auf die Elemente der Darstellung richten, die nicht ohne weiteres manipulierbar sind, um uns ein Urteil über die leichter zu fälschenden Hinweise bilden zu können. (Wissenschaftliche Polizeiarbeit und Testversuche sind extreme Beispiele dafür.) Und wenn wir auch nur zögernd dazu bereit sind, gewisse Statussymbole als Berechtigungsnachweise dafür anzuerkennen, daß der Darsteller nur in einer bestimmten Art behandelt werden darf, so sind wir doch zugleich immer dazu bereit, uns auf die Lücken in seiner Verschanzung zu stürzen, um seine Ansprüche unglaubwürdig zu machen. Denken wir an diejenigen, die eine falsche Fassade oder „nur“ eine Fassade präsentieren, die sich verstellen, uns täuschen und betrügen, so denken wir an Unstimmigkeiten zwischen dem erweckten Anschein und der Wirklichkeit. Zugleich denken wir an die gefährliche Lage, in die sich diese Darsteller gebracht haben; denn in jedem Augenblick ihrer Vorstellung kann ein Ereignis eintreten, das sie entlarvt und das dem widerspricht, was sie öffentlich behauptet haben, und sie werden dadurch gedemütigt und verlieren vielleicht sogar für immer ihren guten Ruf. Wir haben oft das Gefühl, gerade dieser erschreckenden Möglichkeit, in flagranti bei einem offensichtlichen Täuschungsakt ertappt zu werden, könne sich der aufrichtige Darsteller entziehen. Diese allgemein verbreitete Ansicht ist aber nur begrenzt richtig.
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Wenn wir danach fragen, ob ein Eindruck, den einer erweckt hat, wahr oder falsch sei, meinen wir manchmal tatsächlich, ob der Darsteller das Recht habe, die jeweilige Vorstellung zu geben oder nicht; wir sind also nicht primär an der Darstellung selbst interessiert. Entdecken wir, daß jemand, mit dem wir zu tun haben, ein Betrüger oder offenkundiger Schwindler ist, so beinhaltet diese Entdeckung, daß er nicht das Recht hatte, die Rolle zu spielen, die er gespielt hat. Wir nehmen an, daß die Art, wie sich der Betrüger darstellte, nicht nur seine Person in falschem Licht zeigt, sondern darüber hinaus noch andere Fehler aufweist; aber häufig wird die Maskerade entlarvt, bevor wir irgendeinen Unterschied zwischen der falschen Darstellung und der echten, die sie vortäuscht, entdecken können. Paradoxerweise sind wir um so mehr auf der Hut, je ähnlicher die Darstellung des Betrügers der echten Darstellung ist; denn die gekonnte Darstellung dessen, der sich dann als Betrüger herausstellt, kann in unserem Bewußtsein die moralische Verbindung erschüttern, die zwischen dem Recht, eine Rolle zu spielen, und der Fähigkeit, sie zu spielen, besteht.
Erving Goffman: „Dramatische Gestaltung“, in: ders.: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, Piper Verlag, München, Zürich 1996, S. 31 – 35, S. 48 – 56 (Erstveröffentlichung 1959) (c) 1983 Piper Verlag GmbH, München Erving Goffman (1922 – 1982) war ein US-amerikanischer Soziologe, der in seinem wichtigsten Werk The Presentation of Self in Everyday Life (Wir alle spielen Theater) das Theater als Modell der sozialen Welt zu Grunde legt. Goffmans Untersuchungen über Verhaltensmuster, Interaktion, Rollendistanz sowie Selbstdarstellung im Alltag haben einen wesentlichen Einfluss auf die moderne Soziologie.
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II. SCHAUSPIELEN ALS BERUF. DIE ERFINDUNG DES BÜRGERLICHEN SCHAUSPIELERS IM 18. JAHRHUNDERT Leerzeile „Die Schauspielkunst war [am Anfang des 18. Jahrhunderts in Deutschland] zur bloßen Pöbelbelustigung, zum Hohn der guten Gesellschaft herabgekommen. Sie war nichts als der Hans Wurst der Nation, ein Verdauungsmittel, eine Medizin für kranke Magen geworden. Im Bettelsacke ihrer Herrlichkeit von Ort zu Ort schleppend, mit den Genossen um den zugeworfenen Bissen ringend, wie der Aussatz der Gesellschaft gemieden, in Aberwitz und Schmach versunken, verzweifelnd endlich an der eigenen Kraft und an irgendeiner andern Rettung – als so ihr klägliches Geschick vollendet war, da erst reichte sie die Hände den französischen Fesseln hin, an denen sie denn auch glücklich aus dem Schlamm gezogen wurde.“ Eduard Devrient1 I. Der Beruf des Schauspielers als Menschendarsteller beginnt sich im 18. Jahrhundert zu entwickeln. Mit der Emanzipation der bürgerlichen Lebensweise von der bisherigen Dominanz des adeligen Verhaltenskodexes steht das alltägliche Empfindungs- und Verhaltensleben vor einer Revolution. Galten bisher die Kleidung des Adels, seine codierte Sprache, einstudierten Bewegungen und Zeremonien als unhinterfragtes Vorbild für die höchste Entwicklungsstufe des Menschseins, so entsteht mit dem bürgerlichen Leben eine Gegenposition der Aufrichtigkeit. In aller Verkürzung gesagt, stehen sich in diesem historischen Konflikt äußerliche Etikette und innerliche Wahrheit entgegen.2 Der Höfling spielte eine Rolle bei Hofe, dessen Kostüm, Sprechweise und Gesten durch Tradition und Mode vorgegeben waren. Er hatte in jeder Lebensäußerung darauf zu achten, dass er im Rahmen des Schicklichen blieb 1 2
Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst Band I, Berlin 1967 (Erstveröffentlichung 1848), S. 239. Hierzu noch immer grundlegend Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main 1983, und Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus, Berlin 2009.
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69 und zugleich den letzten modischen Dreh nicht verpasste. Dass diese Rollen gespielt wurden, war so allgemein bekannt, dass diese Tatsache in der sekundären Realität des höfischen Verhaltens ausgeblendet blieb. So war ein hochartifizielles Alltagstheater entstanden, dessen Grenzen zum Schauspielen und Theater fließend waren. Die Beschreibungen, dass Zuschauer aus der Provinz, die das erste Mal ein Pariser Theater besuchten, nicht unterscheiden konnten, wer Schauspieler und wer Zuschauer ist, scheinen überzeugend. Das bürgerliche Leben entwickelt sich in einer komplizierten Emanzipation von dieser Vorherrschaft der theatralischen Selbstdarstellung. Es verlagert den Fokus seiner Selbstbeschreibung und Selbstdarstellung weg von den äußerlichen Anzeichen hin zu den inneren Werten. Die Ausgestaltung der menschlichen Psyche tritt in den Vordergrund und erzeugt ein neues, kompliziertes Problem. Gegen die Verabredungen des höfischen Theaters mit seinen Intrigen, manierierten Verhaltensweisen und schwer erlernbaren feinen Unterschieden wendet sich ein Bild vom Menschen, dessen Wert in der Authentizität liegt. Denken und Handeln sollen sich glaubwürdig zueinander verhalten. Das Innerste des Menschen, seine Seele, soll vor Gott integer erscheinen; das Innere des Alltags, das private Familienleben, wird emotionales Zentrum; und das Innere der Häuser, ihr Interieur, wird zum Lebensmittelpunkt der bürgerlichen Emanzipation. Erklärt sich das Innenleben auf diese dreifache Weise zum Fundament des gelungenen bürgerlichen Daseins, entsteht zugleich das Problem seiner Kommunizierbarkeit. Wie ist Kommunikation mit Gott möglich, wenn die Gemeinde und ihr christliches Ritual zugunsten des privaten Zugangs zu einem immer schweigsamer werdenden Gott entwertet werden? Die Gnadenwahl und ihre prinzipielle Ungewissheit werden zum ewigen Ansporn, das „gute“ Leben noch inniger erringen zu wollen. Eine wichtige Quelle des Kapitalismus, die nicht enden wollende Arbeit, entsteht.3 Wie ist das Familienleben intakt zu halten, wenn jeder Nachwuchs mit Impulsen und Gefühlen eine anarchische Unruhe in die austarierte Ordnung bringt? Die Erziehung und Bildung zum bürgerlichen Dasein wird zur immer wieder neu zu bewältigenden Aufgabe. 3
Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1970 (Erstauflage 1920).
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II. Schauspielen als Beruf Und schließlich, wie ist das häusliche Interieur abzuschirmen vor der
Öffentlichkeit und wie ist in der Öffentlichkeit überhaupt ein Überleben des kostbaren Inneren möglich? Die Unantastbarkeit der Wohnung wird zum bürgerlichen Grundrecht. Die Grenze zwischen dem Seelenleben in der Privatheit und den Zwängen des Auftretens in der Öffentlichkeit führt zu dem Problem, wie das eigene Dasein auch fremden Menschen gegenüber integer erscheinen kann. Pointiert lässt sich das bürgerliche Dasein auf drei Fragen bringen: Wie lasse ich mir in der Öffentlichkeit Gott anmerken? Wie lasse ich mein Inneres in seiner ganzen moralischen Pracht bescheiden erscheinen? Wie zeige ich meinen Wert als Familienvater, Mutter oder Kind, wenn ich nicht zu Hause bin? Das Paradox, das sich daraus für die Kommunikation ergibt, ist fundamental: Wie lasse ich etwas an mir erscheinen, das zentral für meinen Wert ist, ohne selbst auf diese Qualitäten hinweisen zu müssen? Im Falle des Selbstlobs wäre der Gegenstand des Lobs im gleichen Atemzug vernichtet. Wer sich besonderer Bescheidenheit rühmt, ist wohl unbescheiden. Wer seine Zuverlässigkeit betonen muss, hat es wohl nötig. Und schließlich: Wer von Gott als glückswürdige Seele erkannt werden möchte, versucht wohl, Gott zu bestechen in seiner unergründlichen Gnadenwahl. II. Die Tätigkeit des Schauspielens ist von ihrer Abstammung her ein entfernter Nachfahre der Rhetorik. So wie hier die Gesten, Betonungen und Redewendungen für die jeweiligen Absichten der Rede kanonisiert wurden, gab es im Schauspiel Bemühungen, das Ausdrucksvokabular zu fixieren. Johann Jakob Engels Schriften4 bilden ein Kompendium solcher Ausdrucksund Gestenvokabeln. Der schauspielerische Ausdruck wurde hier wie in den Rhetorik-Schulen5 durch eine Mischung aus erlernbaren und zu kopierenden „allgemeingültigen“ Gesten und Bewegungen und einer Art der Selbstbegeisterung erzeugt. Durch das laute und bedeutungsvolle Aussprechen wirkungsvoll formulierter Texte geriet der Sprecher selbst in einen 4 5
Zum Beispiel Ideen zu einer Mimik. Für einen Überblick siehe Gert Ueding: Klassische Rhetorik, München 1995.
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Furor der Rede. Diese Begeisterung sollte sich auf die Hörer übertragen. Eine vergleichbare Selbstentzündung durch die Emphase des Sprechens und die begleitenden Gesten und Bewegungen erzeugte die Spielenergie bei dieser Art des Schauspielens. Die Leidenschaft, die in der Sprache vorgedacht ist und der Figur als Rede zur Verfügung steht, überträgt sich auf den Spieler, indem er diese Leidenschaft wiederholt. Die Schillerschen Dramen bilden den Höhepunkt dieser Sprachform, die schon bei stummer Lektüre zu einer pathetischen Emphase verführt. Die wesentliche andere Quelle, aus der sich das Schauspielen vom Mittelalter bis in die Neuzeit gespeist hatte, war das Stegreifspiel. Hier traten die Archetypen der Komödie auf, um improvisierend im „buntscheckigen“ Kleid des Narren das Publikum mit burlesken Späßen und Zügellosigkeiten zu unterhalten. Die Vertreibung des Harlekins, wie ihn die Truppe der Neuber und des Dichters Gottsched 1737 vollzogen, war der symbolhafte Beginn der Neuerfindung eines ernsthaften Schauspielergewerbes.6 Die aus der Sprechbegeisterung und komödiantischen Improvisation entstandenen schauspielerischen Impulse unterscheiden sich grundlegend von dem neuen Ideal des Schauspielers als einem glaubhaften Darsteller menschlicher Individualität. Die paradoxe Anforderung, die nun an das Darstellungsvermögen gestellt wird, besteht in dem Ideal eines Ausdrucks, der eben nicht als künstlich erzeugt erscheinen darf. Hiermit wird der schauspielerische Ausdruck in der gleichen Paradoxie gedacht wie die bürgerliche Kommunikation und Selbstdarstellung. Der Ausweg, der aus dieser Paradoxie gesucht wurde, erscheint auf den ersten Blick nicht weniger paradox: Authentizität wird zur Letztversicherung des Ausdrucks. Doch wie sieht ein authentischer Ausdruck aus, dem doch 6
„Gottsched, dem die Abschaffung der Stegreifstücke zu langsam vor sich ging, hatte sie [die Neuber] dazu bewogen. Er erkannte sehr richtig in der lustigen Person, dem Harlekin, den Mittelpunkt und Lebensnerv des ganzen alten Komödienwesens und daß mit der Verbannung des maskenhaften Spaßmachers auch die Regellosigkeit und Willkür aufhören werde. Er veranlasste daher die Neuber, den Harlekin auf ihrer Bühne mit einem Streiche abzuschaffen, und diese beschloß, den Schritt durch eine feierliche theatralische Demonstration zu bezeichnen. Es war im Oktober 1737, in ihrer Theaterbude bei Boses Garten, wo ein eigens von ihr dazu verfaßtes Vorspiel aufgeführt wurde, in welchem dem Harlekin wegen seines theatralischen Unfugs förmlich der Prozeß gemacht, einen Puppe in seinem buntscheckigen Kleide auf einem Scheiterhaufen feierlich verbrannt und sein Name von der Bühne verbannt wurde. Der Vorgang ist vielfach verhöhnt worden, Lessing nannte ihn ‚selbst die größte Harlekinade’; dennoch hat er einen ernsten Sinn.“ Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, a.a.O., S. 297 f.
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immer eine Absicht – eben die des Ausdrückens – unterstellt werden kann? Die Lösung besteht in der Entwicklung einer besonderen Form der Kommunikation, in der Authentizität zu einem Kommunikationseffekt werden kann. Als authentisch gilt, was kommunikativ nicht der Absicht des Kommunizierenden zugerechnet werden kann. Als authentisch wird empfunden, was sich ohne kommunikative Absicht ereignet. In einem Ereignis, das passiert, statt produziert zu sein, erscheint das Verborgene und wird wahrnehmbar. Ein leichtes Erröten, während von einem Gefühl gesprochen wird, lässt dieses glaubwürdig erscheinen. Ein unwillkürlicher Seufzer, ein Zittern der Stimme, ein sanfter Blick, ein Zucken der Mundwinkel, ein Stocken des Atems, alle diese unwillkürlichen körperlichen und mimischen Regungen werden zu Garanten der Glaubwürdigkeit. In einer höfischen Kultur wären sie als Anzeichen eines Verlusts der Contenance und damit der Souveränität sofort als Waffen gegen denjenigen verwendet worden, der sich so wenig im Griff hat. Im bürgerlichen Leben sind sie die glaubwürdige Versicherung, dass das Gegenüber tatsächlich so fühlt, wie es sich den Anschein gibt. Die Verblüffung besteht nun darin, dass die Virtuosen dieses Erscheinenlassens von etwas, das doch nicht gesagt wurde, die Meister des emotionalen Ausdrucks, der mehr verrät als dem Agierenden bewusst ist, die Schauspieler sind. Sie verfügen über die Fähigkeit, ein Gefühl jenseits der Sprache ganzkörperlich ablesbar zu machen. Der Schauspieler wird zum Paradigma des bürgerlichen Menschen und zugleich wird diese bürgerliche Fähigkeit zum Maßstab für den Beruf des Schauspielers. Diese Befähigung, absichtlich Unabsichtliches ausdrücken zu können, bestimmt das Bild des Schauspielers, wie es bis in die Gegenwart hinein prägend ist. Der Schauspieler ist der Mensch, der in der Doppelrolle als äußerlich Handelnder und innerlich Fühlender so auftritt, dass diese Widersprüche als authentische Einheit zu erlebbaren emotionalen Ereignissen werden. In der philosophischen Beschreibung des Menschen wurde diese Unterscheidung vorgedacht. Die Epoche der Aufklärung charakterisiert ihn als empirisch-transzendentale Dublette.7 Mit seinem Körper ist der Mensch in den Kausalitäten der Naturgesetze gefangen, sein Geist hingegen ist frei, 7
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, S. 384.
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sich spontan und unbedingt neue und in der Wirklichkeit unmögliche Welten auszudenken. Die Folgen dieser unbedingten Freiheit für das gesellschaftliche Zusammenleben versucht die Moral einzudämmen, und Kants „kategorischer Imperativ“ ist eine klassische Folgeerfindung dieser Beschreibung des Menschen als tierische und göttliche Existenz zugleich. Für die Beobachtung des menschlichen Ausdrucks entsteht hieraus eine neue Differenz. „Zwischen dem, was ein Zeichen sagt, schiebt sich, was sich an ihm zeigt“.8 Das Bewusstsein versucht, die Anzeichen des Körpers intentional seinem Willen zu unterwerfen, doch am Körper zeigen sich unvermeidliche Anzeichen seiner Unverfügbarkeit. Die Unterscheidung zwischen dem bewussten Zeigen und dem, was sich zeigt, bildet die Differenz zwischen der Intentionalität und der Nichtintentionalität, zwischen dem Sinn und der körperlichen Präsenz ab. Alles menschliche Zeigen basiert auf dieser unhintergehbaren Paradoxie. Diese paradoxe Seinsweise kann vom Schauspieler nun in zwei unterschiedlichen Richtungen aufgelöst werden. Er kann, wie im Volkstheater und seinen Nachfolgern, seine Freiheit gegenüber den geschriebenen Handlungen und Verhaltensweisen der Figur ausspielen. Er bringt hierdurch ein anarchisches Moment in die Darstellung. Sein Vorführungshandeln überlagert dabei die darin vorgeführten Handlungen seiner Figur. Oder er kann versuchen, sein schauspielerisches Handeln in den Dienst des geschriebenen Textes zu stellen. Dabei versucht er, sich selbst quasi unsichtbar zu machen, um dem Erscheinen der Figur die größtmögliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Ein solches Spiel der Verkörperung wird ab dem 18. Jahrhundert zum Ziel der Schauspielkunst.9 Die zahlreichen theoretischen und praktischen Nachfolger arbeiten sich alle an dem Paradox ab, dass dieser Wunsch eine permanente Störung durch die Präsenz des Körpers und der Stimme erfährt. Hinter dem Rücken des Schauspielers entsteht eine andere Realität auf der Bühne, die sich seiner Gestaltung entzieht.10 Die großen Richtungen im Verständnis der Arbeit des Schauspielers orientieren sich an diesem Paradox und seinen zwei Möglichkeiten der Auflösung. 8 9
Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 60. Siehe hierzu Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, Frankfurt am Main und Basel 2000.
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II. Schauspielen als Beruf In der Neuerfindung der bürgerlichen Existenz wird die doppelte Seins-
weise des Menschen zum Fundament. Das Theater und die Schauspieler werden zum besonders geeigneten künstlerischen Medium, diese Differenz immer wieder erfahrbar zu machen. Die unregierbare Eigenart des Körpers und die Anstrengungen des Geistes wie der Gesellschaft, ihn in das Korsett seiner Diskurse zwängen zu wollen, werden im Spiel des Schauspielers erlebbar. Der ewige Verlust an kontrollierbarem Sinn durch die Notwendigkeit, ihn durch die Mittel des Körpers, der Stimme, der Mimik und Gestik ausdrücken zu müssen, bleibt Motor der Arbeit am menschlichen Ausdruck. Das Mienenspiel, die Bewegung der Hände, das Zucken der Mundwinkel beim Sprechen, all das verrät über den Sprechenden mehr, als dieser preiszugeben bereit ist. Die Schule der Wahrnehmung, um diese Differenz zwischen dem Leben des Körpers und den Intentionen des Menschen zu begreifen, übernimmt auch das Schauspiel. Die verlustreiche Übersetzung des Seelenlebens in den Ausdruck brachte Friedrich Schiller in seinem berühmten Distichon in die kürzestmögliche Form: „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.“ Beginnt das Innere des Menschen sich formulieren zu wollen, muss es auf Zeichen, Sprache und Mitteilungsmedien zurückgreifen, die gesellschaftlich verabredet sind, um überhaupt als Sprache funktionieren zu können. Wird nun das individuelle Empfinden in diese allgemeingültigen Schablonen übersetzt, verschwindet gerade das Einzigartige der Empfindung und wird zu einer verständlichen Mitteilung. Sobald das Unsagbare aber sagbar geworden ist, hat es seine Einzigartigkeit eingebüßt und wird zur austauschbaren Seelenregung im Getriebe der Welt. Der Mitteilungsdruck des originären und darum einzigartigen Individuums, genau in dieser Besonderheit wahrgenommen zu werden, wächst im gleichen Maße, wie das 10
Siehe hierzu auch Robert Weimann: Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, Berlin 1967 und Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie, Frankfurt am Main 2005, S. 127 ff. Menke führt noch eine zweite Freiheit des Schauspielers ein, die er gegenüber der Bestimmungsmacht von Text und Autor sieht. Eine dramatische Figur ist seiner Meinung nach dadurch bestimmt, dass ihr Handeln und Sprechen immer ein nachzuhandeln und nachzusprechen dessen ist, was von einem dramatischen Text vorgeschrieben worden ist. Dieses ist jedoch eine ungewöhnliche Feststellung, da sie davon ausgeht, dass die Figur in einem Drama ein Wissen davon hat, dass sie nur eine Figur in einem Drama ist. Wenn sie dieses Wissen nicht hat, wovon in den meisten Fällen auszugehen ist, können ihre Handlungen nicht Nachahmungen von Handlungen sein. Insofern ist die zweite Freiheit des Schauspielers eher in der ersten aufgehoben und äußert sich nur in den unterschiedlichen Spielweisen von Volkstheater und epischem Theater.
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II. Schauspielen als Beruf
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Konzept des Menschen als Doppelwesen sich ausbreitet. Die Antworten der Kommunikation und der Kunst sind bis in die Gegenwart hinein gleich geblieben. Die Grenze der Kommunikation wird zum Ereignisraum, in dem sich das Originale, das Authentische, das Wahre zeigen kann, ohne sich doch formuliert zu haben. Das „ach“ im Schillerschen Distichon markiert diese Grenze des Sagbaren. Der Seufzer ist schon verständliches Zeichen und noch unmittelbarer Ausdruck der Empfindung, so wie der Schmerzensschrei, das Verstummen, die Träne, die Ohnmacht. Hier entsteht ein Riss in der kommunikativen Oberfläche, durch den das Innere des Menschen authentisch erscheinen kann. Dass diese Anzeichen von Authentizität als Stilmittel in der Rhetorik Verwendung finden, ist dann ein weiteres Folgeproblem des modernen Menschen, der auf die Erzeugung immer neuer Authentizitäts-Effekte große Mühen und Erfindungskraft verwendet. (Siehe Kapitel 5) Die Erfindung des bürgerlichen Berufs „Schauspieler“ ereignet sich an dieser Bruchlinie, durch die der Mensch erstmalig dialektisch als empirischtranszendentales Doppelwesen gedacht wird. Die Probleme und Möglichkeiten, die dieses dialektische Bild vom Menschsein eröffnet, finden in der schon immer bewunderten und gefürchteten Doppelexistenz des schauspielernden Menschen eine verblüffende Entsprechung. Die Frage nach der inneren Befindlichkeit des Spielers, während sein äußerlich wahrnehmbarer Ausdruck deutliche Emotionen verkörpert, entfachte schon im 18. Jahrhundert komplexe Debatten. Die Positionen waren klar geschieden in die Anhänger des „kalten“ und des „heißen“ Schauspielers. Pierre Rémond de Sainte Albine plädierte für ein reiches inneres Erleben, das sich dann in Spiel und Mimik des Schauspielers ablesen ließe. G. E. Lessing und Francesco Riccoboni hingegen betonen das artistische und bewusste Moment, dass der Schauspieler benötigt, um jeden Abend erneut in unterschiedlichen Rollen dennoch die Wirkung einer überzeugenden Emotion herstellen zu können. Lessings Ausführungen in der Hamburgischen Dramaturgie geben jedoch Hinweise auf die Dialektik der Wechselwirkung zwischen dem Innen und dem Außen. Einerseits kommt „alle Moral aus der Fülle des Herzens“. Andererseits kann ein kalter Schauspieler über das Talent verfügen, mit seinem Körper und seiner Mimik jede menschliche Regung
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überzeugend nachzuahmen. Und dieser Schauspieler ist „auf dem Theater weit brauchbarer, als jener“. Denn „wenn er nur die allergröbsten Äußerungen des Zorns einem Akteur von ursprünglicher Empfindung abgelernet hat und getreu nachzumachen weiß – den hastigen Gang, den stampfenden Fuß, den rauhen, bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbrauen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zähne usw. – wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefühl von Zorn befallen, welches wiederum in den Körper zurückwirkt, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es sein sollte.“11 Denis Diderot schließlich verwickelt in seinem Paradox über den Schauspieler (Quelle 6) diese beiden Positionen in einen Dialog, wobei seine Präferenz eindeutig auf dem artistischen, „kalten“ Vermögen liegt. Dass dieses Verhältnis, das aus heutiger Perspektive als dialektische Bewegung denkbar ist, so sehr die Gemüter erhitzen konnte, zeigt, wie neu und unheimlich die menschliche Möglichkeit erschien, mit wahren Gefühlen lügen zu können und mit vorgetäuschten Gefühlen glaubwürdige Emotionen darstellen zu können. Die Ahnung, dass der Schauspieler in seinem doppelten Bewusstsein, das für sein Spiel auf der Bühne erforderlich ist und durch dieses erzeugt wird, souverän agieren kann zwischen Blindheit und Sehen, ließ sich erst später als menschliche Existenzweise erklären. Eine der besten Beschreibungen dieses doppelten Bewusstseins gibt Friedrich Kayßler in seinen „Schauspielernotizen“: „Es gibt selbst in dem seiner Rolle hingegebendsten Schauspieler über der völligsten Konzentration immer noch ein winziges, waches Auge im Gehirn, einen auf der Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem mit souveräner Sicherheit balancierenden eisern angespannten kleinen Willen, in den der spielende Künstler sich verwandelt hat, der jedes Wort, jede Bewegung des in der Rolle befangenen, gleichsam schlafwandelnden Menschen peinlich überwacht, der das Maß des Aus11
Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, Drittes Stück, Den 8. Mai 1767.
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drucks bestimmt, das Stimmmaterial ökonomisch verteilt, – kurz, einen Beherrscher der Situation. Es ist also etwas da, was nicht mitspielt, was nicht aufgegangen ist in der Rolle, ein Rest waches Gehirn.“12 III. Die Schauspieltheoretiker und Praktiker des 18. Jahrhunderts entzündeten sich an der Frage, wie sich auf der Bühne eine glaubwürdige Menschendarstellung erzeugen ließe. Nach dem emblematischen Theater des Feudalismus, das im barocken Fest mit seinen Allegorien der Adelshierarchien seine Form der Repräsentation gefunden hatte, und dem Jahrmarktstheater der Harlekine und Commedia-Spieler, suchte die bürgerliche Kultur nach einer ihr gemäßen theatralischen Form. Das bürgerliche Trauerspiel war die dramatische Form, in der die Familie mit ihren Sorgen, die aus dem Konflikt mit einem unmoralischen Adel entstehen, verhandelt werden konnte. Für die Schauspieler stellte die Darstellung von Zeitgenossen auf der Bühne eine schwierige Herausforderung dar. Denn weder konnten sie ihr Spiel auf Phantasie- und Karikaturgestalten gründen, noch konnten sie die Alltagstheatralisierungen des Adels kopieren. Sie mussten, um den bürgerlichen Menschen darstellen zu können, eine Spielweise erfinden, die bühnentauglich ist und zugleich als Spielweise selbst nicht in Erscheinung tritt. Es sollte nicht wie Theater aussehen, und dennoch auf einer Bühne die Masse der Zuschauer erreichen, überzeugen und berühren. Dieses Paradox einer hergestellten Natürlichkeit wurde im 18. Jahrhundert, in der Geburtsstunde des bürgerlichen Schauspielers, in das Paradox des „heißen“ und des „kalten“ Schauspielers gefasst, ohne seine Aufhebung durch die Psychologie des 19. Jahrhunderts schon denken zu können. Der Widerspruch, der in einer hergestellten, glaubwürdigen Darstellung der Realität liegt, beschäftigt die Schauspieltheorien bis in unsere Gegenwart. Die Lösungsversuche sind alle bedingt durch die Art der Beschreibung des Menschen, die Moden des Theaters und die Entwicklung des schauspielerischen Handwerks. Der kalte oder der heiße Schauspieler sind heute keine zutreffende Beschreibung mehr, so wie der Mensch weder Tier noch Gott ist, son12
Friedrich Kayßler: Schauspielernotizen, o. O. 1910.
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dern eine dialektische Konstruktion dieser zwei unvereinbar scheinenden Möglichkeiten. Im 18. Jahrhundert beginnt die Suche nach einem theatralischen Realismus, durch den das Spiel des Schauspielers zum Spiegel einer Gegenwart werden kann, deren Alltagsschauspiel sein Gespieltsein selbst nicht zeigt.13 Die besonders faszinierende Begabung des Schauspielers liegt in seiner Fähigkeit, professionell, d. h. absichtlich menschliches Verhalten so darstellen zu können, dass es unabsichtlich und darum glaubwürdig wirkt. Er verfügt damit über eine Begabung, die im Alltagstheater großen Nutzen bringen würde. Er kann ein Gefühl glaubwürdig darstellen, ohne es tatsächlich zu haben. Er kann verliebt schauen, auch wenn er es nicht ist, er kann böse jemanden zurechtweisen, schrill etwas fordern und eindringlich vor etwas warnen, auch wenn all das nicht seine wirklichen Gefühle sind. Er vermag zwischen seinem Inneren und einem Vermögen zur Darstellung souverän zu spielen. Verblüffenderweise ist der Anschein eines Gefühls, das sich in Mimik und Körper ausdrückt, authentischer als die Selbstbeschreibung des Gefühls in Worten. Dieses gilt sogar dann, wenn im ersten Fall das Gefühl schauspielerisch hergestellt wurde, und im zweiten ein echtes Gefühl den Worten zugrunde liegt, aber eben nicht selbst in Erscheinung tritt. „Das Geheimnis der schauspielerischen Leistung besteht also im höchsten Gegensatz zu jenem Wahn, daß es sich um Nachahmung in einen Anderen, um Verstellung in ein Fremdes hinein handle, darin, daß beim genialen Schauspieler sein Körper transparent für seelisches Erleben wird, daß bei ihm in einem ganz anderen und stärkeren Grade als bei gewöhnlichen Menschen sich innere Vorgänge in der Tonfarbe seiner Stimme, in der Bewegung seines Gesichtes, in der Haltung des Körpers, im Schwung seiner Glieder ausdrücken. In Wirklichkeit ist also der Schauspieler ein Mensch, der sich schlechter als alle anderen verstellen kann, weil ihm jede Regung sofort sehr sichtbar in den Körper fährt, und in diesem Sinne ist er wahrhafter als alle anderen Menschen.“14 13
Die Theaterfeindlichkeit großer Teile des neu entstehenden Bürgertums begründet sich genau im diesem blinden Fleck. Das eigene Verhalten sollte in scharfer Abgrenzung zum Adel keine theatralischen Komponenten enthalten. Dass es diese schauspielerischen Mittel nur auf eine höhere, dialektische Stufe entwickelt hatte, wollte oder konnte noch nicht gedacht werden. Um sich das „reine“ und „authentische“ Selbstbild zu erhalten, musste jede Form der Verstellung und Schauspielerei besonders vehement ausgegrenzt werden. Siehe hierzu besonders J. J. Rousseau und die Untersuchung von Patrick Primavesi: Das andere Fest, Frankfurt am Main 2008.
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Im Nachteil sind nun alle schauspielerisch Minderbegabten, worunter diejenigen fallen, die sagen müssen: „Jetzt bin ich aber wirklich böse“, ohne dass man es ihnen auch ansieht. Das Aussprechen des Gefühls wirkt wie ein Verrat an dessen Wahrheit, die nur hinter den Worten wie nebenbei erscheinen darf, um echt zu wirken. In welchem Zustand das Innere bei diesem „Bemerkenlassen“ in Wahrheit ist, bleibt nebensächlich und im schauspielerisch gelungenen Fall auch unerkennbar. Die schauspielerische Begabung liegt auf zwei Ebenen zugleich: Zum einen muss das Innere unverstellt in Körper und Mimik sichtbar werden, und zum anderen muss sein Empfindungsvermögen so reich und empfänglich sein, dass es schnell zu den unterschiedlichsten Gefühlen fähig wird. Das Erlernen der Beeinflussungsmöglichkeiten dieser inneren Stimmungen und Gefühle wird zur zentralen Aufgabe der Schauspielausbildung. IV. Die schauspielerische Erzeugung von Gefühlen nutzt die Wechselwirkung von Handeln und Erleben, von Aktion und Passion15, indem sie den Ausdruck über dessen Vermeidung herstellt. Wer glaubwürdig weinen will, unterdrückt die Tränen. Wer glaubwürdig betrunken sein will, versucht zu kaschieren, dass er betrunken ist. Wer Liebe überzeugend gestehen will, dem sollte die Stimme versagen. Dieses Verfahren ist darum besonders wirkungsvoll, weil der Aufwand, der das Gefühl unterdrücken soll, absichtlich hergestellt sein darf und die Stärke seines Bemühens einen Rückschluss auf die Vehemenz des zu unterdrückenden Gefühls zulässt. Die dialektische Beziehung von Innen und Außen hat also auch hier einen doppelten Boden: Zum einen kann eine Handlung ein Gefühl auslösen und ein Gefühl kann eine Handlung auslösen. Wie glaubwürdig das dargestellte Gefühl jedoch ist, hängt von der paradoxen Verwendung der Ausdrucksmittel ab. Der Anschein von „Authentizität“ ist den unterschiedlichen Moden der Glaubwürdigkeit unterworfen. Wer das Schauspiel in alten Filmen, auf alten Tonaufnahmen sieht und hört, ist zutiefst verwundert, wie manieriert, formal und künstlich 14 15
Julius Bab: „Vom Schaffen des Schauspielers“, in ders.: Über den Tag hinaus. Betrachtungen, Heidelberg, Darmstadt 1960, S. 265f. Hierzu unerlässlich Niklas Luhmann: Liebe als Passion, Frankfurt am Main 1982.
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dort gesprochen und agiert wird. Wer heute auf die Spitzenleistungen der „authentischen“ Menschdarstellung im Hollywoodkino schaut, muss sich schon mehr anstrengen, die Glaubwürdigkeitsstrategien zu durchschauen. Doch diese sind nicht weniger künstlich als das Spiel im Stummfilm. Nur sind uns die Darstellungstechniken des psychologischen Realismus und der Wiederholung der Alltagstheatralität die gegenwärtig vertraute Mode. Da es sich in jedem Fall um eine schauspielerische Technik handelt, kann diese auch zum Selbstzweck werden und durch eine virtuose Beherrschung zu einer eigenen Form finden. Innerhalb der Ästhetik der glaubwürdigen Menschendarstellung entstehen hierdurch jedoch ungewollte Effekte, da bei einer virtuosen Handhabung der Anschein der Authentizität so weit gesteigert wird, dass er selbst wieder als Effekt bemerkbar ist. Die Fähigkeit zum schnellen Wechsel der Gefühle und ihres Ausdrucks und die hierdurch gesteigerte Kraft des Ausdrucks bringen die Komponente des Artistischen wieder ins Spiel. Die Darstellung wird weniger glaubwürdig, sie ist aber auch besonders, schön, originell oder monströs. Der Applaus für die Darstellung einer Figur setzt sich – zumindest im Theater – aus einer Anerkennung für die realistische und die artistische Komponente der Darstellung zusammen. Die Beurteilung des bürgerlichen Schauspielers wie des interagierenden Bürgers beruht also primär auf seiner Befähigung, diesen Authentizitätseffekt herstellen zu können. Die Anerkennung des Schauspielers zieht jedoch seine theatralischen Mittel der Vergrößerung hinzu, die im bürgerlichen Alltag als Nachteil erscheinen würden. Der alltägliche Vorgang des Gefühlsausdrucks kennt nur die Unterscheidung zwischen dem Vorderund Hinterbühnengeschehen (siehe Quelle 5), zwischen dem offiziellen, öffentlichen Verhalten in einer Rolle und dem privaten, nicht öffentlichen Verhalten. In der Rolle des Polizisten verhält man sich anders als zu Hause, ohne Uniform, es sei denn, man zweckentfremdet diese für ganz andere Spiele. Die Unterscheidung der Schauspielschulen verschärft diesen Gegensatz. Das alltägliche Schauspielen wird zum problematischen Ausgangspunkt einer künstlerischen Absicht, etwas in Szene setzen zu wollen. Die menschlichen Eigenschaften des Imitierenkönnens und der originären Hervorbringung werden hier in ein Verhältnis gesetzt. Die reine Nachahmung
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im Sinne des Kopierens einer anderen Person, ihres Dialekts, ihrer Körperhaltung, ihres Verhaltens ist dabei die eine Seite des Schauspielens. Im Scharadenspiel, in der Pantomime oder im Kabarett kommt es zur Anwendung. Die Hervorbringung einer Figur, die nicht einen realen Menschen nachahmt, sondern auf der Grundlage des dramatischen Textes einen möglichen, realen Menschen erfindet, stellt den anderen wesentlichen Pol des Schauspiels dar. In der spielerischen Nachahmung einer vorgefundenen Realität treffen sich der Spielimpuls und die Wahrnehmung des Zuschauers im Erkennen, was nachgeahmt werden sollte und wie gelungen diese Nachahmung ist. Hierbei kann die Erkenntnis von einer verblüffenden Kopie bis zu einer erkenntnisstiftenden Karikatur reichen. Es bleibt jedoch in allen Fällen der Vergleich zwischen der mimetischen Verdopplung und ihrem Vorbild Basis des theatralischen Geschehens. In der Entwicklung des Schauspielers zum bürgerlichen Darsteller verschwindet diese Befähigung zur Nachahmung. Im Alltag wie auf der Bühne wächst die Anforderung an die glaubwürdige Originalität des Ausdrucks. Die Kopie eines verliebten Menschen verführt niemanden mehr. An die Stelle des nachahmenden Spiels tritt die spielerische Hervorbringung des inneren Erlebens. Mit der Erfindung der „Vierten Wand“ im Theater beginnt diese Revolution des Darstellungsvermögens. In einer berühmten Anekdote führt Diderot einen Freund mit verbundenen Augen in die Loge eines Theater.16 Dort erzählt er ihm, dass sie hier in einer Kammer wären, von der aus sie dem Treiben einer Familie zuschauen könnten, ohne selbst gesehen zu werden. Sie befänden sich also in einer privilegierten Voyeurposition. Dann nimmt er dem Freund die Augenbinde ab und fragt nun den Leser: Wird der Freund auch nur einen Augenblick lang glauben, dass er einem realen Familienleben beiwohnt? Natürlich wird er dieses nicht glauben, das Spiel der Schauspieler ist zu theatralisch, sie laufen unnatürlich, schauen den anderen nicht an, wenn sie mit ihm sprechen, sondern scheinen ihre Worte immer an eine große Menge zu richten, auch sprechen sie viel zu laut. Wenn das Theater über das neu entstehende bürgerliche Zusammenleben etwas aussagen will, folgert Diderot, müsste es doch eine Realität der Dar16
Das Theater des Herrn Diderot, herausgegeben und übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing, Leipzig 1981.
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stellung bekommen, durch die ein Zuschauer glauben könnte, er wohne einer echten Familiengeschichte bei. Ein weiteres Experiment beschreibt, wie Diderot sich die Veränderung des Theaters von einer unglaubwürdigen Veranstaltung übertriebener Gesten, Gefühle und Worte zu einer Darstellung menschlichen Miteinanders vorstellt: Sein Alter Ego macht eine Reise und trifft dort auf eine Familie, die durch eine rührende Begebenheit aneinander gebunden ist. Um die Erinnerung an dieses Ereignis lebendig zu erhalten, bittet der Vater seine Kinder und Verwandten, in die je eigene Rolle zu schlüpfen und diese wundersame Begebenheit im Spiel zu wiederholen. So soll ein lebendiges Familiengemälde entstehen, in dem der identitätsstiftende Moment in einer jährlichen Wiederholung festgehalten wird. Das Spiel wird vorbereitet, doch bevor es beginnen kann, stirbt der Vater. Dennoch ziehen sich alle Familienmitglieder zu dem festgelegten Zeitpunkt die Kleider des vergangenen Geschehens an und beginnen mit der Wiederholung. Kurz vor dem Ende, als der Vater auftreten soll, werden sie jedoch von der Rührung überwältigt und müssen das Spiel abbrechen. Denn für die Rolle des inzwischen verstorbenen Vaters hatten sie einen Schauspieler engagiert, der, als er in dem Kostüm des Verstorbenen auftrat, ihre Empfindung so berührte, dass das reale Spiel durch das Auftreten des Schauspielers implodierte. Das Drama, das in diesem Gedankenexperiment aufgeführt werden sollte, hat Diderot gleich mitgeschrieben und heißt Der natürliche Sohn. Die Vierte Wand, die hier erzeugt und für die Darstellung benötigt wird, ist eine besondere Konstruktion. Sie ist nicht einfach die gedachte vierte Zimmerwand, die das Portal zum Zuschauerraum abschließt, hinter der die Schauspieler agieren, als wüssten sie nicht, dass sie angeschaut würden. Die Vierte Wand in der theatralischen Anordnung des natürlichen Sohns wird in jeder Figur hergestellt und verkörpert. Sie agieren in der realen Umgebung, tragen die echten Kostüme, spielen sich selbst und es sind keine Zuschauer außer dem Diderotschen Beobachter anwesend. Und dennoch spielen sie Theater, denn sie folgen einem Drama, sie sprechen die Sätze, die sie ehemals gesagt haben und die nun aufgeschrieben sind, und sie erleben die Situationen und ihre Handlungen erneut. Sie begeben sich in die sekundäre Realität des Dramas und spielen in ihr Figuren, die aufgrund
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von dramatischen Situationen bestimmte Erlebnisse haben und bestimmte Handlungen vollziehen. Sie erzeugen durch dieses Spiel eine Differenz zwischen sich als Schauspieler und der schauspielerisch hervorgebrachten Figur, und diese Figur erlebt und handelt in der so hervorgebrachten Situation ebenso real und glaubwürdig, wie sie dieses einst als Menschen im Alltag getan haben. Die in ihnen selbst erzeugte Vierte Wand entsteht aus einer gedanklichen Unterscheidung zwischen einem schauspielerischen Handeln und einem alltäglichen Tun. Die Vierte Wand ist kein Element des Bühnenbildes, sondern die Folge und Voraussetzung eines bestimmten Schauspielens. Die Vierte Wand trennt die Produktion der sekundären Realität des dramatischen Geschehens von der Realität des Zuschauers. Die Figuren des Dramas agieren aufgrund der Vierten Wand so, als gäbe es keine Zuschauer und als gäbe es kein Darstellungsinteresse. Hierdurch ist das schauspielerische Handeln ganz in der dramatischen Situation konzentriert. Der Schauspieler interessiert sich hinter der Vierten Wand nur für seine Figur und ihr Erleben und Handeln. Er vergisst im Gedankenexperiment von Diderot, dass das Schauspielen einen Zweck über sein Handeln in der dramatischen Situation hinaus hat. Er vergisst die Zuschauer, er vergisst, dass er Theater spielt. Der Zuschauer vergisst, dass er Zuschauer ist, und folgt dem Geschehen mit seiner eigenen Imagination.17 Er wohnt keinem Theaterspiel bei, sondern dem Handeln und Erleben spielender Menschen. Dieses schauspielerische Vermögen zur Erfindung im Spiel, zur Gestaltung in der Illusion, zum Spiel in der sekundären Realität des Theaters und zum realen Erleben und Handeln in der dramatischen Situation stellen die Methoden der Schauspielausbildung vor neue und komplexe Aufgaben, die erst Stanislawski in seinem „System“ vollständig bearbeiten wird.
17
Hierzu aufschlussreich Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt am Main 2006: „Nur wenn der Autor sich ausschließlich für seine Figuren interessiert, nur wenn der Schauspieler sich ausschließlich für seine Rollenfigur interessiert – und nicht für die Zuschauer –, interessiere sich das Publikum für die dargestellten Bühnenfiguren. Denn erst dann wird das entscheidende Vermögen des Zuschauers aktiviert: seine Imagination. […] Indem die Vierte Wand dem Zuschauer die Doppelseitigkeit der menschlichen Existenz, seine komplexe, nie gänzlich auflösbare Position als Subjekt und zugleich Objekt sowie die damit verbundenen Asymmetrien von Macht, Wissen und Begehren einsichtig macht, kann sie mit gutem Recht als ein Medium der Aufklärung bezeichnet werden, da sie den Menschen mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert.“ (S. 247).
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Quelle 6 Denis Diderot Das Paradox über den Schauspieler Erster: Wenn der Schauspieler Gefühl hätte, könnte er – Hand aufs Herz! – zweimal hintereinander die gleiche Rolle mit der gleichen Wärme und dem gleichen Erfolg spielen? Bei der ersten Vorstellung wäre er warm, ja heiß, um bei der dritten bereits erschöpft und eiskalt zu sein. […] Wenn er im Spiel nur er selbst ist, wie soll er je aufhören, er selbst zu sein? Wenn er aufhören will, er selbst zu sein, wie soll er den Punkt finden, an den er sich stellen und aufhören muß? Was mich in meiner Meinung bestärkt, ist die Ungleichheit der Schauspieler, die mit der Seele spielen. Erwartet von ihnen keinerlei einheitliche Wirkung, ihr Spiel ist abwechselnd stark und schwach, heiß und kalt, platt und erhaben. Sie werden morgen an der Stelle versagen, an der sie heute geglänzt haben, umgekehrt werden sie dort hervorragen, wo sie am Tage vorher danebengegriffen haben. Dagegen bleibt sich der Schauspieler, der mit Überlegung nach dem Studium der Natur in dauernder Nachahmung eines idealen Vorbildes aus der Phantasie, dem Gedächtnis spielt, immer gleich und vollkommen: alles war abgemessen, abgewogen, überlegt, geordnet worden in seinem Kopfe. In seiner Sprache ist weder Monotonie noch Dissonanz. Die Erregung hat ihre Entwicklung, ihre Wellen, ihre Ruhepunkte, ihren Anfang, Mitte und Höhepunkt. Die gleichen Akzente, die gleichen Stellungen, die gleichen Bewegungen: wenn ein Unterschied zwischen einer Vorstellung und der anderen entsteht, so ist es gewöhnlich zum Vorteil der letzten. Er ist nicht veränderlich: er ist ein Spiegel, immer bereit, die Gegenstände wiederzugeben und sie mit der gleichen Präzision, der gleichen Stärke und Wahrheit zu zeigen. Wie der Dichter schöpft er dauernd aus dem unerschöpflichen Brunnen der Natur, während er sehr bald das Ende seines eigenen Reichtums gesehen hätte. Gibt es ein vollendeteres Spiel als das der Clairon? […] Sie ist die Seele einer großen Puppe, mit der sie sich umgeben hat, ihre Probenarbeit hat sie dazu gemacht. Sie kann lässig auf dem Faulbett liegen, unbeweglich, und ihrem Traum folgen, dann wird sie sich hören, sich sehen, sich beur-
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teilen und den Eindruck beurteilen, den sie hervorruft. In diesem Augenblick ist sie doppelt: die kleine Clairon und die große Agrippina. Zweiter: Wenn man Sie hört, dann gleicht dem Schauspieler auf der Bühne oder bei seiner Probe nichts so sehr wie die Kinder, die nachts auf dem Friedhof Gespenster spielen, indem sie ein großes weißes Tuch an einer Stange über ihre Köpfe heben und unter diesem Leichengerüst hervor mit dumpfer Stimme die Vorübergehenden erschrecken. Erster: Sie haben recht! […] Nicht in der Hitze des ersten Entwurfes findet man die charakteristischen Züge, sondern erst in ruhigen, kalten Momenten, in ganz unerwarteten Augenblicken. Man weiß nicht, woher sie kommen, sie sind eine Art Eingebung. Zwischen der Natur und ihrer Skizze schwebend, blicken diese Genies aufmerksam auf die eine und die andere. Die Schönheiten der Eingebung, die unerwarteten Züge, die durch sie in ihre Arbeiten kommen und deren plötzliches Auftreten sie selbst in Erstaunen setzt, haben eine viel sicherere Wirkung und einen größeren Erfolg als das, was sie im ersten Augenblick hineingeworfen haben. Kühle Überlegung muß das Fieber der Begeisterung dämpfen. Nicht der erregte Mensch, der außer sich ist, kann uns mitreißen; das ist das Vorrecht des Menschen, der sich in der Gewalt hat. Vor allem die großen dramatischen Dichter sind aufmerksamste Zuschauer dessen, was um sie herum in der physischen und moralischen Welt geschieht. Zweiter: Die nur eine einzige ist. Erster: Sie ergreifen alles, was ihnen ins Auge fällt, sie sammeln es. Und aus diesem unbewußt im Innern gesammelten Reichtum dringen so viele seltene Erscheinungen in ihre Werke. Die Heißblütigen, Heftigen, Gefühlsmenschen sind auf der Bühne, sie geben ein Schauspiel, aber sie genießen es nicht. Nach ihnen eben schafft das Genie das Abbild. Die großen Dichter, Schauspieler und vielleicht ganz allgemein alle großen Nachahmer der Natur, wer sie auch seien, sind begabt mit einer schönen Phantasie, viel Urteilskraft, einem ausgeprägten Taktgefühl, einem sehr sicheren Geschmack, aber sie sind die denkbar gefühllosesten Menschen. Sie sind zu allem in gleicher Weise befähigt. Sie sind allzu beschäftigt mit Schauen, Erkennen und Nachahmen, um in ihrem Innern heftig ergriffen zu werden. Ich sehe sie immer mit dem Skizzenheft auf den Knien und dem Bleistift in der
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Hand. Wir, wir fühlen, sie beobachten, studieren und malen. Soll ich es sagen? … Warum eigentlich nicht? Gefühl ist nicht die Eigenschaft des großen Genies. Es liebt die Gerechtigkeit, aber es übt diese Tugend aus, ohne ihre Süßigkeit zu genießen. Nicht sein Herz, sondern sein Kopf tut alles. Auch der geringste, unerwartete Umstand ist für den Gefühlsmenschen verloren. Er wird weder ein großer König, noch ein großer Minister, noch ein großer Feldherr, ein großer Advokat, ein großer Arzt sein. Füllt mir das Theater mit diesen Heulern, aber bringt mir keinen auf die Bühne. Seht euch die Frauen an! Sie überbieten uns zweifellos bei weitem an Gefühl: welcher Unterschied zwischen ihnen und uns in den Augenblicken der Leidenschaft! Aber soweit wir ihnen nachstehen, wenn wir handeln, so weit bleiben sie hinter uns zurück, wenn sie nachahmen. Das Gefühl ist undenkbar ohne eine gewisse Schwäche. Die Träne, die einem wirklich männlichen Mann entrinnt, rührt uns mehr als alle Frauentränen. In der großen Komödie, der Komödie der Gesellschaft, auf die ich immer zurückkomme, sind alle heißen Seelen auf der Bühne, alle genialen Leute sitzen im Parkett. Die ersten heißen Verrückte, die zweiten, die sich damit beschäftigen, ihre Verrücktheiten zu kopieren, heißen Weise. Das Auge des Weisen erfaßt die Lächerlichkeiten so vieler verschiedener Gestalten, die er malt, und damit bringt er euch zum Lachen über die unerfreulichen Originale, deren Opfer ihr geworden seid, und über euch selbst. Er hat euch beobachtet, er hat das komische Abbild des Lästigen und eurer Qual gezeichnet. Man kann diese Wahrheiten beweisen, die großen Schauspieler werden sie nie zugeben, sie sind ihr Geheimnis. Die mittelmäßigen Schauspieler und Anfänger sind dazu geschaffen, sie zu verwerfen, und von einigen anderen könnte man sagen, daß sie zu fühlen glauben, wie man vom Abergläubigen gesagt hat, daß er sich einbildet, zu glauben, und daß es ohne den Glauben für diesen und das Gefühl für jenen kein Heil gibt. Aber wie? Will man behaupten, die schmerzlichen Klagelaute, die jene Mutter aus ihrem Innersten stößt und von denen ich im tiefsten Innern so heftig erschüttert bin, seien nicht geboren aus einem augenblicklichen Gefühl, es sei nicht Verzweiflung, die sie eingibt? Keineswegs. Und der Beweis? Sie sind abgemessen, sie sind Teil eines sprachlichen Aufbaus; wenn sie um ein Zwanzigstel eines Vierteltones leiser oder schärfer wären, klän-
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gen sie falsch. Sie sind einem Gesetz der Einheit unterworfen, sie werden, wie in der Harmonie, vorbereitet und aufgelöst. Sie genügen allen Anforderungen erst nach langem Studium. Sie tragen mit bei zur Lösung einer gestellten Aufgabe. Um richtig ausgestoßen zu werden, sind sie hundertmal wiederholt worden, und trotz der häufigen Wiederholungen macht man sie noch falsch. Ehe er sagt: „Zaire, Sie weinen!“ oder „Es wird gelingen, meine Tochter!“ hat der Schauspieler sich lange selbst zugehört. Er hört sich zu, während er euch bewegt, und sein ganzes Talent besteht nicht, wie ihr annehmt, im Fühlen, sondern in der Fähigkeit, die äußeren Zeichen des Gefühls so gewissenhaft wiederzugeben, daß ihr euch täuschen laßt. Die Schmerzensschreie hat er in seinem Ohr notiert. Die Gesten seiner Verzweiflung kommen aus dem Gedächtnis und sind vorm Spiegel ausprobiert worden. Er weiß den genauen Augenblick im voraus, in dem er sein Taschentuch ziehen muß und die Tränen fließen, erwartet sie bei diesem Wort, bei dieser Silbe, nicht früher und nicht später. Das Beben der Stimme, die abgehackten Worte, die erstickten oder gedehnten Laute, das Zittern der Glieder, das Wanken der Knie, die Ohnmachten, die Raserei – reinste Nachahmung! Vorausgelernte Lektion! Pathetische Grimasse! Erhabene Äfferei, deren Erinnerung der Schauspieler noch lange behält, nachdem er sie studiert hat, die ihm klar bewußt war in dem Augenblick, als er sie ausführte, die ihm, zum Glück für den Dichter, den Zuschauer und ihn selbst, die ganze Freiheit seines Geistes läßt und ihn, wie alle anderen Anstrengungen, nur Körperkräfte kostet. Sobald der Sokkus [der niedere Schuh als Kennzeichen der Komödie] oder der Kothurn [der hohe Schuh als Kennzeichen der Tragödie] abgelegt ist, verlischt seine Stimme. Er fühlt sich außerordentlich abgespannt, wechselt seine Wäsche und geht schlafen. Aber es bleibt ihm weder Verwirrung, noch Schmerz, noch Melancholie, noch seelische Niedergeschlagenheit. Diese Gefühlseindrücke nehmt ihr mit euch fort. Der Schauspieler ist müde, ihr seid traurig. Es liegt daran, daß er sich bewegt hat, ohne zu fühlen, und ihr gefühlt habt, ohne euch zu bewegen. Wenn es anders wäre, dann wäre der Beruf des Schauspielers der unglücklichste von allen Berufen – aber er ist nicht die Gestalt,
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er spielt sie und spielt sie so gut, daß ihr ihn dafür haltet: die Illusion ist euer; er weiß genau, daß er sie nicht ist. Verschiedene Gefühle sollten sich vereinen, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, sich aufeinander abstimmen, sich mildern oder verstärken, sich gegenseitig nuancieren, um ein einheitliches Ganzes zu schaffen! Diese Vorstellung bringt mich zum Lachen. Ich betone es also nochmals und sage: Übertriebenes Gefühl macht mittelmäßige Schauspieler, mittelmäßiges Gefühl macht die Masse der schlechten Schauspieler, und der absolute Mangel an Gefühl ist die Voraussetzung für erhabene Schauspieler. Die Tränen des Schauspielers kommen aus seinem Gehirn herab, die des Gefühlsmenschen steigen aus dem Herzen herauf: die Eingeweide verwirren den Kopf des Gefühlsmenschen maßlos. Der Kopf des Schauspielers trägt manchmal eine vorübergehende Verwirrung in sein Inneres. Er weint wie ein ungläubiger Priester, der über die Leidensgeschichte predigt, wie ein Verführer zu Füßen einer Frau, die er betrügen will, wie ein Bettler auf der Straße oder an der Kirchentür, der euch beschimpft, wenn er keine Möglichkeit sieht, euch zu rühren, oder wie eine Dirne, die nichts fühlt, aber in euren Armen ohnmächtig wird. Haben Sie jemals über den Unterschied zwischen den Tränen, die durch ein tragisches Ereignis, und denen, die durch eine traurige Erzählung hervorgerufen werden, nachgedacht? Man hört etwas Schönes erzählen: allmählich verwirrt sich der Kopf, die Seele wird bewegt, und die Tränen fließen. Beim Anblick eines tragischen Ereignisses dagegen berühren sich der Gegenstand, die Empfindung und die Wirkung: in einem Augenblick wird die Seele bewegt, man stößt einen Schrei aus, verliert den Kopf, und die Tränen fließen. In diesem Fall kommen sie plötzlich, im anderen wurden sie herbeigeführt. Das ist der Vorteil eines natürlichen und wahren Theatercoups auf einer wortreichen Bühne. Er bewirkt plötzlich, was die Bühne allmählich bringt. Aber die Illusion davon ist viel schwerer zu erzeugen. Ein einziger falscher oder nur schlecht wiedergegebener Umstand zerstört sie. Akzente lassen sich besser nachahmen als Bewegungen, aber die Bewegungen berühren stärker – das ist die Begründung für ein Gesetz, das meiner Meinung nach keine Ausnahme kennt: es kommt darauf an, den Knoten durch Handlung zu lösen, nicht durch Erzählung, wenn man nicht kalt lassen will.
