Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder

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Milo Rau und das International Institute of Political Murder

„Die Enthüllung des Realen“ entfaltet in

aktuellen europäischen Theaterschaffen eine

Gesprächen, Manifesten und Essays ein

Ausnahmeposition ein. Die Projekte der letz-

offensives und variables Denken, das hinter

ten Jahre reichen von hypernaturalistischen

seinen Projekten steht. Somit enthüllt dieses

Reenactments („Die letzten Tage der Ceauşes-

Buch Stück für Stück den Neuen Realismus

cus“) über kaum mehr Theater zu nennende

von Milo Raus Theater, der nebenbei auch ein

Volksprozesse („Die Zürcher Prozesse“) bis

fröhlicher Abschied von der Postmoderne ist.

zur freien Rekonstruktion eines rassistischen Fun-Radios („Hate Radio“).

DIE ENTHÜLLUNG DES REALEN

Die Arbeitsweise von Milo Rau nimmt im

DIE ENTHÜLLUNG DES REALEN Milo Rau und das International Institute of Political Murder



DIE ENTHĂœLLUNG DES REALEN Milo Rau und das International Institute of Political Murder


Die Enthüllung des Realen Milo Rau und das International Institute of Political Murder Herausgegeben von Rolf Bossart © 2013 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Im Podewil | Klosterstraße 68 | 10179 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Redaktion: Rolf Bossart, Nina Wolters Redaktionelle Mitarbeit: Hayat Erdogan Lektorat: Nicole Gronemeyer Grafik: Nina Wolters Coverbild: Daniel Seiffert Druck: AZ Druck Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-943881-69-1 zhdk_logo_05-1_institut performing arts

Mit freundlicher Unterstützung von:

Z

hdk

— Zürcher Hochschule der Künste Institute for the Performing Arts and Film

Dank an den Bühnenbildner Anton Lukas; die Dramaturgen Eva-Maria Bertschy, Jens Dietrich, Mascha Euchner-Martinez, Karoline Exner, Milena Kipfmüller, Sophie-Thérèse Krempl und Julia Reichert; den Sounddesigner Jens Baudisch; die Grafikerin Nina Wolters; die Filmemacher Marcel Bächtiger und Markus Tomsche; die Regieassistenten Yanina Kochtova und Stefan Kraft — und an alle Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IIPM, ohne die die in diesem Buch behandelten Projekte nicht Realität geworden wären.


DIE ENTHĂœLLUNG DES REALEN Milo Rau und das International Institute of Political Murder Herausgegeben von Rolf Bossart


INHALT Rolf Bossart Die Enthüllung des Realen Vorwort......................................................................................................................... 6 Rolf Bossart / Milo Rau Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt...................... 14 Milo Rau Wer hat damals meine Rolle gespielt?....................................................... 16 René Solis Entre engagement et esthétique.............................................................. 20 Maxi Leinkauf / Milo Rau So ist der Mensch............................................................. 22 Milo Rau Stählern musste man werden.................................................................... 27 Friedrich Kittler / Milo Rau Das Innerste, was dieser Mensch hat.......................... 31 Jean-François Perrier / Milo Rau Au théâtre, nous ne sommes jamais dans un rêve: nous sommes toujours réveillés............................................ 35 Sandra Umathum Du sollst dir ein Bild machen! Überlegungen zu Milo Raus „Die letzten Tage der Ceauşescus“ und „Hate Radio“... 36 Heinz Bude / Milo Rau Zwischen subjektivem Erzählen und objektivem Verhängnis................................ 38 Christoph Fellmann Die tieferen Schichten der Wahrheit...................................... 41 Vera Ryser / Milo Rau Situationismus rückwärts..................................................... 44 Klaus Theweleit Man selber lebt ja im Pop............................................................... 51 Sylvia Sasse / Milo Rau Das Reale des Simulacrums................................................ 54 Alexander Kluge / Milo Rau Da wird nachgedreht................................................... 58 Milo Rau Der Kinderwagen auf Eisensteins Treppe................................................. 63 Milo Rau Genau so und nicht anders........................................................................ 67 Nicole Gronemeyer Banalität und Schrecken Das realistische Experiment des Reenactments......................................................... 70 Anton Lukas / Silvie Naunheim Diese unheimliche Verdoppelung......................... 72 Rolf Bossart Symbolisierungsakt und heroische Öffentlichkeit Thesen zur politischen Wirksamkeit von Milo Raus Theaterarbeit........................... 78 Milo Rau Mit den Augen eines Kindes oder eines Kriegsfotografen........................ 80 Milo Rau Ein Theater für alle.................................................................................... 84 Robert Pfaller / Milo Rau Dass man sich wehrt, Täter zu werden.......................... 87 Christine Wahl Das Agora-Prinzip Milo Raus Prozesstheater in Moskau und Zürich...................................................... 90