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Nun, haben Sie mir nichts zu erwidern? Ich verstehe. Sie erzählen eine Geschichte in einer Gesellschaft; Sie sind im tiefsten Innern bewegt, die Stimme versagt Ihnen, Sie weinen. Sie haben, sagen Sie, gefühlt, und sehr intensiv gefühlt. Das gebe ich zu. Aber haben Sie sich darauf vorbereitet? Nein. Haben Sie in Versen gesprochen? Nein. Dennoch haben Sie mitgerissen, gerührt, eine große Wirkung erzielt. Das ist wahr. Aber übertragen Sie Ihren privaten Ton, Ihren einfachen Ausdruck, Ihre alltägliche Haltung, Ihre natürliche Geste auf die Bühne, und Sie werden sehen, wie arm und schwach Sie sind. Sie können noch so viel Tränen vergießen, Sie werden lächerlich wirken, man wird lachen. Sie spielen dann keine Tragödie, sondern eine tragische Parade. […] Überlegen Sie einen Augenblick, was es auf dem Theater heißt: WahrSein. Heißt das die Dinge so zeigen, wie sie in der Natur sind? Keineswegs! Das Wahre in diesem Sinne wäre nur das Alltägliche. Was ist also das Wahre auf der Bühne? Es ist die Übereinstimmung der Handlungen, Reden, der Gestalt, der Stimme, der Haltung, der Geste mit einem vom Dichter erfundenen Idealbild, das oft vom Schauspieler noch überbetont wird. Das ist das Wunderbare. Das Ideal beeinflußt nicht nur den Ton; es verändert sogar den Gang, ja die Haltung. Daher kommt es, daß der Schauspieler auf der Straße und auf der Bühne zwei so verschiedene Persönlichkeiten zeigt, daß man Mühe hat, ihn zu erkennen. Als ich Fräulein Clairon das erstemal zu Hause sah, rief ich ganz impulsiv: „Ach, gnädiges Fräulein, ich dachte, Sie seien einen Kopf größer!“ Eine unglückliche Frau, und zwar eine wirklich unglückliche, weint und rührt Sie nicht; schlimmer: ein leichter Zug, der sie entstellt, reizt Sie zum Lachen. Eine ihrer Eigenheiten klingt falsch in Ihrem Ohr und verletzt Sie. Eine Bewegung, die ihr ganz natürlich ist, zeigt Ihnen das Unedle und Kleinliche in ihrem Schmerz. Maßlose Leidenschaften zeigen sich fast immer in Verzerrungen, die der Künstler ohne Geschmack sklavisch nachahmt, während sie der große Künstler vermeidet. Wir wollen, daß der Mensch im tiefsten Leiden noch seinen Menschencharakter, die Würde seiner Gattung bewahrt. Was ist die Folge dieser heldenhaften Anstrengung? Uns vom Schmerz zu distanzieren und ihn zu mäßigen. Wir wollen, daß jene Frau mit Anstand und Anmut zusammenbricht und daß jener Held
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II. Schauspielen als Beruf
wie ein antiker Gladiator mitten in der Arena stirbt unter dem Beifall des Amphitheaters, mit Anmut und Würde in einer edlen und malerischen Haltung. Wer wird Ihre Erwartungen erfüllen? Etwa der Kraftprotz, den der Schmerz bezwingt und das Gefühl übermannt? Oder der geschulte Athlet, der sich beherrscht und die Gesetze der Gymnastik befolgt, während er seinen letzten Seufzer ausstößt? Der antike Gladiator ebenso wie der große Schauspieler, und der große Schauspieler genau wie der antike Gladiator sterben nicht, wie man im Bett stirbt, sondern sind gehalten, uns einen anderen Tod vorzuspielen, um uns zu gefallen. Und der sensible Zuschauer würde empfinden, daß die nackte Wahrheit, die aller Kunst entkleidete Handlung, kleinlich wäre und zur Poesie des übrigen in Widerspruch stünde. Das heißt nicht, daß die reine Natur nicht auch ihre erhabenen Momente hätte, aber ich glaube, wenn einer sie bestimmt erfassen und in ihrer Erhabenheit erhalten kann, so derjenige, der sie in der Phantasie oder aus Genialität vorausgefühlt hat und kaltblütig wiederzugeben weiß. Dennoch leugne ich nicht, daß eine Art erworbener oder künstlicher Beweglichkeit des Inneren mit im Spiele ist. Aber wenn Sie meinen Rat hören wollen, ich halte sie fast für ebenso gefährlich wie das natürliche Gefühl. Sie muß den Schauspieler nach und nach zu Manieriertheit und Einförmigkeit führen. Es ist ein der Vielgestaltigkeit der Funktionen des großen Komödianten entgegenwirkender Faktor. Er ist oft gezwungen, sich davon zu befreien, und diese Selbstverleugnung ist nur einem ehernen Kopf möglich. Zur Erleichterung der Studien und Proben, der Universalität des Talents und der Vollendung des Spiels wäre es besser, die unbegreifliche Spaltung des Ich wäre nicht nötig; denn ihre außerordentliche Schwierigkeit bindet schließlich doch jeden Schauspieler an eine einzige Rolle, zwingt die Truppen, sehr zahlreich zu sein, oder fast alle Stücke werden notwendig schlecht gespielt, es sei denn, man stelle die Ordnung der Dinge auf den Kopf und mache die Stücke für die Schauspieler. Mir scheint jedoch, sie sollten umgekehrt für die Stücke gemacht werden. […] Was ich Ihnen jetzt erzähle, habe ich gesehen. Garrick steckt seinen Kopf durch einen Türspalt und im Laufe von vier bis fünf Sekunden verändert sich sein Gesichtsausdruck von wilder Freude über gemäßigte Freude zur Ruhe, von der Ruhe zur Überraschung, von der Überraschung zum Erstau-
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nen, vom Erstaunen zur Trauer, von der Trauer zur Niedergeschlagenheit, von der Niedergeschlagenheit zum Schrecken, vom Schrecken zum Entsetzen, vom Entsetzen zur Verzweiflung. Von dieser letzten Stufe steigt er wieder bis an den Ausgangspunkt. Kann seine Seele all diese Gefühle empfinden und diese ganze Skala in Übereinstimung mit dem Gesicht? Ich glaube es nicht. Und Sie auch nicht. Wenn Sie diesen berühmten Mann fragten, der allein schon wert ist, daß man nach England reist, wie die Ruinen Roms eine Italienfahrt lohnen; wenn Sie, sage ich, ihn baten, die Szene des kleinen Kuchenjungen zu spielen, spielte er sie Ihnen. Wenn Sie ihn gleich darauf um die Hamlet-Szene baten, spielte er sie ebenfalls – gleich bereit, über die heruntergefallenen Pasteten zu weinen und in der Luft dem Weg des Dolches zu folgen. Kann man nach Wunsch lachen oder weinen? Man macht die mehr oder weniger genaue Grimasse, mehr oder weniger täuschend, je nachdem, ob man ein Garrick ist oder nicht. Ich imitiere manchmal, und sogar ziemlich wahrheitsgetreu, um sehr kluge Weltleute zu beeindrucken. Wenn ich verzweifelt bin bei dem gespielten Tode meiner Schwester in der Szene mit dem Advokaten aus der Niedernormandie, wenn ich mich in der Szene mit dem ersten Marinekommis anklage, der Frau eines Schiffskapitäns ein Kind beigebracht zu haben, dann sehe ich aus, als ob ich Schmerz beziehungsweise Scham empfinde. Aber bin ich wirklich traurig? schäme ich mich? ebensowenig in meiner kleinen Komödie wie in der Gesellschaft, wo ich diese beiden Rollen gespielt hatte, ehe ich sie in ein Theaterstück einfügte. Was ist denn ein großer Schauspieler? Ein großer tragischer oder komischer Imitator, dem der Dichter vorschreibt, was er zu sagen hat. […] Stellen Sie sich zwei Liebhaber vor, die beide eine Erklärung machen wollen. Welcher wird sich besser aus der Affäre ziehen? Ich bestimmt nicht. Ich erinnere mich, daß ich mich dem geliebten Wesen immer nur zitternd genaht habe – mir schlug das Herz, meine Gedanken verwirrten sich, die Stimme erstickte, ich verdarb alles, was ich sagen wollte – ich antwortete mit nein, wenn es ja hätte heißen sollen – ich war linkisch und ungeschickt, lächerlich vom Scheitel bis zur Sohle, bemerkte es und wurde dadurch immer nur lächerlicher. Dagegen verstand es ein heiterer, lustiger und gewandter Rivale, der sich voll in der Gewalt und an sich selber Freude hatte,
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II. Schauspielen als Beruf
unter meinen Augen keine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, seine Verehrung auszusprechen, und zwar in feiner, geistreicher Weise; er unterhielt, gefiel und hatte Erfolg. Er bat um ein Händchen, das man ihm überließ, er ergriff es manchmal, ohne darum gebeten zu haben, küßte es, küßte es wieder, und ich saß in einer Ecke und bemühte mich, die Augen von einem Schauspiel abzuwenden, das mich in Wallung brachte, erstickte meine Seufzer, preßte meine Fäuste, bis die Gelenke knackten, versank in Schwermut und konnte, von kaltem Schweiß bedeckt, meinen Kummer weder zeigen noch verbergen. Man sagt, die Liebe raubt denen den Verstand, die welchen haben, und gibt ihn jenen, die keinen haben, das heißt auf gut deutsch, sie macht die einen gefühlvoll und albern und die andern kalt und unternehmungslustig. Der Gefühlsmensch folgt den natürlichen Impulsen und vermag nur, den Schrei seines Herzens genau wiederzugeben – in dem Augenblick, da er diesen Aufschrei mildert oder verstärkt, ist er es nicht mehr selbst, er ist ein Schauspieler, der eine Rolle spielt. Der große Schauspieler beobachtet die Erscheinungen: der Gefühlsmensch dient ihm als Modell, er denkt über ihn nach und findet aus der Überlegung, was er um der besseren Wirkung willen hinzufügen oder weglassen muß. […] Zweiter: Die Seele des großen Schauspielers besteht aus jenem feinen Stoff, mit dem unser Philosoph [Epikur] den unendlichen Raum erfüllte, der weder kalt noch warm, weder schwer noch leicht ist, der keine feste Form annimmt, der jede Gestalt annehmen kann, aber keine behält. Erster: Ein großer Schauspieler ist weder ein Klavier, noch eine Harfe, noch ein Cembalo, noch eine Geige, noch ein Cello, er hat keinen ihm eigenen Akkord, aber er nimmt den Akkord und Ton an, der seiner Rolle entspricht, und versteht es, sich an jeden hinzugeben. Ich habe eine hohe Meinung vom Talent eines großen Schauspielers: es ist selten, ebenso, vielleicht noch seltener als das des großen Dichters. Wer sich in der Gesellschaft vornimmt, allen zu gefallen, und vielleicht sogar das unglückliche Talent dazu hat, ist nichts, besitzt nichts, was ihm eigen ist, was ihn auszeichnet, wofür sich die einen begeistern und was die anderen langweilt. Er redet immer und immer gut als ein berufsmäßiger Bewunderer, ein großer Höfling, ein großer Komödiant. […]
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In Gesellschaft finde ich sie, soweit sie nicht Spaßmacher sind, höflich, beißend und kalt, eitel, vergnügungssüchtig, verschwenderisch, auf ihren Vorteil bedacht, stärker angesprochen von unseren Lächerlichkeiten als gerührt von unseren Leiden, ziemlich ausgeglichenen Geistes beim Anblick eines unangenehmen Vorkommnisses oder bei der Erzählung einer traurigen Begebenheit – einsame Vagabunden im Dienste der Großen – wenig Sitten, keine Freunde, fast keine jener heiligen und zarten Bindungen, die uns mit den Leiden und Freuden eines anderen vereinigen. Ich habe oft Schauspieler außerhalb der Bühne lachen sehen, aber ich kann mich nicht entsinnen, je einen weinen gesehen zu haben. Was tun sie also mit dem Gefühl, das sie sich anmaßen und das man ihnen zuspricht? Lassen sie es auf den Brettern zurück, wenn sie herunterkommen, um es wieder aufzunehmen, wenn sie wieder hinaufgehen? Was ist es, das sie auf den Sokkus oder auf den Kothurn bringt? Mangel an Erziehung, Elend und liederliches Leben. Das Theater ist ein Ausweg, niemals freie Wahl. Noch nie ist einer Schauspieler geworden aus Liebe zur Tugend, aus dem Wunsche, der Gesellschaft nützlich zu sein und seinem Vaterlande oder seiner Familie zu dienen oder irgendeinem ehrenhaften Motiv, das einen ehrlichen Kopf, ein heißes Herz, eine gefühlvolle Seele zu einem so schönen Beruf hinziehen könnte. […] Von Natur ist der Mensch er selbst, in der Nachahmung ist er ein anderer. Das Herz, das man zu haben glaubt, ist nicht das, was man hat. Was ist denn das wahre Talent? Die äußeren Erscheinungsformen der erborgten Seele genau zu kennen, sich an die Sinne derer zu wenden, die uns hören und sehen und sie durch die Nachahmung der Erscheinungsformen zu täuschen, durch eine Nachahmung, die alles in ihren Köpfen vergrößert und der Maßstab für ihr Urteil wird. Denn es ist unmöglich, auf andere Weise das zu ermessen, was in uns vorgeht. Und was liegt schließlich daran, ob sie fühlen oder nicht fühlen, wenn wir es nur nicht merken? Wer also am besten die äußeren Zeichen kennt und sie am vollendetsten wiedergibt nach dem besten und höchsten Vorbild, der ist der größte Schauspieler. Zweiter: Wer dem großen Schauspieler am wenigsten zu erfinden übrigläßt, ist der größte Dichter. […]
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II. Schauspielen als Beruf Erster: Gefühlvoll sein ist etwas anderes als fühlen. Das eine ist eine An-
gelegenheit der Seele, das andere der Urteilskraft. Man fühlt mit Macht, aber man kann das nicht wiedergeben. Es geht allenfalls noch, wenn man allein ist, in kleiner Gesellschaft, am Kamin, für einige wenige Zuhörer oder Zuschauer, so zu lesen und zu spielen, aber auf der Bühne gelingt auf diese Weise nichts Starkes – denn auf der Bühne gibt man mit dem, was wir Gefühl, Seele, Trieb nennen, ein oder zwei Tiraden gut wieder, das übrige gelingt nicht. Die ganze Spannweite einer großen Rolle zu umfassen, das Hell und Dunkel abzustimmen, das Weiche und Schwache, gleichstark zu sein an ruhigen und an bewegten Stellen, farbig zu sein in den Einzelheiten, harmonisch und geschlossen im Ganzen, sich ein durchgehendes System des Sprachklangs zu schaffen, das selbst die Launen und Schwächen des Dichters überbrückt, das ist die Leistung eines kühlen Kopfes, klaren Verstandes, ausgezeichneten Geschmacks, eines genauen Studiums, langer Erfahrung und eines vorzüglichen Gedächtnisses, das nicht alltäglich ist; denn die für den Dichter bindende Regel: qualis ab inscepto processerit et sibi constet [Man muss ein Kunstwerk von Anfang an nach einem klaren Plan organisch bis in die letzten Einzelheiten entwickeln und gestalten], gilt bis ins Kleinste und Nebensächlichste für den Schauspieler. Wer aus der Kulisse tritt, ohne sein Spiel klar vor Augen und seine Rolle parat zu haben, wird sich sein ganzes Lebens als Anfänger fühlen, und wenn er, mit Kühnheit, Anmaßung und Schwung begabt, auf seine Geistesgegenwart und Routine zählt, dann wird dieser Mensch imponieren durch seine Wärme und Trunkenheit, und Sie werden seinem Spiel Beifall zollen, wie der Kenner der Malerei eine freche Skizze bewundert, in der alles angedeutet und nichts ausgeführt ist. Dieses Wunder hat man gelegentlich auf dem Jahrmarkt oder bei Nicolet gesehen, diese Verrückten tun vielleicht gut, zu bleiben, was sie sind: geborene aber unfertige Komödianten. Intensives Studium würde ihnen nicht das geben, was ihnen fehlt, wohl aber das nehmen, was sie haben. Nehmen Sie sie als das, was sie sind, aber stellen Sie sie nicht neben ein vollendetes Bild. Zweiter: Jetzt bleibt nur noch eine Frage offen. Erster: Sprechen Sie! Zweiter: Haben Sie je ein ganzes Stück vollendet gespielt gesehen?
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Erster: Nicht daß ich wüßte … aber halt … ja, manchmal ein mittelmäßiges Stück von mittelmäßigen Schauspielern … […] Hier schwieg der Mann des Paradoxes. Dann hielt er plötzlich an, ergriff seinen Gegner heftig am Arm und sagte ruhig und bestimmt zu ihm: „Mein Lieber, es gibt drei Vorbilder, den Menschen der Wirklichkeit, den Menschen des Dichters, den Menschen des Schauspielers. Der der Wirklichkeit ist weniger groß als der des Dichters, und dieser wieder weniger groß als der des großen Schauspielers, der der übersteigertste von allen ist. Er steigt auf die Schulter des Vorhergehenden, steckt sich in eine Rohrpuppe, deren Seele er ist. Er bewegt diese Puppe auf erschreckende Weise, selbst der Dichter erkennt sie nicht wieder. Er erfüllt uns mit Entsetzen, wie Sie sehr richtig sagten, so wie sich die Kinder gegenseitig erschrecken, wenn sie ihre kurzen Röckchen über den Kopf ziehen und schwenken und, so gut sie können, heisere und hohle Stimmen vortäuschen beim Gespensterspielen. Aber haben Sie nicht zufällig Kinderspiele auf Kupferstichen gesehen? Haben Sie da nicht ein Kind gesehen, das sich von Kopf bis Fuß in einer häßlichen Greisenmaske verbirgt, es lacht unter dieser Maske, während seine kleinen Freunde vor Entsetzen davonlaufen. Dieses Kind ist das wahre Symbol des Schauspielers. Seine Freunde sind das Symbol des Zuschauers. Wenn der Schauspieler nur mit mittelmäßigem Gefühl begabt ist, und wenn das sein ganzes Verdienst ist, werden Sie ihn nicht für einen mittelmäßigen Menschen halten? Nehmen Sie sich in acht, das ist nochmals eine Falle. – Und wenn er mit einem außerordentlichen Gefühl begabt ist, was geschieht dann? – Was geschieht? Er wird überhaupt nicht spielen – oder lächerlich spielen. Ja, lächerlich. Und der Beweis, den können Sie in mir sehen, wenn Sie wollen. Sobald ich eine einigermaßen gefühlvolle Rede zu halten habe, verwirren sich mir Herz und Kopf. Meine Zunge versagt, es verschlägt mir die Stimme, meine Gedanken geraten durcheinander, meine Rede stockt, ich stottere, ich bemerke es, die Tränen rinnen mir über die Wangen, ich verstumme. – Aber Sie haben Erfolg damit. – In der Gesellschaft, im Theater würden Sie mich auspfeifen. – Warum? – Weil man nicht dahin kommt, um Tränen zu sehen, sondern um eine Rede zu hören, die sie hervorruft; denn diese Wahrheit der Natur stimmt nicht überein mit der Wahrheit der Konvention. Ich will mich deutlicher ausdrücken. Ich meine,
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II. Schauspielen als Beruf
daß weder das dramatische System, noch die Handlung, noch die Rede des Dichters sich mit meiner erstickten, abgerissenen, zerschluchzten Deklamation vereinen ließe. Sie sehen, es ist also nicht einmal erlaubt, die Wirklichkeit nachzuahmen, selbst die schöne Wirklichkeit, die Wahrheit aus nächster Nähe, es gibt Grenzen, in denen man sich halten muß. – Und wer hat diese Grenzen gesetzt? Der gesunde Menschenverstand, der nicht will, daß ein Talent das andere beeinträchtigt. Manchmal muß sich der Schauspieler dem Dichter aufopfern. – Aber wenn es ihm das Werk des Dichters erlaubte? Dann hätten Sie eine durchaus andere Art Tragödie, als wir haben. – Und was schadete das? – Ich weiß nicht, was Sie dabei gewinnen wollten, aber ich weiß sehr genau, was wir dabei verlieren würden.“ […] Schauspieler machen nicht Eindruck auf das Publikum, wenn sie wütend sind, sondern wenn sie die Wut spielen. Bei Gericht, in Versammlungen, überall, wo man die Menschen beherrschen will, spielt man bald Zorn, bald Furcht, bald Mitleid, um in den anderen alle diese Gefühle zu wecken. Was die Leidenschaft selbst nicht hat tun können, das leistet die gut nachgeahmte Leidenschaft. Sagt man nicht in der Gesellschaft von manchem Menschen, daß er ein großer Komödiant ist? Man versteht darunter nicht, daß er fühlt, sondern im Gegenteil, daß er hervorragend Gefühle vortäuscht: diese Rolle ist weit schwerer als die des Schauspielers; denn dieser Mensch muß auch seine Reden selbst erfinden, er hat also zwei Funktionen auf einmal zu erfüllen, die des Dichters und die des Schauspielers. Der Dichter kann auf der Bühne vielleicht geschickter sein als der Komödiant in der Gesellschaft, aber glaubt man wirklich, daß der Schauspieler auf der Bühne eindringlicher und geschickter Freude, Trauer, Gefühl, Bewunderung, Zärtlichkeit heucheln kann als ein alter Höfling? Denis Diderot: „Das Paradox über den Schauspieler“ (geschrieben um 1770, Erstveröffentlichung 1830 in Paris), in: ders.: Erzählungen und Gespräche, Diederichsche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1953 und Insel Verlag, Frankfurt am Main 1981 (Deutsch von Katharina Scheinfluß), S. 289 – 362 Denis Diderot (1713 – 1784), französischer Schriftsteller und Aufklärer, Verfasser der Encyclopédie (gemeinsam mit d’Alembert) und anderer philosophischer, naturwissenschaftlicher und kunstkritischer Arbeiten. Er schrieb außerdem Theaterstücke (u. a. Le Fils Naturel, Le Père de famille) und begründete mit seinen theoretischen Abhandlungen über das Theater, etwa De la poésie dramatique und Le paradoxe sur le comédien, das bürgerliche Trauerspiel.
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III. STANISLAWSKI UND DIE FOLGEN Leerzeile „Wir können Gefühle nicht ausdrücken. Niemals. Gefühle, welcher Art auch immer, drücken sich selbst in uns aus, ob wir wollen oder nicht.“1 Die absichtliche Darstellung von Gefühlen löst im Gegenüber sofort Misstrauen aus. Ein Gefühl ist nur dann glaubwürdig, wenn es sich ohne erkennbare Intention, gegen den Willen des Menschen, im Ausdruck, in der Stimme, im Körper zeigt. Die Entwicklung dieser Gefühlsökonomie, die zum Maßstab des Vertrauens und zum Wesen der bürgerlichen Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert geworden ist, findet ihre Entsprechung im Bild des Schauspielers. Im 18. Jahrhundert galt die Fähigkeit, sich Gefühle anmerken zu lassen, als bürgerliche Tugend, die vom neuen Typus des Menschendarstellers perfekt verkörpert wurde. Der Widerspruch zwischen den lesbaren Gefühlen in einem codierten, höfischen Verhaltensvokabular und den individuellen Gefühlswallungen, denen der Mensch ohnmächtig ausgeliefert ist, fand ihre schauspieltheoretische Form in Diderots Paradox über den Schauspieler (Quelle 6). Der blinde Fleck dieses Paradoxes liegt aus der Perspektive des psychologischen 19. Jahrhunderts darin, dass Diderot die Trennung zwischen den gefühlten Gefühlen und den nur dargestellten Gefühlen zu gegensätzlich denkt. Diderots Schlussfolgerung, dass nur der kalkulierende, kalte Schauspieler wiederholbare Gefühle darstellen könne, ist dieser absoluten Trennung geschuldet, in der nicht vorstellbar scheint, dass auch die inneren Bewegungen des Menschen seinem Bewusstsein unterworfen werden können. Genau diese Verschiebung der Perspektive auf das schauspielerische wie menschliche Handeln wird im 19. und 20. Jahrhundert vollzogen. Der Blick wendet sich nun auf das seelische Vermögen des Schauspielers, das er benötigt, um den neuen, unabsichtlichen Gefühlsausdruck professionell und damit absichtlich herstellen zu können. Hierfür reicht es nicht mehr, die gestischen, stimmlichen und motorischen Fähigkeiten auf ihre Bühnenwirksamkeit hin zu trainieren. Jetzt rückt die innere Beteiligung an jeder Art von menschlichem Verhalten ins Zentrum der Aufmerk1
Declan Donnellan: Der Schauspieler und das Ziel, Berlin 2008, S. 200.
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samkeit. Gemäß der Freudschen Bemerkung, dass nur ein Achtel der Seele dem menschlichen Bewusstsein zugängig ist, sieben Achtel hingegen dem Unterbewusstsein zuzurechnen sind, beginnt eine Erkundungsreise in diesen verborgenen Kontinent. Die Wege und Karten hierfür sind dürftig und sehr ungenau. Ein Königsweg sind die Träume, in denen sich Spuren des Verdrängten und des Vorbewussten formulieren, während die alles überwachende Kontrollinstanz des Tagesbewusstseins schläft. Doch auch diese Botschaften aus dem schwarzen Kontinent müssen, wollen sie mitgeteilt werden, durch die Zensur des wachen Bewusstseins gehen. Es werden für die Analyse der Träume Formulierungen gesucht, die den Fluss der Bilder und Emotionen in Sprache fassen können. Das Unvermögen, nächtliche Traumereignisse beschreiben zu können, resultiert aus der Begegnung des Tagesbewusstseins mit seinem unbekannten Fundament. Genau an dieser Grenze, an der das Bewusstsein ein Geheimnis preisgeben soll, beginnt die Beobachtung der menschlichen Psyche zum Schauspiel zu werden: Wie wird der Traum erzählt? Welche Worte und Wendungen werden verwendet, um Peinliches und Beschämendes zu umschiffen? Welche Versprecher, Witze und Fehlleistungen durchlöchern die absichtliche Selbstdarstellung und eröffnen kleine Durchblicke in die verborgenen psychischen Bewegungen? In einer berühmten Beschreibung einer Traumerzählung2 lässt Sigmund Freud einen jungen Mann davon berichten, dass in seinem Traum eine ältere Frau eine wesentliche, auch erotische Rolle gespielt habe. Während der Erzählung dieses Traumes betont der junge Mann häufig, dass es sich bei dieser Frau auf keinen Fall um seine Mutter handeln könne. Die Betonung der Negation lässt einige Rückschlüsse auf die Trauminhalte und die darin verdrängten psychischen Bewegungen zu. Die Kontrollinstanz des wachen Bewusstseins wird sich während der Erzählung über den Gehalt des Traumes klar und antwortet auf diese Ahnung mit einer sofortigen Zensur. Sie will das ins Unterbewusstsein Verdrängte nicht ans Licht kommen lassen und beginnt mit einer erneuten Verdrängungsarbeit. Die „talking cure“ der Analyse beginnt. Der Arbeit des Ich-Bewusstseins kann nun live zugeschaut werden. Der junge Mann führt nun ein Schauspiel auf, in dem 2
Sigmund Freud: „Die Verneinung“, in: ders.: Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Band III, Frankfurt am Main 1975, S. 371 ff. (Erstveröffentlichung 1925).
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seine Scham, seine Verdrängungen und Gefühle den unmittelbaren Anlass für sein Verhalten und Handeln geben. Das Schauspiel der Seele dient dem Drama und der Schauspieltheorie der Moderne als Modell einer Aufführung. In der Ästhetik des Dramas entstehen die Dramaturgien des Realismus und des Naturalismus.3 Die Situation des Sprechenden wird durch den realistischen Dialog neu bestimmt. Für die dramatische Rede war bisher die Frage zentral, welche Sätze überhaupt sinnvoll so laut gesprochen werden können, dass sie sich für das Theater mit seinen Zwängen zur Vergrößerung und Vergröberung eignen. Rhetorik, Deklamation und rhythmisierte Sprache waren hierfür von der Antike bis zur Deutschen Klassik im 18. Jahrhundert bestimmende sprachliche Mittel. Mit dem Aufkommen des bürgerlichen Realismus gerät nun ein anderes Kommunikationsverhalten in den Fokus der Aufmerksamkeit. So wie die bürgerliche Interaktion davon bestimmt ist, integer erscheinen zu wollen, ohne diese Integrität absichtlich zu produzieren, so ist auch die bürgerliche Kommunikation von einer doppelten Funktionsweise bestimmt. Jeder Sprechakt wird hier in einer zweifachen Perspektive ausgeführt und vom Gegenüber verstanden als Mitteilung einer Information. Die einfache Mitteilung der Information: „Mir ist kalt“ bekommt in der Kommunikation einen zweifachen Sinn. Zum einen ist sie die Beschreibung eines Erlebens, dem man glauben kann oder nicht. Zum anderen bekommt diese Erlebnisbeschreibung die Eigenschaft, eine Handlungsaufforderung zu sein. Sitzen z. B. Sprecher und Hörer in einem Zugabteil und das Fenster ist offen, so könnte der Hörende das Erleben des Sprechers als Bitte verstehen, doch das Fenster zu schließen. Auf diese Mitteilung kann nun in vielfacher Hinsicht reagiert werden: Sie kann ignoriert werden, da sie ja nur implizit gemacht worden ist, sie kann selbst thematisiert werden („warum sagst du nicht einfach, was du willst“), und sie kann befolgt werden. In jedem Fall ist durch die doppelte Wahrnehmung des Sprechaktes eine Situation gegeben, in der Entscheidungen getroffen werden müssen, um die Kommunikation fortzusetzen. Jede Kommunikation hat in der Moderne die Eigenschaft dieser dop3
Hierzu ausführlich: Lektionen 2 Dramaturgie, Kapitel VI und VII. Als weitere künstlerische Antwort auf die Traumdeutung entsteht die Traumspiel-Dramaturgie. Hier wird die Dramaturgie der fließenden und assoziativen Übergänge in Aufbau und Abfolge der Szenen wiederholt. Die berühmtesten Beispiele hierfür sind August Strindbergs Traumspiel und Nach Damaskus.
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100 III. Stanislawski und die Folgen pelten Kontingenz. Das meint, sie besteht immer aus den zwei Ebenen der inhaltlichen Mitteilung und des Beziehungsaspekts, in dem eine Information mitgeteilt wird. Der jeweils andere hat die Möglichkeit, diese Differenz zu verstehen oder nicht, und die Wahl, auf welche der beiden Ebenen er reagieren will.4 Das Drama der Moderne macht diese Kommunikationsform zum Gegenstand seiner Darstellung und verwendet sie zugleich als Mittel seiner Darstellung.5 Die Ehedramen, Familien- und Gesellschaftsstücke bilden die Probleme einer solchen Gesprächsform ab, indem sie genau diese Gesprächsform benutzen. Der Dialog im Drama wiederholt die moderne Kommunikation der doppelten Kontingenz. Durch die Verwendung der modernen doppelbödigen Kommunikation sind die Figurenzeichnung, Dialoge und dramatischen Situationen dementsprechend gebaut. Die zentralen Forderungen, die hierdurch an die Kunst des Schauspielers gestellt werden, erzwingen eine Weiterentwicklung der psychologischen Spielweise. Alle kanonisierten Ausdrucksregeln, wie Zorn, Wut, Liebe oder Verzweiflung, die körperlich und mimisch dargestellt werden können, werden zusehends als Ansammlung von Klischees erkannt. Es mag im Alltagstheater üblich sein, dass ein zorniger Mensch wütend mit dem Fuß aufstampft, die Hände zu Fäusten ballt und mit vorgerecktem Kopf schreit. Werden diese Bewegungen jedoch als Ausdruck auf der Bühne einfach wiederholt, entsteht ein allgemeiner und nicht individueller Ausdruck für Zorn. Es fehlen ihm die für das Theater des Realismus wesentlichen Eigenschaften: die Besonderheit des Individuums und die Komplexität der seelischen Bewegungen, die diesem Gefühlsausdruck zugrunde liegen. Die Aufmerksamkeit in der Beobachtung der Menschen verschiebt sich zusehends auf den inneren Kontinent der Seele. Die äußerlichen Taten, durch die die Helden der klassischen Dramen auf der Bühne in Erscheinung traten, liegen nun meistens vor dem Beginn des Dramas. Wenn der Mensch auf der Bühne erscheint, trägt er bereits seine Bürde des 4
5
Hierzu ausführlich: Lektionen 2 Dramaturgie, Kapitel XII und Niklas Luhmanns zahlreiche Ausführungen zu diesem Kommunikationsbegriff und seine vielfältigen Folgen, z. B. in Soziale Systeme und Die Kunst der Gesellschaft. In der Dramengeschichte wird diese Kommunikationsform dann häufig als „Konversationsstück“ bezeichnet. Diese Benennung beschreibt etwas ungenau den Unterschied zwischen der öffentlich gesprochenen Rede und der Verwendung von Sprache als Kommunikationsmedium in dem oben beschriebenen Sinne.
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III. Stanislawski und die Folgen 101 Daseins mit sich. Die Entfaltung dieser individuellen Geschichte macht nun die Handlung des Dramas aus. Für den Schauspieler heißt das, dass die zu spielenden Bewegungen in seinem Inneren stattfinden müssen. Das dramatische Spielmaterial hierfür ist der Dialog, dessen Bewegung zwischen dem zu verhandelnden Inhalt und der darin gestifteten Beziehung oszilliert. Um diese ständige Bewegung lebendig zu halten und die zahlreichen kleinen und großen Entscheidungen, die hierfür notwendig sind, vollziehen zu können, muss der Schauspieler nicht nur als Agierender, sondern vor allem als Reagierender auf der Bühne präsent sein. Die doppelte Kontingenz der modernen Kommunikation entsteht nur, wenn alle daran Beteiligten sowohl als Sprecher wie auch als Zuhörer auf beiden Ebenen gleichzeitig wach sind. Die hierbei zu spielenden inneren Abläufe benötigen die volle Komplexität der menschlichen Seele, damit sie im Dialog die spezifische Wahrheit des einzelnen besonderen Individuums, die sich durch diese Kommunikation entwickelt, darstellen können. Die schauspielerische Herausforderung besteht nun in der Verkörperung eines konkreten, erkennbaren Menschen, der sich in bestimmten Situationen auf besondere Art und Weise erlebend und handelnd verhält. Hierzu bedarf es einer inneren Bewegung des Erlebens, die sich in seinem Gesicht, seinem Körper und seiner Stimme ausdrückt. Diese innere Bewegung muss vor dem Auftritt beginnen und bis zum Abgang in einem kontinuierlichen Fluss bleiben. Jede Unterbrechung oder jede unglaubwürdige Schwankung ließe den dargestellten Menschen als bloße Theaterbehauptung erscheinen und wäre ihrem Wesen nach komisch. Die Unterbrechung dieses Spielflusses würde die Figur zerstören oder zumindest unglaubwürdig erscheinen lassen. Mit genau diesem schauspielerischen Mittel der Unterbrechung werden spätere Schauspielmethoden arbeiten (siehe Kapitel 4 und 5). Den durchgängigen Spielfluss in jeder Sekunde lebendig und der Situation gemäß zu halten und dadurch vor Zuschauern den Anschein eines realen Erlebens zu erwecken, erfordert eine komplexe psychische Leistung. Die einfache Opposition, mit der das schauspielerische Handeln beschrieben wird, ist die Unterscheidung zwischen dem Handeln von „innen nach außen“ und dem von „außen nach innen“. Mit Letzterem ist die Spielweise gemeint, die sich im 18. Jahrhundert entwickelt hat, und die in der Nach-
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102 III. Stanislawski und die Folgen ahmung realer menschlicher Verhaltensweisen besteht. Die Grenzen der Darstellung dieser Verkörperungstechnik liegen in den situativen Anforderungen des Dramas des Realismus und in der sich entwickelnden Differenzierung der menschlichen Wahrnehmung. Basiert das schauspielerische Handeln auf psychischen Bewegungen, die sich im Dialog entwickeln, und besteht die theatralische Faszination in der Beobachtung genau dieser eigentlich unsichtbaren seelischen Regungen, kann die Darstellung nicht in der Nachahmung des äußerlichen Verhaltens ihren Grund haben. Die umgekehrte Bewegung, von „innen nach außen“, muss zum Ausgangspunkt des Spiels werden. Diesen Weg zu beschreiten, ist Stanislawski um 1900 aufgebrochen, indem er das Künstlertheater und eine angeschlossene Schauspielschule gegründet hat. In einer Jahrzehnte dauernden Forschungs- und Lehrtätigkeit hat er sein „System“ des schauspielerischen Handelns entwickelt und in einer ausufernden Textmenge festgehalten. Zum Ende seines Lebens beklagt er, nicht zu Unrecht, dass er die Menge seiner Aufzeichnungen nicht mehr zum abgeschlossenen System zusammenzufassen vermag. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle sind die für unseren Bereich zentralen Bücher, von denen Letzteres aber von ihm selbst nicht mehr fertiggestellt werden konnte. In der Arbeit des Schauspielers an sich selbst beschreibt Stanislawski anhand einer fiktiven Schauspielklasse die Unterrichte und Probleme der angehenden Schauspielschüler. Beginnend mit der ersten Stunde und der oben zitierten Erfahrung6, lässt er seine Schüler Schritt für Schritt die „psychophysischen“ Zusammenhänge erfahren. Sie erleben ihre Blockaden und Glücksmomente und werden mit den methodischen Ratschlägen und Übungen vertraut gemacht, die ihr „inneres Befinden“ auf der Bühne trainieren, sodass es wach und reaktionsschnell agieren und reagieren kann. Viele dieser Übungen sind bis heute im Schauspielunterricht präsent, sei es in der Form, die Stanislawski selbst für sie gefunden hat, oder in den Variationen, die seine unzähligen Nachfolger entwickelt haben. Die Einzigartigkeit des „Stanislawski-Systems“ besteht aber bis heute in seiner methodischen Komplexität. Denn zum einen beschreibt er in praktischen 6
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III. Stanislawski und die Folgen 103 Übungen die Entwicklung eines Spielvermögens, das auf der Wahrhaftigkeit des Erlebens beruht und dadurch zu einer Wahrhaftigkeit des Handelns führt. Und zum anderen ist er sich der Dialektik bewusst, die allem menschlichen Handeln innewohnt. Die Opposition zwischen „innen“ und „außen“ ist eine methodische Vereinfachung, die für bestimmte Unterrichtsschritte sinnvoll ist. Sie ist jedoch in Bezug auf das menschliche Handeln und Erleben eine zu einfache Beschreibung. Dieser methodischen Eingrenzung war sich Stanislawski im Gegensatz zu vielen seiner Nachfolger bewusst. Mit dem Begriff der „physischen Handlung“ hat er neben dem „inneren Erleben“ den zweiten Pol des schauspielerischen Handelns gefunden. Denn es ist im alltäglichen Handeln nicht immer klar zu unterscheiden, ob zuerst ein Gefühl entsteht und daraus eine bestimmte Äußerung folgt, oder ob nicht durch das Handeln überhaupt erst ein Gefühl entsteht. In eine einfache Frage zusammengefasst, die Ariane Mnouchkine einst formulierte: Muss ich beten, um mich gläubig hinknien zu können, oder reicht es, dass ich mich hinknie, und dann zu beten beginnen werde? Bestimmte physische Handlungen reizen bestimmte innere Erlebnisse und umgekehrt. Beim Schreien ist dieser Effekt am offensichtlichsten. Wer schreit, erregt in sich die Gefühle von Empörung, Zorn und Aggression. Dieses Mittel des Sich-Hineinsteigerns durch eine Aktion wurde im 18. Jahrhundert noch selbstverständlich genutzt und ist in die Form der Dialoge eingegangen. Hier werden die Dinge oft mehrfach benannt, sodass der Schauspieler sich wie über eine Treppe Schritt für Schritt in sein Gefühl hineinsteigern kann. Der moderne Dialog bildet genau diese Absprungrampen nicht mehr, da er einen anderen Aspekt der Kommunikation abbildet. Für die Schauspielausbildung hat diese Veränderung drastische Konsequenzen, da die darstellerischen Fähigkeiten insoweit entwickelt sein müssen, dass die Schauspieler bereits vor dem Beginn des Dialogs die Situation erspielen können und nicht erst auf den Text als Spielhilfe warten dürfen. Die organische Verbindung zwischen Handeln und Erleben wollte Stanislawski durch seine zahlreichen Übungen bewusst machen und fördern. Ist das Band zwischen innen und außen erst einmal so geknüpft, dass jede Bewegung – sei es auf der einen Seite oder der anderen – zu einer entsprechenden Reaktion führt, ist der Schauspieler frei in der Wahl seiner Mittel.
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104 III. Stanislawski und die Folgen Das Erleben wird folgen, wenn die Handlung ausgeführt wird, und die Handlung wird folgerichtig sein, wenn das Erleben sie notwendig macht. Dieses Stadium der dialektischen Lebendigkeit ist dem Menschen zwar von Natur aus gegeben, doch führen zwei Hindernisse dazu, dass die meisten Menschen diese Verbindung in sich nur noch schwach erleben können. Zum einen ist es Teil der Erziehung, die unmittelbaren Impulse, in denen sich das Erleben unwillkürlich im Ausdruck niederschlägt, zu unterdrücken. Wir alle haben gelernt, im Alltag nicht zu zeigen, was wir gerade empfinden, begehren oder verabscheuen. Wir sitzen in der U-Bahn neben Menschen, die uns fremd, begehrenswert oder unsympathisch erscheinen, mit der immergleichen äußerlichen Ruhe. Wir schreien nicht gleich auf, wenn uns etwas ärgert oder schmerzt. Dieses Verhalten, das im wahren Sinne des Wortes ein Zurückhalten der inneren Bewegungen ist, ermöglicht, den Alltag einigermaßen reibungslos zu überleben.7 Man stelle sich nur einmal vor, was in einer U-Bahn alles vor sich ginge, wenn jeder seinen Impulsen freien Lauf ließe. Die zweite Hemmung, die dem organischen Zusammenspiel von Erleben und Handeln entgegensteht, ist das Lampenfieber. Selbst wenn es jemandem gelingt, im Alltag seine Gefühle weitgehend auszuagieren, wird er doch, sobald er eine Bühne betritt, den größten Teil dieses Ausdrucksvermögens einbüßen. Gerade bei besonders expressiven Mitmenschen ist diese Implosion fast immer zu beobachten. Die Unbekümmertheit im Alltag wird in der Sekunde, in der das Angeschautwerden zu Bewusstsein kommt, zu einem peinlichen Verhalten. Der Mensch scheint sich nun gerade seiner Expressivität zu schämen. Stanislawskis Methode setzt an beiden Blockaden zugleich an. Er versucht, die kindliche Unbekümmertheit wiederzuerwecken, und er will sie zugleich mit der Robustheit ausstatten, dass sie auch im Stress des Lampenfiebers spielerisch frei bleiben kann. So wie es ein dialektisches Verhältnis zwischen Innen und Außen, zwischen Erleben und Handeln gibt, gibt es eines zwischen der Befreiung und dem Training, das diese Freiheit aktiv und zuverlässig wiederholbar macht. Viele der heute etwas militärisch anmutenden Übungen „Training und Drill“ 7
Diese erwachsenen Hemmungen meint Max Reinhardt, wenn er davon spricht, dass Schauspieler ihre „Kindheit in die Tasche gesteckt“ haben, damit sie ihr ganzes Leben damit weiterspielen können.
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III. Stanislawski und die Folgen 105 haben ihren Grund in genau diesem Ziel, den Schauspieler zu einem professionellen Menschen zu machen, d. h. zu einem Menschen, der unter schwierigen psychischen und physischen Bedingungen in der Lage ist, spielerisch sein Erleben und Handeln lebendig zu erhalten. Die zentrale Übung hierfür ist das Spielen mit dem „magischen Wenn“. Da auf der Bühne immer Realitäten erschaffen werden müssen, die anders sind als die tatsächliche Realität der Bühne, und da diese sekundären Realitäten zentral durch das Spiel der Schauspieler und nicht durch Dekoration oder Kostüme erschaffen werden, muss dieser über Vergegenwärtigungstechniken verfügen. Um diese zu erlernen, beginnt Stanislawski mit einfachen Übungen, in denen die Spieler sich eine Situation vorstellen, um dann in der fiktionalen Wirklichkeit dieser Situation glaubwürdig zu spielen. Die Aufgabe ist hierbei immer eine doppelte. Zum einen muss durch das Spiel überhaupt die Situation mit der ihr zugehörigen Welt auf der Bühne entstehen, zum anderen muss das Handeln in der Situation glaubwürdig und folgerichtig sein. Das Erlernen dieser komplexen schauspielerischen Technik erfordert eine lange Übung und wird in unterschiedlichen Ansätzen und Etüden immer wieder erarbeitet. (Quelle 7) Dabei gehen Stanislawski und die meisten seiner Nachfolger immer von einer realen, in der Lebenswirklichkeit möglichen Situation aus. Um diese auf der Bühne, in einer fiktiven Realität, möglichst plausibel und wahrhaftig wiedererstehen lassen zu können, braucht es einer umfangreichen Vorbereitung. Wenn das spielerische Vermögen und die darzustellende Situation in ein produktives Verhältnis zueinander kommen sollen, muss sowohl die Möglichkeit des Schauspielers, auf die Ereignisse der Situation reagieren zu können, entwickelt sein, als auch die Situation selbst vom Spieler in ihrer Komplexität sowohl in der Vorbereitung als auch im Verlauf erfasst werden. Um diesen Prozess, der für das Schauspiel innerhalb der Ästhetik der realistischen Menschendarstellung zentral ist, zu erlernen, gebraucht es zahlreicher Übungen, die das Handeln und Erleben in vorgestellten Situationen zusehends plausibler und komplexer machen. Das Fundament dieser Übungen stellt die vorgestellte Situation dar. In einer Situation treffen verschiedene Absichten und Haltungen aufeinander. Eine Bank wird auf die Bühne gestellt, eine Tasche liegt darauf. Ein Schauspielschüler betritt die
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106 III. Stanislawski und die Folgen Bühne. Was wird er nun tun? Um zu einer schauspielerischen Handlung zu kommen, stellt er sich vor seinem Auftritt die W-Fragen. Wer bin ich? Woher komme ich? Wo bin ich? Was will ich? Warum will ich das? Wann und wozu passiert dieses? Durch die Beantwortung dieser Fragen kommt er zu einer konkreten Phantasie, die ihn dann in der vorgestellten Situation der Bühne real handeln und erleben lässt. Ich komme aus dem Gefängnis. Ich bin hungrig und arm. Ich bin alleine im Park und finde eine Tasche. Ich will sie klauen, weiß aber, dass ich, wenn ich dabei erwischt werde, wieder ins Gefängnis muss. Diese Kette von Antworten würde ein völlig anderes Spiel erzeugen als: ich bin ein müßiger Spaziergänger, komme von zu Hause, finde eine Tasche und möchte sie ihrem Besitzer zurückgeben. Beide Antwortketten und die unendliche Zahl an weiteren Möglichkeiten sind zuerst nur in der Phantasie des Schauspielers vorhanden. Erst dadurch, dass er durch seine Vorstellung ins Spiel kommt, fängt er an, sich der vorgestellten Situation gemäß zu verhalten, Entscheidungen zu treffen, Erfahrungen zu machen, diese zu bewerten und daraus Handlungsimpulse zu gewinnen. Würde etwa im ersten Beispiel der Taschendieb ein Geräusch hören, hätte es gänzlich andere Konsequenzen als im zweiten Beispiel des Taschenfinders. Die Fähigkeit, auf einer Bühne, in Kulissen, unter Kunstlicht vor den Augen zahlreicher Zuschauer, diese Erlebnisse glaubwürdig zu machen und die resultierenden Handlungsimpulse zu haben, stellt das schauspielerische Vermögen dar. Die Wege der Ausbildung, um diese Fähigkeiten zu entwickeln, sind unterschiedlich. Doch letztlich sind sie sich im Ziel ihrer Bemühungen einig. Der Schauspieler soll zu einem glaubwürdigen Spiel innerhalb einer vorgestellten Situation befähigt werden. Was in der jeweiligen Theaterästhetik nun „glaubwürdig“ heißt, unterscheidet sich stark. Und auch welche Anforderungen die vorgestellte Situation vom Spiel verlangt, ist in den Epochen des Dramas von sehr großer Unterschiedlichkeit. Stanislawskis Methode orientiert sich ästhetisch an den Forderungen, die das realistische und naturalistische Drama des 19. Jahrhunderts an die Schauspielkunst stellen. Seine methodische Antwort, die er als Schauspielkunst in seinem System ausformuliert, ist eine Dialektik der Wahrheit des inneren Erlebens mit der Realität der physischen Handlung. Ein Teil seiner Übungen zielt auf die Entwicklung der Fähigkeit, in der künstlichen Situa-
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III. Stanislawski und die Folgen 107 tion der Bühne und der vorgestellten Situation der dramatischen Handlung die realen Erlebnisse machen zu können. Der andere Teil seiner Übungen geht den umgekehrten Weg und macht die Realität der physischen Handlungen zum Motor des schauspielerischen Ausdrucks. Nun beginnt der Spieler mit einfachen physischen Handlungen, um durch die so hergestellte und erlebte Realität zu einem glaubwürdigen Spiel auf der Bühne zu gelangen. Dialektisch sind diese beiden Methoden aufeinander bezogen, da das wahre Erleben zu glaubwürdigem Verhalten und die reale Handlung zu glaubwürdigen Erlebnissen führen. Dabei bekommt im Laufe der Ausformulierung seines Systems die physische Handlung immer größere Bedeutung. In ihr kristallisiert sich schließlich das Wesen des schauspielerischen Geheimnisses, da in ihr das doppelte Bewusstsein des „realen Spielens“ am deutlichsten zur Anschauung kommt. „Obwohl der Handlung die Fähigkeit, szenische Gefühle zu erzeugen, eigen ist, kann sie nicht nur als Mittel zur Erlangung dieses Zieles betrachtet werden. Das Bühnengefühl ist lediglich ein Attribut der Handlung. Die Handlung aber ist der Träger des die Schauspielkunst darstellenden Ganzen. Mit der Entdeckung dieser Wahrheit hat Stanislawski das Wesen der Eigenart des Theaters, die wirkliche Wahrheit der Schauspielkunst offenbart, die endgültige Lösung der Frage nach dem Material des Schauspielerschaffens gefunden und somit eine totale Umwälzung auf dem Gebiete der Pädagogik des Theaters und der Methodologie des Schauspielerschaffens erzielt. [...] Worin zeigt sich nun diese Einheit [von Körper und Seele] am sinnfälligsten? In welchem Akt oder Prozeß verbindet sich das Physische mit Psychischem zur Synthese? Diesen Prozeß bildet die Handlung. An der Handlung nimmt der ganze Mensch teil – seine Seele und sein Körper. Durch die Handlung offenbart sich der Mensch ganz und restlos. Daher sind wir berechtigt zu sagen, daß das Material in der Schauspielkunst die Handlung ist, und zwar bildet sie die spezifische Eigentümlichkeit der Schauspielkunst.“8 Das darstellerische Ziel besteht nun in der Erfindung und Verteidigung einer Figur. Die Figur ist ein vom Autor des Dramas erfundener und durch den Dialog und die Situationen zu erschaffender Mensch. Der Schauspieler 8
Boris Sachawa: „Die Natur der Schauspielkunst“, in: Der schauspielerische Weg zur Rolle. Fünf Aufsätze über Stanislawskis „Methode der physischen Handlungen“, Berlin 1952, S. 143 ff.
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108 III. Stanislawski und die Folgen muss also über zwei Fähigkeiten zugleich verfügen, um dieser künstlerischen Herausforderung, eine Figur spielen zu können, zu genügen: Er muss imstande sein, das Drama so zu lesen, dass sich ihm die unterschiedlichen Facetten seiner Figur entschlüsseln. Und er muss über die schauspielerischen Möglichkeiten verfügen, um die so gewonnenen Erkenntnisse auf der Bühne real werden zu lassen. Er verteidigt seine Figur dabei im doppelten Sinne: Zum einen soll die Figur nicht seiner schauspielerischen Virtuosität zum Opfer fallen, da er einen realistischen Zeitgenossen spielen und nicht eine bühnenwirksame Schau darbieten will.9 Zum anderen will er durch die lange Auseinandersetzung während der Proben und Vorbereitung seine Figur so weit erkunden, dass sie zu einem besonderen und konkreten Menschen wird und nicht das Klischee einer Behauptung bleibt. Auf dem Weg zu einem solchen Spiel liegen viele Hindernisse. Werden die schauspielerischen Ausdrucksmittel in den Dienst einer Figurendarstellung gestellt, verlieren sie vorderhand viel von ihrer Bühnenwirksamkeit. Stanislawskis Übungen lehrten die Schauspielvirtuosen des 19. Jahrhunderts zuerst einmal wieder Demut vor der dramatischen Vorlage und beschnitten sie in dem ungezügelten Drang, ihr Repertoire an bühnenwirksamen Effekten zum Zwecke der Unterhaltung und Steigerung des eigenen Ruhms auszubreiten. Vorne an der Rampe mit wohltönender Stimme, Augenrollen, ausladenden Gesten, grotesken Grimassen die Zuschauer zu beeindrucken, stellt für das realistische Theater Verrat an der Kunst dar. Die Rückschritte, die ein Schauspieler macht, wenn er sein Spiel von diesem virtuosen Rampenspiel zu einer realistischen Figurendarstellung entwickeln will, sind entmutigend. „Die Schauspielerin S., erfolgreich und beliebt beim Publikum, interessierte sich für das ‚System‘. Sie entschloß sich, von Grund auf umzulernen, und ging deshalb eine Zeitlang von der Bühne ab. Einige Jahre studierte Frau S. die neue Methode bei verschiedenen Lehrern, absolvierte den ganzen Kursus und kehrte dann wieder zur Bühne zurück. 9
Hierdurch wendet sich diese Spielweise gegen die solistischen Schauspielvirtuosen, die im 19. Jahrhundert durch die Theater tourten. Deren rhetorische und emotionale Darstellungskraft ließ sie zu gefeierten Stars werden. Doch war ihr Schauspiel losgelöst von jedem inszenatorischen Rahmen oder einem gemeinsam spielenden Ensemble. Die klassischen Rollen des Repertoires dienten ihrem Bühnenfuror nur noch als Material, wie in unserer Zeit die „Drei Tenöre“ die Arien als Hits aus den Opern isoliert singen. Die Figuren des Realismus und Naturalismus verlangten ein gemeinsames Ensemblespiel, das mit diesem Solistentum nicht vereinbar war.
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III. Stanislawski und die Folgen 109 Erstaunlicherweise hatte sie nicht mehr die früheren Erfolge. Man fand, daß die einstige Berühmtheit ihr Wertvollstes eingebüßt habe: Unmittelbarkeit, Schwung, Augenblicke hinreißender Inspiration. Stattdessen seien Pedanterie, naturalistische Details, formale Spielmethoden und ähnliche Mängel aufgetaucht. Gewiß können Sie sich die Lage der armen Schauspielerin vorstellen. Jedes Auftreten wurde eine Prüfung für sie. Das beeinträchtigte ihr Spiel, steigerte ihre Verwirrung, ihre Ratlosigkeit, die allmählich in Verzweiflung überging. Sie versuchte es in mehreren anderen Städten, in dem Glauben, daß in der Hauptstadt Gegner des ‚Systems‘ gegen ihre neue Methode voreingenommen seien. Aber in der Provinz wiederholte sich dasselbe. Die arme Schauspielerin verfluchte schon das ‚System‘, sie versuchte sich davon frei zu machen, zur alten Methode zurückzukehren. Es gelang ihr aber nicht. Erstens hatte sie den Glauben an die handwerksmäßige mimenhafte Routine verloren, und zweitens hatte sie den Unsinn der früheren Spielmethode im Vergleich mit der neuen Spielweise begriffen, die ihr lieb geworden war. Sie hatte sich vom Alten losgemacht, aber das Neue nicht erreicht. Nun saß sie zwischen zwei Stühlen. Man sprach davon, daß Frau S. vom Theater abgehen und heiraten wollte. Dann hieß es, sie wollte sich das Leben nehmen.“10 Am Tiefpunkt der Entmutigung betritt nun Stanislawski selbst die Szene und rettet die verzweifelte Seele mit dem methodisch nächsten Schritt seines Systems. Denn was die arme Schauspielerin noch nicht wusste, sie hatte das Geheimnis der „durchgehenden Handlung“ noch nicht begriffen. „Wenn Sie ohne durchgehende Handlung spielen, dann handeln Sie auf der Bühne nicht unter den vorgeschlagenen Situationen, nicht mit dem ‚Wenn‘, dann beziehen Sie Ihre eigentliche Natur, Ihr Unbewusstes nicht mit in das Schaffen ein, dann gestalten Sie in der Rolle nicht das ‚Leben des menschlichen Geistes‘. Das ist aber die Grundidee, die Quintessenz unserer Kunstrichtung. Fehlt es, wird auch das ‚System‘ hinfällig. Sie gestalten also nicht Ihre Figur auf der Bühne, sondern exerzieren einfach einzelne, durch nichts miteinander verbundene Übungen nach den Buchstaben des ‚Systems‘ durch. Die Übungen nützen wohl im Unterricht, aber nicht in der Vorstellung. Sie vergessen, daß alle 10
Konstantin Stanislawski: „Überaufgabe und durchgehende Handlung“, in: Stanislawski Reader, hg. von Bernd Stegemann, Berlin 2007, S. 122 f.
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110 III. Stanislawski und die Folgen Übungen, alles, was im ‚System‘ vorkommt, in erster Linie für die durchgehende Handlung und für die Überaufgabe da ist. Darum bleiben die im einzelnen vorzüglichen Abschnitte Ihrer Rolle wirkungslos und können im ganzen nicht befriedigen.“ An diesem Beispiel zeigt Stanislawski, wie unauflöslich das Schauspielen für ihn mit der dramatischen Vorlage verbunden ist. Das reine Virtuosentum ist ebenso wie das „exerzieren“ seiner Etüden leblose Kunst. Nur wenn sich die gesamte schauspielerische Befähigung entlang der Dramaturgie der Situationen entfaltet und diese dadurch auf der Bühne zur theatralischen Wirklichkeit kommen lässt, und nur wenn umgekehrt durch die dramatischen Situationen die schauspielerischen Möglichkeiten inspiriert werden und damit zu ungeahnter Komplexität gelangen, erreicht das Schauspiel den Gipfel seiner künstlerischen Möglichkeiten. „Die Schlußfolgerung aus allem lautet: Sorgfältiger als alles andere Überaufgabe und durchgehende Handlung wahren, auf der Hut sein vor einer gewaltsam herbeigezerrten Tendenz und vor Absichten und Bestrebungen, die dem Stück fremd sind! Wenn es mir heute gelungen ist, Ihnen die außerordentliche, beherrschende Rolle der Überaufgabe und der durchgehenden Handlung für unser Schaffen klarzumachen, so preise ich mich glücklich, denn damit habe ich die Hauptaufgabe erfüllt – ich habe Ihnen den wichtigsten Punkt im ‚System‘ erklärt. […] Jede Handlung trifft auf die Gegenhandlung, wobei diese die Handlung herausfordert und verstärkt. Darum läuft durch jedes Schauspiel neben der durchgehenden Handlung in entgegengesetzter Richtung die gegensätzliche, feindliche durchgehende Gegenhandlung. Es ist gut so und höchst begrüßenswert für uns, denn die Gegenhandlung löst ganz selbstverständlich neue Handlungen aus. Wir brauchen diesen ständigen Zusammenprall: Er erzeugt Kampf, Auseinandersetzung, Streit, viele entsprechende Aufgaben mit ihren Lösungen. Er fordert Aktivität und Handlung heraus, die Grundlagen unserer Kunst.“11 Die gesamte Ausbildung des Schauspielers dient nach Stanislawski der Entwicklung der spielerischen Möglichkeiten und der seelischen Empfänglichkeit für die komplizierten Anforderungen, die die dramatischen Situa11
Ebd., S. 125.
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III. Stanislawski und die Folgen 111 tionen darstellen. Das Ziel dieser Vorübungen ist es, dem Schauspieler zu einer Befähigung zu verhelfen, dass er auf die Anregungen der Situation, des Partners auf der Bühne und der Absichten seiner Figur „unbewußt“ zu reagieren in der Lage ist. Der lange, übungsreiche Weg des Systems dient am Ende der Erzeugung einer sekundären Naivität, in der das unbewusste und damit besonders glaubwürdige Verhalten und Reagieren, unter der doppelten Anforderung des Lampenfiebers und der vorgeschlagenen Situationen des Dramas, sich ereignen kann. In unserer Gegenwart, die den heiligen Duktus, in den Stanislawski seine Ausbildung zur Kunst des Schauspielens häufig kleidet, scheut, wird dieses Phänomen des „lockeren“, präsenten Schauspielers gleichwohl bewundert. Wie das unabsichtlich Wirkende absichtlich herzustellen ist, darüber gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Für die Menschendarstellung innerhalb des ästhetischen Konzepts des Realismus ist die Stanislawski-Methode unerlässlich. Die große Zahl seiner Nachfolger, Schüler und selbsternannten Meister dominiert bis heute die Schauspielausbildung. Die meisten Versuche seiner Nachfolger weisen jedoch eine bemerkenswerte Reduktion der Stanislawskischen Komplexität auf. Entweder werden das „innere Befinden“ und seine psychischen Voraussetzungen zum Fundament des Schauspiels erklärt (Quelle 7 und 10) oder die „physischen Handlungen“ (Quelle 8 und 19) und die Wahrnehmungen und Erlebnisse auf der Bühne bilden das Fundament der Ausbildung (Quelle 9 und 11). In der materialistischen Ästhetik der Sowjetunion galt die Tendenz, die seelischen Quellen der Kunst besonders niedrig zu bewerten. Die USamerikanischen Schauspieltheorien, von denen es unzählige gibt, weisen hingegen eine bemerkenswert eindimensionale Abhängigkeit von der Erlebens-Seite des „Systems“ auf. Sie fixieren sich häufig auf den Aspekt des „Alltagstheaters“, das durch ein reales, ungekünsteltes Erleben auf der Bühne wiederholbar gemacht werden soll. Die Darstellungsmöglichkeiten des täglichen Verhaltens werden durch Wahrnehmungs- und Nachspielübungen bewusst gemacht und damit für die Bühne zu einer reproduzierbaren Technik entwickelt. Die künstlerische Tendenz besteht hier in einem „Realismus“, der sehr bestimmend nur das, was in der gegenwärtigen Mode des Verhaltens und des Ausdrucks als plausibel erscheint, gelten lässt. Das
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112 III. Stanislawski und die Folgen professionelle Schauspiel wiederholt dann das Alltagsschauspiel unter den Bedingungen der Bühne, die eine theatralische Vergrößerung erfordert. Die naturalistischen Etüden Stanislawskis, in denen alltägliche Verrichtungen auf der Bühne nachgeahmt werden, um ein reales Handeln einzuüben, werden hier zum Ziel der Darstellung. Dieses mag seine Ursache in einer besonders strengen Form des „Realismus“ haben oder in dem theatralischeren Alltagsverhalten. Für die Ausbildung hat diese Reduktion jedoch große Einschränkungen zur Folge. Dass gerade diese reduzierten Schauspieltheorien so großen Zuspruch erfahren, lässt bedenkliche Rückschlüsse auf den Zustand der Kunst des Schauspiels zu. Der Abstand zwischen einer „kunstlosen“ Nachahmung des menschlichen Alltags und einem Schauspiel, das den „Eigenwert“ des Spiels feiert (siehe Kapitel 5), scheint sich unaufhaltsam zu vergrößern. Die Menschendarstellung möchte den Anteil der Kunst an ihrer Darstellung möglichst unsichtbar halten, und die Eigen-Spiele der Postdramatik und Performance möchten keine Berührung mit dem ursprünglichen Impuls der Mimesis im Schauspiel mehr haben.
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Quelle 7 113
Quelle 7 Konstantin S. Stanislawski Handlung · „Wenn“ · Vorgeschlagene Situationen „Auf der Bühne muß man handeln. Handlung, Aktivität – das ist es, worauf die dramatische Kunst, die Kunst des Schauspielers basiert. Das Wort ‚Drama‘ bedeutet im Altgriechischen ‚sich vollziehende Handlung‘. Im Lateinischen entspricht ihm ein Wort, dessen Wurzel in unsere Worte ‚Aktivität‘, ‚Akt‘, ‚Akteur‘ übergegangen ist. Also: Das Drama auf der Bühne ist die sich vor unseren Blicken vollziehende Handlung, und der Schauspieler, wenn er auf die Bühne hinaustritt, wird zu einem Handelnden. […] Man kann regungslos sein und trotzdem wirklich handeln, freilich nicht äußerlich, nicht physisch, sondern innerlich psychisch. Und nicht nur das. Oft genug resultiert physische Regungslosigkeit aus gesteigerter innerer Aktivität, die in der Kunst so besonders wesentlich und interessant ist. Darum will ich meine Formel ein wenig ändern und sie so formulieren: Auf der Bühne muß man handeln – innerlich und äußerlich. […]“ „Wir wollen ein neues Stück spielen“, sagte Torzow zur Maloletkowa. „Es hat folgenden Inhalt: Ihre Mutter hat ihre Arbeit verloren, sie hat also keinen Verdienst mehr. Sie besitzt nicht einmal etwas, was sie verkaufen könnte, um die Schauspielschule zu bezahlen, aus der Sie morgen ausgeschlossen werden sollen, weil Sie nicht bezahlt haben. Aber Ihre Freundin kommt Ihnen zu Hilfe und bringt – sie hat auch kein Geld mehr – eine mit Edelsteinen besetzte Nadel, das wenige Kostbare, was sie besitzt. Diese selbstlose Tat hat Sie tief gerührt und erschüttert. Aber kann man denn dieses Opfer annehmen?! Sie können sich nicht dazu entschließen, Sie lehnen ab. Da steckt die Freundin die Nadel in den Fenstervorhang und geht in den Flur. Sie eilen ihr nach. Draußen redet die Freundin lange auf Sie ein; es folgen Tränen, große Rührung, Dankbarkeit. Das Opfer wird schließlich angenommen; die Freundin geht, und Sie kehren ins Zimmer zurück, um die Nadel zu holen. Doch … wo ist sie denn? Sollte jemand ins Zimmer gekommen sein und sie weggenommen haben? Die Wohnung hat viele Untermieter, es wäre durchaus möglich. Zitternd vor Aufregung, beginnen Sie zu suchen.
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114 III. Stanislawski und die Folgen Gehen Sie auf die Bühne. Ich stecke eine Nadel in den Vorhang, und Sie müssen sie dann in den Falten suchen.“ Die Maloletkowa ging hinter die Kulissen, Torzow hatte aber keine Nadel eingesteckt, als er ihr kurz darauf das Zeichen zum Auftritt gab … Als hätte man sie herausgestoßen, stürzte sie auf die Bühne, lief auf den Vorhang zu, zuckte sofort wieder zurück, faßte sich mit beiden Händen an den Kopf und wand sich vor Entsetzen, taumelte dann in die entgegengesetzte Richtung, packte den Vorhang, zerrte verzweifelt daran, steckte dann ihren Kopf in die Falten, so das Suchen nach der Nadel andeutend. Sie fand sie aber nicht, stürzte wieder hinter die Kulissen, die Hände krampfhaft gegen die Brust gepreßt, was offenbar das Tragische der Situation ausdrücken sollte. Wir konnten uns nur mit Mühe das Lachen verbeißen. Bald darauf eilte die Maloletkowa triumphierend von der Bühne in den Zuschauerraum. Ihre Augen glänzten, die Wangen glühten. „Wie haben Sie sich gefühlt?“ fragte Torzow. „Ach, ihr Lieben! War das schön! So schön … gar nicht zu sagen. Ich kann nicht, ich kann nicht mehr! … Ich bin so glücklich!“ sprudelte sie heraus, sprang auf, setzte sich hin, sprang wieder auf, griff sich an den Kopf. „Ich habe es so empfunden, so sehr empfunden!“ „Um so besser“, lobte Torzow. „Wo ist denn die Nadel?“ „Ach ja! Ich habe ja ganz vergessen …“ „Seltsam!“ sagte Torzow. „Sie haben sie so sehr gesucht und … vergessen.“ Im Nu war die Maloletkowa wieder auf der Bühne und durchsuchte die Falten des Vorhangs. „Aber denken Sie daran“, erinnerte Torzow, „wird die Nadel gefunden, sind Sie gerettet und können weiter in die Schule gehen, andernfalls ist alles vorbei – Sie werden ausgeschlossen.“ Sofort wurde ihr Gesicht ganz ernst. Sie heftete den Blick fest auf den Vorhang und begann aufmerksam und systematisch Falte für Falte zu untersuchen. Diesmal ging das Suchen in ganz anderem, wesentlich langsamerem Tempo vor sich; wir waren davon überzeugt, daß die Maloletkowa keinen Augenblick ungenutzt verstreichen ließ, daß sie wirklich aufgeregt und beunruhigt war.
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Quelle 7 115 „Meine Lieben! Wo ist sie nur? … Weg!“ sprach sie halblaut vor sich hin. „Weg!“ rief sie verzweifelt und fassungslos aus, nachdem sie alle Falten des Vorhangs durchsucht hatte. Ihr Gesicht drückte größte Sorge aus, starr vor Entsetzen stand sie da, den Blick regungslos auf einen Punkt gerichtet. Atemlos beobachteten wir sie. „Sehr sensibel!“ sagte Torzow halblaut zu Iwan Platonowitsch. „Wie fühlten Sie sich jetzt, beim zweiten Mal?“ fragte er die Maloletkowa. „Wie ich mich fühlte?“ fragte sie apathisch zurück. „Ich weiß nicht, ich habe gesucht“, erwiderte sie nach kurzem Nachdenken. „Das ist wahr, jetzt haben Sie gesucht. Und was taten Sie beim ersten Mal?“ „Oh, das erste Mal! Ich war so aufgeregt, ich habe Entsetzliches durchgemacht! Ach, ich kann nicht, ich kann nicht …!“ entsann sie sich voller Entzücken und Stolz, und ihre Wangen begannen wieder zu glühen. „Und welcher Zustand war Ihnen denn angenehmer? Als Sie wie besessen umherrannten und am Vorhang zerrten oder als Sie ihn viel ruhiger durchsuchten?“ „Natürlich als ich das erste Mal nach der Nadel suchte!“ „Nein. Versuchen Sie nicht, uns davon zu überzeugen, daß Sie das erste Mal die Nadel gesucht haben“, sagte Torzow. „An die Nadel haben Sie nicht einmal gedacht, Sie wollten nur leiden – um des Leidens willen. Das zweite Mal haben Sie wirklich gesucht. Wir haben es alle deutlich gesehen, wir haben es verstanden und geglaubt, daß Ihr Erstaunen und Ihre Ratlosigkeit einen Grund hatten. Darum war Ihr erstes Suchen überhaupt nichts wert; es war die übliche Faxenmacherei. Das zweite Suchen war wirklich gut.“ Die Maloletkowa war fassungslos. „Auf der Bühne soll man nicht sinnlos herumrennen“, fuhr Torzow fort. „Dort darf man weder herumrennen um des Rennens willen noch leiden um des Leidens willen. Auf der Bühne darf man nicht ‚allgemein‘ handeln, um des Handelns willen, sondern das Handeln muß begründet, zweckmäßig und produktiv sein.“ „Und wahrhaftig“, fügte ich von mir aus hinzu. „Wahrhaftiges Handeln ist ja eben immer begründet und zweckmäßig“, bemerkte Torzow. „Da man also auf der Bühne wirklich handeln soll“, fuhr er fort, „so geht doch alle einmal auf die Bühne und … handelt.“
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116 III. Stanislawski und die Folgen Wir gingen auf die Bühne, wußten aber nicht, was wir unternehmen sollten. […] „Was meinen Sie“, fragte Torzow, „kann man sich auf den Stuhl setzen und mir nichts, dir nichts eifersüchtig, aufgewühlt oder traurig sein wollen? Kann man eine solche ‚schöpferische Handlung‘ kommandieren? Sie haben eben versucht, es zu tun, aber es ist Ihnen nicht gelungen. Das Gefühl ist nicht lebendig geworden, darum mußte es gemimt werden, das Gesicht sollte ein nicht vorhandenes Erleben vortäuschen. Man kann kein Gefühl aus sich herauspressen, man kann nicht lieben, leiden, eifersüchtig sein um der Liebe, um des Leidens, um der Eifersucht willen. Man kann die Gefühle nicht vergewaltigen. Das läuft auf widerwärtigste Komödianterei hinaus. Und so lassen Sie denn bei der Wahl einer Handlung Ihr Gefühl in Ruhe. Es meldet sich ganz von selbst als Reaktion auf einen Vorgang, der Liebe, Leid und Eifersucht erst auslöst. Konzentrieren Sie Ihre Gedanken auf diesen Vorgang und trachten Sie danach, ihn in Ihrer Umgebung zu schaffen. Um das Resultat machen Sie sich keine Sorgen. Die übertrieben gemimten Leidenschaften, die übertrieben gemimten Typen, das mechanische Mimen sind Fehler, die in unserem Beruf weit verbreitet sind. Es sind die Sünden derer, die gewohnt sind, auf der Bühne ‚Theater zu spielen‘, zu ‚mimen‘, schauspielerhafte Faxen zu machen. Der wahre Schauspieler muß aber nicht die äußeren Erscheinungsformen der Leidenschaften nachäffen, nicht die Gestalten von außen kopieren, nicht nach dem Schauspielerritus mechanisch mimen, sondern menschlich wahrhaftig handeln. Man kann nicht Leidenschaften und Gestalten spielen, sondern man muß unter dem Einfluß der Leidenschaften in der Gestalt handeln. […] Sie haben also heute gelernt“, faßte Torzow zusammen, „daß die Handlung auf der Bühne innerlich begründet, logisch, folgerichtig und in der Wirklichkeit möglich sein muß. […] Sie haben gesehen und selber erfahren, wie die inneren und äußeren Handlungen durch das ‚Wenn‘ organisch, normal, natürlich, ganz von selbst entstehen. Wollen wir doch an diesem lebendigen Beispiel der Funktion jedes Faktors, jeder Triebkraft in unserem Versuch nachgehen. Beginnen wir mit dem ‚Wenn‘. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß es jedes schöpferische Schaffen einleitet. Das ‚Wenn‘ ist für Künstler der Umschalthebel, der uns aus der Wirklichkeit in jene Welt versetzt, in
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Quelle 7 117 der sich einzig und allein das Schaffen vollziehen kann. Es gibt ‚Wenn‘, die nur Anstoß sind für eine weitere, allmähliche, folgerichtige Entwicklung der Tätigkeit. Zum Beispiel …“ Torzow streckte die Hand gegen Schustow aus und wartete auf etwas. Beide sahen sich erstaunt an. „Wie Sie sehen, entsteht zwischen uns keinerlei Handlung. Darum schalte ich nun das ‚Wenn‘ ein und sage: ‚wenn‘ das, was ich Ihnen entgegenstrecke, nicht eine leere Handfläche wäre, sondern ein Brief, was würden Sie dann tun?“ „Ich würde ihn nehmen und nachsehen, an wen er adressiert ist. Wenn er an mich wäre, dann würde ich ihn – wenn Sie nichts dagegen haben – öffnen und lesen. Doch da es ein intimer Brief ist, da meine Erregung beim Lesen mich möglicherweise verraten könnte …“ „Da es darum gescheiter wäre, aus dem Zimmer zu gehen“, soufflierte Torzow. „… so würde ich ins Nebenzimmer gehen und dort lesen.“ „Sehen Sie, wie viele bewußte und folgerichtige Gedanken, wie viele logische Stufen – wenn, da, so –, wie viele verschiedene Handlungen das kleine Wörtchen ‚wenn‘ ausgelöst hat. So wirkt es meistens. Es kommt aber auch vor, daß das ‚Wenn‘ seine Wirkung sofort, von selbst, ohne Zusatz, ohne Hilfe ausübt. Zum Beispiel … […] Dymkowa, trinken Sie das Wasser“, sagte Arkadi Nikolajewitsch, und die Dymkowa führte das Glas mit Wasser an die Lippen. „Es ist Gift drin!“ warnte Torzow. Instinktiv hielt die Dymkowa mitten in der Bewegung inne. „Sehen Sie!“ triumphierte Arkadi Nikolajewitsch. „Das sind schon keine einfachen, sondern ‚magische Wenns‘, die sofort instinktiv die Handlung auslösen. Ein solches ‚Wenn‘ läßt sich auch mit ‚magisch‘ bezeichnen. Wenn man die Eigenschaften und Wirkungsweisen des ‚Wenn‘ weiter untersucht, muß man darauf achten, daß es sozusagen einschichtige und mehrschichtige ‚Wenns‘ gibt. In komplizierten Theaterstücken verflechten sich eine große Anzahl verschiedener, sowohl vom Autor als auch von anderer Seite stammender ‚Wenns‘ miteinander, die diese oder jene Reaktion, diese oder jene Handlungsweise der betreffenden Person rechtfertigen. Wir
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118 III. Stanislawski und die Folgen haben es nicht mehr mit einschichtigen, sondern mit mehrschichtigen ‚Wenns‘ zu tun, das heißt mit einer großen Anzahl von Voraussetzungen und ergänzenden Einfällen, die sich sinnreich verflechten. Da sagt sich der Autor beim Schreiben: ‚Wenn die Handlung zu der und der Zeit spielt, in dem und dem Land, an dem und dem Ort, in dem und dem Hause; wenn dort so geartete Menschen, mit diesen und jenen inneren Veranlagungen, mit diesen und jenen Gedanken und Gefühlen leben; wenn sie unter den und jenen Umständen aufeinanderstoßen …‘ und so weiter. Der Regisseur des Stückes ergänzt die glaubwürdige Dichtung des Autors mit seinen ‚Wenns‘ und sagt sich: ‚Wenn zwischen den handelnden Personen diese und jene Beziehungen beständen, wenn sie diese oder jene typische Angewohnheit hätten, wenn sie in dieser und jener Umgebung lebten und so weiter – wie würde unter diesen Umständen der an ihrer Stelle stehende Schauspieler handeln?‘ Ihrerseits ergänzen auch der Bühnenbildner, der den Ort der Handlung zeigt, der Beleuchtungsmeister, der diese oder jene Beleuchtung gibt, und die anderen Mitarbeiter der Aufführung die Lebensbedingungen des Stücks mit ihren künstlerischen Einfällen. Beachten Sie ferner, daß in dem Wörtchen ‚wenn‘ eine gewisse Eigenschaft, eine gewisse Kraft verborgen ist, die Sie bei der Übung mit dem Wahnsinnigen selbst gespürt haben. Diese Eigenschaften, diese Kraft des ‚Wenn‘ lösten in Ihrem Innern eine sofortige Umstellung, eine Verschiebung aus. Durch das ‚Wenn‘ geht etwas vor sich, was die Augen anders blicken, die Ohren anders hören, den Geist anders urteilen läßt. Resultat ist, daß der Einfall, den man gehabt hat, auf natürliche Weise die entsprechende reale Handlung hervorruft, die unerläßlich ist, um das gesteckte Ziel zu erreichen. […] Das Geheimnis der Wirkung des ‚Wenn‘ liegt auch noch darin, daß es nicht von einer realen Tatsache spricht, nicht von dem, was ist, sondern nur von dem, was sein könnte … ‚wenn‘ … Dieses Wort stellt keine Behauptung auf. Es nimmt nur an, es stellt die Frage zur Entscheidung. Und die Antwort darauf versucht der Schauspieler zu geben. Dadurch werden Verschiebung und Entschluß ohne Vergewaltigung und ohne Betrug erreicht. […] Das magische oder das einfache ‚Wenn‘ leitet also den schöpferischen Prozeß ein. Es gibt den ersten Anstoß zur weiteren Entwicklung des Wachsens einer Rolle.“ […]
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[Die ‚vorgeschlagenen Situationen‘] „Das sind die Fabel des Stücks, die Tatsachen, Ereignisse, das Zeitalter, in dem es spielt, Ort und Zeit der Handlung, die Lebensumstände, die Auffassung des Schauspielers und des Regisseurs vom Stück, die Ergänzungen, die sie hinzugefügt haben, das Arrangement, die Form der Inszenierung, die Dekorationen und Kostüme, die Requisiten, Beleuchtung, Geräuscheffekte und alle übrigen Umstände, die den Schauspielern gegeben sind. Die ‚vorgeschlagenen Situationen‘ sind wie das ‚Wenn‘ eine Annahme, ein ‚Phantasiegebilde‘. Sie sind gleichen Ursprungs: Sie sind dasselbe wie das ‚Wenn‘, das ‚Wenn‘ ist dasselbe wie die ‚vorgeschlagenen Situationen‘. Das eine ist die Annahme (‚wenn‘), das andere die Ergänzung dazu (die ‚vorgeschlagenen Situationen‘). Das ‚Wenn‘ leitet immer das Schaffen ein, die ‚vorgeschlagenen Situationen‘ entwickeln es. Eins kann ohne das andere nicht bestehen, nicht den nötigen Auftrieb bekommen. Aber die Funktionen sind ein wenig verschieden: das ‚Wenn‘ versetzt der schlummernden Phantasie einen Stoß, die ‚vorgeschlagenen Situationen‘ aber geben dem ‚Wenn‘ die eigentliche Begründung. […] In der Praxis sieht es für Sie etwa folgendermaßen aus: Erst einmal werden Sie sich auf Ihre Weise alle vorgeschlagenen Situationen vorstellen müssen, die aus dem Stück selbst, aus den Anweisungen des Regisseurs und aus Ihrer eigenen schauspielerischen Phantasie stammen. Das gesamte Material wird eine allgemeine Vorstellung vom Leben der darzustellenden Gestalt in ihrer Umwelt geben … Man muß ganz aufrichtig an die reale Möglichkeit eines solchen Lebens in der realen Wirklichkeit glauben können; man muß sich so weit daran gewöhnen, daß man mit diesem fremden Leben ganz und gar vertraut wird. Wenn Ihnen das gelingt, entsteht in Ihrem Innern ganz von selbst Echtheit der Leidenschaften oder Wahrscheinlichkeit der Empfindungen. […] Die ganze Aufmerksamkeit des Schauspielers sollte auf die ‚vorgeschlagenen Situationen‘ gerichtet sein. Versuchen Sie ganz aufrichtig in ihnen zu leben, dann wird die ‚Echtheit der Leidenschaften‘ ganz von selbst in Ihrem Innern entstehen. […] Nach dem ‚Wenn‘ und den ‚vorgeschlagenen Situationen‘ werden wir heute über die innere und äußere Handlung auf der Bühne sprechen. Ver-
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120 III. Stanislawski und die Folgen stehen Sie, welche Bedeutung sie für unsere Kunst hat, die ihrer Natur nach auf Aktivität beruht? Aktivität zeigt sich auf der Bühne in der Handlung, und in der Handlung ist das Wesen der Rolle verkörpert, das Erleben des Schauspielers und die innere Welt des Stückes. Nach den Handlungen und dem Verhalten beurteilen wir die auf der Bühne dargestellten Menschen, wir verstehen, wer sie sind. Das gibt uns die Handlung, das erwartet der Zuschauer von ihr. Und was bekommt er in den meisten Fällen von uns? Vor allem großes Hin- und Herlaufen, unzählige unbeherrschte Gesten, nervöse, mechanische Bewegungen. Damit sind wir auf dem Theater unvergleichlich freigebiger als im wirklichen Leben. Diese schauspielerhaften Handlungen sind aber ganz anders als die Handlungen des Menschen im wirklichen Leben. Ich will Ihnen den Unterschied an einem Beispiel zeigen: Wenn sich ein Mensch in wichtigen, geheimen, intimen Gedanken und Erlebnissen wie ‚Sein oder Nichtsein‘ im ‚Hamlet‘ zur Klarheit durchringen will, sucht er die Einsamkeit, versenkt sich in sein Innerstes und bemüht sich, seinen Gedanken und Gefühlen durch Worte Ausdruck zu geben. Auf der Bühne handeln die Schauspieler anders. In intimen Augenblicken des Lebens kommen sie nach vorn, wenden sich an die Zuschauer und deklamieren laut, effektvoll, pathetisch über ihre nicht vorhandenen Erlebnisse. Die Rolle, die man innerlich nicht fühlt, dem Zuschauer äußerlich, effektvoll, mit großem Gepränge darzubieten, ist vorteilhafter. Aber der ernsthafte Schauspieler wird schwerlich die theatralische Sensation an einer Stelle wünschen, an der er die allerteuersten Gedanken, Gefühle, die intimsten inneren Tiefen eröffnet. In ihnen sind doch eigene, mit der Rolle übereinstimmende Empfindungen des Schauspielers verborgen. Und man offenbart sie nicht gern unter vulgärem, prasselndem Händeklatschen, sondern man wünscht sich eindringliche Stille, große Intimität. Wenn der Schauspieler darauf verzichtet und sich nicht scheut, den höchsten Augenblick geschmacklos zu gestalten, dann beweist er, daß sein Rollentext leer ist, daß er von sich aus nichts Teures, Besonderes hineingelegt hat. Bei leeren Worten gibt es keine gehobene Einstellung. Sie sind dann nur Laute, mit denen man Stimme, Tonfall, Sprechtechnik, ein gewisses schauspielerisches Temperament zeigen kann. Aber die Gedanken und Gefühle, um
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Quelle 7 121 derentwillen das Stück geschrieben wurde, kann man bei solchem Spiel nur ‚allgemein‘ traurig, ‚allgemein‘ lustig, ‚allgemein‘ tragisch, ‚allgemein‘ hoffnungslos und so weiter darstellen. Diese Darstellungsweise ist leblos, formal, handwerklich. Mit der äußeren Handlung geschieht dasselbe wie mit der inneren. Wenn der Schauspieler sein Tun nicht für notwendig hält, wenn die Rolle, wenn seine ganze Kunst nicht einer großen Aufgabe gewidmet sind, dann sind die Handlungen leer, nicht durchlebt, sie sagen nichts Wesentliches aus. Es bleibt dann nichts anderes übrig, als ‚allgemein‘ zu handeln. Wenn der Schauspieler leidet, um zu leiden, wenn er liebt, um zu lieben, wenn er eifersüchtig ist oder um Gnade fleht, um eifersüchtig zu sein oder um Gnade zu flehen, wenn alles nur gemacht wird, weil es nun einmal im Stück steht und nicht, weil es im Innersten erlebt und das Leben der Rolle auf der Bühne daraus geboren wurde, dann hat der Schauspieler keinerlei inneren Spielraum, und das ‚Allgemeinspielen‘ bleibt der einzige Ausweg. Was für ein fürchterliches Wort: ‚allgemein‘! Wieviel Unordnung, Unkonkretheit, Unmotiviertheit, Schlamperei enthält es doch! Wollen Sie etwas ‚allgemein‘ essen? Wollen Sie ‚allgemein‘ reden, lesen, ‚allgemein‘ fröhlich sein? Wie langweilig und inhaltslos sind doch solche Angebote! Bewertet man das Spiel eines Schauspielers mit dem Ausdruck ‚im allgemeinen‘ – zum Beispiel ‚Der Schauspieler X spielte den Hamlet im allgemeinen nicht übel!‘ –, so ist das beleidigend für den Darsteller. Spielen Sie mir Liebe, Eifersucht, Haß ‚im allgemeinen‘ vor! Was würde es bedeuten? Ein Sammelsurium aus diesen Leidenschaften und ihren Bestandteilen? Und gerade das, dieses Sammelsurium aus Leidenschaften, Gefühlen, Gedanken, folgerichtigen Handlungen und Rollengestalt bieten uns auf der Bühne die Schauspieler ‚im allgemeinen‘. Besonders komisch ist, daß sie sich ehrlich erregen und ihr Spiel ‚im allgemeinen‘ als stark empfinden. Sie lassen sich nicht davon überzeugen, daß keine Leidenschaft, kein Erleben, kein Gedanke vorhanden ist, sondern eben nur ein Sammelsurium aus allem. Diese Schauspieler geraten in Schweiß, regen sich auf, sind hingerissen vom Spiel, obwohl ihnen gar nicht klar ist, was sie eigentlich so aufregt und entzückt. Das ist eben jene ‚Theater-Emotion‘, jene Hysterie, von der ich Ihnen schon erzählt habe. Es ist die Erregung ‚im allgemeinen‘. Wahre Kunst läßt
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122 III. Stanislawski und die Folgen sich mit dem Spiel ‚im allgemeinen‘ nicht vereinen. Die Kunst liebt Ordnung und Harmonie, das ‚Allgemeine‘ bevorzugt Unordnung und Chaos. Wie soll ich Sie vor diesem unserem Erzfeind, dem ‚Allgemeinen‘, bewahren? Der Kampf besteht darin, daß man in das verwässerte ‚allgemeine‘ Spiel etwas einführen muß, was es auslöscht, was ihm entgegengesetzt ist. Das ‚Allgemeine‘ ist oberflächlich und leichtfertig. Bringen Sie darum Ihr Spiel auf ein höheres Niveau, behandeln Sie alles, was auf der Bühne vorgeht, mit größerem Ernst. Er wirkt vernichtend auf Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit. Das ‚Allgemeine‘ ist chaotisch und sinnlos. Bringen Sie Logik und Folgerichtigkeit in Ihre Rolle, es wird die schlechten Eigenschaften des ‚Allgemeinen‘ verdrängen. Das ‚Allgemeine‘ tippt alles an, aber es führt nichts zu Ende. Bringen Sie Abrundung und Vollendung in Ihr Spiel. Im Verlauf des ganzen Kurses, während wir uns das ‚System‘ zu eigen machen, werden wir uns darum bemühen, im Endresultat statt der Handlung ‚im allgemeinen‘ auf der Bühne ein für allemal die wahrhaftige, produktive, zweckmäßige menschliche Handlung zu erreichen. Nur diese Handlung erkenne ich in der Kunst an, nur sie unterstütze und entwickle ich. Warum ich so unnachsichtig hart bin gegen das ‚Allgemeine‘? Aus folgendem Grund: Wie viele Aufführungen werden täglich auf der ganzen Welt auf ihren inneren, wesentlichen Kern hin gespielt, wie es die wahre Kunst verlangt? Einige Dutzend. Wie viele Aufführungen werden täglich auf der ganzen Welt nicht auf das Wesentliche hin, sondern nach dem Prinzip ‚im allgemeinen‘ gespielt? Zehntausend. Seien Sie nicht erstaunt, wenn ich Ihnen sage, daß sich täglich auf der Welt hunderttausend Schauspieler innerlich verrenken, indem sie systematisch falsche, schädliche Bühnengewohnheiten in sich entwickeln. Das ist um so bedrohlicher, weil einerseits das Theater selbst und die Bedingungen der Bühnentätigkeit den Schauspieler zu dieser gefährlichen Gewohnheit verlocken, andererseits der Schauspieler aus dem Drang, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, nur allzugern nach dem handwerklichen ‚Verallgemeinern‘ greift. So locken von allen Seiten allmählich und systematisch die Unwissenden den Schauspieler in sein Verderben hinein, das heißt, sie bringen ihn dazu, den Sinn seines Schaffens zugunsten der schlechten, konventionellen, äußeren Form des Spiels ‚im allgemeinen‘ aufzugeben.
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Quelle 7 123 Wie Sie sehen, steht uns ein Kampf mit der ganzen Welt bevor, mit den Bedingungen des öffentlichen Auftretens, mit den Arbeitsmethoden der Schauspieler und insbesondere mit dem falschen, festgefahrenen Begriff des Handelns auf der Bühne. Um diese Schwierigkeiten mit Erfolg zu meistern, müssen wir uns vor allem mutig eingestehen, daß wir aus vielerlei Gründen auf den Brettern, vor der Zuschauermenge, unter den Bedingungen des öffentlichen Schaffens das Empfinden für das wirkliche Leben ganz verlieren. Wir vergessen alles: wie wir gewöhnt sind zu gehen, zu sitzen, zu essen, zu trinken, zu schlafen, zu reden, zu sehen, zu lauschen – kurz, wie wir im Leben innerlich und äußerlich handeln. Alles muß auf den Brettern neu gelernt werden, so wie ein Kind gehen, sprechen, sehen und hören lernen muß. Vorläufig wollen wir aber zu verstehen versuchen, wie wir lernen können, auf der Bühne nicht schauspielerisch ‚im allgemeinen‘, sondern menschlich zu handeln – einfach, natürlich, organisch; folgerichtig, frei, nicht nach den Konventionen des Theaters, sondern nach den Gesetzen der lebendigen, organischen Natur.“
Konstantin S. Stanislawski: „Handlung · „Wenn“ · Vorgeschlagene Situationen“, in: Stanislawski-Reader. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und an der Rolle, hg. von Bernd Stegemann, Henschel Verlag, Berlin 2007, S. 33 – 43 Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, eigentlich Konstantin Sergejewitsch Alexejew (1863 – 1938), war Schauspieler, Regisseur und Schauspiellehrer. Bedeutendster Vertreter und Erneuerer des Realismus im Schauspiel. 1898 gründete er mit W. Nemirowitsch-Dantschenko das Moskauer Künstlertheater (MChAT), wo seine Inszenierungen der Werke von Leo Tolstoi und Anton Tschechow ihn weltberühmt machten. Über seine Schüler und Mitarbeiter Michael Tschechow und W. Meyerhold und durch seine USA Reise (Lee Strasberg) findet sein schauspielerisches „System“ zahlreiche Nachahmer.
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124 III. Stanislawski und die Folgen
Quelle 8 Konstantin S. Stanislawski Von den physischen Handlungen Arkadij Nikolajewitsch sprach wiederum zu uns über die psychotechnische Methode, das „Leben des menschlichen Geistes der Rolle“ durch deren „menschliches Körperleben“ zu schaffen. Seine Gedanken erläuterte er wie immer an Hand von Gleichnissen. „Haben Sie einmal eine Reise gemacht?“ fragte er und fuhr fort: „Wenn das der Fall ist, dann sind Ihnen die Veränderungen, die während der Fahrt sowohl in der Seele des Reisenden als auch in seiner Umgebung vor sich gehen, wohl bekannt. Haben Sie bemerkt, daß sogar der Zug, in dem Sie sitzen, sich während der Fahrt – je nach den Ländern, die Sie durcheilen – verwandelt, und zwar sowohl innen als auch außen? Bei der Abfahrt sieht der in der Wintersonne glänzende Waggon wie neu aus. Auf dem Dache liegt dichter Schnee. Man könnte meinen, er wäre mit einem reinen Tischtuch bedeckt. Drinnen aber ist es winterlich düster. Kaum dringt das Tageslicht durch die zugefrorenen Fensterscheiben. Der Abschied von den Lieben, die Sie an die Bahn brachten, legt sich Ihnen auf das Gemüt. Trübe Gedanken bemächtigen sich Ihrer. Sie denken an die, welche Sie zurückgelassen haben. Das Schaukeln des Wagens und das Stampfen der Räder wirken einschläfernd. Es dämmert. Der Schlaf überkommt Sie. Tag und Nacht vergehen. Sie fahren nach dem Süden. Draußen vollzieht sich eine große Wandlung. Der Schnee ist schon getaut. Immer neue Landschaften ziehen am Fenster vorbei. Es regnet. Im Waggon aber ist es schwül. Die Heizung ist immer noch auf den Winter eingestellt. Die Zusammensetzung der Mitreisenden hat sich geändert. Man hört andere Mundart, andere Gespräche und sieht andere Kleidung. Nur der Schienenweg ändert sich nicht. Er ist immer der gleiche und zieht sich endlos dahin. Immerzu gleiten Telegraphenmasken, Kilometersteine und Bahnsignale vorüber. Nach weiteren 24 Stunden erfolgt eine neue Verwandlung. Der Waggon rollt durch eine Sandgegend. Dach, Außenwände und Fenster sind mit wei-
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Quelle 8 125 ßem Staub bedeckt. Die Umgebung aber glänzt im strahlenden Licht der wärmenden Frühlingssonne. Die Knospen grünen, die Wiesen duften, und es wird einem leicht ums Herz. In der Ferne, am Horizont, sieht man die Silhouetten von Hügeln und Bergen. Die Bäche, die der Frühling in Ströme verwandelt hat, brausen stürmisch dahin. Gerade hat sich ein Gewitter ausgetobt. Der Staub ist niedergeschlagen. Die Natur ist erfrischt. Wohlgeruch schwebt in der wundervollen Luft. Der Sommer mit Wärme und Erholung steht vor der Tür. Die sich dahinziehenden Schienen aber sind unverändert. Laßt sie nur! Kommt es etwa auf sie an? Sie werden zwar gebraucht, aber nur insofern, als man sich auf ihnen vorwärts bewegen kann. Nicht die Schienen, sondern deren Umgebung und das Innere des Waggons interessieren den Reisenden. Wenn man Eisenbahn fährt, kommt man immer wieder in neue Gegenden, empfängt immer wieder neue Eindrücke. Man erlebt sie, läßt sich von ihnen begeistern oder betrüben. Sie regen auf, ändern die Stimmung des Reisenden von Minute zu Minute und verwandeln ihn selbst. Das gleiche geschieht auch auf der Bühne. Was aber tritt dort an die Stelle der ‚Schienen‘? Woraus soll man sie herstellen? Wie soll man sich auf ihnen durch das ganze Stück bewegen? Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß es das beste ist, die echten, lebendigen Gefühle als Schienen zu benutzen. Sie sollen uns führen. Das seelische Material aber ist nicht greifbar. Es läßt sich schlecht festhalten. Man kann aus ihm keine soliden ‚Schienen‘ machen. Man braucht dazu ‚materielleres‘ Material. Am ehesten scheinen dafür ‚physische‘ Aufgaben geeignet. Sie werden durch den Körper ausgeführt, der unvergleichlich stabiler ist als unser Gefühl. Nachdem der Schienenweg fertig ist, steigen Sie bitte ein und begeben sich auf die Reise, um neue Länder zu erforschen, nämlich das Leben des Theaterstücks. Sie werden sich bewegen und nicht auf der Stelle verharren und nur Kopfarbeit leisten. Sie werden handeln. Nur so können Sie das Leben des Stücks richtig beurteilen und es gründlich verstehen. Alles wird an Kleiderhaken aufgehängt beziehungsweise in die richtigen Fächer verstaut werden. Bei solchem Zustande wird schon ein geringes schöpferisches Selbstgefühl bei Ihnen erzeugt werden. Wie der Reisende das Eisenbahn-
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126 III. Stanislawski und die Folgen gleis, so brauchen wir eine sich wie ein Schienenweg ununterbrochen hinziehende Linie der physischen Handlungen. Wie das Gleis durch Bolzen und Schwellen zusammengehalten wird, so findet die Linie der physischen Handlungen ihren Halt an bestimmten und kräftigen Aufgaben. Ganz genau so, wie der Reisende auf den Schienen durch verschiedene Länder fährt, bewegt sich der Schauspieler vermittels der physischen Handlungen durch das ganze Stück, durch seine gegebenen Umstände, durch seine ‚wenns‘1 und durch andere Erfindungen der Einbildungskraft. Dabei geraten wir ähnlich dem Reisenden auf unserem Weg in die verschiedenartigsten äußeren Verhältnisse, die in uns die verschiedenartigsten Stimmungen hervorrufen. Im Leben des Stücks, auf der Bühne, kommt der Schauspieler mit neuen Menschen zusammen, mit den handelnden Personen, den Partnern im Stück. Er lebt mit ihnen ein gemeinsames Leben, wodurch entsprechende Erlebnisse hervorgerufen werden. Aber diese Erlebnisse kann man nicht festhalten. Deshalb muß man sich in der Anfangsperiode des Schaffens, um sich nicht in den komplizierten Windungen des Stücks zu verirren, an die deutliche, kräftige Linie der physischen Handlungen halten. Wir brauchen sie nicht um ihrer selbst willen, sondern nur als einen dauerhaften Weg, auf dem man im Schauspielerleben so sicher auf der Bühne vorwärtsschreiten kann, wie sich der Zug auf Schienen voranbewegt. Wie den Reisenden nicht die Schienen, auf denen er dahinfliegt, als solche interessieren, sondern die Länder und Gegenden, die die Eisenbahnstrecke berührt, ganz genau so interessieren den Schauspieler in unserem schöpferischen Streben nicht die physischen Handlungen als solche, sondern die inneren Bedingungen und Verhältnisse, durch die das Außenleben der Rolle gerechtfertigt wird. Wir brauchen schöne Erfindungen der Einbil1
Diesen Begriff „Wenn“ haben wir in anderen Übersetzungen mit „Als ob“ wiedergegeben. „Wenn“ und „Als ob“ sind zwei Stufen in dem Vorgang der Aktivierung des Gefühls, der den Schauspieler zum Handeln führt. Ausführlich spricht Stanislawski über diesen Punkt in der „Arbeit des Schauspielers an sich selbst“. Mit der Frage: „ Wie würdest Du handeln, wenn Du Othello wärst, wenn Du als Othello in dieser Situation wärst?“… wird die aktive Vorstellungskraft angeregt und angelockt. Von hier aus kommt der Schauspieler zum „Ich will …“ Wenn der Schauspieler nun nach dieser seiner Vorstellungskraft und seinem Willen handelt, dann handelt er „als ob“. „Ich will handeln, als ob ich Othello wäre“, heißt die neue Stufe, „ich will die ‚vorgeschlagenen Situationen‘ als ‚gegebene Umstände‘ annehmen, so –‚als ob‘ sie Wirklichkeit wären.“
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Quelle 8 127 dungskraft, durch die das Auftreten der dargestellten Person belebt wird, das heißt Gefühlsregungen, die im Herzen des schöpferischen Künstlermenschen erzeugt werden. Wir brauchen begeisternde Rollenaufgaben, die vor uns stehen, wenn wir das ganze Stück durchgehen. Wie aber kann man diesen einzig richtigen Weg unter vielen anderen – nicht richtigen – herausfinden? Vor dem Schauspieler breitet sich – wie vor einem Betrachter auf einem großen Eisenbahnknotenpunkt die Menge der Gleise – eine große Anzahl verschiedener Wege aus (solche des Erlebnisses, der Vorstellung, der handwerksmäßigen Routine, der Schauspielertricks, der Deklamation, des Sich-zur-Schau-Stellens und andere). Wählt man den richtigen Weg, dann erreicht man das Ziel, wählt man den falschen, dann landet man statt in der Kunst im Sumpfe der schauspielerischen Mache und Affektiertheit. Das bedeutet dasselbe, als ob man sich auf dem Knotenpunkt in den falschen Zug setzt und plötzlich in Zarewo Kokschaisk statt in Moskau befindet. Es ist nicht leicht, sich unter den Schienenwegen eines Eisenbahnknotenpunkts zurechtzufinden, noch schwerer aber ist es, in sich selbst die richtigen Wege für jede Rolle gefühlsmäßig zu erfassen, Wege, die zum wahren Schöpfertum und echter Kunst führen. Es ist wie mit den Schienen auf dem Eisenbahnknotenpunkt, auch diese laufen nebeneinander her, gehen auseinander, kommen zusammen, kreuzen und schneiden sich. Man merkt gar nicht, wie man von dem einen Gleis, dem richtigen, auf das andere, das falsche, gerät. Um das zu verhindern, müssen Sie sich auf dem deutlichen Gleis der physischen Aufgaben vorwärtsbewegen. Vergessen Sie auch nicht, an den Stellen, wo zwei oder mehrere Gleise zusammentreffen, einen erfahrenen, aufmerksamen, gut disziplinierten ‚Weichensteller‘ einzuschalten. In unserem Falle wäre mit dieser wichtigen Rolle das Wahrheitsgefühl zu betrauen. Es soll die Arbeit des Schauspielers ständig auf das richtige Gleis leiten.“ Arkadij Nikolajewitsch schwieg. Er trat eine Pause ein. Plötzlich hörte man in der Stille die Brummstimme Goworkows: „Gratuliere!“ brummte er kaum verständlich. „Habt Ihr‘s gehört? Wir sind glücklich beim Eisenbahnverkehr in der Kunst angekommen.“ „Was sagen Sie da“, fragte ihn Torzow.