Julia Reichert / Milo Rau Es gibt keinen Ort, der sich schlechter für Moral eignet.......................................... 92 Alexandra Kedves / Milo Rau Politische Kunst gibt es nicht.................................... 97 Rico Bandle / Roger Köppel / Milo Rau Nennen wir es Schaujournalismus......... 104 Julia Bendlin / Milo Rau Eine Art geschichtsschreibende Dokumentation........... 110 Wolfgang Höbel / Milo Rau Die Gründe können Sie sich googeln......................... 114 Milo Rau Was ist Unst?............................................................................................. 116 Milo Rau The Realm of the Real............................................................................... 118 Konrad Petrovszky / Milo Rau The End of Postmodernism................................... 122 Milo Rau St. Galler Manifest.................................................................................... 130 Timon Beyes Der Skandal der Öffentlichkeit Die „City of Change“ als Kunst des Urbanen............................................................ 132 Robert Pfaller / Rolf Bossart Befreit sind wir nicht, wenn wir alle schwach sind, sondern wenn wir alle stark sind........................... 134 Daniel Cohn-Bendit Das Moment der Freiheit....................................................... 139 Milo Rau Voilà, le pouvoir de nouveau innocent!.................................................. 142 Jörg Scheller Stage Presents The Director Milo Rau and his Theatrical Hyper-Allegories.................................... 144 Valentin Groebner / Milo Rau Möglicherweise bin ich im Unrecht...................... 146 Dirk Pilz Skandal um Theaterlesung in Weimar Breiviks Rede auf der Bühne..................................................................................... 152 Frank Meyer / Milo Rau Wir zeigen lieber den „Figaro“ nochmal........................ 154 Rolf Bossart / Milo Rau Wir sind Körper, durchströmt von Ideologie.................. 157 Milo Rau Die Revolution hat tatsächlich stattgefunden......................................... 162 Milo Rau Eine andere Währung des Glücks............................................................ 164 Elisabeth Bronfen Es geht nicht um Metaphern.................................................... 176 ANHANG Projekte 2009 – 2013 (Auswahl) / Autorinnen und Autoren / Bildnachweise....... 178


ROLF BOSSART

DIE ENTHÜLLUNG DES REALEN 6

VORWORT


Die künstlerische, theoretische und politische Arbeit von Milo Rau und der von ihm im Jahr 2007 gegründeten Produktionsgesellschaft IIPM – International Institute of Political Murder auf einen Nenner zu bringen gestaltet sich schwierig. Die von Milo Rau in den letzten Jahren präsentierten Werke schreiten thematisch und formal ein sehr weites Feld aus: Sie reichen von hypernaturalistischen Reenactments („Die letzten Tage der Ceauşescus“) bis zu kaum mehr Theater zu nennenden Volksprozessen („Die Zürcher Prozesse“), von der gefakten Initiative zur Wiedereinführung der Nürnberger Gesetze (als Teil des Projekts „City of Change“) bis zur, aus einem dokumentarischen Blickwinkel, sehr freien Rekonstruktion eines rassistischen Fun-Radios („Hate Radio“). Die Arbeit Milo Raus und seines International Institute of Political Murder nimmt im aktuellen europäischen Theaterschaffen eine Art „Ausnahmeposition“ ein, wie Sandra Umathum in ihrem Beitrag in diesem Band schreibt. Um sie dem dokumentarischen Theater zuzuordnen, geht

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„Es gibt da also die beängstigende Erscheinung eines Bildes, das resümiert, was wir die Enthüllung des Realen nennen können in dem, was sich an ihm am wenigsten durchdringen lässt, des Realen ohne jede Vermittlung, des letzten Realen, des wesentlichen Objekts, das kein Objekt mehr ist, sondern jenes Etwas, angesichts dessen alle Worte aufhören und sämtliche Kategorien scheitern, das Angst­-objekt par excellence.“ Jacques Lacan