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128 III. Stanislawski und die Folgen „Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, sage ich, daß echte Künstler nicht im Waggon auf der Erde dahinkriechen. Sie schweben im Flugzeug über den Wolken, verstehen Sie?“ Es war schon beinahe ein Deklamieren mit Feuer und Pathos, wie Goworkow das sagte. „Ihr Vergleich gefällt mir“, sagte Arkadij Nikolajewitsch mit leichtem Lächeln. „Wir werden darüber ausführlich in der nächsten Stunde sprechen.“ * „Der Tragöde braucht also ein Flugzeug, das über den Wolken schwebt, und nicht einen Waggon, der auf der Erde rollt.“ Mit diesen Worten wandte sich Arkadij Nikolajewitsch an Goworkow, als er heute die Klasse betrat. „Jawohl, ein Flugzeug braucht er“, bestätigte unser Tragöde. „Nur muß man leider, bevor man sich in die Luft erhebt, eine gewisse Zeit auf dem harten Boden des Flugplatzes dahinrollen“, bemerkte Arkadij Nikolajewitsch. „So kann man also, wie Sie sehen, um in der Luft zu schweben, die Erde unter keinen Umständen entbehren. Sie wird von den Piloten genau so benötigt wie die Linie der physischen Handlungen von den Schauspielern bei ihrem unmerklichen Übergang in die höheren Regionen. Oder könnten Sie vielleicht direkt ohne Anlauf auf der Erde senkrecht in die Wolken hinauffliegen? Man sagt zwar, daß die Mechanik schon so weit sei, unsere schauspielerische Tätigkeit aber kennt noch kein Mittel, um in das Gebiet des Unterbewußtseins auf gerader Linie einzudringen. Ja, wenn ein Wirbelsturm der Begeisterung, der Eingebung ausbricht, dann vermag er, unser ‚schöpferisches Flugzeug‘ senkrecht bis zu den Wolken hinaufzutragen ohne jeden Anlauf auf der Erde. Unglücklicherweise hängen Höhenflüge dieser Art nicht von unserem Willen ab, und wir können sie nicht in Regeln zwängen. Uns ist nur möglich, den Boden zu bereiten, Schienen zu legen, das heißt physische Handlungen zu schaffen, die an Wahrheit und Überzeugungskraft ihren Halt finden. Sie sehen also, daß man auch auf unserem Arbeitsgebiet bei Höhenflügen nicht die ‚Erde‘ entbehren kann.
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Quelle 8 129 Bei den Flugzeugen beginnt der Flug in dem Moment, wo die Maschine sich vom Boden löst. Bei uns beginnt das Erhabene dort, wo das Reale, ja sogar das Ultranatürliche aufhört.“ „Was sagten Sie?“ fragte ich dazwischen, um das schriftlich festhalten zu können. „Mit dem Worte ultranatürlich“, erklärte Arkadij Nikolajewitsch, „bezeichne ich denjenigen Zustand unserer seelischen und physischen Natur, den wir als vollkommen, natürlich und normal ansehen und dem wir aufrichtiges Vertrauen schenken. Nur in solchem Zustande geht das verborgenste Innere unseres Herzens weit auf und kommen kaum wahrnehmbare Anspielungen, Nuancen und Aromen echten, organischen, schöpferischen Gefühls zum Vorschein, eines Gefühls, das scheu und peinlich korrekt ist.“ „Heißt das, daß diese Gefühle nur dann entstehen, wenn der Schauspieler an die Normalität und Richtigkeit der Handlungen der physischen Natur glaubt?“ fragte ich wieder. „Ja! Das Innerste unseres Herzens geht nur dann weit auf, wenn die inneren und äußeren Erlebnisse des Schauspielers nach ihren Gesetzen verlaufen, wenn absolut keine Gewaltanwendung, keine Abweichung von der Norm erfolgt, wenn alles bis zu den äußersten Grenzen des durch und durch Ultranatürlichen Wahrheit ist. Man braucht nur im geringsten das normale Leben unserer Natur zu stören, und schon gehen die unmerklichen Feinheiten des unterbewußten Erlebens verloren. Deshalb fürchten erfahrene Schauspieler mit gut entwickelter psychischer Technik auf der Bühne nicht nur die kleinste Entgleisung und Heuchelei des Gefühls, sondern auch die äußere Unwahrheit der physischen Handlung. Um das Gefühl nicht einzuschüchtern, denken sie gar nicht an das innere Erlebnis, sondern konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf das ‚Leben ihres menschlichen Körpers‘. Dadurch wird auf natürliche Weise von selbst das ‚Leben des menschlichen Geistes‘ geschaffen, und zwar sowohl das bewußte, als auch das unbewußte.“ „Aus dem Gesagten geht klar hervor“, resümierte Torzow, „daß wir die Wahrheit der physischen Handlungen und den Glauben an sie nicht um des Realismus oder Naturalismus willen brauchen, sondern um auf natür-
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130 III. Stanislawski und die Folgen liche Weise reflektorisch in uns die seelischen Erlebnisse der Rolle zu wecken, um unser Gefühl nicht einzuschüchtern und zu vergewaltigen, um seine Aktivität, Unmittelbarkeit und Reinheit zu erhalten und auf der Bühne das lebendige, menschliche Wesen der dargestellten Person wiederzugeben.“ „Aus diesem Grunde rate ich Ihnen, weder beim Höhenflug auf die Erde noch beim Flug in das Reich des Unbewußten auf die physischen Handlungen zu verzichten.“ Mit diesen Worten wandte sich Arkadij Nikolajewitsch an Goworkow. „Doch genügt es nicht allein, in die Höhe zu fliegen, man muß sich dort auch orientieren können“, fuhr Torzow fort, „denn dort im Reiche des Unbewußten gibt es ähnlich wie in den höheren Luftsphären weder Gleise noch Schienen oder Weichenwärter. Man kann sich dort also leicht verirren und einen falschen Kurs nehmen. Wie sollen wir uns also in dem uns unbekannten Reich orientieren? Wie sollen wir unsere Gefühlswelt lenken, wo doch das Bewußtsein dort nicht hinkommt? In der Luftfahrt sendet man in die unerreichbaren Sphären Radiowellen und lenkt mit ihrer Hilfe das hoch oben schwebende Flugzeug von der Erde aus. Wie machen in unserer Kunst etwas Ähnliches. Wenn das Gefühl in das dem Bewußtsein unzugängliche Reich eindringt, wirken wir mit Hilfe von Erregern und Lockrufen mittelbar auf die Emotion ein. Sie enthalten eine Art ‚Radiowellen‘, die auf die Intuition einwirken und Reaktionen des Gefühls hervorrufen. Zu gegebener Zeit werden wir darüber noch sprechen.“ Den Schluß des Unterrichts schreibe ich nicht nieder, da er durch einen überflüssigen Streit Goworkows verdorben wurde. Infolge der Abwesenheit Iwan Platonowitschs schlug er über die Stränge. Heute fand im Konversationszimmer ein interessantes Gespräch Arkadij Nikolajewitschs mit den Schauspielern über sein neues Verfahren statt. Es handelt sich darum, vermittels der physischen Handlungen an die Rolle heranzugehen. Es erweist sich, daß bei weitem nicht alle in der Truppe dieses Neue in der Kunst annehmen, wie es auch mit vielen anderen Neuheiten der Fall ist. Es gibt viele Rückschrittler, die sich fest an das Alte klammern und das Neue nicht an sich herankommen lassen.
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Quelle 8 131 „Wenn ich mit fertigen Schauspielern wie Ihnen spreche, ist es für mich bequemer, von hinten anzufangen“, sagte Arkadij Nikolajewitsch. „Sie wissen, wie dem schaffenden Schauspieler in der von ihm erarbeiteten fertigen Rolle zumute ist. Die Schauspielschüler aber wissen das nicht. Vertiefen Sie sich in sich selbst, denken Sie nach, horchen Sie in sich hinein und erinnern Sie sich einer vielmals gespielten Rolle, die sich Ihnen gut eingeprägt hat, und dann sagen Sie: Womit sind Sie beschäftigt, worauf bereiten Sie sich vor, was steht Ihnen vor Augen, welche Aufgaben und Handlungen locken Sie, wenn Sie aus der Garderobe auf die Bühne gehen, um eine wohlbekannte Rolle zu spielen. Ich spreche nicht von den Schauspielern, die ihren Rollenplan auf einfachen handwerksmäßigen ‚Tricks‘ und ‚Kunststücken‘ aufbauen. Ich habe vielmehr ernsthafte, schöpferische Schauspieler im Auge.“ „Wenn ich auf die Bühne gehe“, sagte einer der Schauspieler, „dann denke ich an die erste nächstliegende Aufgabe. Nach ihrer Ausführung entsteht von selbst die zweite. Wenn ich diese gespielt habe, denke ich an die dritte, vierte und so weiter.“ „Und ich beginne mit der durchgehenden Handlung. Wie eine fast endlose Landstraße dehnt sie sich vor mir aus, und genau an ihrem Ende erglänzt die Kuppel der Überaufgabe“, sagte ein alter Schauspieler. „Wie aber sind Sie bestrebt, das Endziel zu erreichen?“ fragte Torzow. „Indem ich logisch eine Aufgabe nach der anderen erfülle.“ „Sie handeln, und dieses Handeln führt Sie immer näher an das Endziel heran, nicht wahr?“ forschte Arkadij Nikolajewitsch. „Natürlich. Und so mache ich es in jeder Rolle.“ „Wie kommen Ihnen denn diese Handlungen in einer gut erlebten Rolle vor? Schwer, kompliziert, unfaßbar, nicht wahr?“ fragte Torzow, die vermutete Antwort vorausnehmend. „So war es früher tatsächlich, aber schließlich bin ich zu einem Dutzend sehr klarer, realer, leicht verständlicher Handlungen gekommen, die Sie das Schema oder die Fahrrinnen des Stücks und der Rolle nennen.“ „Was sind diese? Sind es feine psychologische Handlungen?“ „Natürlich. Aber vom häufigen Erleben durch den unlösbaren Zusammenhang mit dem Leben der ganzen Rolle hat die Psychologie
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132 III. Stanislawski und die Folgen ‚Fleisch‘ angesetzt, durch das man zum inneren Wesen des Gefühls kommt.“ „Sagen Sie mal, warum das so ist?“ forschte Torzow. „Mir erscheint das ganz natürlich. ‚Das Fleisch‘ ist leichter wahrnehmbar, faßbar. Man braucht nur etwas logisch und folgerichtig zu tun, und das Gefühl stellt sich nach der Handlung von selbst ein.“ „So ist es“, warf Torzow bei diesen Worten ein, „das, womit Sie abschließen, nämlich mit der einfachen phychischen Handlung, ist gerade das, womit wir beginnen. Sie haben selbst gesagt, daß die äußerliche Handlung, das Leben des Körpers, leichter wahrnehmbar ist. Ist es also nicht besser, das Erarbeiten der Rolle auch damit zu beginnen, was leichter wahrnehmbar ist, das heißt mit der physischen Handlung, mit der ganzen ununterbrochenen Linie dieser Handlungen und letzten Endes mit dem ganzen ‚Leben des menschlichen Körpers‘? Sie sagen, daß das Gefühl auf die Handlung in einer fertigen, gut erarbeiteten Rolle folgt. Aber auch am Anfang in der noch nicht erarbeiteten Rolle folgt das Gefühl der Linie der logischen Handlungen. Also locken Sie sie doch gleich am Anfang heraus! Warum das Gefühl quälen und kneten? Wozu monatelang am Tisch sitzen und das schlummernde Gefühl herausquetschen? Warum es zwingen, das Leben ohne Handlung zu beginnen? Gehen Sie lieber auf die Bühne und handeln Sie sofort, das heißt, führen Sie das aus, was Sie im gegebenen Augenblick leisten können. Auf die Handlung folgt von selbst auf natürliche Weise und in ununterbrochenem Zusammenhang mit dem Körper dasjenige, was im gegebenen Moment dem Gefühl zugänglich ist.“ Ferner erläuterte Arkadij Nikolajewitsch die Theorie seines Verfahrens, die uns nunmehr vertraut und so klar und verständlich ist, die uns so faßlich und leicht erscheint, nachdem wir die Logik und Folgerichtigkeit der Handlung und die Technik der Handlungen mit vorgestellten Gegenständen beherrschen. Mir, dem Schüler, schien es seltsam, daß alte Schauspieler eine einfache und natürliche Wahrheit nicht begreifen und sich so schwer zu eigen machen. „Wie ist es nur möglich“, dachte ich mir, „daß diese Wahrheit, die wir Schüler nun schon drei volle Jahre studieren, erst jetzt zu der Truppe, zu den großen Schauspielern durchgedrungen ist?“
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Quelle 8 133 „Das Tempo, die Arbeit, die Termine der Inszenierungen und Kürzung des Stücks, das Repertoire, die Proben, die Aufführungen, die Doppelbesetzungen der Rollen, die Vertretung von Kollegen, die Konzerte und Pfuscherei decken das ganze Leben des Schauspielers förmlich zu. Er ist gleichsam von einem Rauchschleier umgeben, der ihn hindert zu sehen, was in der Kunst vor sich geht. Ihr Schüler aber, ihr Glückspilze, könnt Euch in ihr baden“, sagte nur ein junger Pessimist, der stark im Repertoire des Theaters in Anspruch genommen war. Doch auf ihn sind wir, die Schüler, neidisch.
Konstantin S. Stanislawski: „Von den physischen Handlungen“, in: Theater der Zeit, Heft 4/1951, S. 4 – 8 sowie in: Der schauspielerische Weg zur Rolle von K. S. Stanislawski, W. Prokofjew, W. Toporkow, B. Sachawa, G. Gurjew, Henschel Verlag, Berlin 1952.
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134 III. Stanislawski und die Folgen
Quelle 9 Michael Tschechow Werkgeheimnisse der Schauspielkunst 1. Des Schauspielers Körper und Psyche Körper und Seele des Menschen sind in ständiger Wechselwirkung und beeinflussen sich gegenseitig. Sowohl ein über- wie ein unterentwickelter Körper kann die geistige Regsamkeit beeinträchtigen, Gefühle abstumpfen oder den Willen schwächen. Selten besteht vollständiges Gleichgewicht. Und doch ist gerade dieses Gleichgewicht für den Schauspieler besonders wichtig. Denn sein Körper dient ihm ja als Instrument, seine schöpferischen Ideen auszudrücken. Nicht nur leiht er der darzustellenden Rolle Stimme und Gebärde, sondern er muß zudem in seinem sicht- und hörbaren Spiel das Innenleben des Bühnen-Charakters durchschimmern lassen. Gleichgewicht und vollkommene Harmonie zwischen Körper und Seele sind die Grundlagen seines Schaffens. […] Es besteht auch die Gefahr, daß der Schauspieler die notwendige Grenze zwischen Alltag und Theater verwischt. Er bringt das Leben, wie es ist, auf die Bühne, und wird somit zu einem photogetreuen Nachahmer. Er vergißt, daß seine eigentliche Aufgabe nicht in der bloßen Imitation, sondern in einer facettenreichen und tiefgründigen Interpretation liegt. Und dabei sollte ihn doch ein freudiger Instinkt drängen, seine ganz persönlichen Eindrücke zu vermitteln, Hintergründe aufzudecken und ihre nicht augenfällige Bedeutung klar werden zu lassen. Wie aber kann er das tun? Wie kann er der Aufgabe genügen? Kaltes, analytisches Denken hemmt schöpferische Tätigkeit. Der Schauspieler muß seinem Körper ideelle Impulse zuführen. Nur so kann er ihn verfeinern, biegsam und gehorsam machen. Nur so kann er ihn als empfindsames und ausdrucksfähiges Instrument für seinen inneren Reichtum einsetzen. Sein Körper muß, um den mannigfachen Aufgaben zu genügen, von innen heraus geformt und neu geschaffen werden. Für die Schulung des Schauspielers bedarf es also besonderer psycho-physischer Übungen. Durch andauernde Pflege dieser Übungen wirst du staunend erkennen, wie leicht und begierig der menschliche Körper seelische
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Quelle 9 135 Werte aufnehmen, verarbeiten und wiedergeben kann. Zur Vorbereitung für dieses besondere schauspielerische Training ein paar Ratschläge: Lege Gewicht auf dein eigenes inneres Verhalten. Erweitere den Kreis deiner Interessen. Beobachte deine Umwelt. Versetze dich in Menschen anderer Epochen. Bemühe dich, ohne Vorurteil ihre Lebensweise zu verstehen, studiere Geschichtsbücher, historische Novellen, Stücke. Beschäftige dich mit den Interessen und kulturellen Bestrebungen fremder Nationen. Bleibe objektiv. Versuche andere zu verstehen, ohne daß du ihnen deine Lebenseinstellung, deine ethischen Gesichtspunkte, deine gesellschaftlichen Ansprüche oder sonst irgend eine persönliche Ansicht aufdrängst. Gewöhne dich daran, alle überflüssige Kritik, sowohl im Leben als auch auf der Bühne, zu unterdrücken. Das ist von besonderer Wichtigkeit, für dich und die anderen. Beschäftige dich auch mit dir unsympathischen Menschen. Vielleicht wirst du dabei ihre positiven Eigenschaften entdecken. Vermeide, die praktischen Übungen mechanisch auszuführen. Vergiß nie den Endzweck. Körper und Seele müssen dem Schauspieler unbedingt gehorchen. Erst wenn du gelernt hast, den Ausdruck und das Innenleben zu beherrschen, gewinnst du das notwendige Selbstvertrauen für deine berufliche Tätigkeit. Erst wenn der Zufall ausgeschieden ist, erst dann verfügst du beim Spielen über Gleichgewicht und Freiheit. […] 3. Improvisation Begnügt sich der Schauspieler damit, die vom Autor vorgeschriebenen Worte zu sprechen und die vom Regisseur vorgeschlagenen Handlungen auszuführen, macht er sich zum Sklaven fremder Schöpfungen. Wenn er die Gelegenheit zum eigenen Improvisieren nicht wahrnimmt, bleibt sein Beruf ausgeborgter Fremdbesitz. Es ist ein Irrtum zu glauben, Autor und Regisseur hätten seine Arbeit vorweggenommen und für den Ausdruck seiner eigenen Individualität sei kein Raum mehr übrig. Leider ist diese Ansicht unter Schauspielern heute weit verbreitet.
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136 III. Stanislawski und die Folgen Jede Rolle bietet dem Schauspieler im wahrsten Sinne des Wortes Gelegenheit, mit dem Autor und dem Regisseur zu wirken und zu schaffen. Dies besagt jedoch keineswegs, es seien Worte und Handlungen beizufügen. Im Gegenteil. Die gegebenen Worte und Handlungen bilden die feste Grundlage für die schauspielerische Improvisation. WIE der Schauspieler die Worte ausspricht, und WIE er die Handlung ausführt, das sind offene Tore zum weiten Feld der Improvisation. Das WIE ist des Schauspielers eigenes und freies Ausdrucksmittel. Mehr noch, auch zwischen den Worten und den dazugehörenden Handlungen findet der Schauspieler ungezählte Möglichkeiten, seine künstlerischen Einfälle zu entfalten, das Spiel auszuschmücken und interessante psychologische Übergänge zu schaffen. Er muß sich bloß weigern, immer nur sich selbst zu spielen und ausgediente Clichés hervorzuholen. Keine Rolle ist „einfach gegeben“, jede bietet Gelegenheit zu persönlicher Interpretation. Wer nicht mit jeder Rolle die reine Freude des Sich-Verwandelns auf der Bühne erlebt, wird kaum ahnen, was wirklich schöpferische Improvisation bedeutet. Der Schauspieler, der gelernt hat zu improvisieren, entdeckt in seinem Inneren einen unerschöpflichen Quell bisher unbekannter Gefühle von Freiheit und Reichtum. Übung: Einzelimprovisation Bestimme Anfang und Ende deiner Improvisation. Bestimme sie genau, z. B. am Anfang: Erhebe dich rasch und entschlossen von einem Stuhl und sage in festem Ton „Ja!“ Am Schluß: Lege dich hin, nimm ein Buch, öffne es und beginne ruhig zu lesen. Am Anfang: Ziehe rasch und fröhlich deinen Mantel an, Hut und Handschuhe, als wolltest du ausgehen. Am Ende: Setze dich deprimiert nieder, vielleicht sogar weinend. Am Anfang: Schau ängstlich und gespannt aus dem Fenster, indem du versuchst, dich hinter dem Vorhang zu verbergen. Mit dem Ausruf „Hier ist er wieder“ ziehe dich vom Fenster zurück. Am Ende: Spiele Klavier, wirklich oder nur angedeutet, in fröhlicher Stimmung. Wähle aufs Geratewohl für Anfang und Ende die erstbesten dir einfallenden Situationen. Je kontrastreicher sie sind, desto besser. Überlege dir
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Quelle 9 137 nicht, was du tun wirst zwischen Anfang und Ende. Suche nicht nach einer logischen Motivierung oder Rechtfertigung des improvisierten Zwischenspiels. Du brauchst dafür weder Thema noch Plan aufzustellen. Wähle nur die Stimmung. Dann überlaß dich der momentanen Intuition. Wenn du z. B. anfänglich aufstehst und „ja“ sagst, dann wirst du frei und vertrauensvoll deinen Eingebungen folgend zu spielen beginnen. Das Mittelstück, der Übergang vom Anfang zum Ende, wird deine Improvisation sein. Jeder folgende Moment entwickle sich psychologisch, nicht logisch, aus dem vorhergehenden. Also wirst du, ohne dich thematisch vorzubereiten, fast wie von selbst anfangen zu improvisieren. Du wirst lernen, der ganzen Skala von Gefühlen und Gemütsbewegungen spontan zu folgen. Bald wirst du beleidigt sein, bald gedankenvoll, irritiert, heiter, gleichgültig; vielleicht schreibst du einen Brief in großer Erregung; vielleicht gehst du eilig ans Telephon. Alle Möglichkeiten stehen dir offen, deiner jeweiligen Stimmung und deinen Einfällen entsprechend. Horche nur auf die „innere Stimme“. Sie sagt dir, was du zu tun hast. Dein Unbewußtes lenkt dich, wenn du ihm nachzugeben bereit bist. Und so lange dir das Wissen um den Endpunkt gegenwärtig bleibt, wirst du nicht herumtappen. Das Ziel wird dich wie ein Magnet anziehen. Fahre mit diesen Übungen fort, bis du Zutrauen zu dir selbst hast und nicht mehr stecken bleibst, um zu überlegen, was du zwischen Anfang und Ende tun sollst. Du magst dich wundern, warum Ausgangspunkt und Schluß festgelegt werden müssen, während die dazwischenliegende Improvisation spontan fließend sein soll. Laß dir sagen warum: Wahre schöpferische Freiheit ist eingebettet in feste Grenzen. Sonst entartet sie zu Willkür und Unklarheit. Sinnlos würdest du herumschweifen. Ohne Start und ohne Ziel, d. h. ohne festen Rahmen, bliebe dein Gefühl für freies Schaffen bedeutungslos. Während du ein Stück probst, begegnest du vielen Gelegenheiten, dein Improvisationstalent zu zeigen. Handlung, Text, Tempo, Vorschläge des Autors und des Regisseurs, Reaktion auf das Spiel der Partner, dies alles soll dich lenken. Um dich auf solche Anregungen vorzubereiten, mußt du dir schon beim Üben ähnliche Begrenzungen und Gegebenheiten vorstellen.
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138 III. Stanislawski und die Folgen Wenn dir Anfang und Ende der Improvisation bekannt sind, bestimme ihre ungefähre Länge. Wenn du allein arbeitest, sind fünf Minuten mehr als genug. Dann wähle eine „Gegebenheit“ als Stützpunkt in der Mitte der Improvisation. Nun gehe übenderweise von Anfang zur Mitte und von der Mitte zum Ende. Versuche dafür nicht mehr Zeit zu verwenden als zuvor. – Bestimme eine weitere „Gegebenheit“ und wiederhole die Improvisation mit den vier Stützpunkten, Anfang und Ende inbegriffen. – Fahre fort, weitere Stützpunkte einzufügen, alle aus deiner Phantasie. Wenn du eine gewisse Sicherheit im Überbrücken aller Stützpunkte erreicht hast, variiere die Aufgabe weiter: wechsle das Tempo, schaffe eine bestimmte Atmosphäre, spiele mit formender, fließender, fliegender oder ausstrahlender Bewegung, verändere den Charakter der Gestalt. Dann stell dir vor, wie die Bühne aussieht und wo das Publikum sitzt. Entscheide, ob es eine Tragödie, ein Drama, eine Komödie oder Farce, ein in der Gegenwart spielendes oder ein historisches Stück sei. Erfinde im Geiste ein passendes Kostüm. Tue, als würdest du es tragen. Alles steigert dein Improvisationstalent. Der Zweck dieser Übung besteht darin, dich mit dem Wesen der Improvisation vertraut zu machen. Auch wenn du die Aufgabe mit den Stützpunkten und notwendigen Handlungen erweiterst, sollst du das Gefühl des Improvisierens beibehalten. Wenn du dann später auf der Bühne eine Rolle darstellst, werden dir die zu sprechenden Worte, die auszuführenden Handlungen, die Forderungen von Autor und Regisseur, ja alle Einzelheiten des Stückes den Weg weisen, genau so wie es früher die Stützpunkte deiner eigenen Improvisation taten. Übung und Aufführung werden sich gleichen. Du weißt nun, daß dramatische Kunst nichts anderes ist, als eine fortgesetzte Improvisation, und daß es für den Schauspieler auf der Bühne keinen Augenblick gibt, in dem er nicht improvisieren dürfte. Es ist ihm möglich, gleichzeitig den vorgeschriebenen Gegebenheiten getreu nachzukommen und dennoch den Geist des Improvisierens zu betätigen. Ein beglückendes Gefühl von Zutrauen zu dir selbst, von Freiheit und Reichtum wird deine Bemühungen belohnen. […]
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Quelle 9 139
4. Atmosphäre und individuelle Gefühle […] Die individuellen Gefühle eines Schauspielers sind zeitweise recht quecksilbrig und unberechenbar. Er ist bei weitem nicht immer imstande, sich zu zwingen, traurig oder böse zu sein, zu lieben oder zu hassen, je nachdem die Rolle es verlangt. Allzu oft müssen Schauspieler auf der Bühne tun, als hätten sie Gefühle, allzu oft bleiben ihre Versuche, solche aus sich heraus zu pressen, unbefriedigend. Ist es nicht meistens nur ein glücklicher Zufall und nicht der Erfolg künstlerischen Könnens, wenn die notwendigen Gefühle im richtigen Augenblick sich einstellen? Doch Zufall genügt nicht. Sollte künstlerisch wahres Gefühl ausbleiben, muß es durch irgend welche technischen Mittel geweckt werden. Nur so gelangt der Schauspieler zur Meisterschaft.1 Schöpferische Gefühle und Impulse können auf verschiedene Weisen erzeugt werden. Imagination und Macht der Atmosphäre wurden bereits genannt. Ein weiteres Hilfsmittel sei im Folgenden skizziert: Hebe einen Arm. Senke ihn. Was hast du getan? Du hast eine Gebärde gemacht, und zwar ohne Schwierigkeit. Warum? Weil diese Gebärde vollkommen deinem Willen unterstellt ist. Nun wiederhole die Gebärde, indem du ihr eine besondere Eigenschaft erteilst. Laß es z. B. Vorsicht sein. Mache dieselbe Gebärde vorsichtig. Hast du sie mit gleicher Leichtigkeit ausgeführt? Wiederhole sie mehrmals und sieh zu, was geschieht. Die vorsichtig ausgeführte Bewegung ist nicht bloß eine physische Handlung. Jetzt hat sie einen seelischen Inhalt. Was bedeutet das? Eine Empfindung von Vorsicht durchdringt nun deinen Arm. Die Bewegung hat psychophysischen Charakter bekommen. Gleicherweise wird dein ganzer Körper, wenn du ihn mit der Vorstellung von Vorsicht bewegst, mit derselben psychophysischen Empfindung durchdrungen und erfüllt. Die Sinnesempfindungen sind also das Gefäß, in das die wahren künstlerischen Gefühle einströmen. Wie ein Magnet ziehen sie alle Gefühle und 1
In diesem Zusammenhang sei auf einen fundamentalen Unterschied zwischen Berufsschauspieler und dem aus Liebhaberei nur dann und wann auftretenden Laienspieler aufmerksam gemacht. Begeisterung und spontane Hingabe an die Rolle entfachen im Laien unter kundiger Führung oft wie von selbst die verlangten Gefühle. Auch dem Berufsschauspieler würden diese Gefühle unter Umständen zur Verfügung stehen. Doch bei ihm genügen sie nicht, weil sie nicht zuverlässig sind. Um kein Versagen zu riskieren, muß der Schauspieler die für sein Schaffen notwendigen Gefühle erwecken und meistern können. Er bedarf also einer Technik, die seine Kunst über jeden Zufall erhebt. (Anm. d. Übers.)
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140 III. Stanislawski und die Folgen Gemütsbewegungen an, die der vom Schauspieler für die Rollengestaltung gewählten Eigenschaften entsprechen. Nun frage dich, ob du deine Gefühle gezwungen hast. Gabst du dir den Befehl, Vorsicht zu fühlen? Nein. Du hast nur deine Gebärde mit einer gewissen Eigenschaft ausgeführt. Durch diese Eigenschaft erzeugtest du die Empfindung von Vorsicht, und durch diese Empfindung erwachten deine Gefühle wie von selbst. Der Weg führt also von der mit einer Eigenschaft gefärbten Gebärde über die Empfindung zum Gefühl. Wenn du dieselbe Bewegung mit mehreren gleichgerichteten Eigenschaften wiederholst, stärkt sie die von dir erstrebten Gefühle. Auf diese Weise kommst du in den Besitz des einfachsten technischen Mittels, deine Gefühle zu lenken, sollten sie sich widerspenstig und kapriziös erweisen und deine Arbeit sabotieren. Wenn du gelernt hast, die gewählte Eigenschaft in eine Sinnesempfindung umzuwandeln, wirst du merken, daß diese Fähigkeit dir mehr dient, als du je ahnen konntest. Die Eigenschaft der Vorsicht, mit der du deine Bewegung ausführst, kann in dir beispielsweise nicht nur das Gefühl von Vorsicht, sondern auch noch eine ganze Skala verwandter Gefühle hervorrufen, je nach den Erfordernissen des Stückes. Du wirst vielleicht gleichzeitig irritiert oder aufmerksam, als ob du Gefahr wittertest, liebevoll und zärtlich, als behütetest du ein Kind, kalt oder resigniert, als wolltest du dich zurückziehen, erstaunt und verwundert, als fragtest du dich, warum muß ich vorsichtig sein? Alle diese Gefühls-Nuancen, wie verschieden sie auch sein mögen, sind verbunden mit der Empfindung von Vorsicht. Es findet also eine Art Kreislauf statt. Zuerst wirkt der Befehl: Hebe einen Arm! Die Bewegung wird vom bloßen Willen ausgelöst. Dann färbst du sie mit einer Eigenschaft. Diese nun mit einem Inhalt bereicherte Bewegung erzeugt eine entsprechende Sinnesempfindung, die ihrerseits die gewünschten Gefühle hervorbringt. In ihrem Besitze wirst du schöpferisch.2 Doch nun wirst du fragen, wie läßt sich diese Methode verwirklichen, wenn mein Körper in Ruhestellung ist? 2
Eine Geschichte aus dem frühen Mittelalter beleuchtet diesen Vorgang. Sie berichtet von einem Mönch, der nicht mehr beten konnte. Bekümmert ging er zum Abt und klagte ihm sein Leid. Der Abt sagte: „Beruhige dich, mein Sohn, nimm die Haltung eines Betenden an, verharre in diese Haltung und du wirst wieder beten können.“ Und so geschah es. (Anm. d. Übers.)
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Quelle 9 141 Der Körper kann immer mit Sinnesempfindungen erfüllt werden, ob er ruhe oder sich bewege. Sage nur zu dir selbst: „Ich werde aufstehen, mich setzen, niederlegen mit dieser oder jener Empfindung in meinem Körper“. Als Antwort darauf wird dein Inneres von einem Kaleidoskop von Gefühlen durchströmt. Wenn du beim Proben einer Szene in Zweifel gerätst, welche Eigenschaft du wählen solltest, zögere nicht, zwei oder drei gleichzeitig miteinander oder nacheinander auszuprobieren. Nehmen wir an, du wählst die Eigenschaft der Schwere und zugleich der Verzweiflung, der Besorgtheit oder des Ärgers. Wie viele Eigenschaften du auch kombinieren magst, sie werden für dich zu einer einzigen Sinnesempfindung verschmelzen wie Töne zu einem Akkord. Sobald deine Empfindungen und deine Gefühle geweckt worden sind, reißen sie dich mit sich fort und geben deinem Spiel wahre Inspiration. Übung: Individuelle Gefühle Mach eine einfache Bewegung. Nimm einen Gegenstand vom Tisch, öffne oder schließe eine Türe, setze dich, stehe auf. Tue dies mehrmals. Dann erfülle deine Bewegung mit Eigenschaften: Ruhe, Sicherheit, Erregung, Sorge, Schüchternheit, Zärtlichkeit. Tue dasselbe mit formenden, fließenden, fliegenden, ausstrahlenden Bewegungen. Dann staccato, legato, dann mit Leichtigkeit, mit Formgefühl. – Wiederhole diese Gebärden, bis die gewählte Empfindung deinen Körper erfüllt und die entsprechenden Gefühle weckt. Forciere die Gefühle nicht. Durch die vorgeschlagene Technik werden sie sich wie von selbst einstellen. Versuche nie das Resultat zu beschleunigen.
Michael Tschechow: Werkgeheimnisse der Schauspielkunst, Werner Classen Verlag, Zürich und Stuttgart 1979, S. 17 – 19, S. 41 – 44, S. 55 – 58 Michael Tschechow (1891 – 1955), russisch-amerikanischer Schauspieler, Regisseur und Autor. Das Grundkonzept von Tschechows „Theater der Zukunft“ fußt auf den Lehren der Anthroposophie. Anders als sein Lehrer Stanislawski war er überzeugt, dass die Inspirationsquelle des Schauspielers in der bewussten Ausschöpfung seines imaginativen Potenzials beziehungsweise der Abfrage seines Unterbewusstseins liegt.
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142 III. Stanislawski und die Folgen
Quelle 10 Lee Strasberg Das emotionale Gedächtnis Allgemein möchte ich zum Thema des emotionalen Gedächtnisses sagen, daß viele Leute zwar sehr starke Meinungen zu diesem Thema vertreten, die wenigsten aber wirklich wissen, wovon sie reden, weil nämlich der Begriff des emotionalen Gedächtnisses etwas ist, was am allermeisten und am ehesten mißverstanden wird. Wir alle wissen, daß wir ein intellektuelles und ein körperliches Gedächtnis haben. Sonst könnten wir uns nicht jeden Morgen die Schuhe wieder zubinden, sondern müßten es jeden Tag neu lernen. Über das geistige oder intellektuelle Gedächtnis muß ich nicht viel sagen. Mit dem erinnern wir uns an Telefonnummern. Körperliches und geistiges Gedächtnis benutzen wir dauernd. Wir sind gewohnt, damit umzugehen. Gefühle aber sind so, daß wir oft überhaupt nicht einmal wissen, was für Gefühle da sind. Wir wissen nur, daß sie da sind. Wir haben ja gerade vorher bei der jungen Schauspielerin gesehen, daß es ihr sehr schwerfiel, uns zu sagen, was sie fühlte. Sie wußte zwar, daß sie es fühlte, aber das zu definieren, war sehr schwierig für sie. […] Emotionales Gedächtnis ist nicht etwas, dessen Existenz man diskutieren oder bezweifeln könnte, emotionales Gedächtnis ist etwas, das jeder kennt. Das emotionale Gedächtnis – das habe nicht ich formuliert, sondern das haben Psychologen formuliert – ist nichts anderes als die emotionale Reaktion auf ein Objekt. Das Objekt braucht gar nicht da zu sein, aber wenn wir uns daran erinnern, reagieren wir emotional. Wenn man zum Beispiel ein Verhältnis hatte mit irgend jemandem und dies Verhältnis wurde unterbrochen, egal aus was für Gründen, und Du triffst einen Freund auf der Straße, und er sagt: „Weißt Du, wen ich getroffen habe, vor ein paar Tagen? Soundso!“ Diese Person ist dann nicht direkt anwesend, aber trotzdem fängt Dein Herz an zu klopfen, das Blut fängt an zu rauschen, und Du sagst: „Ach ja!“ Das ist dann das, was wir als emotionales Gedächtnis bezeichnen. Wäre die Person anwesend, und Dein Blut würde rauschen und Dein Herz würde klopfen, dann wäre das gar nicht außergewöhnlich. Aber wenn nur ihr Name erwähnt wird und Du reagierst
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Quelle 10 143 dann so, dann ist das, weil Dein emotionales Gedächtnis, Erinnerungen an die Erfahrungen mit dieser Person aktiviert. Es ist mir unerklärlich, wie Leute die Existenz des emotionalen Gedächtnisses in Zweifel stellen können. Man kann darüber diskutieren, wie, wann, wo, unter welchen Umständen das emotionale Gedächtnis benutzt wird, aber zu behaupten, daß es so etwas nicht gäbe oder eine Erfindung des Actors Studios sei, ist absurd. Wenn ein Schauspieler in einem Stück auftritt, probt er vorher, dann spielt er es, am nächsten Tag spielt er es wieder usw. Der Schauspieler erinnert sich dann, was er sagen muß und was er tun muß und was er wie spielen soll. Sonst wäre die Vorstellung nicht vollständig. So spielen doch bei jeder Aufführung bewußt oder unbewußt alle drei Arten von Gedächtnis mit: das emotionale Gedächtnis, das intellektuelle Gedächtnis und das körperliche Gedächtnis. Und auch im Leben benutzen wir dauernd nicht nur das körperliche und geistige Gedächtnis ganz automatisch, sondern ebenso das emotionale Gedächtnis. […] Emotionales Gedächtnis bedeutet, daß man etwas emotional Erinnertes wiedererlebt. Stanislawski hat auf diesen Unterschied besonders hingewiesen und festgestellt, daß emotionales Erinnern allein für den Schauspieler nicht ausreichend ist, sondern daß er mit Hilfe seines emotionalen Gedächtnisses emotionale Realitäten wieder zum Leben erwecken müsse. Schauspieler sollen mit anderen Worten nicht nur Erfahrungen wieder denken, sondern wieder leben. In der Lage zu sein, eine Erfahrung absichtlich durch Benutzung des emotionalen Gedächtnisses wieder lebendig zu machen, ist eine Fähigkeit, die alle Menschen besitzen, die zu gebrauchen sie aber nicht in der Lage sind. Das ist vergleichbar mit der Fähigkeit, eine Melodie zu singen. Es ist keinem Menschen unmöglich, eine Melodie zu singen. Wenn jemand aber nicht singen kann, ist die natürliche Entwicklung dieser Fähigkeiten unterbrochen. Viele Leute sind der Meinung, sie könnten nicht singen. Aber wenn man sie bittet zu singen, können sie es durchaus. Das emotionale Gedächtnis ist für jeden Schauspieler Grundlage seines Berufes. Sonst wäre alles, was er tut, nur äußerlich oder gedanklich. Mit Hilfe des emotionalen Gedächtnisses wird sein Spiel Wirklichkeit. […] Es ist schwierig, sich des emotionalen Gedächtnisses zu bedienen. Alles, was der Schauspieler tut, gründet sich doch auf das Gedächtnis. Was tut der
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144 III. Stanislawski und die Folgen Schauspieler zuerst, wenn er an einer Rolle arbeitet? Er lernt den Text. Er hält den Text in seinem Gedächtnis fest. Der Text kann auch nicht in spontaner Inspiration erlernt werden, sondern er muß eine definitive Anstrengung machen, um den Text zu lernen. Nur hören hier leider schon die definitiven Anstrengungen auf. Als nächstes gibt dann der Regisseur Anweisungen, daß der Schauspieler dies und jenes machen soll und hier und da stehen soll. Auch diese Abläufe muß der Schauspieler im Gedächtnis behalten, um am nächsten Tag wieder weiter probieren zu können. Alles, was wir im Leben tun, gründet sich auf das Gedächtnis. Sonst müßten wir, wie gesagt, jeden Morgen neu lernen, uns die Schuhe zuzubinden. Die vielen subtilen Möglichkeiten, die das menschliche Gedächtnis besitzt, haben zur Entwicklung der Zivilisation geführt. Tiere haben kein so vielschichtiges und ausgeprägtes Gedächtnis wie wir. Ein Kind braucht fünf Jahre, bis es sprechen kann. Es entwickelt ein Vokabular einfach durch Zuhören und ist von da an in der Lage, ganz selbstverständlich und ohne weitere Schwierigkeiten über die Sprache zu verfügen. Die Gegenwart des intellektuellen und körperlichen Gedächtnisses wird niemand bezweifeln können, aber aus irgendeinem Grunde sind sich die Menschen nicht bewußt darüber, daß sie auch ein affektives und emotionales Gedächtnis besitzen, die beide außerordentliche Kräfte in sich bergen. Du küßt ein Mädchen, und Du sagst, „Oh, Du riechst heute anders!“ Woher weißt Du, daß sie anders riecht? Du siehst, daß sie bleich ist, Du spürst, daß ihre Stirne heiß ist. Warum? Nur weil Du durch eine sinnliche Erfahrung mit einer anderen vergleichen kannst: durch Zuhilfenahme des affektiven Gedächtnisses. Stanislawski hat entdeckt, daß, wenn der Schauspieler inspiriert ist, er sich dieses affektiven und emotionalen Gedächtnisses bedient. Wir haben gesehen, daß Entdecktes immer schon existiert hat; das gilt für alle Bereiche – auch für die Wissenschaften: das Atom hat schon lange vor seiner Entdeckung existiert. Entdeckung ist dann Voraussetzung für Entwicklung und Anwendbarkeit, und das gilt auch für unsere eigene Arbeit. Stanislawski entdeckte bestimmte Dinge, mit denen seine Nachfolger umzugehen lernten, mit Methoden, die bis heute noch immer weiter verfeinert werden. Ich bin wohlgemerkt der festen Überzeugung, daß Stanislawski nicht Theorien erstellt hat, sondern tatsächliche Entdeckungen
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Quelle 10 145 gemacht hat, die Möglichkeiten eröffnet haben, schauspielerische Prozesse in Kontrolle zu bekommen, die man in der Theatergeschichte bis dahin für nicht willentlich erzeugbar gehalten hatte. Das emotionale Gedächtnis ist ein Teil des affektiven Gedächtnisses. Im affektiven Gedächtnis vereinigen sich Emotion und sinnliche Wahrnehmung – Wahrnehmung durch die Sinne. Durch die Sinne empfinden wir. Damit eine Empfindung zur Emotion werden kann, muß sie eine gewisse Intensität erreichen. Quantität schlägt also in eine Veränderung der Qualität um. Vergleichbar mit Wasser, das man immer mehr, immer intensiver erhitzt und das dann zu Dampf wird. Darin liegt der Unterschied zwischen Empfindung und Emotion. Stanislawski war sich dieses Unterschiedes bewußt. Er versuchte den Grad an Intensität zu entwickeln, bei dem sich Empfindung in Emotion wandelt, und er versuchte Methoden zu entwickeln, mit denen dieses bewußt geschehen konnte und wiederholbar gemacht werden konnte. Schon vor Stanislawski machten Schauspieler Gebrauch vom emotionalen Gedächtnis. Aber sie wußten nicht, wie sie diesen Zustand absichtlich erreichen konnten und was die Ursachen waren, um solchen Zustand zu erzeugen. Es war klar, daß reine Erinnerung an intensive Gefühle nicht dazu in der Lage waren, diese Gefühle wieder zum Leben zu erwecken, und das ist das Grundproblem der Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Ohne Benutzung des emotionalen Gedächtnisses ist Spielen nur eine Imitation von Realität und nicht eine Erschaffung von Realität, und wenn uns das emotionale Gedächtnis dazu verhilft, Realität auf der Bühne zu schaffen, dann ist es leicht einzusehen, wie wichtig es ist, diese Fähigkeit zu trainieren. […] In allen Künsten wird Fertigkeit zunächst einmal durch Übung erworben. Im Schauspiel ist das nicht anders. Unsere Methoden unterscheiden sich nur darin von vielen Schauspielschulen, daß sie den Bereich des emotionalen Gedächtnisses und der Imagination mit in das Training einbezieht. Früher waren Gefühl und Imagination dem Zufall überlassen, und nur die technischen Mittel wie Stimme, Körper, Sprache, Gestik und Bewegung wurden entwickelt. Diese äußerlichen Fähigkeiten zu trainieren ist zwar sehr wichtig, treffen aber nicht das eigentliche Problem des Schauspielens. Deswegen nennen wir die äußerlichen Übungen „Fingerübungen“ des
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146 III. Stanislawski und die Folgen Schauspielers, und diese sogenannten Fingerübungen praktiziert der Schauspieler außerhalb der Arbeit an Szenen und außerhalb der Arbeit an der eigentlichen Entwicklung der schauspielerischen Fähigkeiten. Nur in unserer Branche meinen Leute, sie könnten das Handwerk erlernen, indem sie ein Stück einüben. Als wäre der ein Violinist, der eine Partitur spielen kann. Alle Ideen von Stanislawski bauen sich auf der Entdeckung des emotionalen oder affektiven Gedächtnisses auf. Und alle seine Ideen beschäftigen sich damit, wie das Unterbewußte bewußt eingesetzt werden kann. Darin besteht sein für die schauspielerische Kunst revolutionärer Beitrag, denn vor Stanislawski hatte man die Gesetzmäßigkeiten des Unterbewußten für unerklärbar gehalten und daher unverwertbar für die Schauspielkunst. Stanislawski hat eine Korrespondenz zu seiner Arbeit in der Arbeit des französischen Psychologen Theodule Ribot gesehen. Ribot war einer der ersten wissenschaftlichen Psychologen und damit ein Vorläufer unserer modernen Psychologie. Er schrieb mehrere Bücher und in einem seiner Bücher beschäftigt er sich mit dem emotionalen Gedächtnis. Er stellte fest, daß alle Leute es besitzen, daß nur wenige davon Gebrauch machen und noch weniger in der Lage seien, es einzusetzen. Diese menschliche Fähigkeit war der Aufmerksamkeit der Psychologen entgangen. Und auch nach ihrer Entdeckung maßen viele Psychologen ihr keine große Bedeutung bei, weil sie sich nie über die Möglichkeiten des emotionalen Gedächtnisses Gedanken machten.
Lee Strasberg: „Das emotionale Gedächtnis“, in: ders.: Schauspieler Seminar, 9. – 22. Januar 1978, hg. vom Schauspielhaus Bochum, Bochum 1979, S. 64 – 67 Lee Strasberg (1901 – 1982), Schauspieler, Schauspiellehrer und Regisseur. Intendant des Actors Studio (1948 – 1982). Gründungsmitglied des Group Theatre sowie des Lee Strasberg Theatre and Film Institute, an dem er die von ihm entwickelte Schauspieltechnik des „Method Acting“ vermittelte. Seine auf Stanislawskis Lehren beruhende Methode revolutionierte das amerikanische Theater- und Filmgeschehen durch seinen Ansatz, die Schauspielkunst mit Hilfe einer Kombination von Erinnerungen an eigene Erlebnisse sowie Entspannungstechniken zu erlernen.
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Quelle 11 147
Quelle 11 Sanford Meisner Über das Schauspielen Ein Fundament legen: Die Realität des Handelns Meisner: Was passiert als erstes, wenn das World Trade Center gebaut wird – ihr kennt doch das Gebäude? Student: Sie heben ein Loch aus. Meisner: Tja, natürlich heben sie ein Loch aus. Sie kleben es nicht auf den Fußweg! [Gelächter] Was hat man zuerst getan, als das Empire State Building gebaut wurde? Studentin: Zuerst mussten sie ein Fundament legen. Meisner: Sie mussten ein Fundament legen, auf dem … Studentin: … das Gebäude errichtet wurde. Meisner: … das Gebäude errichtet wurde. 29. September „Die Grundlage des Schauspielens ist die Realität des Handelns.“ Es ist der Beginn der ersten Unterrichtsstunde des Semesters und sofort benennt und wiederholt Sanford Meisner dieses scheinbar einfache Thema. „Wartet, lasst uns das noch einmal sagen. Das Fundament des Schauspielens ist die Realität des Handelns. Die Realität des Handelns. Gut, aber woher sollt ihr wissen, was das bedeutet? Ich werde es verdeutlichen.“ Nach einer kurzen Pause fragt er: „Hört ihr mir zu? Hört ihr mir wirklich zu?“ Im Chor antworten die Studenten: „Ja, ja.“ „Ihr tut nicht nur so, als ob ihr zuhört. Ihr hört zu. Ihr hört wirklich zu. Meint ihr das?“ „Ja, ja.“ „Das ist die Realität des Handelns. An dieser Aussage besteht wohl kein Zweifel. Wenn ihr etwas tut, dann tut ihr es wirklich! Seid ihr heute morgen die Treppe zu diesem Klassenzimmer hinaufgegangen? Ihr seid nicht hinauf gesprungen? Ihr seid nicht hinaufgehüpft, richtig? Ihr habt keine Pirouette gemacht? Ihr seid diese Treppe tatsächlich hinaufgegangen.“
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148 III. Stanislawski und die Folgen Er hält inne, um das kleine Mikrofon zu justieren, das am linken Bügel seiner Brille befestigt ist. „Wie viele von euch hören mir gerade zu?“ Gehorsam erheben sich sechzehn Hände. „Hört mir also kurz zu. Jeder für sich, horcht auf die Zahl der Autos, die ihr draußen hören könnt. Legt los.“ Die Studenten, acht Männer und acht Frauen zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig, beugen sich vor und lauschen angestrengt den Geräuschen des New Yorker Straßenverkehrs, der durch das Brummen der Klimaanlage dringt. Bald schließen einige ihre Augen. Eine Minute vergeht. „Okay“, sagt Meisner zu einem jungen Mann mit einem gepflegten braunen Bart, „wie viele Autos hast du gehört?“ „Keine“, antwortet der Student. „Ich habe ein Flugzeug gehört.“ „Ein Flugzeug ist kein Auto. Du hast also keins gehört. Erlaubst du mir folgende Frage: Hast du als Du selbst hingehört oder hast du eine Rolle gespielt?“ „Als ich selbst.“ „Was ist mit dir?“, fragt er ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen, das wie ein Model aussieht. „Zuerst habe ich als Studentin hingehört.“ „Das ist eine Rolle –“ „Und dann war ich verwirrt, weil ich kein Auto hören konnte und die Geräusche verwirrend waren. Dann hörte ich, was ich ziemlich sicher für ein Auto hielt, und dann wurde mir langweilig, und dann hörte ich ein weiteres Auto. Also habe ich zwei Autos gehört.“ „Die Langeweile werden wir hier nicht diskutieren.“ Die Klasse lacht. „Du behauptest also, du hast hingehört – wie heißt du?“ „Anna.“ „Hast du als Anna hingehört?“ „Zum Schluss.“ „Also hast du zu einem Teil wirklich gehandelt und zu zwei Drittel nur so getan.“ „Ja.“ „Wie viele Autos hast du gehört?“ Die Frage ist an eine Frau Ende zwanzig mit üppigem dunklem Haar gerichtet. „Ich war mir nicht sicher, welche Geräusche von Autos kamen.“
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Quelle 11 149 „Warst du wirklich verwirrt oder warst du in deiner Rolle verwirrt?“ „Ich weiß es nicht. Für mich war es so als hätte ich die ganze Zeit über nicht wirklich etwas getan. „Du warst also zur Hälfte Schauspielerin.“ Dann wendet er sich an einen jungen Mann mit kariertem Wollhemd und Jeans: „Wie viele Autos hast du gehört?“ „Keine.“ „Keine. Hörtest du als – „ „Ich habe als ich selbst gehört, nur als John.“ „Das ist es, was ich wissen möchte. Ist doch ein schönes Gefühl. Okay, jetzt sucht ihr euch eine Melodie aus, die ihr mögt, und singt sie euch selbst vor – nur für euch selbst, nicht laut. Klar? Fangt an.“ Wieder schließen manche Studenten ihre Augen und nach ein paar Sekunden der Konzentration fangen ihre Köpfe an, im Takt der verschiedenen Melodien zu wippen, die sie jeweils nur für sich hören. „Wie viele Leute haben das gemacht?“, fragt Meisner. „Für sich selber oder theatralisch? Wer kann das beantworten?“ „Bei mir war es halb und halb“, sagt die junge Frau namens Anna. „Du hast ein Problem. Was ist dein Problem?“ „Ich war mir sehr bewusst, dass ich mich in einem Raum voller Leute befinde, die bewusst unterschiedliche Melodien hören. Etwa nach der Hälfte der Zeit habe ich mich so über mich selbst aufgeregt, dass ich es endlich vergessen konnte.“ „Und singen?“ „Ja.“ „Dann wurdest du gut.“ „Dann hat es mir Spaß gemacht, ich weiß nicht, ob ich gut war.“ „Es macht immer Spaß, gut zu sein.“ Er wartet einen Moment und wirft seinen Blick auf einen untersetzten, blonden, knabenhaften Mann in der vordersten Reihe. „Was ist mit dir?“ „Ich habe mir selbst etwas vorgesungen.“ „Wie Hamlet?“ „Ich habe versucht, die Melodie zu genießen.“ „Hast du das? Für dich selbst, nicht als Hamlet?“
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150 III. Stanislawski und die Folgen „Für mich selbst.“ Als Nächstes bittet Meisner die Klasse darum, die Anzahl der Glühlampen im Raum zu bestimmen. Die Antworten bewegen sich zwischen zwölf und sechzehn, je nachdem, ob man die rote Lampe über dem Notausgangschild mitzählt oder die drei ausgeschalteten Flutlichtstrahler ausschließt, die von einem Balken in der Mitte der Decke herabhängen. Die Antworten sind unwichtig; was entscheidend ist, ist das Ausführen der Aufgabe, das Zählen der Glühlampen, und nicht die Ergebnisse. „Habt ihr in einer Rolle gezählt – also theatralisch“, fragt Meisner „oder habt ihr gezählt?“ „Neunhunderteinunddreißig mal achtzehn – versucht mal, das im Kopf zu rechnen“, setzt er fort. „Neuneinunddreißig mal achtzehn.“ Die richtige Antwort ist 16.758 und keiner bekommt es auch nur annähernd heraus. Aber darum geht es nicht. „Vielleicht habt ihr Recht, vielleicht liegt ihr falsch“, sagt Meisner. „Das ist wie im Leben. Menschen kommen zu verschiedenen Ergebnissen. Deshalb sind manche Demokraten und andere Republikaner. Aber wie viele haben es versucht? Wisst ihr, es ist in Ordnung, falsch zu liegen, aber es ist nicht Ordnung, es nicht zu versuchen.“ „Passt auf“, sagt Meisner, „schaut euch den Partner an, der neben euch sitzt. Und dann zählt ihr mir, wenn ich euch darum bitte, eine Liste mit allem auf, was ihr beobachtet habt.“ Sechzehn Köpfe drehen sich, um den Menschen zu mustern, der ihnen nun zum ersten Mal als „der Partner“ vorgestellt wird. Als sie gefragt wird, sagt das blonde Mädchen in der zweiten Reihe über den jungen Mann rechts von ihr: „Ich habe rotes Haar gesehen. Ich habe ein zartgrünes Hemd mit pinken, grauen und beigen Streifen gesehen, und es war mittelgroß. Mir ist ein Ausschlag an seinem Hals aufgefallen. Er hat blaue Augen und kurze, dünne, helle Wimpern. Kleine Hände. Ziemlich kräftig. Lehnt sich viel nach vorn. Untersetzt. Grüne Hose. Braune Schuhe – Leder, mit Gummisohlen, glaube ich. Saubere Ohren und saubere Fingernägel. Schmale Lippen, die er geschlossen hält und die meist nach unten zeigen –“ „Okay. Wurden diese Beobachtungen von dir gemacht oder von einer Figur aus einem Stück?“
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Quelle 11 151 „Ich weiß die Antwort nicht. Ehrlich, ich kann nicht ganz unterscheiden, wer wer ist.“ „Sprichst du jetzt mit mir oder spricht Lady Macbeth?“ „Ich rede mit dir.“ „Du bist es. Das bist du höchstpersönlich. Deine Beobachtung war unmittelbare, unverfälschte Beobachtung. Was du beobachtet hast, hast du beobachtet, nicht eine Figur in einem Theaterstück.“ Er fragt John, den jungen Mann im Karohemd: „Schaust du mich gerade an?“ „Ja.“ „Als Othello?“ „Nein.“ „Als wer?“ „Als ich selbst, nehme ich an.“ „Stimmt. Kannst du das auch weiterhin tun?“ „Ich möchte euch eine Frage stellen und ich will, dass ihr bitte, euch und mir zuliebe, die Wahrheit sagt. Wie viele Leute in dieser Klasse können sehr gut hören?“ Nach einem Moment der Verwirrung heben sich sechzehn Hände. „Dann hört zu, ich verlange etwas von euch. Jeder sagt, er oder sie kann hören. Ihr könnt hören? Ihr könnt mich hören?“ Sie antworten: „Ja.“ „Ich will euch eine weitere Frage stellen, eine etwas kompliziertere. Ihr sagt, ihr könnt hören. Das ist gut. Könnt ihr ganz exakt wiederholen, was ihr hört? Ich meine das ganz einfach. Ich spreche nicht von der Unabhängigkeitserklärung. Ich meine ‚Trinkst du Kaffee?’ Könnt ihr das wiederholen?“ „Trinkst du Kaffee?“, fragt eine Frau mit kurzen, braunen, gestuften Haaren. „Du hast es getan, also kannst du es. Aber weißt du, was du mir da sagst? Als erstes hast du gesagt, du kannst hören. Du hast auch gesagt, du kannst wiederholen, was du hörst. Du kannst das auch zurücknehmen, wenn du willst! In Ordnung, ich akzeptiere.“ „Wir können die Worte wiederholen“, sagt eine dunkle, breitschultrige, junge Frau. „Das ist alles, wonach ich frage – nicht nach dem Sinn, nur nach den Worten.“
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152 III. Stanislawski und die Folgen „Nein“, sagt die Frau. „Ich meinte, wir können nicht exakt wiederholen, was wir hören. Wir können unsere eigene Vorstellung der Worte wiederholen.“ „Du kannst ganz genau wiederholen, was du hörst. Soll ich es dir beweisen?“ „Ich glaube dir.“ „Wie heißt du? „Rose Marie.“ „Rose Marie, warum solltest du mir glauben? ‚Dein Haar ist lang.’ Wiederhole das.“ „Dein Haar ist lang.“ „Also kannst du es doch! Ich habe ja nicht den ersten Akt von Onkel Wanja rezitiert, den du vielleicht noch nie zuvor gehört hast. So, wer ist dein Partner?“ John, der junge Mann im Karohemd, hebt seine Hand. „Jetzt schaust du sie an. Was beobachtest du an ihr? Nicht ihre emotionale Verfassung, sondern etwas, was für dich irgendwie interessant ist.“ „Sie ist sehr … Ich wollte sagen, sie ist sehr wach und aufgeschlossen.“ „Das ist eine emotionale Beobachtung. Ich bin nicht ganz so schlau. Ich sehe nur, dass sie einen pinken Pullover trägt.“ „Okay.“ „Ich sag dir mal was. Du bist ein Denker.“ „Ich weiß“, sagt John, „deshalb bin ich ja hier.“ „Dann hör sofort damit auf!“ Die Klasse lacht. „Siehst du, dass sie einen pinken Pullover trägt? Siehst du, dass ihr Haar mal wieder gekämmt werden müsste? Siehst du die Farbe ihrer Hose?“ „Ja.“ „Okay, du hast mir gesagt, dass du hören kannst und außerdem hast du mir gesagt, dass du wiederholen kannst. Das bedeutet, dass du herausfinden können solltest, was dich an ihr interessiert, und du dich dazu äußern kannst. Anschließend, Rose Marie, wiederholst du genau das, was er sagt, und du, John, wiederholst genau das, was sie sagt. Tut das, bis ich euch stoppe.“ „Dein Haar glänzt“, sagt John. „Dein Haar glänzt“, wiederholt Rose Marie. „Dein Haar glänzt.“ „Dein Haar glänzt.“ „Dein Haar glänzt.“
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Quelle 11 153 „Dein Haar glänzt.“ „Dein Haar glänzt.“ „Nein“, sagt Meisner und stoppt sie, „ihr interpretiert die Worte, um Abwechslung zu schaffen. Lasst das. Macht es noch mal mit einer anderen Beobachtung.“ Nach einem Augenblick sagt John: „Dein Ohrring ist klein“, und Rose Marie sagt: „Dein Ohrring ist klein.“ Sie wiederholen den Satz fünf oder sechs Mal, bis Meisner sie stoppt. „Okay, jetzt glaube ich, dass ihr beide hören könnt, und ich glaube auch, dass ihr wiederholen könnt, was ihr hört. Das ist nicht alles, aber es ist ein Anfang. Du hast ihre Ohrringe beobachtet. Du hast sie kommentiert. Du hast wiederholt, was du gehört hast. Bis jetzt habt ihr einander zugehört und wiederholt, was ihr gehört habt. Eben darum hatte ich euch gebeten.“ Die Studenten finden sich zu Paaren zusammen und die Übung, die Meisner das Wortwiederholungsspiel nennt, wird wieder und wieder durchgeführt. Der knabenhafte, blonde, junge Mann mit dem Namen Philip wird zum Partner der Brünetten mit dem Stufenschnitt, die Sarah heißt. Sie wiederholen seine Äußerung „Deine Augen sind blau“ immer und immer wieder, bis Meisner sie stoppt. „Gut“, sagt er. „Das kommt euch sicher unglaublich albern vor, oder? Aber es ist ein Anfang. Hört ihr einander zu? Wiederholt ihr, was ihr hört? Das tut ihr.“ Nachdem ein anderes Paar den Satz „Du hast glänzende Ohrringe“ wiederholt hat, sagt er: „Es ist mechanisch, es ist unmenschlich, aber es ist die Grundlage. Es ist monoton, aber es ist die Grundlage.“ Nachdem Anna und ihr Partner ein Dutzend Mal oder öfter „Dein Hemd trägt einen leuchtend pinken Schriftzug“ wiederholt haben, sagt er: „Ja, so stimmt’s. Es ist leer, es ist unmenschlich, richtig? Aber es steckt etwas darin. Es hat eine Verbindung. Ihr hört einander doch zu? Das ist die Verbindung. Es ist eine Verbindung, die aus dem gegenseitigen Zuhören entsteht, aber sie hat keine menschliche Qualität – noch nicht. Wenn ihr euch Notizen machen wollt, schreibt ‚Dies ist ein Pingpong-Spiel.’ Es ist die Grundlage für das, woraus eventuell ein emotionaler Dialog werden wird.“ Meisner macht eine kurze Pause. „Jetzt werde ich euch zeigen, an welcher Stelle es problematisch wird.“ Er wendet sich einer jungen Frau zu,
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154 III. Stanislawski und die Folgen deren braunes Haar zu einem dicken Zopf geflochten ist. „Du hast eine bestickte Bluse. Stimmt das?“ „Nein.“ „Was ist dann die Antwort?“ „Nein, ich habe keine bestickte Bluse.“ „Das ist richtig!“, sagt er. „Das ist die Wiederholung aus deiner Perspektive. Sofort entsteht ein Kontakt zwischen zwei Menschen.“ Zu Sarah sagt er: „Du hältst einen Stift.“ „Ja, ich halte einen Stift.“ „Ja, das tust du.“ „Ja, das tue ich.“ „Stimmt! Schon ist menschliche Sprache entstanden, nicht wahr? Zuerst ist da die mechanische Wiederholung. Dann kommt die Wiederholung aus deiner Sicht.“ Er sieht die junge Frau mit dem üppigen dunklen Haar an. „Du machst dir Locken.“ „Ja, ich mache mir Locken.“ „Ja, tust du.“ „Ja, ich mache mir Locken.“ „Ich sagte ‚Ja, tust du.’ „ „Ja, tue ich.“ „Ja, ich kann sehen, dass du das tust.“ „Ja, du kannst sehen, dass ich das tue.“ „Belassen wir es dabei. Das ist das Wortwiederholungsspiel aus deiner Perspektive. Das ist doch schon menschliche Konversation, oder nicht?“ Dann sagt Meisner zu dem jungen Mann, auf dessen Hemd ein leuchtend pinker Schriftzug prangt: „Du starrst mich an.“ „Ich starre dich an.“ „Du starrst mich an.“ „Ich starre dich an.“ „Du gibst es zu?“ „Ich gebe es zu.“ „Du gibst es zu.“ „Ich gebe es zu.“ „Das gefällt mir nicht.“
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Quelle 11 155 „Das gefällt dir nicht.“ „Ist es dir egal?“ „Es ist mir egal.“ „Es ist dir egal?“ „Es ist mir egal! „ Meisner streckt dem jungen Mann die Zunge heraus und er und die Klasse lachen. „Das ist das Wortwiederholungsspiel. Es darf nicht zu weit gehen; das lasse ich nicht zu. Wenn ihr also zu Hause zusammen arbeitet, macht die Übung mechanisch, so wie ihr angefangen habt. Anschließend übt ihr, sie aus eurer Perspektive zu machen.“ „Ich habe diesen Unterricht mit der Feststellung begonnen, dass die Realität des Handelns die Grundlage des Schauspielens ist. Was sagt diese Definition, wenn wir an das denken, was wir bisher getan haben?“ John sagt: „Wenn wir einfach handeln, konzentrieren wir uns nicht auf uns selbst.“ „Ihr seid an etwas außerhalb von euch selbst gebunden“, ergänzt Meisner. „Was noch?“ „Wenn man wirklich handelt, dann hat man keine Zeit, sich beim Handeln selbst zu beobachten. Man hat nur die Zeit und die Energie, die Handlung auszuführen“, sagt Ray, der junge Mann mit dem adretten Bart. „Das ist sehr gut für euer Handeln. Noch etwas?“ Sarah sagt: „Alles scheinen sehr konkrete, machbare Dinge zu sein.“ „Alles, worum ich euch gebeten habe, war konkret und ‚machbar’? Was meinst du mit ‚konkret’?“ „Na ja, es ist erfahrbar. Man kann jemanden anschauen und tatsächlich seine Wimpern zählen oder man kann die Glühlampen zählen.“ „Etwas, das wirklich, wirklich selbst existiert“, sagt Meisner. „Also was bedeutet ‚Realität des Handelns’?“ Ein ernst aussehender junger Mann, der zuvor nichts gesagt hat, erklärt: „Wenn man etwas tut, tut man es wirklich, anstatt nur vorzutäuschen, es zu tun.“ „Und ihr tut es nicht in einer Rolle. Wenn ihr Klavier spielt, öffnet ihr zuerst den Deckel oder spielt ihr es einfach geschlossen?“, fragt Meisner.
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156 III. Stanislawski und die Folgen „Also auf die Musik bezogen ähnelt das Öffnen des Klaviers der Realität des Handelns. Gibt es dazu irgendwelche Fragen?“ „Du hast uns Dinge aufgegeben, die man wirklich machen kann, wie eine andere Person zu beobachten oder auf Autos zu hören“, sagt Ray. „Und wenn man wirklich darauf konzentriert ist, einfach nur Autos zu hören oder eine bestimmte Person anzusehen, muss man sich keine Sorgen machen, zu einer Figur zu werden. Du hast genau eine Sache zu tun und darauf konzentrierst du dich.“ „Das ist die Figur.“ „Das ist die Figur?“, fragt Ray. „Genau.“ „Also muss man nicht vorspielen, die Figur zu sein, sie liegt genau in dem, was du tust.“ „Genau. Verstehen ihr das? Jedes Stück, sei es von diesem Komödienschreiber – wie ist sein Name?“ „Neil Simon?“ „Ja. Jedes Stück basiert auf der Realität des Handelns. Sogar wenn Lear dem Himmel mit der Faust droht, dann beruht das auf dem Schauspieler, der gegen das Schicksal wettert. Könnt ihr das verstehen?“ Er hält inne. „Das wird in euch noch länger weiterarbeiten, als ihr es im Moment vermutet. Das ist in Ordnung. Es wird sich selbst offenbaren. Es wird nach und nach zum Vorschein kommen. Es ist die Grundlage, das Fundament des Schauspielens.“ „Ein neuer Anfang. Du dachtest, ich würde aufhören!“, sagt Meisner zu seinem Assistenten, Scott Roberts, als sie auf den Fahrstuhl warten, der sie zu Meisners getäfeltem Büro eine Etage unter dem Klassenzimmer bringen wird. „Jemand sollte mich erschießen, so wie sie es mit alten Pferden tun.“ Scott nickt und lächelt. „Aber, weißt du, diese Klasse ist eine reizende Gruppe, und vielversprechend. Die Frage ist nur, wie viele von ihnen das Schauspielen lernen werden?“ Scott nickt erneut und drückt den Knopf für den Fahrstuhl noch ein weiteres Mal.
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Quelle 11 157 Im Untergeschoss erdröhnt ein Elektromotor zu Leben. „Ich unterrichte seit über fünfzig Jahren und in dieser halben Ewigkeit habe ich versucht, wirklich tausenden jungen Leuten beizubringen, wie man spielt. Und ich war gar nicht so schlecht. Bei dir zum Beispiel habe ich das ganz gut hinbekommen.“ „Danke“, sagt Scott. „Aber wenn ich mich dazu durchringen könnte, mich näher mit meiner Gesamterfolgsrate zu befassen, würde ich wahrscheinlich kapitulieren, also tue ich es nicht.“ Der Fahrstuhl kommt an und sie steigen ein. „Schauspielen ist eine Kunst. Und Schauspiel zu unterrichten, ist auch eine Kunst, oder kann es wenigstens sein. Letztlich ist es eine Frage des Talents – wie sich ihres mit meinem verflicht. Wir werden sehen. Aber ich muss sagen, es ist schön, wieder anzufangen!“
Sanford Meisner and Dennis Longwell: On Acting, New York 1987, S. 16 – 25 (Übersetzung von Elisa Falk und Georg Feitscher) Sanford Meisner (1905 – 1997), US-amerikanischer Schauspieler, Schauspiellehrer und Gründungsmitglied des Group Theatre. Von 1935 bis 1990 unterrichtete er an der Neighborhood Playhouse School of Theatre in New York seine einflussreiche Schauspieltechnik, heute bekannt als Meisner Technique. Diese beruht auf Meisners Auseinandersetzung mit den Lehren Stanislawskis, Lee Strasbergs und Stella Adlers und fordert vom Schauspieler, eigene Handlungen und Gefühle als wahrhaftige Reaktionen auf das Handeln des Schauspielpartners zu begreifen.
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IV. BERTOLT BRECHT ODER DER MODERNE SCHAUSPIELER Leerzeile Der nur Nachahmende, der nichts zu sagen hat Zu dem, was er da nachahmt, gleicht Einem armen Schimpansen, der das Rauchen seines Bändigers nachahmt Und dabei nicht raucht. Niemals nämlich Wird die gedankenlose Nachahmung Eine wirkliche Nachahmung sein. Bertolt Brecht „Über die Nachahmung“1
Das epische Theater war die große Theatererneuerung der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Explosionen des Ersten Weltkriegs hatten in der Gesellschaft wie in den Seelen der Menschen große Verwüstungen angerichtet. Die Kämpfe der Ideologien um die Vorherrschaft, wie das soziale Zusammenleben organisiert werden muss, bestimmten die öffentlichen Ausdrucksformen. Revolutionen waren plötzlich Wirklichkeit; ihre blutigen Verläufe und unabsehbaren Folgen ebenso. Auf dem Theater bestimmte der expressionistische Ton die Spielweise. Das große Pathos der leidenden Kreatur, die herausgebrüllten Klagen und Anklagen, die verzweifelten und weltumschlingenden Gesten wurden zum Kennzeichen dieser neuen Ausdrucksform.2 Erwin Piscator, der andere große Erfinder des epischen Theaters, nutzte die technischen Erfindungen seiner Zeit, um die Bühne zum Spiegel der Wirklichkeit zu machen. Seine Inszenierungen benutzten die Dramaturgie der Collage, um wie auf einer Zeitungsseite die zersplitterte Wirklichkeit als Mosaik darzustellen. Die Schauspieler agierten in Simultanbühnen, auf Drehscheiben, vor Filmprojektionen und auf Laufbändern in steter Bewegung. Ihr Dasein auf der Bühne war ein Kampf um eine Stel1 2
Bertolt Brecht: „Gedichte aus dem Messingkauf“, in: ders.: Schriften zum Theater, Bd. V, Frankfurt am Main 1963, S. 250. Günther Rühle: Theater in Deutschland 1887 – 1945, Frankfurt am Main 2007.
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159 lung in der Welt. Alles geriet in einen Strudel, in dem jeder sich zu retten versuchte. Jede Meinung musste herausgeschrien werden gegen den Moloch der Großstadt, die Taubheit der Welt und die feindliche Ideologie des Mitmenschen. Die ersten Theatererkundungen Bertolt Brechts fanden in diesem Umfeld statt. Er experimentierte mit den Mitteln der Verfremdung, die jedes Dasein und Spielen auf der Bühne zuerst einmal zu einem unwahrscheinlichen machen. Die Sehnsucht des Naturalismus und Realismus, das Theater als Ereignis und Medium selbst unsichtbar zu machen und allein die sekundäre Realität der gespielten Handlung als überzeugende, berührende und unterhaltende Wirklichkeit erscheinen zu lassen, diese Sehnsucht galt es überwinden. Jedes Mittel, das die Einfühlung des Zuschauers in die Geschichte, sein Hineinsinken in den Theatersessel und die Identifikation mit den Figuren störte, war willkommen. Die Welt war rau geworden, die Menschen verletzt und die Seelen geschunden. Ein Theater, das von dieser Wirklichkeit ablenkt, indem es unterhält, galt als Lüge und Teil der rasant wachsenden Kulturindustrie, in der der Film begonnen hatte, eine dominierende Rolle zu spielen. Das Theater, das sich mehr denn je der Aufgabe verschrieben hatte, die Welt darzustellen und „Spiegel seiner Zeit“ zu sein, musste neue Ausdrucksformen entdecken. Gegen große Widerstände begann diese Arbeit an der Revolutionierung des Theaters auf allen Ebenen zugleich. Es wurden neue Stücke geschrieben, die den neuen Menschen in einer expressionistischen Sprache beschreiben. Und zugleich begann Brecht mit der Entwicklung seiner epischen Dramaturgie. Die Kunst des Bühnenbildes fand Inspirationen in der bildenden Kunst ihrer Zeit. Und das Bild vom Schauspieler erfuhr eine tiefgreifende Veränderung. Ebenso wie die ästhetischen Kategorien und Stile in dieser Epoche sich vervielfachten, standen sich in den „goldenen zwanziger Jahren“ eine fast unüberschaubare Menge an sich widersprechenden Ausdrucksformen im Theater gegenüber. Durch die Anforderungen des Films und den Zwang, einzelne Episoden wiederholbar und ohne Zusammenhang spielen zu müssen, entstand eine Spielweise, die für die Kamera geeignet erschien. (Siehe Kapitel 3) Für die Entwicklung der „epischen“ Spielweise ist das Theater Bertolt Brechts maßgeblich. Eine Forderung steht am Anfang seiner ästhetischen
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160 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler Überlegungen: Da die Welt verändert werden muss, muss sie als veränderbar gezeigt werden. Wurde durch das Schauspiel des Realismus eine Identifikation mit der Figur aufgrund der Nachvollziehbarkeit ihrer inneren Bewegungen ermöglicht, wird nun gerade diese Verbindung zwischen Schauspiel und Zuschauer gestört. Durch das glaubwürdige und darum nachvollziehbare Spielen einer Figur erscheint sie in ihrer Stellung in der Welt und ihrem Verhalten als zwangsläufig und notwendig. Diese Unabänderlichkeit ist das Resultat einer Darstellung, die eine gespannte Anteilnahme beim Zuschauer erzeugen möchte. In einer modernen Welterklärung wird gerade der Anschein der Zwangsläufigkeit menschlichen Verhaltens als ideologische Verblendung analysiert. Der Mensch ist immer Produkt seiner Umstände und Produzent seiner eigenen Rolle zugleich. Er ist nicht nur das, wozu ihn die Umstände gemacht haben, sondern er hat eine Verantwortung, diese Umstände zu verändern, wenn sie schädlich und menschenunwürdig sind. Jede Darstellung der Welt als „gottgegeben“, als „unabänderliches Verhängnis“ oder „Schicksal“ leistet nur einer Ordnung Vorschub, die sich selbst nicht infrage stellen lassen möchte, da bestimmte Gruppen von Menschen hieraus Vorteile für sich ziehen. Die Analyseinstrumentarien der Soziologie, Politik und Kunst des 20. Jahrhunderts nehmen sich genau dieser „ideologischen Verblendungszusammenhänge“ an, um sie öffentlich zu enttarnen und die Nutznießer bloßzustellen. Eine grundsätzliche Erkenntnis aus dieser neuen Weltsicht ist, dass die Verhältnisse von Menschen gemacht sind, Menschen von ihnen profitieren und unter ihnen leiden, und dass die Verhältnisse so umgestaltet werden müssen, dass ein gerechteres Verhältnis zwischen Nutzen und Nachteilen für alle entsteht. Das Brechtsche Theater versteht sich als künstlerische Mitarbeit an diesem großen Werk, die Welt in ihren Widersprüchen zu erkennen und erkennbar zu machen. Denn nur wenn die Widersprüche in ihrer strukturellen Gesetzmäßigkeit erkannt sind, können politische Entscheidungen getroffen werden, um diese Widersprüche aufzuheben. Das Theater hat hier eine zentrale Aufgabe, indem es das menschliche Verhalten so darstellt, dass der Zuschauer über die Widersprüchlichkeit des Handelns in konkreten sozialen Situationen analytisch aufgeklärt wird. Hierfür bedarf es einer besonderen Form des epischen Theaters, an deren Entwicklung Brecht sein ganzes Leben ge-
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IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler 161 arbeitet hat.3 Das Ziel ist ein neuer Realismus, der nicht das Abbild einer Wirklichkeit liefert, die unterhaltend konsumiert werden kann, sondern die Analyse der verborgenen Widersprüche in der Darstellung der Wirklichkeit erzeugt: „Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute.“4 Das bloße Abbild erzählt nichts über die Gegensätze der Interessen. Nur die Darstellung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Gegensätze kann ein realistisches Bild der Welt ergeben. Für den Schauspieler erwachsen aus dieser künstlerischen Absicht, an der Erklärbarkeit und Veränderbarkeit von Welt mitzuwirken, viele neue Fragen an sein Spiel und große Herausforderungen an seine künstlerische Persönlichkeit. Die Menschen, die nun auf der Bühne gespielt werden, sind nicht mehr durch ihre individuelle Psychologie gekennzeichnet, sondern durch ihre Stellung in der Gesellschaft, die sie in einer spezifischen, widersprüchlichen Art und Weise einnehmen. Der Mensch ist nicht Opfer seiner Umstände oder seines Charakters, sondern er ist immer in einer konkreten sozialen Situation, die er seinem Charakter und seinem gesellschaftlichen Bewusstsein gemäß in einer konkreten Handlung zu bewältigen versucht. Ein solches Agieren auf der Bühne setzt einen Schauspieler voraus, der sich als politisch wacher Zeitgenosse begreift, der „sich freies Urteil, Widerspruchsgeist und soziale Phantasie erhalten“5 hat. Die zentrale Forderung an das Spielen auf der Bühne besteht nun darin, als Schauspieler nicht hinter der Figur zu verschwinden, so wie es der psychologische Realismus Stanislawskis gefordert hat, sondern ganz im Gegenteil selbst in Erscheinung zu treten. Der Schauspieler soll als Zeitgenosse auf der Bühne anwesend sein, und dem Publikum die Verhaltensweisen, Handlungen und Erlebnisse seiner Figur zur Diskussion stellen. Diese doppelte Präsenz von Schauspieler und der von ihm vorgestellten Figur eröffnet für das Theater zahlreiche neue Möglichkeiten. In der „Straßenszene“ hat Brecht die wesentlichen Neuerungen und ihre Wirkungen exemplarisch zusammengefasst: Ein Unfall ist passiert. Ein Zeuge versucht nun, den umstehenden Passanten, die den Hergang nicht direkt verfolgt haben, den Verlauf des Unfalls möglichst plastisch zu de3 4 5
Hierzu Lektionen 1 Dramaturgie, Kapitel VIII und IX. Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß (1931), in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt am Main 1967, Bd. 18, S. 161. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater, Bd. V, Frankfurt am Main 1963, S. 152.
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162 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler monstrieren. Hierzu bedient er sich seiner schauspielerischen Mittel, insoweit sie dem Verstehen des Vorgefallenen entsprechend notwendig sind. „Eine Meinungsverschiedenheit unter den Augenzeugen darüber, ob ein Ausruf, den man hörte (‚Obacht’), vom Verunglückten oder von einem andern Passanten herrührte, kann unsern Demonstranten dazu veranlassen, die Stimme zu imitieren.“6 Jeder der Zuhörenden hat ein bestimmtes Interesse an der Schilderung des Unfalls. Ebenso bekommt die Darstellung des Geschehenen durch die Art und Weise, wie der Demonstrant dieses zeigt, eine interpretatorische Richtung. Die schauspielerischen Fähigkeiten sind hierbei nebensächlich, da der Demonstrant die Grenzen seiner eigenen Darstellungsmöglichkeiten kommentieren kann. „Er soll niemanden ‚in seinen Bann ziehen’. Er soll niemanden aus dem Alltag in eine höhere ‚Sphäre’ locken. Er braucht nicht über besondere suggestive Fähigkeiten zu verfügen.“7 Die Vorführung des spielenden Zeugen hat den Charakter einer Wiederholung. Jemand hat etwas erlebt und will nun die anderen daran teilhaben lassen. Die Mittel, die er dazu wählt, sind von seinen eigenen schauspielerischen Fähigkeiten und der Absicht, die er mit seiner Schilderung verfolgt, abhängig. Sie hat dadurch „gesellschaftlich praktische Bedeutung“ und wird durch Fragen nach den Ursachen und Konsequenzen des Unfalls bestimmt. „Der Chauffeur hat seine Entlassung, den Entzug des Führerscheins, Gefängnis zu befürchten, der Überfahrene hohe Klinikkosten, Verlust seiner Stelle, dauernde Verunstaltung, womöglich Arbeitsuntauglichkeit. Das ist das Feld, auf dem der Demonstrant seine Charaktere aufbaut.“8 Die Straßenszene ist das Modell des epischen Theaters und der dafür notwendigen schauspielerischen Methode. Das wesentlichste Element besteht dabei „in der natürlichen Haltung, die der Straßendemonstrant in doppelter Hinsicht einnimmt; er trägt ständig zwei Situationen Rechnung. Er benimmt sich natürlich als Demonstrant und er läßt den Demonstrierten sich natürlich benehmen. Er vergißt nie und gestattet nie, zu vergessen, daß er nicht der Demonstrierte, sondern der Demonstrant ist. Das heißt: was das Publikum sieht, ist nicht eine Fusion zwischen Demonstrant und De6 7 8
Ebd., S. 74. Ebd., S. 74. Ebd., S. 75.
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IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler 163 monstriertem, nicht ein selbständiges, widerspruchsloses Drittes mit aufgelösten Konturen von 1 (Demonstrant) und 2 (Demonstriertem), wie das uns gewohnte Theater es uns in seinen Produktionen anbietet. Die Meinungen und Gefühle von Demonstrant und Demonstriertem sind nicht gleichgeschaltet.“9 Das alltägliche Zeigen bildet das schauspielerische Fundament für die epische Spielweise. So wie im Alltag ein schwierig zu erklärender Sachverhalt nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gesten, Mimik und körperlichen Mitteln gezeigt wird, soll der Schauspieler seine darstellerischen Mittel zum Zwecke des Zeigens und nicht für die Verwandlung in eine Figur verwenden. Wie erklärt man einem Kind eine Wendeltreppe? Wie beschreibe ich meinem Kollegen das auffällige Verhalten eines Kellners aus der Mittagspause? Die darstellerischen Fähigkeiten dienen der Wiederholung eines Geschehens. Darüber hinaus soll diese Wiederholung aber auch einer Verstehbarkeit des Geschehens dienen. „Wenn du fertig bist, [rät Brecht dem Schauspieler] soll dein Zuschauer mehr gesehen haben als selbst ein Augenzeuge des ursprünglichen Vorgangs.“10 Voraussetzung für dieses zeigende Schauspiel ist die Beziehung zwischen Schauspieler und Zuschauer, in der beide in derselben Realität agieren. Sie stehen sich quasi Auge in Auge gegenüber. Der eine handelt vor den Augen des anderen, im vollen Bewusstsein, dass seine zur Schau gestellten Handlungen betrachtet werden, und in der bewussten Absicht, dass diese vorgeführten Handlungen angeschaut werden sollen. Dadurch wird das spielerische Zeigen zum Zwecke des Angeschautwerdens, das ein Verstehen der gezeigten Handlungen ermöglicht, zum Grundgestus des Schauspielers. Durch dieses schauspielerische Handeln entsteht eine doppelte Beziehung. Zum einen zeigt der Schauspieler mit den ihm zur Verfügung stehenden darstellerischen Mitteln eine Figur und ihre Verhaltensweisen. Zum anderen zeigt er den Zuschauern mithilfe dieser Figur seine Perspektive auf das Handeln und die Eigenarten dieser Figur. Der Gestus des zeigenden Spielens hat dadurch zwei Richtungen. Zum eine erzählt der Schauspieler durch seine Figur eine Geschichte und zum anderen kommentiert er diese Geschichte als Spieler, indem er seine Distanz zur Figur zeigt. Er entwickelt eine Verbindung zwi9 10
Ebd., S. 79. Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, Köln 1986, S. 98.
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164 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler schen sich und den Zuschauern, innerhalb derer er seine Haltung zur Figur und ihre Geschichte und die Figur und ihre Geschichte zugleich darstellt. Dieser fortlaufende Widerspruch, dass er eine Figur zeigt und über diese Figur etwas erzählt, ist die von Brecht gewünschte schauspielerische Verfremdung. Der Schauspieler wird in keinem Moment „eins“ mit seiner Figur. Die Differenz zwischen ihm und der vorgeführten Figur wird durch die gewählten Mittel der Darstellung zum interpretatorischen Ereignis. Und diese Spielweise ist der schauspielerische Vorgang, der Auskunft darüber gibt, „warum dieser Text, von diesem Menschen, in dieser Situation und in dieser Weise geäußert wird. Dadurch wird der Text zu einem Vorgang. Oder genauer: Er bleibt Text und erfährt durch den Gestus eine Verdopplung. Und aus dem Widerspruch zwischen Text und Gestus entsteht eine dialektische Bewegung, die man Vorgang nennt.“11 Der schauspielerische Vorgang, den Wekwerth anschaulich aus dem „Vorgehen“ des Spielers vor sein Publikum ableitet, ist die Quelle des Theaters. Das Publikum weiß, dass nun Theater gespielt wird, der Schauspieler weiß, dass er nun für ein Publikum Theater spielen wird. Dieses gemeinsame Wissen wird zu keiner Zeit vergessen, sondern es dient als Podium, um allem, was hierauf geschieht, zur Besonderheit und gesellschaftlichen Bedeutung zu verhelfen. Um den Vorgang theatralisch sinnfällig und spielerisch sinnlich zu gestalten, gilt es hierfür gestische Mittel zu finden. Der Einsatz von Masken ist ebenso möglich wie die gegengeschlechtliche Besetzung von Rollen oder die Verschiebung der sozialen Zugehörigkeit. Der Verfremdungseffekt ist Resultat der Arbeit des Gestischen, die der Schauspieler bei der Vorführung seiner Figur zu leisten hat. Die Verfremdung dient wie im Alltag dem Auffälligmachen und der Markierung von einzelnen Elementen. So wie in einem Text einige Worte kursiv gedruckt sein können oder beim Sprechen einzelne Worte besonders betont werden, macht das gestische Spiel auf bestimmte Verhaltensweisen der Figur oder Ereignisse der Handlung aufmerksam. Der Begriff des „Gestus“ (Quelle 13 und 14) ist einer der komplexesten in der Theorie des epischen Theaters, da mit ihm auf den unterschiedlichen 11
Manfred Wekwerth: Theater und Wissenschaft, München 1974, S. 112.
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IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler 165 Ebenen des Schauspiels und des epischen Theaters verschiedene Facetten des „Vorgangs“ beschrieben werden. Grundsätzlich hat der epische Schauspieler den Gestus des Zeigenden. Er zeigt dem Zuschauer eine bestimmte Figur, die wiederum über einen sie charakterisierenden Gestus verfügt. Dieser Gestus erzählt etwas über die Figur, ihren Charakter und ihre soziale Zugehörigkeit. Dieser Gestus wird vom epischen Schauspieler vorgeführt, damit der Zuschauer etwas über die Spezifik dieses Menschen erfährt. Dabei ist nicht die Einzigartigkeit des Individuums, sondern das Typische des menschlichen Verhaltens in der besonderen Situation mit der besonderen Eigenart der Figur wesentlich. Um den Gestus der Figur zu finden, „sieht der Schauspieler auf die Leute, als machten sie ihm vor, was sie machen, kurz, als empfählen sie ihm, was sie machen, zu bedenken.“12 Auch diese Verhaltensweise findet Brecht zuerst im Alltagstheater, in dem Menschen andere nachmachen, indem sie die charakterisierenden Eigenarten erkennen und diese dann nutzen, um etwas über den nachzuahmenden Menschen und seine Handlungen zu erzählen. In dem individuellen Gestus dann den gesellschaftlichen Anteil erkennbar zu machen, ist die höhere Kunst des Schauspielers berufen, um von der Parodie zu einer unterhaltsamen Analyse zu gelangen. Schließlich hat die Szene selbst, in der sich die Figur verhalten muss, einen Gestus. Sie will uns etwas Bestimmtes zeigen, wie etwa: dass Menschen, die zur Sentimentalität neigen, unter Anspannung häufig die falschen Entscheidungen treffen. Und das Theater selbst als öffentliche Äußerung hat einen bestimmten Gestus. Dieser ist im epischen Theater der des „Aushändigens“13: Das Theater macht sich als Theater kenntlich, der Schauspieler tritt auf als Schauspieler und die dargestellten Figuren und Handlungen werden gestisch so vorgeführt, dass den Zuschauern einzelne Ereignisse und Entscheidungen gezeigt werden. Der Handlungs- und Spielfluss wird unterbrochen, die ästhetischen Ebenen und Mittel der Darstellung wechseln sich ab, die Figur wird gebrochen durch Kommentare des Spielers. Das Sich-selber-Zusehen des Artisten wird zum grundlegenden 12 13
Bertolt Brecht op. cit. nach Gerhard Ebert: Improvisation und Schauspielkunst, 4. Aufl. Berlin 1999, S. 94. Ritter: Das gestische Prinzip, a.a.O., S. 105.
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166 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler Gestus des Schauspielers. Es gibt keine Verwandlung mehr, die unsichtbar bleiben muss. Stattdessen wird jede schauspielerische Handlung auf der Bühne zur Vorführung eines konkreten, auffälligen Ereignisses. Das „Nicht– Sondern“ ist hierbei eine zentrale Übung, die Brecht empfiehlt: „Der Schauspieler soll bei allen wesentlichen Punkten zu dem, was er macht, noch etwas ausfindig, namhaft und ahnbar machen, was er nicht macht. Er sagt zum Beispiel nicht: ‚Ich verzeihe dir‘, sondern: ‚Das wirst du mir bezahlen.‘ Er fällt nicht in Ohnmacht, sondern er wird lebendig. […] Gemeint ist: Der Schauspieler spielt, was hinter dem Sondern steht; er soll es so spielen, daß man auch, was hinter dem Nicht steht, aufnimmt.“14 Die Vorgänge hinter den Vorgängen sollen erkennbar gemacht werden. Wie die Soziologie die hinter dem gesellschaftlichen Schein verborgenen Gesetzmäßigkeiten und Motive analysiert, soll das Spiel des epischen Schauspielers Aufklärung über das menschliche Verhalten in konkreten gesellschaftlichen Situationen erzeugen. Alles, was die Dinge fragwürdig, unbekannt, erklärenswert erscheinen lässt, ist als schauspielerisches Mittel willkommen. Einen besonderen Eindruck hat das Gastspiel des berühmten Schauspielers Mei Lanfang auf Brecht gemacht. Durch diesen Darsteller, der ausschließlich Frauenfiguren in der Pekingoper spielte, wurde die schon fast vergessene Kunstform international berühmt. Er vermochte es, selbst im Smoking während einer Abendgesellschaft durch die Vorführung „weiblicher“ Gesten und Bewegungen eine Frau erscheinen zu lassen und doch während der Darstellung selbst vollständig präsent zu bleiben. Diese artistische Kunst des „doppelten Zeigens“ war für Brecht die höchste Schauspielkunst und die künstlerischste Arbeit zugleich. Der Schauspieler stellt eine Figur her und zeigt zugleich, dass und wie er diese Figur herstellt. Wir sehen dem Schauspieler bei dieser Arbeit zu, und der künstlerische Vorgang des Schauspielens wird zu einer gesellschaftlich relevanten Arbeit, sich über das soziale Leben der Menschen und ihre Eigenarten öffentlich zu verständigen. Im gegenwärtigen Theater ist die Trennung von Akteuren und gespieltem Vorgang, gespielter Figur oder performativem Dasein auf der Bühne so selbstverständlich (siehe hierzu Kapitel 5), wie die Sichtbarkeit von 14
Bertolt Brecht: „Anweisungen an die Schauspieler“, in: ders.: Schriften zum Theater, Bd. IV, a.a.O., S. 32.
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IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler 167 Scheinwerfern und Bühnentechnik. Die Illusion einer Vierten Wand und das Vergessenmachen des Theaters ist keine ästhetische Kategorie mehr und wäre wohl auch mit der aufgeklärten Zuschauerhaltung unvereinbar. Einen großen Unterschied gibt es jedoch zur Brechtschen Erfindung dieser doppelten Präsenz auf der Bühne. Die Haltung des Schauspielers zu seiner Darstellung ist nicht mehr selbst Thema. In der Formulierung des Marxismus würde man heute von einem „mangelnden Klassenstandpunkt“ sprechen. Der Schauspieler agiert nicht als Vertreter einer Klasse, die aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit über eine Weltsicht verfügt, die die alltäglichen Phänomene als Teile eines größeren Zusammenhangs beschreibbar macht. Aus der Perspektive der proletarischen Klasse, die sich über ihre gesellschaftliche Stellung selbst aufgeklärt hat, lassen sich die Verhaltensweisen des Chefs gestisch klar erkennen und pointiert darstellen. Ohne diesen Überbau einer Weltsicht zerfällt in der Beobachtung die Wirklichkeit in Einzelereignisse, deren Darstellung nur durch individuelle Lösungen erfolgen kann. Die Analyse des epischen Theaters benötigt die beschriebene Trennung der Elemente auf der Ebene der Schauspieler und der Fabel, um die Vorgänge hinter den Vorgängen darzustellen. Die Beobachtungsfähigkeit wird durch das epische Theater geschult, um die verborgenen Mechanismen der Macht und der Abhängigkeit in den Gesten und Handlungen der Menschen zu erkennen. Dieses Training in der Wahrnehmung von Latenzen hat seine Voraussetzung darin, dass die Schauspieler ihre Figur unter der Perspektive ihrer Zugehörigkeit zu einer konkreten gesellschaftlichen Klasse zeigen. Wenn das epische Spiel dieses Fundament nicht mehr hat, bleibt nur die schauspielerische Technik übrig, ohne Einfühlung und ohne glaubwürdiges Erleben und Handeln auf der Bühne dennoch schauspielerische Behauptungen machen zu können. Die epische Spielweise wird zu einer Technik der Distanzierung, in der der Schauspieler schnell und meistens unterhaltsam Figuren und ihr Verhalten darstellen kann, ohne den langen Weg der Erarbeitung einer glaubwürdigen Verkörperung zu gehen. Die simpelste Form dieser epischen Spielweise ist heute in der Comedy zu sehen. Hier werden skizzenhaft typische Charaktere in alltäglichen Situationen vorgestellt, denen Überraschendes passiert, auf das sie dann in den engen Grenzen ihrer Typologie reagieren. Die Verwandlungsfähigkei-
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168 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler ten können hier virtuos sein und doch bleibt es eine reduzierte Form des Schauspiels. Die Distanz, die in der Brechtschen Variante des epischen Spiels aufgemacht wurde, sollte ursprünglich mit einer doppelten Arbeit gefüllt werden. Zum einen diente sie dazu, dass der Schauspieler seine Vorstellung des Gezeigten zur Grundlage des Spiels machen konnte. Zum anderen wurde der Zuschauer hierdurch in die Lage versetzt, mit seinem Urteil zwischen die Vorgänge der Darstellung zu kommen. In der Comedy-Spielweise bietet die Distanz eine einfache Möglichkeit des schnellen Wechsels zwischen den verschiedenen Figuren und erzeugt Darstellungen, die als Klischee ein einfaches Wiedererkennen ermöglichen. Sie dient also der Unterhaltung, nicht der Mitarbeit des Zuschauers. Die Varianten des epischen Spiels zwischen diesen beiden extremen Polen sind vielfältig. Die Art und Weise, wie die doppelte Präsenz des Schauspielers genutzt wird, entscheidet darüber, ob diese Spielweise einen eigenen Wert erhält oder ob sie als Mittel der Unterhaltung dient. Wird der schauspielerische Vorgang zu einer Arbeit, die als Spiel in der Gesellschaft ein ungewöhnliches Angebot an die Gesellschaft macht, oder bleibt das Spiel eine Form der Belustigung, die der abendlichen Ablenkung dient? Dass Brecht selbst seiner eigenen Theorie und ihrem Bemühen, mit Hilfe von Texten einen neuen gesellschaftlichen Schauspielstil zu entwickeln, humorvoll begegnen konnte, zeigt eine von Giorgio Strehler aufgeschriebene Begegnung von Brecht mit jungen Intellektuellen in Mailand: „Junger Linksintellektueller: „Maestro …“ Brecht (zum Dolmetscher): „Sagen Sie ihm, ich bin kein Maestro.“ Linksintellektueller: „Hier, im Neuen Organon, sagen Sie, daß das epische Theater …“ Brecht: „Das, was ich im Neuen Organon sagte, ist bis zu einem gewissen Grad richtig, es sind Hinweise für die anderen. Verlaßt euch nicht zu sehr darauf. Theater wird auf der Bühne gemacht. Und außerdem ist alles noch zu klären. Die Erfahrung zählt, das Experiment, die Realität muß begriffen werden … […] Spielt Theater, lebt die Politik, dann könnt ihr auch weniger lesen.“15 15
Giorgio Strehler: Für ein menschlicheres Theater, Frankfurt am Main 1977, S. 87.