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der Regisseur zu frei, auch zu undurchsichtig mit dem Recherchematerial um, fehlt seiner Arbeit der distanzierende, letztlich moralische Gestus klassischer, aber auch aktueller dokumentarischer Positionen. So arbeitet Rau nicht mit Laien (bzw. nicht nur), sondern oft mit ausgebildeten Schauspielern, die nach sehr genauen praktologischen und sprechtechnischen Skripten agieren, die er vorher erstellt hat. Und bei „Hate Radio“ handelt es sich keineswegs um die gestische Kopie eines Sendeabends des ruandischen „Radio Mille Collines“, sondern um die äußerst filigrane, aus dem widersprüchlichsten Material angefertigte, im streng dokumentarischen Sinn völlig fiktionale Assemblage aus Zeitschriften-Texten, Radioauszügen, dialogisierten Zeugenaussagen und auch erfundenen Charakteren – die, wie Milo Rau kürzlich in einem Interview erzählte, u. a. sogar mit den Worten des heutigen ruandischen Oberbefehlshabers sprechen, dessen Armee im Ostkongo steht. Aber auch eine Annäherung an Positionen des postdramatischen Theaters ist nicht ohne Weiteres möglich. Die Verschleifspuren zwischen „faktisch“ und „fiktional“, zwischen Zitat und authentischem Gestus, aus denen das postdramatische Theater in den letzten dreißig Jahren seine performativen Funken schlug, interessieren in Raus Theater nicht. Er selbst, der sich immer wieder polemisch von der Frage nach Wahrheit und Lüge im postmodernen Sinn abwendet und sie als „Hobby-Nietzscheanismus“ oder „Seminarproblemchen“ bezeichnet und durch den statuarischen Gestus des „Genau-So“ einer theatral erzeugten „Gegenwärtigkeit des Abwesenden“ zu ersetzen hofft, spricht im Hinblick auf seine Ästhetik lieber von „Wahrheit im Sinn von Sergej Eisenstein“ oder schlicht von „Real-Theater“, wie Alexander Kluge Raus Inszenierungen


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einmal genannt hat. Was wiederum stark nach Rückkehr zur klassischen Moderne klingt. Es verwundert daher wenig, dass Milo Raus Theaterstücke, Filme und Performances, die bisher in über zwanzig Ländern zu sehen waren, nicht nur von intellektuellen, sondern ebenso von veritablen Prozessen und gern auch mal handgreiflichen Debatten weit über die Kunstwelt hinaus begleitet waren. „Liebhaber der Skandale“ („La Vanguardia“), „Fänger des Realen“ („taz“), „Sozialer Plastiker“ („La Libération“), „Theatererneuerer“ („Der Spiegel“), „Agent Provocateur“ („Iswestija“) – die Bezeichnungen, mit der die Arbeit des Schweizer Regisseurs und seines Teams zu fassen versucht wurden, sind ebenso zahlreich wie unterschiedlich. In vielen programmatischen Gesprächen und Texten, die hier in ausgewählter Form versammelt sind, hat Milo Rau selber über Motive, Methoden und Materialien seiner Arbeit reflektiert. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt daher bewusst auf dem offensiven und variablen Denken, das darin entfaltet wird. Ergänzend analysieren und deuten verschiedene Essays aus theaterwissenschaftlicher (Sandra Umathum), aus kunsttheoretischer (Timon Beyes, Jörg Scheller), aus philosophischer (Rolf Bossart) und aus journalistischer Perspektive (Christine Wahl, Dirk Pilz u. a.) entlang der einzelnen Projekte der letzten fünf Jahre die Wirkungen des Theaters von Milo Rau; dabei kommen auch langjährige Mitarbeiter des Regisseurs zu Wort, so etwa der Bühnenbildner Anton Lukas. Insgesamt versucht so der vorliegende Band die verschlungenen Wege und den aktuellen Stand der Selbst- und Fremddefinition nachzuzeichnen. Entstanden ist er im Rahmen der Ausstellung „Die Enthüllung des Realen“ (Sophiensæle Berlin, November 2013). Nach zahlreichen