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Quelle 12 169
Quelle 12 Bertolt Brecht Aus einem Brief an einen Schauspieler Viele meiner Äußerungen über das Theater werden, wie ich sehen muß, mißverstanden. Besonders aus zustimmenden Briefen oder Artikeln sehe ich das. Es ist mir dann zumute, wie es einem Mathematiker zumute wäre, wenn er läse: Ich bin mit Ihnen ganz einverstanden, daß zwei mal zwei fünf ist. Ich glaube, gewisse Äußerungen werden mißverstanden, weil ich Wichtiges vorausgesetzt habe, statt es zu formulieren. Die meisten dieser Äußerungen, wenn nicht alle, sind als Bemerkungen zu meinen Stücken geschrieben, damit die Stücke richtig aufgeführt würden. Das gibt ihnen einen etwas trockenen, handwerklichen Ton, als schreibe ein Bildhauer, wie man seine Plastik aufstellen solle, auf was für einem Platz, auf was für einem Sockel – eine kühle Anweisung. Die Adressaten erwarteten vielleicht etwas über den Geist, in dem die Plastik gebildet wurde: aus der Anweisung müssen sie mühsam darauf schließen. Da ist zum Beispiel die Beschreibung des Artistischen. Natürlich kommt die Kunst ohne das Künstlerische nicht aus, und es ist wichtig zu beschreiben, „wie es gemacht wird“. Besonders wenn die Künste durch anderthalb Jahrzehnte der Barbarei gegangen sind, wie bei uns. Aber man darf keinesfalls glauben, daß es etwa „kalt“ zu erlernen oder auszuüben wäre. Nicht einmal das Sprechenlernen, das für die meisten unserer Schauspieler sehr nötig ist, kann ganz kalt, als etwas Mechanisches vor sich gehen. Der Schauspieler muß zum Beispiel deutlich sprechen können, aber das ist nicht nur eine Sache der Konsonanten und Vokale, sondern auch, und hauptsächlich, eine Sache des Sinns. Lernt er nicht (gleichzeitig), den Sinn aus seinen Repliken herauszuholen, wird er nur mechanisch artikulieren und durch sein „schönes Sprechen“ den Sinn zerstören. Und im Deutlichen gibt es Unterschiede und Abstufungen mannigfacher Art. Die verschiedenen Klassen der Gesellschaft haben eine verschiedene Art der Deutlichkeit: ein Bauer mag deutlich sprechen im Gegensatz zu einem andern Bauern, aber er wird anders deutlich sein als ein Ingenieur. Also muß der Schauspieler, der sprechen lernt, dabei immer auch darauf achten, dass er seine
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170 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler Sprache flexibel, schmiegsam hält. Er darf nicht aufhören, an wirkliche Menschensprache zu denken. Ferner gibt es die Frage des Dialekts. Auch da muß das Technische mit Allgemeinem verbunden werden. Unsere Bühnensprache folgt dem Hochdeutschen, aber sie ist im Laufe der Zeit sehr manieriert und starr geworden, ist eine ganz besondere Art des Hochdeutschen geworden, das nicht mehr so flexibel ist wie die hochdeutsche Alltagssprache. Nichts spricht dagegen, daß auf der Bühne „gehoben“ gesprochen wird, das heißt, daß sie ihre eigene, eben die Bühnensprache entwickelt. Nur muß sie entwicklungsfähig, vielfältig, lebendig bleiben. Das Volk spricht im Dialekt. In seinem Dialekt formt es seinen innersten Ausdruck. Wie sollen unsere Schauspieler das Volk abbilden und zum Volk sprechen, wenn sie nicht auf ihren eigenen Dialekt zurückgehen und von ihm Tonfälle in das Bühnenhochdeutsch einfließen lassen? Ein anderes Beispiel: Der Schauspieler muß lernen, seine Stimme zu ökonomisieren; er darf nicht heiser werden. Aber er muß natürlich auch imstande sein, einen Menschen zu zeigen, der, von Leidenschaft ergriffen, heiser spricht oder schreit. Seine Übungen müssen also Spiel enthalten. Wir werden formalistisches, leeres, äußerliches, mechanisches Spiel bekommen, wenn wir bei der artistischen Ausbildung auch nur einen Augenblick außer acht lassen, dass es die Aufgabe des Schauspielers ist, lebendige Menschen darzustellen. Ich komme damit auch zu Ihrer Frage, ob denn meine Forderung, der Darsteller solle sich nicht völlig in die Stückfigur verwandeln, sondern sozusagen neben ihr stehenbleiben, als Kritiker oder Lober, sein Spiel nicht zu einer artistischen, mehr oder weniger unmenschlichen Angelegenheit mache. Nach meiner Meinung ist das nicht der Fall. Es muß meine Schreibweise, die zuviel für selbstverständlich hält, sein, daß ein solcher Eindruck entsteht. Sie sei verflucht! Natürlich müssen auf der Bühne eines realistischen Theaters lebendige, runde, widerspruchsvolle Menschen stehen, mit all ihren Leidenschaften, unmittelbaren Äußerungen und Handlungen. Die Bühne ist kein Herbarium oder zoologisches Museum mit ausgestopften Tieren. Der Schauspieler muß diese Menschen schaffen können (und wenn Sie unsere Aufführungen sehen könnten, würden Sie solche Men-
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Quelle 12 171 schen sehen, und sie sind Menschen nicht trotz, sondern dank unserer Prinzipien)! Es gibt jedoch ein völliges Aufgehen des Schauspielers in seiner Figur, das zur Folge hat, daß er sie so selbstverständlich, so gar nicht anders zu denken erscheinen läßt, daß der Zuschauer sie einfach hinzunehmen hat, wie sie eben ist, und es entsteht ein ganz unfruchtbares „alles verstehen ist alles verzeihen“, wie wir es besonders stark beim Naturalismus hatten. Wir, die wir die menschliche Natur nicht weniger als die übrige zu ändern bestrebt sind, müssen Wege finden, den Menschen „von der Seite aus zu zeigen“, wo er änderbar durch den Eingriff der Gesellschaft erscheint. Dafür ist beim Schauspieler eine gewaltige Umstellung nötig, denn die bisherige Schauspielkunst begründete sich auf die Anschauung, daß der Mensch eben ist, wie er ist, und zu der Gesellschaft Schaden oder zu seinem Schaden auch so bleibt, „ewig menschlich“, „von Natur aus so und nicht anders“ und so weiter. Er hat geistig und gefühlsmäßig Stellung zu seiner Figur und seiner Szene zu nehmen. Die nötige Umstellung des Schauspielers ist keine kalte, mechanische Operation; nichts Kaltes, Mechanisches hat mit der Kunst zu tun, und diese Umstellung ist eine künstlerische. Ohne echte Verbindung mit seinem neuen Publikum, ohne leidenschaftliches Interesse am menschlichen Fortschritt kann die Umstellung nicht erfolgen. So sind die sinngemäßen Gruppierungen auf unserem Theater nicht „rein ästhetische“ Erscheinungen, Effekte, formale Schönheit gebend. Sie gehören zu einem Theater der großen Gegenstände für die neue Gesellschaft und können ohne tiefes Verständnis und leidenschaftliches Bejahen der neuen großen Ordnung der menschlichen Beziehungen nicht erreicht werden. Ich kann die Bemerkungen zu meinen Stücken nicht alle umschreiben. Nehmen Sie diese Zeilen für einen vorläufigen Zusatz zu ihnen, einen Versuch, das fälschlich Vorausgesetzte nachzuholen. Freilich habe ich dann noch die verhältnismäßig ruhige Art zu erklären, die am Spiel des Berliner Ensembles hier und dort auffällt. Sie hat nichts mit künstlicher Objektivität zu tun – die Schauspieler nehmen Stellung zu ihren Figuren – und nichts mit Vernünftelei – die Vernunft stürzt sich nie-
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172 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler mals kalt in den Kampf – sie entsteht einfach dadurch, daß die Stücke nicht mehr dem hitzigen „Bühnentemperament“ ausgesetzt werden. Die wirkliche Kunst erregt sich am Gegenstand. Wo der Empfänger mitunter Kühle zu konstatieren glaubt, ist er lediglich auf die Souveränität gestoßen, ohne die sie nicht Kunst wäre.
Bertolt Brecht: „Aus einem Brief an einen Schauspieler“, in: ders.: Schriften zum Theater, Band 6, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 183 – 189 Bertolt Brecht (1898 – 1956), einflussreichster Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts. Mitbegründer und maßgeblicher Theoretiker des epischen Theaters. Außerdem verfasste er die Lehrstücke, in denen die Trennung von Schauspielern und Zuschauern aufgehoben werden sollte. Seine Theaterstücke gehören zu den meistgespielten im Gegenwartstheater. Seine Theatertheorie bestimmt maßgeblich die Ästhetik des Gegenwartstheaters.
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Quelle 13 173
Quelle 13 Bertolt Brecht Schauspielerausbildung Elementarregeln für Schauspieler 1. Bei der Darstellung der Greise, der Schurken und der Wahrheitsager muß man nicht mit verstellter Stimme sprechen. 2. Man muß den Figuren von Ausmaß eine Entwicklung geben. Pawel Wlassow in „Die Mutter“ zum Beispiel wird zum Berufsrevolutionär. Aber zu Beginn ist er noch keiner, darf also nicht als solcher gespielt werden. 3. Man muß nicht Helden dadurch charakterisieren, daß man sie niemals erschrecken, Feiglinge dadurch, daß man sie niemals mutig sein läßt und so weiter. Charakteristika in einem Wort wie Held oder Feigling sind recht gefährlich. 4. Beim Schnellsprechen darf man nicht laut, beim Lautsprechen nicht pathetisch werden. 5. Wenn der Schauspieler den Zuschauer rühren will, muß er nicht einfach selber gerührt sein. Überhaupt geht es immer auf Kosten der Realistik, wenn der Schauspieler „auf Mitleid spielt“ oder auf Begeisterung und so weiter. 6. Die meisten Figuren auf der deutschen Bühne sind nicht aus dem Leben gegriffen, sondern aus dem Theater. Da ist der Theatergreis, der mummelt und tattert, der Theaterjüngling, der Feuer hat oder kindlich strahlt, die Theaterkokotte, die mit verschleierter Stimme spricht und die Hüften wiegt, der Theaterbiedermann, der poltert und so weiter. 7. Soziales Gefühl ist für den Schauspieler unbedingt nötig. Er ersetzt jedoch nicht das Wissen um soziale Zustände. Und das Wissen um soziale Zustände ersetzt nicht das ständige Studium derselben. Für jede Figur und für jede Situation und für jede Aussage ist neues Studium nötig. 8. Ein Jahrhundert lang wurden die Schauspieler nach dem Temperament ausgesucht. Nun ist Temperament nötig, besser gesagt: Vitalität; aber nicht, um den Zuschauer mitzureißen, sondern um die Steigerung zu erreichen, die für die Figuren, Situationen und Aussagen auf der Bühne nötig ist.
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174 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler 9. Bei mittelmäßigen Stücken ist es mitunter nötig, „aus nichts etwas zu machen“. Aber bei den guten Stücken muß man aus allem nicht mehr herauspressen, als drinnen ist. Das Nichterregte darf nicht erregend, das Ungespannte nicht spannend gemacht werden. In den Kunstwerken gibt es – darin sind sie lebendige Organismen – ein Auf und Ab. Dies ist ihnen zu belassen. 10.Das Pathos betreffend: Wenn es sich nicht darum handelt, einen pathetischen Menschen abzubilden, muß man mit dem Pathos sehr vorsichtig sein. Es gilt der Satz: Wärst nit aufigstiegn, wärst nit abigfalln. Gestik Die Gestik behandelnd, lassen wie zunächst die Pantomime außer acht, da sie ein gesonderter Zweig der Ausdruckskunst ist, wie das Schauspiel, die Oper und der Tanz. In der Pantomime wird alles ohne Sprache ausgedrückt, auch das Sprechen. Wir aber behandeln die Gestik, die im täglichen Leben vorkommt und im Schauspiel ihre Ausformung erfährt. Dann gibt es einzelne Gesten. Solche, die anstelle von Aussagen gemacht werden und deren Verständnis durch Tradition gegeben ist, wie (bei uns) das bejahende Kopfnicken. Illustrierende Gesten, wie diejenigen, welche die Größe einer Gurke oder die Kurve eines Rennwagens beschreiben. Dann die Vielfalt der Gesten, welche seelische Haltungen demonstrieren, die der Verachtung, der Gespanntheit, der Ratlosigkeit und so weiter. Wir sprechen ferner von einem Gestus. Darunter verstehen wir einen ganzen Komplex einzelner Gesten der verschiedensten Art zusammen mit Äußerungen, welcher einem absonderbaren Vorgang unter Menschen zugrunde liegt und die Gesamthaltung aller an diesem Vorgang Beteiligten betrifft (Verurteilung eines Menschen durch andere Menschen, eine Beratung, ein Kampf und so weiter) oder einen Komplex von Gesten und Äußerungen, welcher, bei einem einzelnen Menschen auftretend, gewisse Vorgänge auslöst (die zögernde Haltung des Hamlet, das Bekennertum des Galilei und so weiter), oder auch nur eine Grundhaltung eines Menschen (wie Zufriedenheit oder Warten). Ein Gestus zeichnet die Beziehungen von Menschen zueinander. Eine Arbeitsverrichtung zum Beispiel ist kein Gestus, wenn sie nicht eine gesellschaftliche Beziehung enthält wie Ausbeutung oder Kooperation.
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Quelle 13 175
Über den Gestus Der Gesamtgestus eines Stückes ist nur in vager Weise bestimmbar, und man kann nicht die Fragen angeben, die gestellt werden müssen, ihn zu bestimmen. Da ist immerhin die Haltung des Stückeschreibers zum Publikum. Belehrt er? Treibt er an? Provoziert er? Warnt er? Will er objektiv sein? Subjektiv? Soll das Publikum zu einer guten oder schlechten Laune überredet werden oder soll es nur daran teilnehmen? Wendet er sich an die Instinkte? An den Verstand? An beides? Und so weiter und so weiter. Dann hat man die Haltung einer Epoche, der des Stückeschreibers und derjenigen, in die das Stück verlegt ist. Tritt zum Beispiel der Stückeschreiber repräsentativ auf? Tun es die Figuren des Stücks? Dann gibt es den Abstand zu den Vorgängen. Ist das Stück ein Zeitgemälde oder ein Interieur? Dann gibt es, bei diesem Abstand oder jenem, den Stücktypus. Handelt es sich um ein Gleichnis, das etwas beweisen soll? Um die Beschreibung von Vorgängen ungeordneter Art? – Dies sind Fragen, die gestellt werden müssen, aber es müssen noch mehr Fragen gestellt werden. Und es kommt darauf an, daß der Fragende keine Furcht vor einander widersprechenden Antworten hat, denn ein Stück wird lebendig durch seine Widersprüche. Zugleich aber muß er diese Widersprüche klarstellen und darf nicht etwa dumpf und vage verfahren in dem bequemen Gefühl, die Rechnung gehe ja doch nicht auf. Um den Gestus einer einzelnen Szene zu beleuchten, wählen wir die erste Szene des dritten Bildes von „Mutter Courage und ihre Kinder“, und zwar in zwei Auffassungen. Die Courage tätigt einen unredlichen Handel mit Heeresgut und ermahnt dann ihren Sohn beim Heer, seinerseits immer redlich zu sein. Die Weigel spielte diese Szene so, daß die Courage ihrem Sohn bedeutet, dem Handel nicht zuzuhören, da er ihn nichts angeht. In der Münchner Aufführung nach dem Berliner Modell spielte die Giehse die Szene so, dass die Courage dem Zeugmeister, der den Sohn sehend, zögert, weiter zu reden, mit einer Handbewegung anweist, weiterzusprechen, da der Sohn das Geschäft ruhig hören kann. Bleibt die dramaturgische Funktion der Szene erhalten: In einem korrupten Milieu wird ein junger Mensch aufgefordert, unverbrüchlich redlich zu handeln. Der Gestus der Courage ist nicht derselbe. Bertolt Brecht: „Schauspielerausbildung“, in: ders.: Schriften zum Theater, Band 6, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 200 – 202, S. 212 – 215
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176 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler
Quelle 14 Bertolt Brecht Kleines Organon für das Theater 38 Die historischen Bedingungen darf man sich freilich nicht denken (noch werden sie aufgebaut werden) als dunkle Mächte (Hintergründe), sondern sie sind von Menschen geschaffen und aufrechterhalten (und werden geändert von ihnen): was eben da gehandelt wird, macht sie aus. 39 Wenn nun eine Person historisiert, der Epoche entsprechend antwortet und anders antworten würde in andern Epochen, ist sie da nicht jedermann schlechthin? Je nach den Zeitläuften oder der Klasse antwortet hier jemand verschieden; lebte er zu anderer Zeit oder noch nicht so lang oder auf der Schattenseite des Lebens, so antwortete er unfehlbar anders, aber wieder ebenso bestimmt und wie jedermann antworten würde in dieser Lage zu dieser Zeit: ist da nicht zu fragen, ob es nicht noch weitere Unterschiede der Antwort gibt? Wo ist er selber, der Lebendige, Unverwechselbare, der nämlich, der mit seinesgleichen nicht ganz gleich ist? Es ist klar, daß das Abbild ihn sichtbar machen muß, und das wird geschehen, indem dieser Widerspruch im Abbild gestaltet werden wird. Das historisierende Abbild wird etwas von den Skizzen an sich haben, die um die herausgearbeitete Figur herum noch die Spuren anderer Bewegungen und Züge aufweisen. Oder man denke an einen Mann, der in einem Tal eine Rede hält, in der er mitunter seine Meinung ändert oder lediglich Sätze spricht, die sich widersprechen, so daß das Echo, mitsprechend, die Konfrontation der Sätze vornimmt. 40 Solche Abbilder erfordern freilich eine Spielweise, die den beobachtenden Geist frei und beweglich erhält. Er muß sozusagen laufend fiktive Montagen an unserm Bau vornehmen können, indem er die gesellschaftlichen Triebkräfte in Gedanken abschaltet oder durch andere ersetzt, durch welches Ver-
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Quelle 14 177 fahren ein aktuelles Verhalten etwas „Unnatürliches“ bekommt, wodurch die aktualen Triebkräfte ihrerseits ihre Natürlichkeit einbüßen und handelbar werden. 42 Die Spielweise, welche zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg am Schiffbauerdamm-Theater in Berlin ausprobiert wurde, um solche Abbilder herzustellen, beruht auf dem Verfremdungseffekt (V-Effekt). Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen läßt. Das antike und mittelalterliche Theater verfremdete seine Figuren mit Menschen- und Tiermasken, das asiatische benutzt noch heute musikalische und pantomimische V-Effekte. Die Effekte verhinderten zweifellos die Einfühlung, jedoch beruhte diese Technik eher mehr denn weniger auf hypnotisch suggestiver Grundlage als diejenige, mit der die Einfühlung erzielt wird. Die gesellschaftlichen Zwecke dieser alten Effekte waren von den unsern völlig verschieden. 47 Um V-Effekte hervorzubringen, mußte der Schauspieler alles unterlassen, was er gelernt hatte, um die Einfühlung des Publikums in seine Gestaltungen herbeiführen zu können. Nicht beabsichtigend, sein Publikum in Trance zu versetzen, darf er sich selber nicht in Trance versetzen. Seine Muskeln müssen locker bleiben, führt doch zum Beispiel ein Kopfwenden mit angezogenen Halsmuskeln die Blicke, ja mitunter sogar die Köpfe der Zuschauer „magisch“ mit, womit jede Spekulation oder Gemütsbewegung über diese Geste nur geschwächt werden kann. Seine Sprechweise sei frei von pfäffischem Singsang und jenen Kadenzen, die die Zuschauer einlullen, so daß der Sinn verlorengeht. Selbst Besessene darstellend, darf er selber nicht besessen wirken; wie sonst könnten die Zuschauer ausfinden, was die Besessenen besitzt? 48 In keinem Augenblick läßt er es zur restlosen Verwandlung in die Figur kommen. Ein Urteil: „Er spielte den Lear nicht, er war Lear“, wäre für ihn
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178 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler vernichtend. Er hat seine Figur lediglich zu zeigen oder, besser gesagt, nicht nur lediglich zu erleben; dies bedeutet nicht, daß er, wenn er leidenschaftliche Leute gestaltet, selbst kalt sein muß. Nur sollten seine eigenen Gefühle nicht grundsätzlich die seiner Figur sein, damit auch die seines Publikums nicht grundsätzlich die der Figur werden. Das Publikum muß da völlige Freiheit haben. 49 Dies, daß der Schauspieler in zweifacher Gestalt auf der Bühne steht, als Laughton und als Galilei, daß der zeigende Laughton nicht verschwindet in dem gezeigten Galilei, was dieser Spielweise auch den Namen „die epische“ gegeben hat, bedeutet schließlich nicht mehr, als daß der wirkliche, der profane Vorgang nicht mehr verschleiert wird – steht doch auf der Bühne tatsächlich Laughton und zeigt, wie er sich den Galilei denkt. Schon indem es ihn bewunderte, vergäße das Publikum natürlich Laughton nicht, auch wenn er die restlose Verwandlung versuchte, aber es ginge dann doch seiner Meinungen und Empfindungen verlustig, welche vollkommen in der Figur aufgegangen wären. Er hätte ihre Meinungen und Empfindungen zu seinen eigenen gemacht, so daß also tatsächlich nur ein einziges Muster derselben herauskäme: er würde es zu dem unsrigen machen. Um diese Verkümmerung zu verhüten, muß er auch den Akt des Zeigens zu einem künstlerischen machen. Um eine Hilfsvorstellung zu benutzen: wir können die eine Hälfte der Haltung, die des Zeigens, um sie selbständig zu machen, mit einer Geste ausstatten, indem wir den Schauspieler rauchen lassen und ihn uns vorstellen, wie er jeweils die Zigarre weglegt, um uns eine weitere Verhaltungsart der erdichteten Figur zu demonstrieren. Wenn man aus dem Bild alles Hastige herausnimmt und sich das Lässige nicht nachlässig denkt, haben wir einen Schauspieler vor uns, der uns sehr wohl unsern oder seinen Gedanken überlassen könnte. 50 Noch eine andere Änderung in der Übermittlung der Abbildungen durch den Schauspieler ist nötig, und auch sie macht den Vorgang „profaner“. Wie der Schauspieler sein Publikum nicht zu täuschen hat, daß nicht
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Quelle 14 179 er, sondern die erdichtete Figur auf der Bühne stehe, so hat er es auch nicht zu täuschen, daß, was auf der Bühne vorgeht, nicht einstudiert sei, sondern zum erstenmal und einmalig geschehe. Die Schillersche Unterscheidung, daß der Rhapsode seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Mime die seinige als vollkommen gegenwärtig zu behandeln habe [Briefwechsel mit Goethe, 26. 12. 1797], trifft nicht mehr so zu. Es soll in seinem Spiel durchaus ersichtlich sein, daß „er schon am Anfang und in der Mitte das Ende weiß“, und er soll „so durchaus eine ruhige Freiheit behalten“. In lebendiger Darstellung erzählt er die Geschichte seiner Figur, mehr wissend als diese und das Jetzt wie das Hier nicht als eine Fiktion, ermöglicht durch die Spielregel, setzend, sondern es trennend vom Gestern und dem andern Ort, wodurch die Verknüpfung der Begebnisse sichtbar werden kann. 51 Dies ist besonders wichtig bei der Darstellung von Massenereignissen oder wo die Umwelt sich stark verändert, wie bei Kriegen und Revolutionen. Der Zuschauer kann dann die Gesamtlage und den Gesamtverlauf vorgestellt bekommen. Er kann zum Beispiel eine Frau, während er sie sprechen hört, im Geist noch anders sprechen hören, sagen wir in ein paar Wochen, und andere Frauen eben jetzt anderswo anders. Dies wäre möglich, wenn die Schauspielerin so spielte, als ob die Frau die ganze Epoche zu Ende gelebt hätte und nun, aus der Erinnerung, von ihrem Wissen des Weitergehens her, das äußerte, was von ihren Äußerungen für diesen Zeitpunkt wichtig war, denn wichtig ist da, was wichtig wurde. Eine solche Verfremdung einer Person als „gerade dieser Person“ und „gerade dieser Person gerade jetzt“ ist nur möglich, wenn nicht die Illusionen geschaffen werden: der Schauspieler sei die Figur und die Vorführung sei das Geschehnis. 52 Nun hat aber schon in diesem eine weitere Illusion aufgegeben werden müssen: die, als handelte jedermann wie die Figur. Aus dem „ich tue das“ wurde ein „ich tat das“, und jetzt muß aus dem „er tat das“ noch ein „er tat das, nichts anderes“ werden. Es ist eine zu große Vereinfachung, wenn man
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180 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler die Taten auf den Charakter und den Charakter auf die Taten abpaßt; die Widersprüche, welche Taten und Charakter wirklicher Menschen aufweisen, lassen sich so nicht aufzeigen. Die gesellschaftlichen Bewegungsgesetze können nicht an den „Idealfällen“ demonstriert werden, da die „Unreinheit“ (Widersprüchlichkeit) gerade zu Bewegung und Bewegtem gehört. Es ist nur nötig – dies aber unbedingt –, daß im großen und ganzen so etwas wie Experimentierbedingungen geschaffen werden, das heißt, daß jeweils die Gesellschaft überhaupt hier so behandelt, als mache sie, was sie macht, als ein Experiment. 53 Wenn auch beim Probieren Einfühlung in die Figur benutzt werden kann (was bei der Vorführung zu vermeiden ist), darf dies doch nur als eine unter mehreren Methoden der Beobachtung angewendet werden. Sie ist beim Probieren von Nutzen, hat sie doch selbst in der maßlosen Anwendung durch das zeitgenössische Theater zu einer sehr verfeinerten Charakterzeichnung geführt. Jedoch ist es die primitivste Art der Einfühlung, wenn der Schauspieler nur fragt: wie wäre ich, wenn mir dies und das passierte? wie sähe es aus, wenn ich dies sagte und das täte? – anstatt zu fragen: wie habe ich schon einen Menschen dies sagen hören oder das tun sehen? um sich so, hier und da allerhand holend, eine neue Figur aufzubauen, mit der die Geschichte vor sich gegangen sein kann – und noch einiges mehr. Die Einheit der Figur wird nämlich durch eine Art gebildet, in der sich ihre einzelnen Eigenschaften widersprechen. 54 Die Beobachtung ist ein Hauptteil der Schauspielkunst. Der Schauspieler beobachtet den Mitmenschen mit all seinen Muskeln und Nerven in einem Akt der Nachahmung, welcher zugleich ein Denkprozeß ist. Denn bei bloßer Nachahmung käme höchstens das Beobachtete heraus, was nicht genug ist, da das Original, was es aussagt, mit zu leiser Stimme aussagt. Um vom Abklatsch zur Abbildung zu kommen, sieht der Schauspieler auf die Leute, als machten sie ihm vor, was sie machen, kurz, als empfählen sie ihm, was sie machen, zu bedenken.
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55 Ohne Ansichten und Absichten kann man keine Abbildungen machen. Ohne Wissen kann man nichts zeigen; wie soll man da wissen, was wissenswert ist? Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muß er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft. Die mag manchem wie eine Erniedrigung vorkommen, da er die Kunst, ist die Bezahlung geregelt, in die höchsten Sphären versetzt; aber die höchsten Entscheidungen für das Menschengeschlecht werden auf der Erde ausgekämpft, nicht in den Lüften; im „Äußeren“, nicht in den Köpfen. Über den kämpfenden Klassen kann niemand stehen, da niemand über den Menschen stehen kann. Die Gesellschaft hat kein gemeinsames Sprachrohr, solange sie in kämpfende Klassen gespalten ist. So heißt unparteiisch sein für die Kunst nur: zur herrschenden Partei gehören. 56 So ist die Wahl des Standpunktes ein anderer Hauptteil der Schauspielkunst, und er muß außerhalb des Theaters gewählt werden. Wie die Umgestaltung der Natur, so ist die Umgestaltung der Gesellschaft ein Befreiungsakt, und es sind die Freuden der Befreiung, welche das Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte. 57 Schreiten wir fort, indem wir untersuchen, wie zum Beispiel der Schauspieler, von diesem Standpunkt aus, seine Rolle zu lesen hat. Es ist da wichtig, daß er nicht zu schnell „begreift“. Wenn er auch gleich den natürlichsten Tonfall seines Textes ausfindig machen wird, die bequemste Art, ihn zu sagen, so soll er doch die Aussage selbst nicht als die natürlichste betrachten, sondern da zögern und seine allgemeinen Ansichten heranziehen, andere mögliche Aussagen in Erwägung ziehen, kurz, die Haltung des sich Wundernden einnehmen. Dies nicht nur, um nicht zu früh, nämlich bevor er alle Aussagen und besonders die der anderen Figuren registriert hat, eine bestimmte Figur festzulegen, der dann vieles eingestopft werden müßte, sondern auch, und dies hauptsächlich, um in den Aufbau der Figur das „Nicht–Sondern“ hin-
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182 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler einzubringen, auf das so viel ankommt, wenn das Publikum, das die Gesellschaft repräsentiert, die Vorgänge von der beeinflußbaren Seite einsehen können soll. Auch muß jeder Schauspieler, anstatt nur das ihm Gemäße als „das schlechthin Menschliche“ an sich zu ziehen, besonders nach dem ihm nicht Gemäßen, Speziellen langen. Und er muß, mit dem Text, diese seine ersten Reaktionen, Vorbehalte, Kritiken, Verblüffungen memorieren, damit sie in seiner Endgestaltung nicht etwa vernichtet werden, indem sie „aufgehen“, sondern bewahrt und wahrnehmbar bleiben; denn die Figur und alles muß dem Publikum weniger eingehen als auffallen. 58 Und das Lernen des Schauspielers muß zusammen mit dem Lernen der anderen Schauspieler, sein Aufbau der Figuren mit dem Aufbau der andern Figuren vorgenommen werden. Denn die kleinste gesellschaftliche Einheit ist nicht der Mensch, sondern zwei Menschen. Auch im Leben bauen wir uns gegenseitig auf. 59 Hier ist einiges aus der Unsitte unserer Theater zu lernen, daß der herrschende Schauspieler, der Star, sich auch dadurch „hervortut“, daß er sich von allen andern Schauspielern bedienen läßt: er macht seine Figur fürchterlich oder weise, indem er die Partner zwingt, die ihren furchtsam oder aufmerksam zu machen und so weiter. Schon um diesen Vorteil allen zu gewähren und dadurch der Fabel zu dienen, sollten die Schauspieler die Rollen auf den Proben mit ihren Partnern mitunter tauschen, damit die Figuren voneinander bekommen, was sie voneinander brauchen. Es ist aber für die Schauspieler auch gut, wenn sie ihren Figuen in der Kopie begegnen oder auch in anderen Gestaltungen. Von einer Person anderen Geschlechts gespielt, wird die Figur ihr Geschlecht deutlicher verraten, von einem Komiker gespielt, tragisch oder komisch, neue Aspekte gewinnen. Vor allem sichert der Schauspieler, indem er die Gegenfiguren mitentwickelt oder zumindest ihre Darsteller vertritt, den so entscheidenden gesellschaftlichen Standpunkt, von dem aus er seine Figur vorführt. Der Herr ist nur so ein Herr, wie ihn der Knecht es sein läßt und so weiter.
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60 An der Figur sind natürlich schon zahllose Aufbauakte vollzogen worden, wenn sie unter die andern Figuren des Stücks tritt, und der Schauspieler wird seine Vermutungen, die der Text darüber anregt, zu memorieren haben. Aber nun erfährt er weit mehr über sich aus der Behandlung, welche die Figuren des Stücks ihm widerfahren lassen. 61 Den Bereich der Haltungen, welche die Figuren zueinander einnehmen, nennen wir den gestischen Bereich. Körperhaltung, Tonfall und Gesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen Gestus bestimmt: die Figuren beschimpfen, komplimentieren, belehren einander und so weiter. Zu den Haltungen, eingenommen von Menschen zu Menschen, gehören selbst die anscheinend ganz privaten, wie die Äußerungen des körperlichen Schmerzes in der Krankheit oder der religiösen. Diese gestischen Äußerungen sind meist recht kompliziert und widerspruchsvoll, so daß sie sich mit einem einzigen Wort nicht mehr wiedergeben lassen, und der Schauspieler muß achtgeben, daß er bei der notwendigerweise verstärkten Abbildung da nichts verliert, sondern den ganzen Komplex verstärkt. 62 Der Schauspieler bemächtigt sich seiner Figur, indem er kritisch ihren mannigfachen Äußerungen folgt sowie denen seiner Gegenfiguren und aller anderen Figuren des Stücks. 63 Gehen wir, um zum gestischen Gehalt zu kommen, die Anfangsszenen eines neueren Stückes durch, meines „Leben des Galilei“. Da wir auch nachsehen wollen, wie die verschiedenen Äußerungen Licht aufeinander werfen, wollen wir annehmen, es handle sich nicht um die erste Annäherung an das Stück. Es beginnt mit den morgendlichen Waschungen des Sechsundvierzigjährigen, unterbrochen durch Stöbern in Büchern und eine Lektion für den Knaben Andrea Sarti über das neue Sonnensystem. Mußt du nicht wissen, wenn du das machen sollst, daß wir schließen werden mit dem
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184 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler Nachtmahl des Achtundsiebzigjährigen, den eben derselbe Schüler für immer verlassen hat? Er ist dann schrecklicher verändert, als diese Zeitspanne hätte zuwege bringen können. Er frißt mit haltloser Gier, nichts anderes mehr im Kopf, er ist seinen Lehrauftrag auf schimpfliche Weise losgeworden wie eine Bürde, er, der einst seine Morgenmilch achtlos getrunken hat, gierig, den Knaben zu belehren. Aber trinkt er sie wirklich ganz achtlos? Ist sein Genuß an dem Getränk und der Waschung nicht eins mit dem an den neuen Gedanken? Vergiß nicht: er denkt der Wollust wegen! Ist dies etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Ich rate dir, da du im ganzen Stück darüber nichts der Gesellschaft Nachteiliges finden wirst, und besonders, da du doch selber, wie ich hoffe, ein tapferes Kind des wissenschaftlichen Zeitalters bist, es als etwas Gutes darzustellen. Aber notiere es deutlich, viel Schreckliches wird in dieser Sache passieren. Daß der Mann, der hier das neue Zeitalter begrüßt, am Ende gezwungen sein wird, dieses Zeitalter aufzufordern, daß es ihn mit Verachtung von sich stoße, wenn auch enteigne, wird damit zu tun haben. Was die Lektion anlangt, magst du übrigens entscheiden, ob bloß, dem das Herz zu voll ist, das Maul überläuft, so daß er zu jedem davon reden würde, selbst zu einem Kinde, oder ob das Kind ihm das Wissen erst entlocken muß, indem es, ihn kennend, Interesse zeigt. Es können auch zwei sein, die sich nicht enthalten können, der eine zu fragen, der andere zu antworten; solch eine Brüderschaft wäre interessant, denn sie wird einmal böse gestört werden. Freilich wirst du die Demonstration des Erdumlaufs mit einer Hast vornehmen wollen, da sie nicht bezahlt wird, denn nun tritt der fremde, wohlhabende Schüler auf und verleiht der Zeit des Gelehrten Goldwert. Er zeigt sich nicht interessiert, aber er muß bedient werden, ist Galilei doch mittellos, und so wird er zwischen dem wohlhabenden Schüler und dem intelligenten stehen und seufzend wählen. Er kann den Neuen nicht viel lehren, so läßt er sich von ihm belehren; er erfährt vom Teleskop, das in Holland erfunden worden ist: in seiner Weise verwendet er die Störung des Morgenwerks. Der Kurator der Universität kommt. Galileis Eingabe um Erhöhung des Gehalts ist abgeschlagen worden, die Universität zahlt nicht gern für physikalische Theorien, was sie für theologische bezahlt, sie wünscht von ihm, der sich schließlich auf einer niedrig angesetzten Ebene der Forschung bewegt, Nützliches für den Tag. Du wirst
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Quelle 14 185 an der Art, wie er seinen Traktrat anbietet, bemerken, daß er die Zurückund Zurechtweisungen gewohnt ist. Der Kurator verweist ihn darauf, daß die Republik die Freiheit der Forschung gewährt, wenn auch schlecht bezahlt; er erwidert, daß er mit dieser Freiheit wenig anfangen kann, wenn er nicht die Muße hat, die gute Bezahlung verschafft. Da wirst du gut tun, seine Ungeduld nicht allzu herrisch zu finden, sonst kommt seine Armut zu kurz. Denn du triffst ihn kurz darauf bei Gedanken, die einiger Erklärung bedürfen: der Verkünder eines neuen Zeitalters der wissenschaftlichen Wahrheiten erwägt, wie er die Republik um Geld betrügen kann, indem er ihr das Teleskop als seine Erfindung anbietet. Nichts als ein paar Skudi, wirst du erstaunt sehen, sieht er in der neuen Erfindung, die er lediglich untersucht, um sie sich anzueignen. Gehst du aber weiter, zur zweiten Szene, wirst du entdecken, daß er, die Erfindung an die Signoria von Venedig mit einer durch ihre Lügen entwürdigende Rede verkaufend, dieses Geld schon beinahe vergessen hat, weil er neben der militärischen noch eine astronomische Bedeutung des Instruments ausgefunden hat. Die Ware, die herzustellen man ihn erpreßt hat – nennen wir es doch jetzt so –, zeigt eine hohe Qualität für eben die Forschung, die er unterbrechen mußte, um sie herzustellen. Wenn er während der Zeremonie, die unverdienten Ehrungen geschmeichelt entgegennehmend, dem gelehrten Freund die wunderbaren Entdeckungen andeutet – überspring da nicht, wie theatralisch er das tut –, wirst du einer viel tieferen Erregung bei ihm begegnen, als die Aussicht auf den geldlichen Gewinn bei ihm auslöste. Wenn jedoch, so betrachtet, seine Scharlatanerei nicht sehr viel bedeutet, zeigt sie doch an, wie entschlossen dieser Mann ist, den leichten Weg zu gehen und seine Vernunft in niedriger wie in hoher Weise zu verwenden. Eine bedeutsamere Prüfung steht bevor, und macht nicht jedes Versagen ein weiteres Versagen leichter? 64 Solch gestisches Material auslegend, bemächtigt sich der Schauspieler der Figur, indem er sich der Fabel bemächtigt. Erst von ihr, dem abgegrenzten Gesamtgeschehnis aus, vermag er, gleichsam in einem Sprung, zu seiner endgültigen Figur zu kommen, welche alle Einzelzüge in sich aufhebt. Hat
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186 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler er alles getan, sich zu wundern über die Widersprüche in den verschiedenen Haltungen, wissend, daß er auch sein Publikum darüber zu wundern haben wird, so gibt ihm die Fabel in ihrer Gänze die Möglichkeit einer Zusammenfügung des Widersprüchlichen; denn die Fabel ergibt, als begrenztes Geschehnis, einen bestimmten Sinn, das heißt sie befriedigt von vielen möglichen Interessen nur bestimmte.
Bertolt Brecht: „Kleines Organon für das Theater“, in: ders.: Schriften zum Theater, Band 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 30 – 48
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Quelle 15 Bertolt Brecht Zur Frage der Maßstäbe bei der Beurteilung der Schauspielkunst Unter denen, die der als episch angekündigten Aufführung des Stückes „Mann ist Mann“ im Staatstheater mit Interesse folgten, herrschte ein Konflikt der Meinungen über die Leistung des Schauspielers Lorre, der die Hauptrolle spielte. Die einen fanden seine Art zu spielen von den neueren Gesichtspunkten aus betrachtet besonders richtig, ja beispielgebend, die anderen verwarfen sie ganz und gar. Ich selbst gehöre zu der ersten Gruppe. Um der Frage den prinzipiellen Rang, der ihr zukommt, zu erhalten, möchte ich als Augenzeuge aller Proben zuerst versichern, daß es keineswegs bloße Mängel in der Begabung des Schauspielers waren, die sein Spiel für einige so enttäuschend machten: wer bei der Aufführung an ihm etwa „die Kraft des tragenden Schauspielers“ oder „die Fähigkeit, klar auf Sinn zu sprechen“ vermißte, der hätte bei den ersten Proben die Fähigkeit dazu leicht feststellen können. Wenn diese bisherigen Kennzeichen eines großen, befähigten Schauspielers bei der Aufführung zurücktreten, um, meiner Meinung nach, anderen Kennzeichen, nämlich denen einer neuen Schauspielkunst, zu weichen, so war dies das beabsichtigte Ergebnis der Probenarbeit, und diese also, nichts anderes, steht zur Beurteilung und ist der Grund der Meinungsverschiedenheiten. Um eine ganz bestimmte Frage, nämlich die, wie weit gewisse allgemein als gültig angesehene Maßstäbe durch eine Umwälzung in der Funktion des Theaters aus ihrer die Beurteilung des Schauspielers beherrschenden Stellung gedrängt werden können, möglichst zu vereinfachen, wollen wir uns auf die zwei der obengenannten Haupteinwände gegen den Schauspieler Lorre beschränken: seine Art, nicht auf klaren Sinn zu sprechen, und daß er nur Episoden gespielt habe. Es ist anzunehmen, daß der Einwand gegen die Art des Sprechens weniger gegen den ersten Teil des Stückes erfolgt als gegen den zweiten mit seinen großen Sprechpartien. Es sind dies: die Argumente gegen das Urteil bei der Verkündung desselben, die Reklamationen an der Mauer vor der Erschießung und der Identitätsmonolog auf der Sargkiste vor dem Begräbnis.
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188 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler Im ersten Teil war die Art des Sprechens als ganz nach dem Gestischen aufgelöst nicht allzusehr aufgefallen; hier, bei den langen, zusammenfassenden Reden trat sie – es war ein und dieselbe Art – als dem Sinn nicht förderlich, als monoton in Erscheinung. Hatte es der Sprechart im ersten Teil nicht geschadet, daß ihr das Gestische herausarbeitender Charakter nicht ohne weiteres erkannt wurde (als Wirkung verspürt wurde), so brachte dieses Nichterkennen dieselbe Sprechart im zweiten Teil vollkommen um ihre Wirkung. Denn hier war wieder über den Einzelsinn der Sätze hinaus ein ganz bestimmter Grundgestus herausgearbeitet, der zu seiner Wahrnehmbarkeit zwar des Sinns der einzelnen Sätze nicht ganz entraten konnte, aber doch eben dieses Sinns nur mehr als Mittel zum Zweck bedurfte. Der Inhalt der Partien bestand aus Widersprüchen und der Schauspieler mußte versuchen, den Zuschauer nicht etwa durch Identifizierung mit den einzelnen Sätzen selber in Widersprüche zu verwickeln, sondern ihn darauszuhalten. Es mußte eine möglichst objektive Ausstellung eines widerspruchsvollen inneren Vorgangs als ein Ganzes sein. So wurden bestimmte Sätze als besonders aufschlußreich sozusagen „am besten Platz ausgestellt“, also laut gerufen, und ihre Auswahl war eine beinahe intellektuelle Leistung (selbstverständlich kommt auch eine solche aus einem künstlerischen Prozeß). Dies war der Fall mit den Sätzen „Ich verlange, daß alles aufhört!“ und „Gestern abend regnete es doch!“ Die Sätze (Aussprüche) wurden also nicht dem Zuschauer nahegebracht, sondern entfernt, der Zuschauer wurde nicht geführt, sondern seinen Entdeckungen überlassen. Die „Argumente gegen das Urteil“ waren, wie im Gedicht, durch Zäsuren in einzelne Strophen geteilt, damit der Charakter des Nacheinander-Vorbringens verschiedener Argumente entstehen konnte, wobei die Tatsache, daß die einzelnen Argumente keineswegs logische Fortführungen darstellen, eingeschätzt und sogar gerade verwertet wurde. Auch sollte der Eindruck entstehen, als läse hier ein Mann lediglich eine zu einem andern Zeitpunkt verfaßte Verteidigungsschrift vor, ohne sie im Augenblick ihrem Sinn nach zu verstehen. Und dieser Eindruck entstand auch bei den Zuschauern, die derlei Wahrnehmungen zu machen verstehen. Jedoch ist zuzugeben, daß die wahrhaft große Art, in der der Schauspieler Lorre diese „Inventur“ veranstaltete, beim erstmaligen Sehen einfach übersehen werden konnte. Dies mag befremd-
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Quelle 15 189 lich erscheinen. Denn im allgemeinen wird mit Recht gerade die Kunst, gesehen zu werden, als entscheidend betrachtet, und hier soll etwas großartig sein, was erst gesucht und gefunden werden muß. Dennoch muß das epische Theater aus tiefliegenden Ursachen auf einer solchen Umstellung der Maßstäbe bestehen. Es hängt mit der gesellschaftlichen Umfunktionierung des Theaters zusammen, daß der Zuschauer hier nicht in dem gewohnten Maß bearbeitet werden kann. Sein Interesse soll nicht im Theater erzeugt, sondern dorthin mitgebracht und dann befriedigt werden. (So sind auch die Anschauungen über das „Tempo“ für das epische Theater zu revidieren. Denkprozesse brauchen z. B. ein ganz anderes Tempo als Gefühlsprozesse und vertragen nicht ohne weiteres dieselbe zusätzliche Beschleunigung.) Ein sehr interessantes Experiment, ein kleiner Film, den wir von der Vorstellung aufnahmen, indem wir mit Unterbrechungen die hauptsächlichen Drehpunkte der Handlung filmten, so daß also in großer Verkürzung das Gestische herauskommt, bestätigt überraschend gut, wie treffend Lorre gerade in diesen langen Sprechpartien den allen (ja unhörbaren) Sätzen zugrunde liegenden mimischen Sinn wiedergibt. Was nun den andern Einwand betrifft; es ist möglich, daß das epische Theater mit seiner ganz anderen Einstellung zum Individuum den Begriff des „das Stück tragenden Schauspielers“ einfach auflöst. Das Stück wird von ihm nicht mehr im alten Sinn „getragen“. Eine gewisse Fähigkeit, die Hauptrolle einheitlich und ununterbrochen innerlich zu evolvieren, die den Schauspieler alter Art auszeichnete, hat hier nicht mehr dieselbe Bedeutung. Dennoch muß der epische Schauspieler vielleicht einen noch längeren Atem haben als der alte Protagonist, denn er muß imstande sein, seinen Typus trotz oder besser vermittels der Brechungen und Sprünge als einen einheitlichen vorzuführen. Da alles auf die Entwicklung, den Fluß ankommt, müssen die einzelnen Phasen deutlich eingesehen werden können, also getrennt sein, jedoch darf dies nicht mechanisch erfolgen. Es gilt hier, ganz neue Gesetzlichkeiten der Schauspielkunst zu konstituieren (gegen den Fluß spielen, sich durch die Mitspieler charakterisieren lassen usw.).Wenn Lorre in einem ganz bestimmten Augenblick sein Gesicht weiß schminkt (anstatt sein Spiel mehr und mehr „von innen her“ durch Todesfurcht beeinflussen zu lassen), so mag ihn das vielleicht zunächst als Episodisten erscheinen lassen, es ist
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190 IV. Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler aber etwas ganz anderes. Er verhilft zumindest der Dramaturgie zu einiger Auffälligkeit. Aber es ist natürlich noch mehr. Die Entwicklung der Figur ist sehr sorgfältig in vier Phasen eingeteilt, wozu vier Masken verwendet werden (das Packergesicht – bis in den Prozeß hinein; das „natürliche“ Gesicht – bis zum Erwachen nach der Erschießung; „das unbeschriebene Blatt“ – bis zur Aufmontierung nach der Leichenrede; am Ende das Soldatengesicht). Um von der Art der Arbeit einen Begriff zu geben: es bestanden Meinungsverschiedenheiten darüber, in welcher (der zweiten oder der dritten) Phase das Gesicht weiß geschminkt werden soll. Lorre entschied sich nach langer Überlegung für die dritte, da es „die der größten Entscheidung und der größten Anstrengung“ sei. Er zog es vor, von Todes- und Lebensfurcht die letztere als die tiefere zu bezeichnen. Das Bestreben des epischen Schauspielers, bestimmte Vorgänge unter Menschen auffällig zu machen (als Milieu Menschen zu setzen), mag ebenfalls zu dem Irrtum verleiten, er sei ein kurzatmiger Episodist, wenn man nicht berücksichtigt, wie er alle Einzelvorgänge miteinander verknüpft und in den Gesamtfluß seiner Darstellung eingehen läßt. Im Gegensatz zum dramatischen Schauspieler, der von Anfang an seine Figur hat und sie dann lediglich den Unbilden der Welt und der Tragödie aussetzt, läßt der epische Schauspieler seine Figur vor den Augen des Zuschauers entstehen durch die Art, wie sie sich benimmt. „Die Art, sich engagieren zu lassen“, „die Art, einen Elefanten zu verkaufen“, „die Art, den Prozeß zu führen“, ergeben aber nicht etwa eine einzige unwandelbare Figur, sondern eine sich ständig ändernde und in der „Art, sich zu ändern“ immer deutlicher werdende Figur. Dies ist dem Zuschauer, der anders gewohnt ist, nicht so ohne weiteres einleuchtend. Wieviele Zuschauer vermögen sich so weit von „Spannungsverlangen“ freizumachen, daß sie bemerken, wie etwa ein unterschiedliches Verhalten in ähnlicher Situation vom Schauspieler dieser neuen Art ausgenutzt wird, wenn es zum Zwecke des Umgekleidetwerdens mit einer bestimmten Geste an die Wand gebeten wird, die ihn später dann auch zum Zwecke des Erschossenwerdens dorthin bittet? Hier wird vom Zuschauer eine Haltung verlangt, die etwa dem vergleichenden Umblättern des Buchlesers entspricht. Der Schauspieler des epischen Theaters benötigt eine ganz andere Ökonomie als der dramatische. (Übrigens würde auch der
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Quelle 15 191 Schauspieler Chaplin in manchem mehr den Ansprüchen des epischen Theaters entsprechen als denen des dramatischen!) Es ist möglich, daß das epische Theater mehr als andere Theater Kredit a priori benötigt, um zur vollen Geltung zu kommen, und dieser Frage ist einiges Augenmerk zuzuwenden. Vielleicht müssen die Vorgänge, die der epische Schauspieler darstellt, schon bekannt sein. Dann wären geschichtliche Vorgänge zunächst am geeignetsten. Vielleicht ist es sogar gut, wenn der Schauspieler mit anderen Schauspielern in der gleichen Rolle verglichen werden kann. Wäre all dies und noch einiges andere nötig, um dem epischen Theater zur Wirkung zu verhelfen, so müßte es eben organisiert werden. (8. März 1931)
Bertolt Brecht: „Zur Frage der Maßstäbe bei der Beurteilung der Schauspielkunst“, in: ders.: Schriften zum Theater, Band 2 (Anmerkungen zum Lustspiel Mann ist Mann), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 73 – 80
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V. VIELFALT DES SCHAUSPIELENS: MASKEN-, KÖRPER- UND VOLKSTHEATER Leerzeile I. Die Beurteilung der schauspielerischen Leistung stellt Zuschauer, Kritiker und Theatermacher inzwischen vor ein fast unlösbares Problem. Wenn wir einen Menschen beobachten, so nehmen wir auf sehr unterschiedlichen Ebenen wahr. Wir reagieren im Alltag etwa auf der menschlich-empathischen Ebene und empfinden entweder Sympathie oder Antipathie, Angst oder Fürsorglichkeit u.v.m. Nehmen wir einen Menschen in einem theatralischen Zusammenhang wahr, verschiebt sich unsere Aufmerksamkeit von der privaten Person auf sein öffentliches Tun, auf die Bewegungen, Handlungen, Gefühle, Spiele und Aussagen, die er vor uns und für uns vollzieht. Ein Voyeur ist kein Theaterzuschauer, so wie der durch ihn Beobachtete kein Schauspieler ist. Nur wenn sich beide Seiten der Differenz bewusst sind, dass die eine Seite zuschaut und die andere für diese etwas „spielt“, handelt es sich um Schauspiel. Unter diesem „Spiel“ werden im Wandel der Zeiten immer wieder neue und andere Erscheinungsformen des Menschen verstanden. So wie sich das Bild des Menschen und seine Selbstdarstellungsmittel ständig verändern, verändern sich die spielerischen Mittel, mit denen Menschen auf einer Bühne vor anderen Menschen Theater spielen. Mit der Renaissance treten diejenigen Darstellungsmittel in den Vordergrund, die die Fähigkeiten und Proportionen des Menschen zum Maßstab einer gelungenen Darstellung nehmen. Ihren Höhepunkt findet diese Entwicklung in der Epochenwende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit der Gründung des Schauspielens auf dem glaubwürdigen Erleben und Handeln des Schauspielers auf der Bühne. (Siehe hierzu Kapitel 2) Im 20. Jahrhundert explodieren die Spielweisen im selben Maße, wie die Modelle des gesellschaftlichen Zusammenlebens sich in großen Konflikten gegenseitig in Frage stellen und die Theoriegebäude sich ausdifferenzieren. Will man die schauspielerischen Antworten auf diese neuen Herausforderungen einteilen, so findet man in aller Zuspitzung vier Entwicklungen: Die erste schließt sich an Stanislawski an und entwickelt die naturalistische Menschendar-
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193 stellung insbesondere für die Anforderungen des Films weiter. Die zweite nimmt den vorspielenden Menschen ernst und macht diese Realität, ausgehend von den Traditionen des Volkstheaters, zur Grundlage des schauspielerischen Handelns. Brecht und seine Nachfolger weiten dieses Spielen in die Verfremdung, Überhöhung, Karikatur etc. zum Zwecke einer gesellschaftlichen Selbstaufklärung aus. (Siehe Kapitel 3) Die dritte Spielweise bedient sich bei ethnologischen Erforschungen von Ritualen, Masken und Tänzen tribaler Kulturen, bei asiatischen Theaterformen und Meditations-, Körper- und Kampftechniken, um zu einem unpsychologischen Ausdruck des menschlichen Wesens zu kommen. Die so entstehenden Spiele sind nicht mehr realistische, zur Identifikation einladende Verkörperungen oder verfremdete Abbilder des gesellschaftlichen Verhaltens, sondern Versuche, die Bandbreite der menschlichen Ausdrucksfähigkeiten jenseits der Mimesis zum theatralischen Ereignis werden zu lassen. Vor allem im modernen Tanztheater findet diese Richtung ihren künstlerischen Ausdruck. Viertens gibt es sehr vielgestaltige Variationen des Spielens, in denen der „Eigenwert“ des Körpers, der Stimme, der Bewegungen, des mimischen Vermögens etc. im Mittelpunkt steht. Dieser performative Gebrauch unterscheidet sich von dem „archaischen“, da er jedes Verhalten, das in der Rahmung der Bühne stattfindet, als künstlerisches Ereignis zu verstehen versucht. Die durch Schreien heisere Stimme ist hierbei ebenso künstlerische Form wie das Unvermögen des Laienspielers, der beim Sprechen eine elektronische Stimmverstärkung benötigt und nicht weiß, wohin er mit seinen Händen soll. Unter einer solchen Rahmung ist die Leistung von Schauspielern nicht mehr auszumachen. Es gibt keine Differenz zwischen dem spielenden Künstler und dem von ihm durch das Spielen hergestellten Kunstwerk mehr. Alles, was auf der Bühne passiert, ist das, was es ist. Betrachtet man angesichts dieser Quadratur der schauspielerischen Möglichkeiten die Gegenwart des Schauspielers und die Bedingungen der Ausbildung, so entsteht häufig große Verwirrung. Selbst die einfacheren Begriffe, mit denen innerhalb eines dieser Bereiche gearbeitet werden kann, verändern ihre Bedeutung je nachdem, in welchem ästhetischen Kontext sie ausgesprochen werden. Innerhalb des psychologischen Spiels ist z. B. der „direkte Ton“ eine verständliche Kategorie. Damit ist gemeint, dass ein
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194 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater Satz als Sprechakt innerhalb einer Konversation so ausgesprochen wird, dass er glaubwürdig als Mitteilung einer Figur wirkt. (Siehe hierzu Lektionen 4 Schauspielen Ausbildung, Kapitel 3) Der Satz soll nicht wie Dichtung oder wie auswendig gelernter Text oder wie ein Kommentar des Spielers klingen. In einem performativen Zusammenhang wäre gerade ein solcher schauspielerischer direkter Ton kein direkter, sondern eben ein durch eine schauspielerische Technik hergestellter Ausdruck. Hier gilt als direkt – also als nicht gestaltet oder gespielt –, wenn der Sprecher z. B. durch eine vorherige Anstrengung außer Atem ist und nun versucht, seinen Text zu sagen. Hier würde nichts spielerisch hergestellt, sondern das stoßweise Sprechen und Keuchen wären „echt“, da körperlich notwendig. Die Gruppe Rimini Protokoll, die ausschließlich mit „echten“ Menschen, den „Experten des Alltags“, Theater macht, gelangt inzwischen nach zahlreichen erfolgreichen Arbeiten an einen überraschenden Punkt. Sie haben es bei ihren Castings immer öfter mit Menschen zu tun, die einen Abend von Rimini Protokoll gesehen haben und nun versuchen, die dort beobachtete Verhaltensweise von „Experten“ zu kopieren. Sie sind dann keine echten „echten“ Menschen mehr, sondern meinen, etwas spielen zu müssen, um als „echte“ Experten auf der Bühne bestehen zu können. Die Sehnsucht nach dem „Echten“, aus der im 18. Jahrhundert der Beruf des Schauspielers entstanden ist, erzeugt im 20. und 21. Jahrhundert einen Strudel, in dem zwischen produktions- und wahrnehmungsästhetischen Kategorien nicht mehr unterschieden werden kann. Die Darstellungsmethoden, Spielweisen, theatralischen Wirkungsstrategien und Bewertungen kreisen um die unmögliche Forderung, auf einer Bühne etwas als „echt“ erscheinen zu lassen, von dem doch alle wissen, dass es genau zu diesem Zwecke hergestellt worden ist. Weitet man diese Diskussion noch auf die Frage nach dem „Authentischen“ aus, ist die Verwirrung komplett. Authentizität ist auf einer Bühne immer ein Wahrnehmungseffekt, der durch das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Theaterrealitäten erzeugt wird. Spielen zwei Schauspieler hinter der Vierten Wand eine psychologische Szene und unterbricht der eine von beiden, weil er seinen Text vergessen hat, wird diese Unterbrechung von den meisten Zuschauern als authentisch erlebt. Es könnte aber ebenso gut sein, dass genau diese Unterbrechung in-
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V. Vielfalt des Schauspielens. Masken-, Körper- und Volkstheater 195 szeniert ist, um mit Hilfe des Authentizitätseffekts eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Wenn sich ein Schauspieler auf der Bühne echt verletzt und blutet, ist dieses Blut authentischer als das Kunstblut, das sein Mitspieler ausspuckt, da seine Figur gerade glaubwürdig stirbt? An diesen Fragen entzünden sich seit einigen Jahrzehnten heftige Debatten in der Theaterwissenschaft und Theaterpraxis. Für die Spielweise des Schauspielers ergeben sich daraus sehr unterschiedliche Anforderungen. Für einen Ausbildungszusammenhang muss vorrangiges Interesse sein, in diese häufig verwirrenden Diskurse klare Unterscheidungen einzubringen und die verschiedenen Spielweisen als jeweils für sich gültige Methoden zu unterrichten. In der performativen und postdramatischen Wende1 der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat sich die Sehnsucht nach dem Realen auf der Bühne weiter radikalisiert. Der Verdacht, dem alles nur „Gespielte“ ausgesetzt ist, hat zu weitreichenden Erosionen im Beruf des Schauspielers geführt. Zahlreiche Spielweisen, wie Maskenspiel, Puppenspiel, Spielen von Fremdfiguren etc. sind unter dem Anspruch des „Realen“ diskreditiert worden. Zugleich hat sich die Wahrnehmung der Zuschauer so weit ausdifferenziert, dass zwischen dem analytischen Blick des Theaterwissenschaftlers, dem professionellen des Theatermachers und dem Vergnügen oder Missfallen des „naiven“ Zuschauers nur noch schwer eine Verständigung zu erreichen ist. Was dem Wissenschaftler als besonders gelungen erscheint, da er mit Hilfe seiner Wahrnehmungs- und Interpretationsdiskurse kofabulierend zum aktiven Teil des Kunstwerks werden kann, erscheint unter handwerklichen Gesichtspunkten häufig unzureichend und wirkt auf den normalen Zuschauer oft ermüdend langweilig. Der Beruf des Schauspielers ist durch die beschleunigte Ausdifferenzierung der Theaterformen in eine kritische Phase geraten. Um überhaupt etwas lernen zu können, muss die Ausbildung von erlernbaren Fertigkeiten ausgehen, die vermittelbar und auch bewertbar sind. Verlagert sich die theatrale Wirkung vom Spiel des Schauspielers weg und hin zu den Ereignissen, die die Inszenierung stiftet, wird das Spielen zu einem Bestandteil innerhalb des Kunstwerks „Inszenierung“. Es wird nur noch innerhalb dieses Kontextes beschreib- und beurteil1
Hierzu noch immer grundlegend: Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004 und Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999.
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196 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater bar. Die Verantwortung des Schauspielers für seine Figur, ihre Darstellung und ihre Interpretation ist übergegangen an die Kunst der Inszenierung. Diese erzeugt die Authentizitätseffekte, Aussagen und Darstellungsformen des Theaterabends. Mit dieser noch immer gültigen letzten ästhetischen Wende im europäischen Theater hat sich das Verhältnis von Schauspielen und Inszenieren endgültig zu Gunsten der Regie verschoben. Die zahlreichen Schauspielmethoden, die von ihrem Ursprung her das Theater aus dem Wesen des Spiels erneuern wollten, werden zu Bestandteilen des großen Arsenals an Theatermitteln, die der Inszenierung zur Verfügung stehen und dabei von ihr genutzt, missbraucht oder weiter entwickelt werden. II. „Ich halte es für bemerkenswert, dass das Theater mit dem Aufsteigen des Bürgertums in Europa aufhörte, mit Masken zu spielen. Es blieben nur die Volksmasken der Commedia dell’Arte, die, wenn man sie mit anderen Masken vergleicht, charakterisierende psychologische Masken sind. Als Schauspieler ohne Maske auf die Bühne treten durften, wurde beim Publikum das Gefühl bestärkt, die Menschen als gleich vor Gott oder vor dem Gesetz zu empfinden. Das Bedürfnis danach war groß und das Weglassen der Masken befriedigte es. Es wurde Gleichheit gezeigt – jeder Mensch als ein privates Wesen, der König und alle anderen Menschen als organisch gleich gebaute Wesen. Jeder durfte sich als kleiner Kosmos innerhalb des großen Kosmos ansehen. Das ist ein gewaltiger geschichtlicher Vorgang. Ihn zu verabsolutieren und zu sagen, das nackte menschliche Antlitz sei das Einzige, was auf dem Theater die Würde des Menschen ausstellt, das wäre nicht korrekt. Ich polemisiere nicht gegen das maskenlose Spiel, aber die Schauspielkunst mit Masken hat tatsächlich andere Funktionen und zeigt vom Menschen andere Aspekte, die in der langen bürgerlichen Entwicklung des Theaters ohne Masken beiseite gelassen wurden.“2 Benno Besson beschreibt hier einen der wesentlichen Aspekte der Schauspielkunst, das Maskenspiel als großes Vermächtnis des Welttheaters. Die reiche Tradition des Theaters wurde durch das Ziel einer realistischen 2
Benno Besson: „Diskussion zur Inszenierung von Ödipus Tyrann“ 1967.
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V. Vielfalt des Schauspielens. Masken-, Körper- und Volkstheater 197 und psychologisch glaubwürdigen Darstellung des Menschen auf den schauspielästhetischen Punkt reduziert, dass der Mensch den Menschen nur noch mit den Mitteln des Alltags nachahmen und spielen kann. Das Maskenspiel ist Teil der anderen Theatertradition, in der die artifiziellen Mittel des Schauspiels genutzt werden. Die wichtigsten Impulse vom Maskenspiel für das gegenwärtige europäische Theater sind von der von Jacques Lecoq in Paris gegründeten Theaterschule3 ausgegangen. Eine antipsychologische Darstellung ist das erklärte Ziel dieser Ausbildung, in der Akrobatik, Jonglage, Kampf, Bewegungsanalysen und vor allem das Spiel mit der Maske gelehrt wird. Ziel ist ein „gestisches Theater“, das von dem Glauben getragen wird, dass der Körper über ebenso differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten verfügt wie der durch Sprache sich formulierende Verstand. Die Theatertradition des Buffons, des Clownsspiels, der Commedia dell’Arte, Pantomime und des Melodrams wird hier wiederentdeckt und neuerfunden.4 Zahlreiche prägende Regisseure wie Ariane Mnouchkine, Simon McBurney und Christoph Marthaler waren seine Schüler. III. Bertolt Brecht und Erwin Piscator sahen bei einem legendären Gastspiel der Pekingoper in Moskau 1935 den berühmten Schauspieler Mei Lanfang. Durch die Vorstellung dieser besonderen Spielweise, die sich in jeder Hinsicht von der schauspielerischen Kunst Europas unterschied, wurde eine Entwicklung angestoßen, die bis in die Gegenwart reicht. Der Schauspieler begreift sich nicht mehr als „professioneller Mensch“, wie er sich in der Nachfolge der Erfindung des bürgerlichen Schauspielers verstanden hatte. Das Schauspiel, das durch das asiatische Theater und vor allem durch seine Spielweise inspiriert wird, geht von einem gänzlich anderen Menschenbild und einer entsprechend anders begründeten Darstellung aus. Der Schauspieler in diesem Darstellungsstil5 will keine Menschen in ihrer konkreten psychischen und physischen Gestalt verkörpern, und er will seine Gefühle 3 4 5
École Internationale de Théâtre, 57, rue du Faubourg Saint-Denis, 75010 Paris. Jacques Lecoq: Der poetische Körper. Eine Lehre vom Theaterschaffen, Berlin 2003. Die Vereinfachung, hier die großen Unterschiede zwischen Pekingoper, Nô-Theater und Kabuki-Theater zu übergehen, ist der Notwendigkeit geschuldet, den systematisch anderen Darstellungsstil herauszustellen.
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198 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater nicht mehr glaubhaft illusionistisch auf der Bühne vor Zuschauern erleben und dadurch nacherlebbar machen. Sowohl die Ursache des Spielens als auch die Wirkungsabsicht ist also eine unterschiedliche. Geht der europäische Schauspieler im psychologisch-realistischen Theater von dem Wunsch aus, einen Menschen so darzustellen, dass er emotional und sozial wiedererkannt und nacherlebt werden kann, ist die asiatische Spielweise durch eine große Künstlichkeit geprägt. Im Nô-Theater6 sind die Figuren typologische Gestalten, die durch einen streng kodifizierten Tanz und Gesang dargeboten werden. Das Ziel dieser Darstellung ist nicht die Abbildung eines realen Menschen, sondern die stilisierte Darstellung des inneren Wesens. Das Ideal des Nô ist die vornehme Anmut (yugen), die in langer Übung zur größten Ausdruckstiefe entwickelt wird. Der Schauspieler des Nô geht bei einem Meister in die Lehre und arbeitet sein ganzes Leben an der Darstellung seiner Figur, um sie zur Blüte (hana) zu bringen. Die künstlerische Vollkommenheit ist das Nicht-mehr-Spielen, das zu einer überraschenden Darstellungskunst führt. Die Kunst des Schauspielens besteht in der „Besänftigung der Herzen“. Ihr Wesen ist artistisch und nur von Kennern der Tradition wirklich zu würdigen. Die Aufzeichnungen des Nô-Meisters Seami aus dem 15. Jahrhundert haben in der europäischen Theater-Avantgarde zahlreiche Künstler inspiriert.7 Die zarte Kraft, eine virtuose Beiläufigkeit und künstlerische Komplexität gelten als Ideal eines Theaters, das sich nicht der Illusion verschrieben hat. Seamis Ratschläge sind innerhalb der komplexen Ästhetik des Nô von bezaubernder Einfachheit: „Man darf etwa bei der Darstellung eines Erzürnten nicht vergessen, ein weiches Herz zu bewahren. Das ist der Weg, auch bei heftigem Zorn nicht in Roheit abzugleiten.“8 Zugleich bewahren diese Aufzeichnungen ein Geheimnis, das nicht ausgesprochen werden darf, ohne seinen Inhalt zu zerstören. Dieses Verständnis einer Kunst, die nicht auf direktem Wege, sondern nur durch ausdauernde Übungen und Anleitungen durch einen Meister zu erlangen ist, wird von europäischen Theatergründern der Moderne bewundert. Das Bild des Schauspielers als Artist und asketischer Meister seiner Kunst steht 6 7 8
Die geheime Überlieferung des Nô. Aufgezeichnet von Meister Seami, Frankfurt am Main 1961 (erste Veröffentlichung um 1420). Ausdrückliche Erwähnung findet er bei Ariane Mnouchkine und Peter Brook. Ebd., S. 83.
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V. Vielfalt des Schauspielens. Masken-, Körper- und Volkstheater 199 jedoch in tiefem Widerspruch zum Menschenbild, zu Ausbildungsmethoden und darstellerischen Mitteln des europäischen Schauspielers. Dennoch entstehen in den künstlerischen Avantgarden zu Anfang des 20. Jahrhunderts verschiedene Schauspiel- und Theaterästhetiken, die den artistischen Schauspieler als Zukunft des Theaters ersehnen. IV. Edward Gordon Craig gehört zu den folgenreichsten und radikalsten Theatervisionären aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Aufsatz über den „Schauspieler und die Über-Marionette“ (Quelle 18) begründet ein Bild des Schauspielers, das sich grundsätzlich vom Menschendarsteller unterscheidet. Kunst ist für Craig eine erstrebenswerte Rettungsmöglichkeit der Welt. Sie ist ein Ausdruck des Geistes und nicht der Gefühle, und sie findet durch die Ausstrahlung von Ruhe, Harmonie, Freude und durch den Rhythmus zu einer symbolistischen Form. Der Niedergang der Kunst beginnt für Craig, als der Mensch zum Inhalt und zur ästhetischen Kategorie des Ausdrucks der Kunst wird. Durch den Menschen wird die Form von einer „Panik“ erfasst. Sie wird unrein und verliert ihre Möglichkeit, Ausdruck des Geistigen zu sein. Der Realismus ist ein Verräter an der Phantasie. Diese wird von den Details der realen Welt erstickt, so wie die Konversation zwischen Menschen die Wahrheit unter sich begräbt. Jeder künstlerische Ausdruck hat zum Wesen dessen vorzudringen, was er ausdrücken möchte. Das reine Abbild, wie es der Realismus und noch gesteigert der Naturalismus versuchen, ist keine künstlerische Leistung. Der Mensch schließlich, wenn er die Bühne betritt, ist das Gegenteil einer künstlerischen Darstellung. Der Mensch vermag nicht reine Form zu werden. Jede Bewegung ist von unzähligen Unwägbarkeiten bestimmt, jeder Ausdruck ist eine komplexe Ansammlung von Gefühlen, Absichten und Unabsichtlichkeiten. Der Mensch ist ein Hemmnis auf dem Weg zu einem geistigen Ausdruck in der Kunst. Er verfügt über zu viel lebendige Präsenz, die nicht absolut formbar ist. Craig beschreibt seine Sehnsucht nach einer reinigenden Abstraktion in einem Beispiel: „Hier sehen wir einen Mann, der sich durch einen Schneesturm kämpft. Die Bewegungen beider, des Schnees und des Mannes, sind zur Wirklichkeit gemacht. Nun frage ich mich, ob es nicht besser
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200 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater wäre, wenn wir den Schneesturm nicht sichtbar gemacht hätten, sondern nur den Mann, der seine symbolischen Gesten macht, die uns andeuten sollen, ein Mann kämpfe gegen die Elemente […]. Trotzdem habe ich noch Zweifel. Denn wäre es nicht noch näher der Kunst, wenn wir keinen Mann hätten, sondern nur Bewegungen eines unfassbaren Materials, das die Bewegungen andeuten würde, die die Seele des Mannes macht, indem er gegen die Seele der Natur kämpft?“9 Trotz des Wunsches nach der Abschaffung des Schauspielers als lebendige Verkörperung des Menschen auf der Bühne suchten die beiden großen Vertreter des Naturalismus, Otto Brahm in Berlin und Konstantin Stanislawski am Moskauer Künstlertheater, Craigs Nähe und ließen ihn als Regisseur mit ihrem Ensemble arbeiten. Seine bühnenbildnerischen Erfindungen gingen in die Theatergeschichte ein und haben z. B. in der Ästhetik von Robert Wilson ihren Nachfolger gefunden. Alles Gegenständliche und Abbildende hat Craig von seiner Bühne verbannt. Die Bühne wurde ein Kunstort, auf dem mit Licht, verschiebbaren Screens (gerahmten Leinwänden), auf die das Licht fallen konnte, und großen geometrischen Anordnungen eine eigene, symbolische Welt erschaffen wurde. Seine Theorie zum Schauspieler und vor allem seine Erfindung der „Über-Marionette“ ist weniger gegenständlich als vielmehr als künstlerisches Konzept zu verstehen. „Die über-marionette wird nicht mit dem leben wetteifern, sie wird über das leben hinausgehen. Ihr vorbild wird nicht der mensch aus fleisch und blut, sondern der körper in trance sein; sie wird sich in schönheit hüllen, die dem tode ähnlich ist, und doch lebendigen geist ausstrahlen.“10 Dieses darstellerische Konzept ist schwer verständlich, da es die vielfältigen Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen auf einen mechanischen Punkt reduziert. Die Marionette ist für Craig nicht aus der Puppe entstanden, sondern aus den steinernen Abbildern der Götter. Sie stellt die Kunst des „Zeigens und Verhüllens“ in Perfektion dar. Ihre Drähte liegen offen, ihre Gebärden sind immer zeichenhaft und von unberührbarer Anmut. Wenn sich zwei Marionetten berühren, so stoßen ihre Gliedmaßen 9 10
Edward Gordon Craig: Towards a new theatre, cit. op. nach Joachim Fiebach: Von Craig bis Brecht, 3. erw. und überarbeitete Ausgabe, Berlin 1991, S. 99. Edward Gordon Craig: „Der schauspieler und die über-marionette“, in: ders.: Über die Kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 67 (erste Veröffentlichung Florenz 1907).
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V. Vielfalt des Schauspielens. Masken-, Körper- und Volkstheater 201 nicht wirklich gegeneinander. Sie vollführen die Geste des Streichelns, ohne das Maskengesicht des anderen zu berühren. Die Wirkung ist dadurch zart und künstlerisch geformt zugleich. Jede Bewegung und Regung muss hier aus einer bewussten Absicht und geführten Geste entstehen. Das Spielprinzip ist dadurch eine vollständig geformte Geistigkeit. Die Spontaneität und das wahrhaftige Erleben auf der Bühne sind ersetzt durch eine Choreographie und Inszenierung von Licht, Raum und Bewegung. Für den Schauspieler hat dieses zur Folge, dass seine Ausbildung und sein künstlerisches Selbstverständnis sich absolut von dem der Menschendarstellung unterscheiden müssen. V. Antonin Artaud nannte den Schauspieler, den sein Theater notwendig braucht, einen „Gefühlsathleten“. Er löste das Spiel des Schauspielers vollständig aus der Bindung an die reale Welt. Die Mimesis von Menschen und ihren Handlungen und Gefühlen ist die Lüge des Theaters, die es, wie die Lüge der Sprache, zu durchschlagen gilt. So wie die Sprache nicht die tatsächliche Welt und ihre metaphysische Komponente ausdrücken kann, so wenig können das Spiel des Schauspielers und das Theater ein Abbild der Welt sein. Artaud ist einer der zentralen Künstler aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die aus ihrer tiefen Erschütterung über den Riss zwischen dem Denken des Menschen und seiner Umwelt die Inspiration zu einer neuen Kunst schöpften. Der Eigenwert des künstlerischen Vorgangs wird nun zum Wesen der Kunst. Sie bildet nichts ab und bereitet somit dem Betrachter des Kunstwerks nicht mehr das Vergnügen, dass er diese Abbildung auf seine reale Unwelt rückübersetzen kann. Die Kunst und ihre Hervorbringung sind das Ereignis selbst, das es wahrzunehmen gilt. Der gesprochene Text rückt dementsprechend in den Hintergrund und seine rationale Verständlichkeit ist kein Ziel der Darstellung mehr. Stattdessen gilt es, durch bestimmte Atemtechniken, Blockaden und Verzerrungen das Sprechen selbst zum Ereignis werden zu lassen. Beeinflusst durch das Balinesische Theater und sein animistisches – die Natur durch den Geist beherrschen wollendes – Weltbild, bekommen die Gefühle des Menschen eine Gestalt, die der Schauspieler in sich zu wiederholen und zu erleben hat.
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202 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater „Jede Emotion hat eine organische Grundlage“11, und diese gilt es zu erkennen und zu reizen. Der Körper des Schauspielers wird durch bestimmte Atemtechniken und Rhythmen in einen Zustand der gesteigerten Aktivität gebracht, in dem nun die Kontrolle des Verstandes abgelöst wird durch die Eigenantriebe und Bewegungen des Körpers. Das Wechselspiel von körperlicher Aktivität und emotionalen Zuständen wird zur Grundlage des schauspielerischen Handelns. „Der Glaube an eine fließende Stofflichkeit der Seele ist für den Beruf des Schauspielers unerläßlich. Wissen, daß eine Leidenschaft stofflich ist, daß sie den plastischen Fluktuationen der Materie unterworfen ist, verleiht eine Macht über die Leidenschaften, die unsre Souveränität erweitert.“ Zugleich führen die körperlichen und instinktiven Teile des Menschen ein Eigenleben, dass der Schauspieler zu wecken, zu beherrschen und zu erleiden hat. „Damit man sich seiner Gefühlswelt bedienen kann, wie der Ringer seine Muskulatur gebraucht, muß man das Menschenwesen als ein Double sehen, […] als ein fortwährendes Phantom, in dem die Kräfte der Gefühlswelt strahlen. Ein plastisches, niemals vollendetes Phantom, dessen Form der richtige Schauspieler nachahmt, dem er die Formen und Bilder seiner Sensibilität aufzwingt.“12 VI. Auch Wsewolod Emilowitsch Meyerhold (Quelle 19) suchte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach einem nicht-psychologischen schauspielerischen Ausdruck. Die schauspielerische Tätigkeit sollte nicht die Illusion des Menschen zum Ziel haben, sondern die Kunst des Menschen auf der Bühne zum Ereignis machen. Sein Vorwurf gegen das naturalistische Theater bedient sich wie Craig des Beispiels der Puppe, die sich unter dem Zwang der Illusion ihrer phantastischen und theatralischen Mittel selbst beraubt hat. Der Mensch erscheint auf der Bühne nur als Darsteller des Menschen. Er nimmt sich damit alle artistischen, komödiantischen und grotesken Mittel, die für die Darstellung der Welt und die Erkenntnis fördernde Unterhaltung der Zuschauer doch möglich wären. Er stellt 1912 fest: 11 12
Antonin Artaud: „Eine Gefühlsathletik“, in: ders.: Das Theater und sein Double, Frankfurt am Main 1979, S. 147. Ebd., S. 141
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V. Vielfalt des Schauspielens. Masken-, Körper- und Volkstheater 203 „Im zeitgenössischen Schauspieler ist der Komödiant vom ‚intelligenten Vorleser‘ abgelöst worden. ‚Das Stück wird in Kostümen und Schminke gelesen‘ könnte man auf den Theaterzetteln von heute vermerken … Die Technik des ‚jongleurs‘ wird vom zeitgenössischen Schauspieler überhaupt nicht gebraucht, weil er niemals ‚spielt‘, sondern nur auf der Bühne ‚lebt‘. Ihm ist das magische Wort ‚Spiel‘ unverständlich, weil der Imitator niemals imstande ist, sich zu einer Improvisation aufzuschwingen, die sich auf die unendlich mannigfachen Verflechtungen der einmal erreichten Techniken der Histrionen stützt.“13 Meyerhold setzt die Beziehung zwischen Schauspielern und Zuschauern als den das Theater konstituierenden Vorgang. Das Spiel der Schauspieler ereignet sich vor Zuschauern und für die Zuschauer, und nur wenn diese die theatralische Vereinbarung mitmachen und in sich dieses Spiel wiederholen, um ihre eigene Variante der vorgespielten Geschichte zu erleben, entsteht das lebendige Theater. Es gibt keine Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, wie ihn etwa die Vierte Wand vollzogen hat. Das Vorbild für ein solches Theater findet er im russischen Jahrmarktstheater, dem Balagan. Dort spielten Gaukler, Mimen, Jahrmarktsschreier und buhlten um die Gunst der Besucher. Sie bedienten sich hierfür aller möglichen Mittel wie Masken, grotesker Verzerrungen, körperlicher Artistik und vor allem der komödiantischen Überzeichnungen. Hier wird keine abbildhafte Illusion des alltäglichen Lebens gegeben, sondern in der theatralischen Darstellung liegt eine Verfremdung, die das Dargestellte zu einem unterhaltsamen und belebenden Ereignis macht. Die demonstrative Spielweise, die der Jahrmarkt erfordert, wird von Meyerhold in eine besondere, anspruchsvolle Technik übersetzt. Die Biomechanik umfasst ein Kompendium von Übungen, die der Entwicklung und Formung des körperlichen Ausdrucksvermögens dienen. Ziel dieser Übungen ist es, plastische Bewegungen und bildmäßige Gruppierungen zu ermöglichen. Der Schauspieler erwirbt hierbei eine Körpertechnik, die ihn zu einem demonstrativen Spiel befähigt, das die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt vorwiegend komödiantisch zeigt. Meyerholds Schriften können nur einen schwachen Eindruck 13
Wsewolod E. Meyerhold: „Balagan“, cit. op. Gerhard Ebert: Improvisation, Berlin 1999, S. 17.
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204 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater von der gewaltigen Wirkung der biomechanischen Spielweise vermitteln. Hier gilt noch mehr als für die anderen schauspieltheoretischen Texte, dass allein die Praxis einen Zugang eröffnen kann. Mit Meyerhold beginnt eine Tradition in der Ausbildung und Erforschung von Spielweisen, die sich explizit gegen die Menschendarstellung aufgrund der Stanislawskischen Parameter des wahrhaftigen Erlebens und der physischen Handlungen wenden. Der Fokus der Ausbildung verschiebt sich entsprechend. Übungen, die der Befreiung und Auflockerung des psychischen Erlebens in der besonderen Situation der Bühne und der darauf darzustellenden dramatischen Handlung gelten, treten in den Hintergrund. Stattdessen machen die Übungen der Biomechanik den Körper in seinen zahlreichen Möglichkeiten des Ausdrucks zur Quelle des Schauspielens. Das Vorbild für die Bewegungen ist in der Biomechanik das wilde Tier oder das Kind. Deren Bewegungsabläufe sind von natürlicher Einfachheit. Jede Bewegung beginnt mit einem vorherigen Ausholen, einem imaginären oder realen Schwungholen, das Meyerhold „Otkas“ nennt. Dieser ist der Anfang aller Bewegung und muss für die theatralische Vergrößerung eigens trainiert werden.14 Nach dem Otkas folgt die geschmeidige und präzise Bewegung (Posyl), die in einem Ziel endet (Stoika). Der Körper verharrt in einer Pause. Daneben gibt es die gefüllte Pause, den „Rakurs“, die ein Zwischenstadium einer Bewegung ist und sich von der toten Unbeweglichkeit, der Pose, unterscheidet. Das Ziel aller Übungen ist das Training des Körpers, der zu einem ganzheitlichen Instrument werden soll. Der Schauspieler tritt 14
Meyerhold zitiert in einem Artikel über „Vorspiel und Nachspiel“ eine Beschreibung der Darstellung der Rolle des Benedick aus Viel Lärm um Nichts von Shakespeare, in der genau die gewünschte Wirkung des Wechsels beschrieben wird, die auch außerhalb der Biomechanik stattfindet: „Benedick tritt aus seinem Versteck hinter dem Busch hervor, wo er soeben das absichtlich für ihn geführte Gespräch belauscht hat, wie Beatrice ihn liebt. Benedick steht lange und schaut unverwandt, mit einem vor Verblüffung erstarrten Gesicht ins Publikum. Plötzlich beginnen die Lippen ein ganz klein wenig zu beben. Nun schaut aufmerksam auf die Augen von Benedick, die immer noch starr auf einen Punkt gerichtet sind, aber aus dem Bart beginnt kaum merklich nach und nach ein triumphierend glückliches Lächeln hervorzubrechen; der Künstler spricht kein Wort, aber man sieht, wie in Benedick eine heiße Welle von Freude hochkommt, die nicht aufzuhalten ist: Die Muskeln beginnen zu lachen, die Wangen, das Lächeln breitet sich kontinuierlich über das bebende Gesicht aus, und plötzlich wird dieses unbewußt freudige Gefühl ganz von einem Gedanken durchdrungen und, als Schlußakkord des ganzen mimischen Spiels, lodern die bis dahin immer noch vor Verwunderung starren Augen in heller Freude auf. Nun ist schon die ganze Figur des Benedick durch und durch ein einziger Ausbruch stürmischen Glücks, und der Zuschauersaal dröhnt von Applaus, obwohl der Künstler noch kein einziges Wort gesprochen hat und erst jetzt der Monolog beginnt.“ In: Vsevolod Meyerhold: Theaterarbeit 1917 – 1930, hg. von Rosemarie Tietze, München 1974, S. 104 (Erstveröffentlichung 1925).
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V. Vielfalt des Schauspielens. Masken-, Körper- und Volkstheater 205 in diesen Spielweisen nicht mehr als Mensch auf die Bühne, der über die grundsätzlich gleichen Mittel des Ausdrucks verfügt wie die Zuschauer. Er betritt die Bühne als ein Künstler, der über besondere, schwer zu erlernende Techniken verfügt, die das Theater zu einem kunstvollen Ereignis machen. Zugleich beginnt mit dieser Neubegründung des Schauspielens eine Theatererneuerung, die sich der vielfältigen Möglichkeiten und Eigenschaften des Körpers annimmt. Die Zustände, in die der Körper aufgrund von Wiederholungen, Erschöpfungen, Meditationen, Atemübungen etc. geraten kann, sind irritierend und können zu einem theatralischen Ereignis werden. Hier stoßen schauspielerische Übungen an die Grenze ihrer Nachbarkunst, der Performance. In der Performance gelten andere Wirkungsgesetze als im Theater. Die Vorgänge innerhalb einer Performance haben keine zeichenhafte Bedeutung. Sie bedeuten das, was sie sind. Sie ahmen keine außer ihr liegende Wirklichkeit nach, sie stellen nicht dar und sie folgen keiner dramatischen Struktur von Handlung. Das Ziel der Performance ist die Erzeugung eines Eigenwerts. Meistens wird dieser durch eine lange Zeitdauer erreicht. Wenn jemand regungslos auf einem Stuhl sitzt, ist dieses eine Minute interessant, nach wenigen Minuten beginnen sich die meisten zu langweilen, nach zehn Minuten beginnen einige, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, was hier wohl gerade vor sich geht, dadurch werden sie zu Autoren des Kunstwerks. Dauert das Sitzen aber mehrere Stunden oder gar Tage, beginnt sich sowohl der Körper des Sitzenden als auch die Wahrnehmung der Betrachtenden auf eine ungeahnte Weise zu verändern. Diese Veränderung im Sein und im Denken, die über den Weg der Mitautorschaft des Betrachters erfolgt, ist die künstlerische Absicht der Performance. Hier entsteht ein Eigenwert, im gewählten Beispiel der des Sitzens, Aushaltens und Wartens. Dieses performative „Sitzen“ unterscheidet sich grundsätzlich von dem Erlebnis, das man gehabt hätte, wenn das Sitzen von einem Schauspieler dargestellt worden wäre. Dieser hätte in den ersten Minuten ebenfalls regungslos gesessen, um dann jedoch das Warten, die Unruhe, die Langeweile und die körperlichen Anzeichen von Erschöpfung und Schmerz spielerisch darzustellen. Die gesamte Entwicklung, die performativ mehrere Stunden gedauert hätte, wäre durch die schauspielerische Darstellung auf wenige Minuten
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206 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater verkürzt worden. Dieser Unterschied in der Etablierung eines Verhältnisses zwischen Kunstwerk und Betrachter ist für die Entwicklung der modernen Kunst und des Theaters grundlegend.15 Hier scheiden sich die Geister und folgen entweder dem Weg der dramatischen Darstellung von Welt oder der performativen Wende. Im ersten Fall werden Schauspieler benötigt, die in der Lage sind, die menschlichen Eigenarten, die die dramatische Struktur des Textes vorgibt, glaubwürdig und reproduzierbar auf einer Bühne darstellen zu können. Im Fall der Performance liegt die Herausforderung in der Grenzüberschreitung dessen, was der Körper und der Geist im alltäglichen Sinne zu leisten vermögen. VII. Ausgiebige und exerzitienhafte Körpererkundungen bilden bei Jerzy Grotowski die Grundlage seiner Übungen für Schauspieler. Ausgehend von den zahlreichen Techniken der Schauspielausbildung sucht Grotowski nach dem „wahren“ Schauspieler, dessen Dasein auf der Bühne von keiner Blockade zu einem Ver-Halten gebracht wird. Jede absichtliche Form der Darstellung oder Selbstdarstellung soll überwunden werden. Stattdessen sucht er eine „Technik der ‚Trance‘ und der Einbeziehung aller psychischen und körperlichen Kräfte des Schauspielers, die aus den intimsten Schichten seines Seins und seiner Instinkte hervorgehen und in einer Art ‚Durchstrahlen’ hervorsprudeln.“16 In seinem grundlegenden Vortrag zum „Armen Theater“ bemerkt Grotowski, dass seine Ausbildung mit Stanislawskis „physischen Handlungen“ begonnnen hat und er danach alle wichtigen europäischen und orientalischen Methoden der Schauspielkunst studiert hat. Seine Methode ist nun keine Ansammlung von Fertigkeiten, sondern versucht, die oben beschriebenen Blockierungen zwischen den psychischen Impulsen und den körperlichen Aktionen zu minimieren. Impuls und Aktionen sollen zusammenfallen. Die Sehnsucht nach dem rein körperlich existierenden Schauspieler, der hierdurch größtmögliche theatralische Präsenz erreicht, produziert im 15
16
Marina Abramović, die führende Performance-Künstlerin unserer Zeit, brachte diesen Unterschied einfach auf den Punkt: Theater ist so zu tun, als ob. Performance ist echt. Was sie in diese Zusammenhang mit „echt“ meint, darüber streiten sich die Kunsthistoriker. Jerzy Grotowski: Für ein armes Theater, Berlin 1994, S. 14.
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V. Vielfalt des Schauspielens. Masken-, Körper- und Volkstheater 207 20. Jahrhundert eine lange Kette von Schülern und zum Teil selbst ernannten Meistern. Peter Brook gehört neben Ariane Mnouchkine sicherlich zu den größten Theaterkünstlern, die sich um die Erneuerung und Befreiung des Schauspielers aus der Dominanz der illusionistischen Menschendarstellung verdient gemacht haben. Er hat in seinem langen Leben als Theaterlehrer und Theaterforscher fast die gesamte Welt bereist, um die unterschiedlichen Spielweisen zu erforschen. Seine Aufzeichnungen dieser Theaterarbeit liegen inzwischen in zahlreichen Veröffentlichungen auch auf Deutsch vor. Leider war es hier wie in einigen anderen Fällen nicht möglich, die Abdruckrechte einzelner Passagen für dieses Buch zu erhalten.17 Ariane Mnouchkine hat sich in ihrer mehr als vierzigjährigen Theaterarbeit ebenfalls intensiv mit den außereuropäischen Spielweisen – vor allem denen des indischen und japanischen Theaters – beschäftigt. Durch ihre große Kenntnis der verschiedenen Theatertraditionen ist sie behutsam in der Festlegung auf bestimmte Schauspieltheorien geworden und verfügt zugleich über eine tiefe Kenntnis dessen, was sie die „grundlegenden Gesetze“ des Spiels nennt. Diese erkennt man nur manchmal und sie geraten leicht wieder in Vergessenheit, „denn nur die Praxis läßt ein Gesetz oder eine Tradition plötzlich wieder zu Tage treten.“ Die Flüchtigkeit dieser Gesetze in der Gegenwart macht das Wesen des Spiels aus. Sie wiederzuentdecken ist ein beglückender Moment, den zu erzeugen es viele Umwege und Übungen benötigt. Kein Verfahren, keine Technik und keine Theorie können den Erfolg der Probe sichern. Die Gesetze sind immer da, aber sie können nicht immer von den Künstlern erkannt und befolgt werden. „Sie sind so geheimnisvoll und zugleich so flüchtig. Bisweilen hat man den Eindruck, daß eine Probe damit verstreicht, sich an Gesetze zu erinnern, die man am Tag zuvor vollkommen zu kennen glaubte. Plötzlich gibt es während einer Probe kein Theater mehr. Ein Schauspieler vermag nicht mehr zu spielen, einem Regisseur gelingt es nicht mehr, einem Schauspieler zu helfen. Man fragt sich, warum, und man versteht es nicht. Man hat den Eindruck, die Gesetze zu beachten, und entdeckt auf einmal, daß man Wesent17
Für die wesentlichen Positionen von Peter Brook, Jerzy Grotowski und Jacques Lecoq muss insofern auf die Literaturliste verwiesen werden.
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208 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater liches vergessen hat, wie etwa, in der Gegenwart zu sein. Ich glaube, daß das Theater für den Schauspieler die Kunst der Gegenwart ist. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft. Es gibt die Gegenwart, den gegenwärtigen Akt.“18 Neben dem Schauspiel, das sich dem Realismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen verschrieben hat, gibt es eine sehr viel ältere Tradition, die die Kunst des Spielens zum Wesen der Darstellung macht. Diese voneinander getrennten Spielweisen finden in der Erzeugung der Emotionen eine Entsprechung. Im Realismus wird die gespielte Figur mit dem Ziel der Identifikation gespielt und angeschaut. Die Gefühle werden, wenn sie glaubhaft verkörpert sind, vom Zuschauer durch die Identifikation mitempfunden. In den artifiziellen Darstellungsformen werden die Gefühle des Zuschauers durch ein völlig anderes schauspielerisches Verfahren hervorgerufen. Im Puppentheater kann der Tod einer Puppe z. B. dadurch dargestellt werden, dass der Spieler seine Hand aus dem Puppenkörper zieht. Dieser fällt dann als nunmehr unbelebtes Material in sich zusammen. Eine sehr eindringliche Verkörperung des Todes, ohne dass Spieler oder Puppe das Gefühl des Sterbens dargestellt hätten. Wenn die Wirkung auf den Zuschauer durch solche Mittel erfolgt, wird die Frage nach dem „heißen“ und dem „kalten“ Schauspieler, die so lange das psychologisch identifizierende Spiel bestimmt hat, hinfällig. Die Mittel der Darstellung sind nicht psychologisch und können dennoch vielfältige Emotionen beim Zuschauer hervorrufen. Lediglich im Puppentheater ist diese Wirkung auch für europäische Zuschauer noch ein bekanntes Erlebnis. VIII. Roland Barthes benannte pointiert eines der fundamentalen Missverständnisse eines Theaters, das auf der mythisierenden Erhöhung des schauspielerischen Körpers beruht. Er entlarvt die Lust des Zuschauers, den entsetzlichen physischen Anstrengungen beiwohnen zu wollen, als bürgerliches Effektivitätsdenken. Aus der „Physiologie ein quantitatives Mittel [zu] machen, […] so daß auch die Leidenschaften eine Ware werden, ein Gegenstand 18
Ariane Mnouchkine: „Man erfindet keine Spieltheorie mehr“, in: Josette Féral (Hg.): Ariane Mnouchkine. Das Théatre du Soleil, Berlin 2003, S. 31.
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V. Vielfalt des Schauspielens. Masken-, Körper- und Volkstheater 209 des Handels, eingepaßt in ein Tauschsystem: ich gebe dem Theater mein Geld, und dafür verlange ich eine gut sichtbare, nahezu berechenbare Leidenschaft. Und wenn der Schauspieler das Maß schön vollmacht, wenn er es versteht, seinen Körper vor meinen Augen, ohne zu schwindeln, ordentlich arbeiten zu lassen, wenn ich nicht an der Mühe zweifeln kann, die er sich gibt, dann erkläre ich ihn für ausgezeichnet und bezeuge meine Freude darüber, daß ich mein Geld auf ein Talent gesetzt habe, das es nicht wegstibitzt, sondern es mir hundertfach in Form von wirklichen Tränen und Schweiß zurückzahlt.“19 Heiner Goebbels dreht die hier kritisierte Wirkungsweise lakonisch um, und belässt die Rührung beim Zuschauer, während er den Schauspieler mit technischen, musikalischen und inszenatorischen Aufgaben in konkrete Handlungen auf der Bühne verwickelt. Er vertritt die Position des von „außen“ nach „innen“ Spielens in einer besonderen Art und Weise und begründet darauf eine postdramatische Spielweise, die inzwischen für zahlreiche andere Regisseure gilt. (Quelle 20) In einem sehr anschaulichen Vortrag beschrieb einst Dario Fo die Commedia dell’Arte, die als Mutter aller Volkstheaterformen gelten mag. Er verblüffte mit der Feststellung, dass es die Commedia dell’Arte, so wie die Theaterleute des 20. Jahrhunderts von ihr sprechen, nie gegeben habe. Doch sind seine Beschreibungen (Quelle 16) von einer plastischen Lebendigkeit, dass man mit einem italienischen Sprichwort sagen müsste: Ist es auch keine wahre Geschichte, so ist sie doch sehr wahr erfunden. Das Theater und vor allem das Spiel der Schauspieler sind nicht konservierbar. Jede Rekonstruktion ist eine Konstruktion, die mit den sinnlichen Erlebnissen und Wahrnehmungen arbeiten muss, die in der Gegenwart zur Verfügung stehen. Die historischen Wurzeln zu kennen, soweit es möglich ist, kann helfen, die Gegenwart besser zu verstehen.
19
Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 20 f.
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Quelle 16 Dario Fo Kleines Handbuch des Schauspielers Die Schauspieler der Commedia dell’arte verfügten über ein unglaubliches Reservoir an Situationen, Dialogen, Gags, Floskeln und Schwafeleien, die sie sämtlich auswendig kannten und deren sie sich im richtigen Augenblick mit großem Stilgefühl bedienten und so den Eindruck vermittelten, als spielten sie aus dem Stegreif. Es war ein Besitzstand, der sich in der Praxis ungezählter Auftritte aufgebaut hatte, aus den unterschiedlichsten Stücken stammte und zum Teil direkt in den Vorstellungen entstanden war. Der größte Teil war mit Sicherheit das Ergebnis von Probieren und Lernen. Jeder Schauspieler lernte Dutzende von „Tiraden“ zu den verschiedenen Inhalten, die der Rolle oder der Maske entsprachen, die er zu spielen hatte. Von Isabella Andreini kennen wir eine große Anzahl leidenschaftlicher und witziger Monologe für verliebte Frauen: Zorn, Wut, Eifersucht, Verachtung, Sehnsucht, Verzweiflung. Alle diese Versatzstücke konnten in den unterschiedlichsten Situationen angewandt oder sogar umgedreht und zur Unterbrechung eines Dialogs eingesetzt werden. Ein Beispiel: Eine Frau spielt Wut und Verachtung, verbirgt dahinter jedoch eine unersättliche Sehnsucht. Mitten in ihrer „Tirade“ vergibt sie dem Liebhaber, der nun seinerseits den Beleidigten spielt und sie sogar zu hassen beginnt. Die Frau stürzt sich auf ihn, überhäuft ihn mit Schimpfwörtern, setzt zu einer grotesken Schmährede gegen den Jüngling an, wobei sie ihn nachäfft. Der geht zum Gegenangriff über und karikiert sie seinerseits. Die Frau ist indigniert, aber schließlich amüsiert sie sich darüber. Beide fangen an zu lachen und rufen sich die Albernheiten in Erinnerung, mit denen sie gespielt haben, um sich gegenseitig interessant zu machen. Schließlich fallen sie einander in die Arme und seufzen, vor lauter Rührung und weil sie so gelacht haben. Man kann aus dieser einen Sequenz ein ganzes Dutzend von Varianten erstellen, indem man die Tempi und Gradationen verändert. Die Komödianten waren Meister in dieser Art von Montagen. Das Spiel der Unterbrechun-
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Quelle 16 211 gen und Wiederholungen ließ sich über den gesamten Canevas [Ablauf der Situationen, auf einem Zettel aufgeschrieben zur Orientierung während der Aufführung] hinziehen. […] Ich möchte einen Punkt in der Erörterung des Schauspielers der Commedia dell’arte besonders hervorheben, und zwar: warum sich diese Art des Theaters durch solche Originalität von allen anderen unterscheidet. Dabei ist diese Originalität weder eine Folge des besonderen Gebrauchs der Masken, wie manch einer glaubt, noch besteht sie in der Erfassung von Personen in vorgebildeten Stereotypen. Es handelt sich vielmehr um eine wahrhaft revolutionäre Weise, Theater zu spielen, und die beruht auf der absolut einzigartigen Rolle, die der Schauspieler einnimmt. Ich hielte es deshalb für richtig, das Genre nicht „Commedia dell’arte“ zu nennen, sondern, wie einige Wissenschaftler vorgeschlagen haben, als „Schauspieler-Komödie“ oder „Komödie der Komödianten“ zu bezeichnen. Auf ihren Schultern ruht das gesamte Spiel des Theaters: der SchauspielerKomödiant ist Autor, ist Theaterunternehmer und Veranstalter, Erzähler und Regisseur zugleich. Er wechselt unauffällig vom ersten Schauspieler in die Nebenrolle und verblüfft mit ständigen überraschenden Spielwechseln nicht nur das Publikum, sondern auch die eigenen Mitspieler. […] Damit kommen wir endlich zur Grundlage der Commedia dell’arte, die gewiß nicht zufällig die Basis eines großen Teils des orientalischen Theaters ist. Sobald man die Maske aufsetzt, um eine bestimmte Figur der Commedia dell’arte zu spielen, stellt man fest, daß das Spiel auf dem Becken beruht und daß alle Bewegungen von hier ausgehen. Die Figur des Alten zum Beispiel besteht darin, daß das Becken weich nach vorne schwingt. Der sogenannte klassische Harlekin des 18. Jahrhunderts streckt den Bauch raus, reckt die Pobacken nach oben und wird dadurch zu einer Haltung gezwungen, die einem Tanz mit Sprüngen und Doppelschritten ähnelt. Der archaische Harlekin des 17. Jahrhunderts steht dagegen aufrecht im Rumpf und bewegt sich, indem er sich in den Hüften wiegt, wobei er fast das Gleichgewicht verliert.
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212 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater Dieses Spiel mit den Hüften findet seine Entsprechung im fernöstlichen Theater. Das japanische Wort „kaza“ zum Beispiel bedeutet Hüfte und Bauch, und im Kabuki, dem klassischen japanischen Theater, gibt es eine zusammengesetzte Bedeutung für „das Theater der Hüfte“.
Dario Fo: Kleines Handbuch des Schauspielers, Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 1989, S. 15, 21, 55 (Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz) Dario Fo, geboren 1926, ist ein italienischer Schauspieler, Regisseur und Autor. 1958 gründete er zusammen mit seiner Frau Franca Rame die Theatergruppe „La compagnia Fo – Rame“. 1970 gründete er das Theaterkollektiv „La Commune“ in Mailand. Er erhielt zahlreiche Preise für seine politische Theaterarbeit und 1997 den Literaturnobelpreis.
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Quelle 17 213
Quelle 17 Edward Gordon Craig Über den Schauspieler Als mensch ist er hoch zu schätzen, er ist offen, grosszügig und besitzt den echtesten kameradschaftsgeist. Ich schildere ihnen hier einen schauspieler, den ich kenne, und der als typisch gelten kann. Er ist ein heiterer geselle, der gemeinschaftssinn im theater verbreitet und grosszügig den jüngeren und weniger erfahrenen schauspielern beisteht; er spricht beständig von seiner arbeit, ist ein wenig theatralisch in seinem auftreten, steht seinen mann auch in kleineren, undankbaren rollen, verfügt über eine stimme, die jeden aufhorchen lässt, und hat von der kunst so wenig ahnung wie der kuckuck vom nestbau. Alles, was nach einem entwurf oder plan geschieht, ist seinem wesen fremd. Aber als rücksichtsvoller mensch weiss er, dass noch andere auf der bühne agieren ausser ihm und dass es ein bestimmtes gefühl der einheit zwischen seinem und ihrem tun geben muss; doch sagt ihm dies seine gutmütigkeit, nicht sein kunstverstand, und so schafft er nichts wirklich zuverlässiges. Instinkt und erfahrung haben ihn einige dinge gelehrt (ich will sie nicht gerade tricks nennen), die er beständig wiederholt. Zum beispiel hat er gelernt, dass ein plötzliches zurücknehmen der stimme von forte zu piano die kraft hat, einen akzent zu setzen, der das publikum genauso packt wie ein crescendo von piano nach forte. Er weiss auch, dass bei einem lachen viele schattierungen möglich sind, nicht bloss hahaha. Er weiss, dass gute laune auf dem theater etwas seltenes ist und dass eine mitreissende persönlichkeit immer willkommen ist. Aber eins weiss er nicht, dass nämlich die wirkung der mitreissenden persönlichkeit und des schauspielerischen instinkts verdoppelt und sogar verdreifacht werden kann, wenn beides von wissenschaftlicher kenntnis, das heisst von kunstverstand, gelenkt wird. Wenn er mich so sprechen hörte, dann wäre er sicher sehr verwundert und überzeugt, ich redete geschraubt, trocken und meine worte wären für einen künstler ohne jedes interesse. Er denkt, dass gefühle nur durch gefühle entstehen können, und verachtet alles, was mit berechnung zusammenhängt. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, dass jede kunst mit berechnung zu tun hat; wer das verkennt, kann nur ein unvollkommener
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214 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater schauspieler sein. Die natur allein reicht nicht aus, ein kunstwerk zu schaffen. Es ist nicht das privileg von bäumen, bächen, bergen, kunstwerke zu veranlassen, denn sonst erhielte ja alles, was nur mit bäumen, bächen, bergen in zusammenhang steht, schon dadurch eine schöne und bestimmte form. Nein, nur der mensch besitzt kraft seines geistes und willens das besondere vermögen, kunstwerke zu schaffen. Mein freund glaubt wahrscheinlich auch, Shakespeare hätte den Othello in einem zustand leidenschaftlicher eifersucht geschaffen und er hätte nur niederzuschreiben brauchen, was ihm eben in den sinn kam. Ich aber bin, und nicht als einziger, der auffassung, dass alle worte ihren weg durch den kopf des dichters nahmen und dass ihm erst dieser geistige prozess, erst seine lebhafte phantasie und die strenge und ruhe seines verstandes die möglichkeit gaben, den ganzen reichtum seiner natur vollständig und klar auszudrücken, so und nicht anders. Daraus folgt, dass der schauspieler, der beispielsweise Othello spielen möchte, nicht nur die reiche natur haben muss, aus der er schöpfen kann, sondern dazu auch die phantasie braucht, sich etwas lebhaft vorzustellen, und ebenso den verstand, uns dies in der richtigen weise wiederzugeben. Deshalb wird der ideale schauspieler derjenige sein, der zugleich eine reiche natürliche begabung und hohen verstand besitzt. Von seiner Begabung brauchen wir nicht weiter zu sprechen, sie ist umfassend. Von seinem verstand aber lässt sich sagen, dass er, je vortrefflicher er ist, sich desto weniger freiheiten gestatten wird, da er weiss, wieviel von seinem mitstreiter, dem gefühl abhängt, und um so weniger freiheit wird er auch dem gefühl einräumen, da er weiss, wie wichtig hier seine strengste kontrolle ist. Schliesslich wird der verstand sich selbst und die gefühle zu einer so feinen disziplin erziehen, dass die darstellung sich nicht mehr in rastloser aktivität bis zum siedepunkt erhitzt, sondern dass ein zustand vollkommen gemässigter glut geschaffen wird, den der verstand jederzeit aufrechterhalten kann. Der ideale schauspieler wäre der, dessen verstand vollkommene symbole für seine ganze natur finden und uns vorweisen könnte. Er würde nicht als Othello auf der bühne umhertoben und -wüten, mit den augen rollen und die hände ringen, um uns den eindruck von eifersucht zu geben; er würde vielmehr seinem verstande befehlen, in den eigenen tiefen alles, was dort verborgen liegt, zu erforschen und sich dann in die sphäre der phantasie zu
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Quelle 17 215 begeben und dort symbole zu formen, die, ohne die unverhüllte leidenschaft zur schau zu stellen, doch einen deutlichen eindruck von ihr vermitteln. Und der vollkommene schauspieler, der so vorginge, würde irgendwann erkennen, dass solche symbole vorwiegend aus materialien gemacht werden müssen, die ausserhalb seiner person liegen. Aber darüber werde ich mich am ende unserer unterhaltung genauer äussern. Denn dann will ich ihnen darlegen, dass der schauspieler, wie er heute ist, endlich verschwinden und in etwas anderem aufgehen muss, wenn wir in unserem reich des theaters kunstwerke sehen wollen. Inzwischen vergessen sie nicht, dass keiner dem idealen schauspieler – und damit der vollkommenen kontrolle des verstandes über das gefühl – näher gekommen ist als Henry Irving. Es gibt viele bücher, die von ihm berichten; das beste buch aber ist sein gesicht. Beschaffen sie sich soviel sie können bilder, fotografien und zeichnungen von ihm und versuchen sie, darin zu lesen. Als erstes werden sie eine maske finden, und das ist von grosser bedeutung. Wenn sie dies gesicht betrachten, werden sie schwerlich sagen können, dass es etwas von den schwächen verrät, die vielleicht in seiner natur gelegen haben mögen. Versuchen sie, sich dieses gesicht in bewegung vorzustellen, einer bewegung, die völlig der mächtigen kontrolle des geistes unterworfen ist. Können sie nicht sehen, dass der mund sich auf befehl des verstandes bewegt und dass diese selbe bewegung, die man ausdruck nennt, jeden gedanken so sicher und endgültig formt, wie ein zeichner seine linie auf das papier bringt oder die saite einen ton erzeugt? Sehen sie nicht, wie sich die augen langsam wenden und dann erweitern? Allein diese beiden bewegungen lehrten uns soviel für die zukunft der theaterkunst, waren so klar angelegt für den richtigen gebrauch des ausdrucks und eindeutig entfernt von einem falschen gebrauch, dass ich immer wieder sehr erstaunt bin, warum so viele leute nicht klarer erkannt haben, wie die zukunft aussehen muss. Ich möchte sagen, das gesicht Henry Irvings war das bindeglied zwischen jener lächerlichen und verkrampften gesichtsmimik der letzten jahrhunderte und der maske, die anstelle des menschlichen gesichtes in der nahen zukunft wieder verwendet werden wird. Versuchen sie, an all dieses zu denken, wenn sie die hoffnung verlieren, dass sie jemals ihre natur, wie sie sich in ihrem gesicht und ihrem körper
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216 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater ausdrückt, ausreichend unter kontrolle bringen können. Lassen sie es sich gesagt sein: es gibt etwas anderes als ihr gesicht und ihren körper, etwas, das sie handhaben können und das leichter unter kontrolle zu bringen ist. Nehmen sie es zur kenntnis, aber versuchen sie vorläufig noch nicht, sich darauf einzustellen. Bleiben sie weiterhin schauspieler und lernen sie weiterhin alles, was gelernt werden muss, auch wie man es anfängt, das gesicht unter kontrolle zu halten; dann lernen sie schliesslich auch, dass es überhaupt nicht vollständig unter kontrolle zu halten ist. Ich gebe ihnen diese hoffnung, damit sie in diesem verzweifelten augenblick nicht dasselbe tun wie die anderen schauspieler. Auch ihnen ist diese schwierigkeit begegnet, aber sie sind ihr ausgewichen, haben kompromisse geschlossen und sind vor der schlussfolgerung zurückgeschreckt, zu der ein künstler kommen muss, wenn er sich selbst treu bleiben will. Nämlich: dass die maske das einzig richtige mittel ist, den seelischen ausdruck im gesichtsausdruck gestalt werden zu lassen.
Edward Gordon Craig: „Über den Schauspieler“, in: ders.: Über die Kunst des Theaters, Gerhardt Verlag, Berlin 1969, S. 19 – 21 Edward Gordon Craig (1872 – 1966), englischer Grafiker, Bühnenbildner, Theatertheoretiker sowie Verfasser programmatischer Schriften, die ihn international bekannt machten. Craig gilt als einer der wichtigsten Bühnenvisionäre und Theaterreformer seiner Zeit. Entgegen dem vorherrschenden Realismus strebte er nach einer abstrakten, poetischen, suggestiven Bühnenästhetik, basierend auf Licht und Schatten. 1913 gründete er in Florenz eine Theaterschule, in der Forschung und Praxis eng verbunden waren.
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Quelle 18 217
Quelle 18 Edward Gordon Craig Der schauspieler und die über-marionette Florenz, märz 1907 „Um das theater zu retten, muss das theater zerstört werden; alle schauspieler und schauspielerinnen müssen an der pest sterben … sie richten die kunst zugrunde.“ Eleonora Duse1 Es ist immer eine streitfrage gewesen, ob die schauspielkunst wirklich eine kunst ist und ob also der schauspieler ein künstler sei oder etwas ganz anderes. Zwar gibt es kaum hinweise dafür, dass diese frage irgendwann die führenden geister einer epoche erregt hat, doch zweifellos hätten sie bei einer ernsthaften auseinandersetzung mit diesem problem sich derselben forschungsmethode bedient wie in der betrachtung der anderen künste, der musik und der dichtung, der architektur, bildhauerei und malerei. Andererseits aber wird dieses thema seit längerem in bestimmten kreisen lebhaft erörtert. Die beteiligten sind selten selbst schauspieler, kaum je überhaupt vom theater, und alle beweisen sie viel leidenschaftliche anteilnahme und sehr wenig sachkenntnis. Die gründe derer, die leugnen, dass die schauspielkunst eine wirkliche kunst, der schauspieler ein künstler sei, sind im allgemeinen so unvernünftig und persönlich, dass gerade deshalb wohl die schauspieler sich nicht die mühe gemacht haben, darauf einzugehen. So kehrt mit jeder spielzeit der regelmässige angriff auf den schauspieler und seinen lustigen beruf wieder, ein angriff, der gewöhnlich mit dem rückzug des feindes endet. In der regel sind es die literaten oder irgendwelche privatleute, die das feindliche lager bilden. Sie berufen sich darauf, ihr leben lang ins theater gegangen zu sein, oder auch darauf, in ihrem ganzen leben noch nie im theater gewesen zu sein, und polemisieren aus gründen, die sie selbst wissen mögen. Ich habe diese regelmässigen attacken von saison zu saison verfolgt; sie scheinen hauptsächlich aus streitsucht, persönlicher feindschaft und eitelkeit herzurühren, so unlogisch sind 1
In „Studies in seven arts Arthur Symons“, Constable, 1900.
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218 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater sie von anfang bis ende. Auf solcher grundlage kann man den schauspieler und seinen beruf nicht angreifen. Ich habe hier nicht vor, mich den polemiken dieser art anzuschliessen. Ich möchte ihnen lediglich die logischen zusammenhänge eines merkwürdigen sachverhalts darlegen, und ich glaube, über diese lässt sich nicht streiten. Die schauspielkunst ist keine echte kunst. Es ist deshalb unrichtig, vom schauspieler als von einem künstler zu sprechen. Denn alles zufällige ist feind des künstlers. Kunst ist das genaue gegenteil des chaotischen, und chaos entsteht aus dem zusammenprall vieler zufälle. Kunst beruht auf plan. Es versteht sich daher von selbst, dass zur erschaffung eines kunstwerks nur mit den materialien gearbeitet werden darf, über die man planend verfügen kann. Der mensch gehört nicht zu diesen materialien. […] Der schauspieler muss das theater räumen, und seinen platz wird die unbelebte figur einnehmen – wir nennen sie die über-marionette, bis sie sich selbst einen besseren namen erworben hat. Viel ist über die marionette geschrieben worden, einige ausgezeichnete bücher, und kunstwerke sind durch sie inspiriert worden. Heute, in ihrer unglücklichsten zeit, betrachten die meisten leute sie als eine bessere art von puppe, und denken, sie habe sich auch aus der puppe entwickelt. Das ist nicht richtig. Sie ist ein abkömmling der steinbilder in den alten tempeln: das heute recht degenerierte abbild eines gottes. Als bleibende innige freundin der kinder versteht sie es immer noch, ihre verehrer zu wählen und an sich zu fesseln. Wenn jemand heute eine puppe zeichnet, so macht er ein steifes, komisch aussehendes ding daraus. Er hat nicht im geringsten verstanden, welche idee der marionette, wie wir sie heute nennen, zugrunde liegt. Er verwechselt den ernsten ausdruck des gesichtes und die ruhe des körpers mit platter dummheit und eckiger hässlichkeit. Trotzdem sind auch moderne marionetten etwas ausserordentliches. Der applaus mag donnern oder spärlich tröpfeln, ihre herzen schlagen nicht schneller, nicht langsamer, ihre zeichenhaften gebärden werden nicht hastig oder verwirrt, und auch von blumen und liebesbezeigungen überschüttet, bleibt ihre primadonna so feierlich, schön und unnahbar wie immer. In der marionette liegt mehr als ein genialer einfall, mehr als das flüchtige aufblitzen der sich entfaltenden grossen persönlichkeit. Die marionette ist für mich der letzte abglanz einer
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Quelle 18 219 edlen und schönen kunst vergangener kulturen. Aber wie jede kunst, wenn sie in grobe und niedrige hände gerät, so ist auch die marionette mit schande bedeckt worden. Heute sind die marionetten nur noch erbärmliche komödianten. Sie imitieren die komödianten des grösseren, lebendigeren theaters. Sie treten auf, nur um auf den rücken zu fallen. Sie trinken, um betrunken schwanken zu können, und lieben sich, um belacht zu werden. Sie haben den rat ihrer mutter sphinx vergessen. Ihre körper haben die ernste grazie verloren und sind steif geworden. Ihre augen haben die unendliche feinheit verloren, mit der sie zu sehen schienen, jetzt blicken sie starr. Die marionetten zeigen offen ihre knarrenden drähte und sind in ihrer hölzernen weisheit hahnenstolz. Sie erinnern sich nicht mehr daran, dass ihre kunst von der zurückhaltung geprägt sein sollte, die wir manchmal im werke anderer künstler sehen, und dass die höchste kunst die ist, welche die anstrengung verbirgt und den schöpfer vergessen lässt. Irre ich mich, oder ist es nicht der alte griechische reisende um 800 v. Chr., der einen besuch des tempeltheaters im ägyptischen Theben beschreibt und uns mitteilt, dass er für dessen schönheit gewonnen worden wäre durch die „edle künstlichkeit“? „Ich trat in das haus der visionen und sah weit entfernt die schöne braune königin auf ihrem thron sitzen – auf ihrem grab, denn als beides erschien es mir. Ich sank auf mein ruhebett und beobachtete ihre symbolischen bewegungen. Ihr rhythmus änderte sich mit derselben leichtigkeit, mit der ihre bewegungen von glied zu glied glitten, und mit denselben zeichen der ruhe offenbarte sie uns die gedanken ihrer brust. So ernst und schön verharrte sie im zustand ihres grams, dass es uns schien, als könne kein gram sie angreifen. Keine verzerrung des körpers und gesichts liess ahnen, dass sie ergriffen war; die leidenschaft und die qual wurden beständig aufgefangen von ihren händen, die sie vornehm hielten und still vorwiesen. Ihre arme und hände erschienen wie schlanke wasserfontänen, die emporstiegen, dann abbrachen und wieder herabfielen, wobei sie die blassen finger wie zweige über dem leib entfalteten. Es wäre uns all dies wie die offenbarung der kunst erschienen, hätte ich nicht in anderen kunstbeispielen der ägypter den gleichen geist wohnen sehen. Die ’kunst des zeigens und verhüllens’, wie sie es nennen, ist in ihrem lande eine solche geistige
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220 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater macht, dass sie einen wichtigen teil ihrer religion bildet. Wir können nur von dieser kraft und grazie lernen. Denn es ist unmöglich, solchen zeremonien ohne grosse körperliche und geistige erfrischung beizuwohnen.“2 Dies ist um 800 v. Chr. geschrieben. Wer weiss, ob nicht die marionette eines tages wieder das treue medium für die schönheitsvorstellungen des künstlers sein wird. Sollen wir nicht hoffnungsvoll dem tag entgegenschauen, der uns die kunstfigur, das symbolische geschöpf durch die geschicklichkeit des künstlers wiederbringt, auf dass wir erneut die „edle künstlichkeit“ erreichen, von der der alte schriftsteller spricht? Denn dann werden wir nicht länger unter dem verderblichen einfluss jener emotionalen bekenntnisse menschlicher schwächen stehen, denen die menschen allabendlich beiwohnen und die doch nur im zuschauer wiederum die schwächen hervorrufen, die auf der bühne gezeigt werden. Wir müssen uns daher um die wiederherstellung jener götterbilder bemühen, und wir müssen – nicht zufrieden mit den marionettenpuppen – die über-marionette schaffen. Die über-marionette wird nicht mit dem leben weitteifern, sie wird über das leben hinausgehen. Ihr vorbild wird nicht der mensch aus fleisch und blut, sondern der körper in trance sein; sie wird sich in eine schönheit hüllen, die dem tode ähnlich ist, und doch lebendigen geist ausstrahlen. […]
Edward Gordon Craig: „Der schauspieler und die über-marionette“, in: ders.: Über die Kunst des Theaters, Gerhardt Verlag, Berlin 1969, S. 51 f., S. 56 f.(Originalausgabe London 1911)
2
Von Craig offensichtlich erfundenes Zitat.
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Quelle 19 221
Quelle 19 Wsewolod Meyerhold Die Prinzipien der Biomechanik 1. Die gesamte Biomechanik ist auf Folgendem gegründet: Wenn die Nasenspitze tätig ist, arbeitet auch der gesamte Körper. An der Arbeit des unbedeutendsten Organs nimmt der gesamte Körper teil. Man muß zuerst die Stabilität des gesamten Körpers finden. Bei der geringsten Anspannung arbeitet der gesamte Körper. 2. Das Sujet in der Übung ist eine Notwendigkeit, der man schwerlich entgehen kann. Das Spiel durch den Körper wird bei einem Sujet wesentlich erleichtert. Aber das Sujet darf einen nie mitreißen, und man muß versuchen, das Thema nicht „auszuspielen“. Man muß strengste Aufmerksamkeit auf jedes Element der Übung legen, es durchdenken und sich bewußt machen. Klarheit in der Arbeit kann man nur so erreichen. 3. Bei der Kontrolle der Arbeit muß jeder Teilnehmer zeigen, daß er sich die Methode angeeignet hat und daß er die Anweisungen bewußt ausführt. 4. Jeder Teilnehmer muß wissen, wann er von einer Position zur anderen wechseln kann. Unbedingt eine Zäsur nach jedem Element der Aufgabe. 5. In der Biomechanik gestaltet sich jede Bewegung aus drei Momenten: 1) Absicht, 2) Gleichgewicht, 3) Ausführung. 6. Die Orientierung im Raum bei einer großen Anzahl von Figuren ist eminent wichtig. Die Aufgabe eines jeden ist es, seinen eigenen Weg in der komplizierten Bewegung der Masse zu finden. 7. Bei einer Massenübung muß jeder seinen Platz einnehmen, indem er ihn im Verhältnis zu all seinen Partnern und zu dem Raum, in dem er arbeitet, plant. Die Exaktheit der Orientierung, die Präzision der Berechnung und ein schnelles Augenmaß müssen maximal entwickelt sein (solch eine Anpassung, solch ein Augenmaß entwickeln sich bei Bewohnern großer Städte fast automatisch). 8. Die Koordinierung im Raum und auf der Bühne, die Fähigkeit, sich
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222 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater im Fluß der Masse zu finden, Anpassungsfähigkeit, Berechnung und exaktes Augenmaß sind die wichtigsten Forderungen der Biomechanik. 9. Der Ausruf als Gradmesser der Erregbarkeit muß immer eine technische Stütze haben. Der Ausruf kann nur zugelassen werden, wenn die gesamte Anspannung, das gesamte technische Material schon organisiert sind. 10. Absolute Ruhe und das exakt gefundene Gleichgewicht sind die erste Bedingung einer guten Arbeit. 11. Bei einer mit dem Partner gemeinsam ausgeführten Übung muß jeder, nachdem er sich überprüft hat, durch das Zeichen des Otkas [eine vorbereitende Gegenbewegung, ein Schwungholen] oder auf anderem Wege, auf jeden Fall unsichtbar für den Zuschauer, dem Partner seine Bereitschaft zur Ausführung der nächsten Aufgabe signalisieren. 12. Die richtige Ausfüllung der Fläche – das Halten der notwendigen Abstände – ist die Aufgabe und Sorge eines jeden Teilnehmers. 13. Bei einer Übung muß man sich jede Art von „Aktionismus“ und „Temperament“ verbieten, man soll sich nicht beeilen und den Raum nicht zu eng machen. Selbstbeherrschung, Ruhe und methodisches Vorgehen zuallererst. 14. Jeder muß die überzeugende Haltung eines Menschen im Gleichgewicht haben, es muß eine Reserve von Positionen, Posen und von verschiedenen Rakurs-Momenten [Bewusstsein für die plastische Stellung des sich im Raum bewegenden eigenen Körpers] des Körpers geben, um das Gleichgewicht zu halten (Gokusai). Das im jeweiligen Moment benötigte Gleichgewicht muß jeder selbst finden. 15. Jeder muß verstehen und wissen, auf welchem Bein er steht – auf dem rechten, auf dem linken oder auf beiden. Jede Veränderung der Lage des Körpers und seiner einzelnen Glieder muß sofort registriert werden. 16. Die Geste ist das Resultat der Arbeit des ganzen Körpers. Die Geste ist immer das Resultat dessen, was der darstellende Schauspieler an Techniken im Vorrat hat. 17. Die Erregbarkeit entsteht im Prozeß der Arbeit als ein Resultat der erfolgreichen Nutzung des gut trainierten Materials.
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Quelle 19 223 18. Jede Kunst ist – Organisation des Materials. Um sein Material zu organisieren, muß der Schauspieler einen kolossalen Vorrat an technischen Mitteln haben. Die Schwierigkeit und die Besonderheit der schauspielerischen Kunst bestehen darin, daß der Schauspieler zugleich Material und Organisator ist. Die Schauspielerei ist eine vertrackte Angelegenheit. Der Schauspieler ist in jeder Sekunde auch Komponist. 19. Die Schwierigkeit der schauspielerischen Kunst besteht in der überaus strengen Abstimmung aller Elemente in ihrer Arbeit. Das Wohlergehen des Schauspielers besteht in seiner guten physischen Verfassung. 20. Der physische Zustand des trainierten Materials ist die Stütze unseres Spielsystems. Jede Aufgabe wird bei der Ausführung exakt auf die Abschnitte des Bühnenraumes aufgeteilt – dann sind alle Bewegungen des Schauspielers, sogar die Reflexe, immer exakt organisiert. 21. Der Betrachter muß immer in Bewegung gesetzt sein. Während er eine Übung beobachtet, verfolgt er die Arbeit des Aufstellens und Drehens der Hebel. 22. Jede Bewegung muß bis zum Schluß bewußt gemacht sein. In jedem Element der Aufgabe muß es einen eigenen Stützpunkt geben – der Anfang und das Ende einer jeden Aufgabe müssen streng akzentuiert sein. Der Ausgangspunkt muß immer exakt markiert sein. Jede Übung ist eine Reihe solcher Punkte. 23. In jeder kollektiven Übung muß jeder Teilnehmer sich ein für allemal von dem permanenten Wunsch eines jeden Schauspielers verabschieden – vom Wunsch, Solist zu sein. 24. Die biomechanische Fortbewegung des Schauspielers auf der Bühne ist halb Gehen, halb Laufen, immer auf Federn. 25. Jede Übung muß sauber ausgeführt werden, nicht nur im Sinn einer richtigen Ausführung, sondern auch im Sinn der Parade, der Nutzung der Bühne, des Effekts usw. 26. Für jede Aktion des Schauspielers gibt es eine Parade. 27. Die Linie des Fortgangs der allgemeinen Bewegung ist für jeden Teilnehmer der kollektiven Bewegung bindend. 28. Jede Kunst ist auf Selbstbeschränkung gegründet. Die Kunst ist immer und zuallererst ein Ringen mit dem Material.
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224 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater 29. Man darf den Bewegungen keinen freien Lauf lassen. Man muß ökonomisch mit den Bewegungen umgehen. Daran wird der Apparat des Regisseurs und des Schauspielers gemessen. 30. Piano und forte sind immer relativ. Der Zuschauer muß immer den Eindruck einer nicht ausgenutzten Reserve haben. Nirgendwo und niemals darf der Schauspieler seinen Vorrat ganz aufbrauchen. Sogar die offenste Geste muß immer die Möglichkeit einer noch offeneren belassen. 31. Wenn man ein Kommando erhalten hat, muß man zum festgelegten Platz gehen und dabei eine im voraus berechnete Anzahl von Schritten machen, damit es ökonomisch ist – das ist der beste Test für das Augenmaß. 32. Die Biomechanik läßt nichts Zufälliges zu, alles muß bewußt und nach vorheriger Berechnung erfolgen. In jedem Moment muß der Übende exakt feststellen und wissen, in welcher Position sich sein Körper befindet, und er soll frei jedes Glied für die Erfüllung seiner Absicht nutzen. 33. Ein allgemeines Theatergesetz lautet wie folgt: Wer seinem Temperament am Anfang der Arbeit freien Lauf läßt, der verbraucht es unwiderruflich vor ihrem Abschluß und verwischt so die Ausführung. 34. Jede Art von Oberflächlichkeit im technischen Bereich ist unzulässig. Komfort und Wohlergehen entstehen, wenn das Material technisch gut ausgestattet und durch solides Training vorbereitet ist. Erst dann kann man dem freien Lauf lassen, was man Erregbarkeit nennt, ansonsten wird die Arbeit abreißen. 35. Bei vorbereitenden Übungen auf Proben muß man alle Emotionen nur leicht, punktuell andeuten, indem man nur exakt zeigt, wann und wo die Explosion passieren muß. Ein technisch nicht vorbereiteter Aufschrei bringt einen unumgänglich aus dem Gleichgewicht; man muß es von neuem suchen, das heißt die ganze Arbeit von vorn beginnen. 36. Bei einzelnen Elementen der Arbeit braucht man einen konzentrierten Zustand im Vorhersehen des zukünftigen Übergangs und der Veränderung der Bewegung. Daher die Punkte, die Ausgangs- und die Endpunkte, die Stationen. 37. Beim Schauspieler steht an erster Stelle immer die Überprüfung des Körpers. Im Kopf haben wir nicht die Figur und ihren Charakter, son-
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Quelle 19 225 dern den Vorrat des technischen Materials. Der Schauspieler befindet sich immer in der Lage eines Menschen, der sein Material organisiert. Er muß seine Bandbreite und alle Verfahren, über die er technisch für die Erfüllung der jeweiligen Absicht verfügt, genau kennen. Die Qualifikation eines Schauspielers ist immer direkt proportional zur Anzahl der Kombinationen seiner in Reserve befindlichen Verfahren. 38. Jeder Übung geht eine Parade voraus, der die eigene Sammlung auf die Arbeit folgt. Nur mit richtig eingestelltem Material kann man an die Erfüllung der Aufgabe gehen. 39. Wie die Musik eine genaue Abfolge von Takten ist, die das musikalische Ganze nicht zerstören, so ist auch unsere Übung eine Abfolge von mathematisch exakten Bewegungen, die genau herauskristallisiert werden müssen, was dem deutlichen Hervortreten des gesamten Musters aber nicht zuwiderläuft. 40. Wenn die Übung sich in kleine Elemente unterteilt, muß man sie staccato durchführen; legato kommt, wenn die Übung wie ein ununterbrochen fließendes Ganzes ausgeführt wird. 41. Beim Spiel mit den Händen und den Fingern braucht man eine gewaltige Anspannung und eine gewaltige Stabilität des ganzen Körpers. 42. In der Arbeit ist strengste Ökonomie, höchster Taylorismus unabdingbar. Alle Aufgaben müssen mit einer minimalen Anzahl von Verfahren so zweckmäßig wie möglich ausgeführt werden. 43. Abstimmung, Aufmerksamkeit, Hartnäckigkeit sind Elemente unseres Systems. Eine konzentrierte Aufmerksamkeit im physischen Bereich ist das Wichtigste. Ein freier Zustand eines schlottrigen, laxen Menschen (Duncanismus) ist unzulässig. Bei uns ist alles organisiert, jeder Schritt, jede kleinste Bewegung wird registriert. Das Augenmaß ist immer in Aktion. 44. Das erste Prinzip der Biomechanik ist folgendes: Der Körper ist eine Maschine, der Arbeitende ist der Maschinist. […]
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226 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater
Wsewolod Meyerhold (zusammengestellt von M. Korenew): „Die Prinzipien der Biomechanik“, in Jörg Bochow (Hg.): Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, Alexander Verlag, Berlin 1997, S. 82 – 88 (Deutsch von Jörg Bochow) Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1874 – 1940), russischer Schauspieler und Regisseur. Durch seinen Lehrer Stanislawski anfänglich noch am Realismus orientiert, wandte sich Meyerhold im Laufe seines Schaffens gänzlich davon ab und entwickelte einen symbolistischen Stil, der seine Bühnenkunst in eine radikal antirealistische Ästhetik umkehrte. Im eigens gegründeten Wsewolod-Meyerhold-Theater unterrichtete er die sogenannte Biomechanik, die den Körper des Schauspielers als mechanisches Instrument versteht. 1940 in einem Stalinschen Schauprozess ermordet.
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Quelle 20 227
Quelle 20 Heiner Goebbels Wenn ich möchte, dass ein Schauspieler weint, geb’ ich ihm eine Zwiebel Es gibt einen Augenblick in der Musiktheaterarbeit Eraritjaritjaka, in dem wir den französischen Schauspieler André Wilms eine Zeile aus den Aufzeichnungen Canettis sagen hören, und wir sind tief bewegt, weil sich der Schauspieler dabei zu ersterbender Musik eines Streichquartetts eine Träne aus den Augen wischt: „So sprechen, als wäre es der letzte Satz, der einem erlaubt wäre.“1 Wir sind bewegt, obwohl er den Satz nicht mit viel Innerlichkeit hervorbringt – denn gleichzeitig ist er damit beschäftigt, ein Rührei vorzubereiten: Er würzt die bereits schaumig geschlagenen Eier mit Pfeffer und Salz, schneidet mit der Schere etwas Schnittlauch in die Glasschüssel, lässt in der Pfanne die Butter schmelzen und schält nun eine Zwiebel. Ist sie es, die ihm die Tränen in die Augen treibt? Ist es das Rührei, das uns rührt? Aber mit der Zwiebel ist es längst nicht getan: Es ist der Rhythmus des Streichquartetts, in dem der Schauspieler die Zwiebel klein schneidet; alle Bewegungen und Vorgänge und Texte dieser ca. 35 Minuten langen Sequenz sind durch die Musik definiert (wie auch alle Kameraeinstellungen, die diese Bilder live einfangen und auf die Bühnenrückwand projizieren). Wann er die Ärmel der Strickjacke hochstreift, wie er den Brieföffner zur Musik ansetzt, die Eier aufschlägt, die Zeitung liest, die Socken sortiert etc. – all das folgt, Takt für Takt, genau der Partitur des Streichquartetts von Maurice Ravel, das gleichzeitig auf der Bühne gespielt wird. Ich umstelle den Schauspieler mit rein äußerlichen Aufgaben, die aber im Kontext der Inszenierung, als Zusammenspiel der Texte mit der Musik, dem Raum, dem Licht und dem Spiel nicht äußerlich bleiben, sondern alle Sinne des Zuschauers erreichen (man riecht auch das Rührei …), zum Nachdenken anregen und sehr wohl berühren können. Die vielbeschworene „Innerlichkeit“ findet sehr wohl statt, aber da, wo sie hingehört – im Publikum. Ich möchte beschreiben, wie sich in meinen Arbeiten das Drama verlagert von der Repräsentation eines dramatischen Konflikts, der auf der 1
Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942 – 1972, Frankfurt am Main 1976, S. 222.
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228 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater Bühne gespielt wird (als in der Regel psychologisch ausgetragene Konfrontation von Protagonisten), zu einem Drama der Wahrnehmung, das sich für den Zuschauer ereignet: aus dem, was man sieht und hört, was im Zuschauen ausgelöst und erfahren wird, was man aus dem Gesehenen und Gehörten macht. Die erste Frage des Schauspielers, der mit mir arbeitet, ist demnach nicht, „Woher komme ich?“ oder „Wer bin ich?“, sondern: „Was muss sich auf der Bühne ereignen, damit die Fragen, die man an einen Text, an ein Stück, an eine Arbeit hat, auch dort, wo sie mit Interesse aufgenommen und vielleicht beantwortet werden können – nämlich bei den Zuschauern – auch ankommen?“ Das ist keine Degradierung des Schauspielers, ganz im Gegenteil. Es bedeutet, ihn zum Komplizen, zum Koregisseur zu machen, von dem man denselben Überblick über die zu verarbeitenden Mittel auf der Bühne (von denen er eines ist) erwarten kann, wie vom Regisseur. Ich stelle die höchsten Anforderungen an Schauspieler und kann auch – nicht ohne Stolz – sagen, dass ich das Glück hatte und immer noch habe, mit einigen der hervorragendsten der Zunft gearbeitet zu haben oder immer noch arbeiten zu dürfen. Und ich gehe grundsätzlich davon aus, dass ein Schauspieler sehr wohl über große Virtuosität verfügt und damit zu spielen weiß, aber dabei nicht notwendigerweise etwas vorzugeben hat oder „sich verstellen“, d. h. in eine dramatische Figur verwandeln muss. Und dass dies im Kontext meiner Arrangements nicht vonnöten ist – kurz: dass wir nicht einmal darüber sprechen. Wir sprechen nicht über Figuren, sondern über Aufgaben. Skepsis und Misstrauen in die Repräsentation begleiten mich grundsätzlich. Skepsis nicht nur gegen Schauspieler, sondern grundsätzlich gegen das Theater: gegen ein Bühnenbild, das illustriert, gegen ein lediglich funktionales Licht, gegen kommentierende Kostüme und gegen Texte, die vor allem Mitteilungen machen wollen und keine eigene künstlerische Realität behaupten. Mein Misstrauen gegenüber der Repräsentationsfähigkeit des Schauspielers ist also weder persönlich gemeint noch gegen den Berufsstand gerichtet: im Gegenteil, ich glaube einfach, der Schauspieler kann weit mehr. Nur
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Quelle 20 229 steht er – der uns Zuschauern und damit dem „richtigen Leben“ so ähnlich scheint – am ehesten im Verdacht eines „als ob“, denn für ihn mag es besonders schwierig sein, dem Spiel eine „eigene künstlerische Realität“ zu verleihen, die nicht nur eine Kopie einer anderen Realität ist. Eine Hauswand auf der Bühne kann riesengroß sein oder winzig klein – und damit Abstraktes evozieren. Ein Schauspieler ist zunächst immer einer von uns, ein Mensch. Szenische Formen – chorisch rhythmische Texte wie bei Einar Schleef oder entschleunigte, stilisierte Körper und ihre Trennung von der Sprache wie bei Robert Wilson – helfen ihm (und den Zuschauern), dabei das Stanislawskische „als ob“ gar nicht erst aufkommen zu lassen. Oder eben Aufgaben. Das kann – in der Tradition der choreographischen und performativen Experimente der 1960er Jahre bis heute, von Yvonne Rainer bis Mathilde Monnier – als „task performance“ oder „score“ bezeichnet werden: Wenn ich möchte, dass der Schauspieler verzweifelt ist, gebe ich ihm viel zu tun. Wenn ich möchte, dass er seine Erschöpfung zeigt, gebe ich ihm – wie in der Musiktheaterarbeit Max Black – nach einem atemberaubenden Marathon einen Stuhl.2 Aber formuliert nicht jeder Regisseur Aufgaben? Er beschreibt bei den Proben die Emotion der Figur während der Szene und nennt das „Subtext“. Die Idee ist charmant, setzt aber voraus, dass man den Subtext kennt. Und dass es entweder nur einen gibt oder man davon ausgeht, dass der Subtext, den der Regisseur als solchen definiert, der allein selig machende ist. Das Problem ist nur: den Subtext gibt es nicht. Jeder gute literarische Text hat viele Bedeutungsschichten, Sinn-Ebenen, Lesarten. Und sie werden leicht vom Subtext verdeckt, zugeschüttet, eingeschnürt, indem quasi eine einzige Interpretation, ein „privates“ Gefühl zur dominanten Verständigungsebene gemacht wird – statt sie zu öffnen und aufzuschließen für die vielen Augen und Ohren und Köpfe des Publikums, die schlauer sind als ein kleines Regieteam. Der Aberglaube einer Regie, das „Verstehen“ eines Textes lasse sich damit sicherstellen und eins zu eins auf die Bühne bringen und plausibel 2
Vgl. Gerald Siegmund: Die Aufgabe des Schauspielers – Task Performance als Choreographie, in: Wolfgang Sandner (Hg.): Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 127 – 131.
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230 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater nachvollziehen, ist fahrlässig. Im Gegenteil: Das Ausstellen von „Plausibilität“ und „verstanden zu haben“ durch einen souverän wirkenden Schauspieler, der den Text beherrscht (statt unter ihm, hinter ihm zu stehen und ihn nur ‚anzubieten‘), kann sogar unsere Erfahrung eines Textes schmälern. Die Folge sind Inszenierungen, bei denen schon in der ersten Szene klar ist, wie das Stück nach drei Stunden ausgehen wird … „Verstehen“ wird meist verwechselt mit einer Reduktion auf das bereits Bekannte. Klischierte Bilder und Gesten illustrieren den Gedanken und am Ende sagt das Publikum, es habe das Stück (oder die Interpretation) „verstanden“. Aber ist das nicht das Gegenteil von künstlerischer Erfahrung, die doch immer auch die Erfahrung des Fremden, Unbekannten meint? Ich möchte mit „Verständnis“ eher auf die vielstimmige Offenheit von Sprache anspielen, die einen Text nicht festzurrt. Verstehen muss immer individuell realisiert werden, es kann sich nur in Kopf und Körper des Zuschauers ereignen. Und man kann es nicht „vormachen“. Man kann es umstellen und Techniken bereitstellen, die es möglich machen. Dafür benutze ich persönlich im Übrigen weniger den Begriff der „task“ oder des „score“, sondern den des „Widerstands“ und der „Form“. Was nicht ausschließt, dass auch der Schauspieler die Arbeit an Widerständen und mit formalen Konfrontationen als produktive Herausforderung genießen kann. Auf der Probebühne des Gießener Instituts hörte ich einmal durch die offene Tür einen Lehrbeauftragten zu den Studierenden sagen: „Man darf einem Schauspieler nie sagen: lauter oder leiser, langsamer oder schneller …, sondern muss das immer über die Figur, die Psychologie begründen.“ Ich habe darauf die Tür zur Probebühne sofort wieder geschlossen, weil ich nämlich genau so arbeite: nach rein musikalischen, akustischen, formalen Kriterien. Ich habe mich auch immer geweigert, die frappierende Technik von Ruth Berghaus anzuwenden, die darin bestand, einerseits formal und ästhetisch zu denken, dies aber in Sekundenschnelle für den Schauspieler überzeugend in Psychologie zu übersetzen. Wenn ich ihr z. B. bei unserer Zusammenarbeit an Dantons Tod aus musikalischen Gründen geraten habe, eine Passage langsamer sprechen zu lassen, dolmetschte sie diesen Vorschlag quasi simultan für den Schauspieler mit Hinweis auf die Figur:
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Quelle 20 231 „Mensch, denk doch mal darüber nach, was der Robespierre gerade durchgemacht hat!“ – nicht ohne mir dabei mit dem anderen Auge verschwörerisch zuzublinzeln. Der Rhythmus zum Beispiel ist ein solcher möglicher Widerstand: D. h. die Komposition einer Form für Text oder Bewegung, die den Schauspieler und seine Sprache quasi als Instrumentalist in den Zustand versetzt, der dem Hörenden beim Aufschließen der Texte hilft. Denn auch unsere Wahrnehmung operiert in Rhythmen, in Seh-Rhythmen ebenso wie in der körperlich-rhythmischen Erfahrung des Hörens von Sprache, Musik, Klang, Geräusch. Dabei kann das Aufschließen der Texte durchaus im Wortsinn gemeint sein: als akustisch hörbare Instrumentierung der Interpunktion, zum Beispiel. Die Syntax zu hören, d. h. wo das Komma sitzt oder das Zeilenende die Semantik bricht, kann der entscheidende Impuls sein, einen Satz jenseits eingefahrener Bedeutungsebenen neu zu verstehen. Die Blockierung eines offenen „Verständnisses“ findet genau dadurch statt, dass der Regiebegriff vom „Subtext“ und der „Emotion“ quasi stellvertretend für das Publikum an das Innerste heranwill und damit (für den Zuschauer) das eigentliche emotionale Zentrum (mit dem Schauspieler) besetzt. D. h. das Wichtigste dabei ist, den Grund des Spiels nicht aus der Innerlichkeit zu holen, sondern aus der Realität dessen, was der Schauspieler tatsächlich auf der Bühne tut. Es geht also darum, nicht die Selbstbezüglichkeit, das Sich-in-der-Rolle-Wohlfühlen, In-ihr-Aufgehen, die Textsicherheit und Souveränität des Schauspielens ins Zentrum zu stellen. Wir brauchen diese Widerstände, wenn Theater nicht zu den Medien gehören soll, die „alle Beziehungen zwischen den Menschen als spontan, improvisatorisch, unmittelbar menschlich erscheinen lassen“3 – wie Adorno/Eisler es einmal über schlechte Filmmusik formuliert haben. Ich versuche den Schauspielern, Performern, Musikern eine Instanz zur Seite bzw. in den Weg zu stellen, mit der sie sich auseinandersetzen, an der sie sich reiben können, und die den Eindruck dieser improvisatorischen Spontaneität gar nicht aufkommen lässt – Aufgaben eben. 3
Theodor W. Adorno, Hanns Eisler: Komposition für den Film, Hamburg 1996 (München 1969), S. 41.
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232 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater Welche Rolle spielt die Arbeit an äußerlichen Formen in der derzeitigen Schauspielausbildung? Wird dabei ein Bewusstsein über die ideologischen Komponenten des Handwerks vermittelt – als institutionalisierte Ästhetik einer theatralen Konvention, die gut hundert Jahre alt ist? Der Verdacht drängt sich auf, dass das nahezu ausschließliche Reden über „Stoffe“ und „Inhalte“ und die Vermeidung formaler Studien uns doch nur nahelegen wollen, die darstellerischen Konventionen als „natürlich“ zu begreifen und sie nicht zu hinterfragen; ein quasi organisches Spiel zu verabsolutieren, um uns unreflektiert der Wirkung dieser quasi „natürlichen“ Formen auszuliefern. Wie die Arbeit an der Form zu heftigen Konflikten führen kann, beschreibt der norwegische Regisseur und Theaterwissenschaftler Tore Vagn Lid aus eigener Erfahrung bei Musiktheaterarbeiten mit Schauspielern: „Stanislawskis Programm des psychologischen Realismus rückt den Schauspieler ins Zentrum des Theaters, nicht als äußerer Realismus, sondern eben in des Schauspielers innerer Vorstellung von der einheitlichen, realistischen und glaubwürdigen Situation. In der Arbeit des Schauspielers, bei Stanislawski gleichbedeutend mit der Verinnerlichung des dramatischen Textes, wird also der Kernbegriff der Motivation an die Definition und Klärung einer organischen Situation geknüpft […] Wenn die ‚Bausteine‘ der Theaterarbeit klar definierte (analysierte) Situationen, unterteilt in eine organische Kette von Handlungen und Reaktionen, sind, und diese wiederum auf dem individuellen und relationalen Verständnis und der Auffassung des Schauspielers von Rhythmus und Struktur beruhen, werden mit Notwendigkeit Prämissen für die übrigen dramaturgischen und musikdramaturgischen Parameter des Theaterraums gesetzt. So liegt zum Beispiel im Aufhalten dessen, was vom Schauspieler als eine organisch prozesshafte Situation aufgefasst wird, um so Raum für einen musikalischen Kommentar zu schaffen, der Keim zu einem Konflikt. Ein Konflikt mit der Identifikation, der ‚Einheit‘ zwischen Schauspieler und Rolle. Das alles verstärkt diese identifikationsleitende Schwerkraft (‚die Arbeit des Schauspielers an sich selbst/die Arbeit des Schauspielers an der Rolle‘), verstärkt ein subjektives und expressives Verhalten zum Szenischen und zum musikalischen Material.“4
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Quelle 20 233 Es geht also um eine Vermeidung dieser vorgeblich organischen Plausibilität, um eine Spannung und Aufspaltung zwischen Ausübendem und Material. Gerade in der szenischen Arbeit mit Musikern kann man beobachten, wie konstruktiv ihr instrumentelles Verhältnis zum eigenen Körper sein kann. Trotz geringer Probenzeiten und hochkomplexer szenischer Aufgaben war es mir zum Beispiel möglich, mit den Musikern des Ensemble Modern innerhalb weniger Wochen eine Oper zu inszenieren (Landschaft mit entfernten Verwandten), in deren Verlauf die Musiker nicht nur virtuos ihre Instrumente gespielt haben, sondern auch singen, tanzen, sprechen und nebenbei noch ca. 300 Kostüme wechseln konnten. Stimmt der Eindruck, beim Schauspieler müsse im Gegensatz zum Musiker immer alles durch den Körper und das Körpergedächtnis? Wird ein derart instrumentelles Verhältnis in der Schauspielausbildung vielleicht blockiert? Die Arbeit an der Form ist keine Reduktion der Fähigkeiten eines Schauspielers; man muss als Schauspieler trotzdem bzw. gerade „besonders gut sein“. Und in die Auseinandersetzung mit den Aufgaben gehen spielerische Potentiale ein, die nicht aus dem Abgrund der Psyche motiviert sind, sondern eben ihre Kraft aus dem Widerstand gegen die Aufgaben beziehen. Es geht um ein doppeltes Drama der Elemente: für den Schauspieler (mit bzw. gegen die anderen Theatermittel) wie für den Zuschauer (als Drama der Sinne, der Wahrnehmung). Hier fließt die von André Eiermann5 explizierte These ein, dass künstlerische Erfahrung in der Aufführung nicht ausschließlich einer direkten Begegnung, Spiegelung, Identifikation entspringen muss, sondern ebenso als trianguläre, indirekte, nicht unmittelbare Beziehung mit einem medialisierten Dritten zu denken ist. Für den Schauspieler wie für den Zuschauer bedeutet das: keine Einfühlung in das Spiegelbild, sondern die Bereitschaft, Interesse für das Unbekannte aufzubringen, es anzuerkennen und sich mit dem auseinanderzusetzen, was uns möglicherweise fremd bleibt.
4
5
Tore Vagn Lid: „Gegenseitige Verfremdungen“ – Theater als kritischer Erfahrungsraum im Stoffwechsel zwischen Bühne und Musik, 2010, vgl. Teil II Kap II „Stanislawskis ‚System‘: Die Arbeit des Theaters ‚an sich selbst‘“. S. 210 ff. (noch unveröffentlicht). André Eiermann: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld 2009.
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234 V. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater Heiner Goebbels: „Wenn ich möchte, dass ein Schauspieler weint, geb’ ich ihm eine Zwiebel“. Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Tagung „Wirkungsmaschine Schauspieler“ der ZHdK Zürich im April 2010. Heiner Goebbels, Komponist, Regisseur, Professor und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen; Präsident der Hessischen Theaterakademie. Komponierte viele preisgekrönte Hörstücke und szenische Konzerte nach Texten von Heiner Müller (Die Befreiung des Prometheus, Verkommenes Ufer, Der Mann im Fahrstuhl, Wolokolamsker Chaussee I – V u. a.), Musiktheaterstücke (Ou bien le débarquement désastreux, Die Wiederholung, Schwarz auf Weiß, Eislermaterial, Max Black, Hashirigaki, Landschaft mit entfernten Verwandten, Eraritjaritjaka, Stifters Dinge, I went to the house but did not enter) sowie Kompositionen für Ensemble und große Orchester (Surrogate Cities, Songs of Wars I have seen).
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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Stella Adler: Die Schule der Schauspielkunst, Berlin 2005 (Erstveröffentlichung 2000) Antonin Artaud: Das Theater und sein Double, Frankfurt am Main 1979 (Erstveröffentlichung 1964) Richard Blank: Schauspielkunst in Theater und Film, Berlin 2001 Peter Brook: Der leere Raum, Berlin 1994 (Erstveröffentlichung 1968) Peter Brook: Theater als Reise zum Menschen, Hg. von Oliver Ortolani, Berlin 2005 Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst. In zwei Bänden neu herausgegeben von Rolf Kabel und Christoph Trilse, Berlin 1967 (Erstveröffentlichung 1848 – 1871) Declan Donnellan: Der Schauspieler und das Ziel, Berlin 2008 Gerhard Ebert: Der Schauspieler. Geschichte eines Berufes, Berlin 1991 Gerhard Ebert: ABC des Schauspielens, Berlin 2004 Gerhard Ebert: Improvisation und Schauspielkunst, 4. Auflage, Berlin 1999 Gerhard Ebert, Rudolf Penka: Schauspielen. Handbuch der Schauspieler-Ausbildung, 4. Auflage Berlin 1998 (Erstveröffentlichung 1981) Jerzy Grotowski: Für ein armes Theater, Berlin 1994 (Erstveröffentlichung 1968) Dieter Hoffmeier: Stanislawskij. Auf der Suche nach dem Kreativen im Schauspieler, Stuttgart 1993 Ole Hruschka: Magie und Handwerk. Reden von Theaterpraktikern über die Schauspielkunst, Hildesheim, Zürich, New York 2005 Keith Johnstone: Improvisation und Theater, Berlin 1993 (Erstveröffentlichung 1979) Hans Günther von Klöden: Grundlagen der Schauspielkunst II: Improvisation und Rollenstudium, Velber bei Hannover 1967 Jacques Lecoq: Der poetische Körper, Berlin 2003 David Mamet: Richtung und Falsch, Berlin 2001 Jens Roselt (Hg.): Seelen mit Methode, Berlin 2005 Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.): Schauspielen heute, Bielefeld 2011 Richard Schechner: Theateranthropologie, Reinbek bei Hamburg 1990
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LEKTIONEN 1 Dramaturgie Bernd Stegemann Klappenbroschur mit 352 Seiten Format 135 x 205 mm ISBN 978-3-940737-34-2 18 Euro
Man spricht heute von Parteitagsdramaturgie, Rücktrittsdramaturgie und Hollywood-Dramaturgie. Doch was heißt eigentlich „Dramaturgie“? Seit Aristoteles in seiner „Poetik“ das erste Mal über die Architektur der Handlung nachgedacht hat, wird die Dramaturgie zum Dreh- und Angelpunkt des Dramas. Im Drama wird die Welt in Form von menschlichen Handlungen dargestellt. Wie müssen aber diese Handlungen gebaut sein, damit sie Welt darstellen können, welche Wirkungen gehen von der so erzählten Geschichte aus und wie ist das Verhältnis von realer und mimetisch erzeugter Welt? Der Band versammelt Auszüge aus 65 programmatischen Texten von Aristoteles bis Rimini Protokoll zu den zentralen dramaturgischen Fragen, systematisch unterteilt und kommentiert. Ein unentbehrliches Handbuch für professionelle und werdende Dramaturgen, das auch allen Theaterinteressierten einen grundlegenden Überblick verschafft.
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LEKTIONEN 2 Regie Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann (Hg.) Klappenbroschur mit 216 Seiten Format 135 x 205 mm ISBN 978-3-940737-33-5 14 Euro
Ist Theaterregie lernbar? Wie bewerbe ich mich an einer staatlichen Regieschule und wie sieht der Unterricht aus? Und für welches Theater bilden Schulen aus? Fragen, die sich nicht nur angehende Regiestudierende stellen, sondern auch die Schulen selbst. Der Band „Lektionen 2: Regie“ dokumentiert eine Tagung an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, bei der die Lehrenden aller staatlichen deutschsprachigen Regieschulen über Fragen der Ausbildungspraxis und über ihr Selbstverständnis diskutierten. Absolventen dieser Schulen, die heute selbst erfolgreich inszenieren – wie Thomas Ostermeier, Falk Richter oder Laurent Chétouane – werfen einen Blick hinter die Kulissen und berichten in Interviews darüber, was die Ausbildung für sie geleistet hat. Ergänzt wird der Band durch einen umfangreichen Anhang mit Informationen zur Aufnahme, zum Verlauf der Ausbildung und mit den Kontaktdaten der staatlichen Regieschulen.
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LEKTIONEN 4 Schauspielen Ausbildung Bernd Stegemann (Hg.) Klappenbroschur mit 328 Seiten Format 135 x 205 mm ISBN 978-3-940737-96-0 18 Euro
„Der Schauspieler ist von der unbändigen Lust getrieben, sich unaufhörlich in andere Menschen zu verwandeln, um in den anderen am Ende sich selbst zu entdecken.“ Max Reinhardt hat sie treffend beschrieben, die Lust des Schauspielers an der Verwandlung, den Traum, auf der Bühne zu stehen und die Zuschauer an seine Rolle glauben zu lassen. Ein Traumberuf, doch welche Fähigkeiten brauche ich, um Schauspieler zu werden? Wie bewerbe ich mich an einer Schauspielschule und was lerne ich dort? In diesem Buch vermitteln namhafte Lehrende der staatlichen Schauspielschulen die Grundlagen des Berufs und erläutern alle Aspekte der Ausbildung. Ergänzt wird der Band durch einen umfangreichen Anhang mit Informationen zur Aufnahme, zum Verlauf der Ausbildung und mit den Kontaktdaten der staatlichen Schauspielschulen.
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LEKTIONEN 3 Schauspielen Theorie Bernd Stegemann Klappenbroschur mit 240 Seiten Format 135 x 205 mm ISBN 978-3-940737-95-3 15 Euro
LEKTIONEN 4 Schauspielen Ausbildung Bernd Stegemann (Hg.) Klappenbroschur mit 328 Seiten Format 135 x 205 mm ISBN 978-3-940737-96-0 18 Euro
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Bernd Stegemann ist Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ und Chefdramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Er hat zahlreiche Texte zur Dramaturgie und Schauspielgeschichte veröffentlicht.
Rücken 135 mm
Wir alle schauspielern im Alltag. Wenn wir flirten, verhandeln, streiten, loben, feilschen oder kritisieren. Wir nehmen eine Rolle ein, verkörpern ein Image und wollen ein bestimmtes Bild von uns produzieren. Im Alltagstheater sind wir mehr oder weniger erfolgreiche Darsteller unseres Selbst. Und doch gibt es in diesem alltäglichen Schauspiel Menschen, die das Spielen zu ihrem Beruf gemacht haben. Diese professionellen Menschen nennt man Schauspieler. Sie wiederholen das Theater des Alltags, verwandeln es in die sekundäre Realität der Bühne, um ein Publikum zu unterhalten, zu rühren, zum Lachen zu bringen oder zu belehren. Die schauspielerische Tätigkeit ist die älteste Kunst der Mitteilung und ihre Erscheinungsformen sind so vielfältig wie die Geschichte des Menschen. In diesem dritten Band der Lektionen wird ein Überblick gegeben über die Erfindung des Schauspielens als Beruf. Zwanzig Quellen, die systematisch unterteilt und kommentiert sind, stellen die wichtigsten Schauspieltheorien dar. Ein Handbuch für angehende und professionelle Schauspieler, ihre Regisseure, Dramaturgen, Kritiker und Zuschauer.
13 mm
Lektionen 3 Schauspielen – Theorie
17:35 Uhr
Cover 135 mm
Klappe vorn 100 mm
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Lektionen
Schauspielen
Theorie Theater der Zeit
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Bernd Stegemann | Schauspielen | Schauspielen als Beruf. Die Erfindung des bürgerlichen Schauspielers im 18. Jahrhundert | Stanislawski und die Folgen | Bertolt Brecht oder der moderne Schauspieler | Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater
Theater der Zeit
Was als gutes Schauspiel gilt, wechselt im Laufe der Zeiten nicht nur die Gewänder, sondern mehr noch die Spielweisen. In diesem Band der Reihe Lektionen werden die wichtigsten schauspieltheoretischen Ansätze der Neuzeit vorgestellt. Es wird ein Überblick gegeben, was seit der Erfindung des Berufs „Schauspieler“ an ästhetischen Konzepten und methodischen Unterweisungen gedacht und geschrieben wurde. Diese Geschichte des Schauspielens ist eine Orientierungshilfe. Unsere Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr eine Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten gleichzeitig besteht. Wollte man diese multiplen Anforderungen in einem Überblick darstellen, so würde man auf die vier großen Bereiche menschlicher Darstellungskunst kommen: dramatisches Spiel, episches Spiel, Performance und Laienspiel. Diese vier unterschiedlichen Darstellungsweisen haben ihre jeweiligen historischen Wurzeln. Sie zu verstehen, kann helfen, um die Melange der aktuellen Spielweisen besser begreifen und erlernen zu können.