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Ausstellungen, die einzelnen Arbeiten von Milo Rau gewidmet waren – u. a. im Kunsthaus Bregenz (2011), im Migros Museum Zürich (2012), in der Wiener Akademie der Bildenden Künste (2013), am HMKV Dortmund (2013) oder am KonzertTheater Bern (2013) – ist „Die Enthüllung des Realen“ die erste Ausstellung, die einen längeren, dabei klar begrenzten Abschnitt von Milo Raus Schaffen untersucht: von der Gründung seiner (nach dem finanziellen und künstlerischen Zusammenbruch zweier vorhergehender bereits dritten) Produktionsgesellschaft IIPM – International Institute of Political Murder im Jahr 2007 bis zur Ausstellung – die für Rau selbst den Anfangspunkt einer neuen Phase setzen soll. Im eingangs abgedruckten Lacanzitat findet sich das Wort von der „Enthüllung des Realen“, dem die Ausstellung und dieser Katalog ihren Titel verdanken. Jacques Lacan bezeichnet dort das Reale als das „Angst­ objekt par excellence“. Als charakteristisch dafür nennt er die Tatsache, dass das Reale eine Objektbegegnung ohne jede Vermittlung ist. Darin liegt das Angstmachende und zugleich die große Faszinationskraft des Realen. Wer sich seiner bedient, um Macht auszuüben, setzt daher auf die betörende und ängstigende Kraft von Authentizität und Unmittelbarkeit. Wer sich aber mit einem aufklärenden Impuls davon distanziert, setzt auf die Strategien der endlosen Verweisungen und Vermittlungen, welche aber immer zugleich auch Strategien der Flucht und der Abweisung des Realen bzw. der Macht, die man ihm zuschreibt, sind. Die postmodernen Dekonstruktionsbemühungen zielten daher auf die Entmächtigung jener, die im Namen der Unmittelbarkeit des Realen auftraten. Aber sie verdrängten zugleich alles, was einmal im Ringen um Wahrheit oder im Substanzbegriff verhandelt und bearbeitet worden war. Dieses

Walerij Korowin, Leiter des Instituts für Geopolitische Expertisen: „Wer sponsert die Ausstellungen moderner Kunst?“ „Der Westen, das ist ein Sabotageakt.“


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Verdrängte kehrt wieder. Es sucht die Postmoderne heim in der „Objektbegegnung ohne jede Vermittlung“, im Mystizismus und im Obskurantismus. Milo Raus Theater arbeitet beharrlich zwischen diesen Polen. Es geht aus von der Faszinationskraft des Realen, aber es enthüllt das Reale nicht als „heiligen Brocken“ oder als Apotheose der Authentizität, sondern als soziale Plastik, als Verkörperung in maximaler Künstlichkeit. Das heißt, es führt die Zuschauer innerhalb eines ganz und gar künstlichen Settings an den wirklichen, historisch-konkreten Grund der meist unbewussten und abstrakten Angst vor dem Realen. Kurz gesagt, es überführt mythische Angst in reale Angst. Zu welchem Zweck? Nicht um die Zuschauer zu ängstigen, sondern um sich im besten Fall mit ihnen zu verbünden; mit Subjekten, die versuchen, die realen Ursachen ihrer Ängste zu erkennen und zu bearbeiten. Denn der einzige Ort, wo der Begriff der Solidarität keine moralisierende Hohlformel darstellt, ist dort, wo er als Komplementärbegriff zur


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Angst entsteht. Die Bühne, wie sie Milo Rau nutzt und herstellt, kann ein solcher Ort sein. Es ist darum die spezifische Qualität von Raus Theater, dass es das Skandalöse und gleichwohl Rationalisierte, das Beängstigende und gleichwohl Integrierte, das Problematische und gleichwohl Banalisierte in einem nahezu lehrstückartigen Arrangement wieder als jenes neue, rohe Ding zeigt, das es einmal vor diesen Überlagerungsprozessen war. Bei den „Letzten Tagen der Ceauşescus“ ist das die Wiederholung der bereits in der Anordnung des Tribunals geschlossenen Situation der rumänischen Revolution, bei „Hate Radio“ ist es die Wiedererzeugung der enthemmenden Wirkung einer beschwingten Selbstradikalisierung im Radiostudio, bei der „City of Change“ ist es die bewusst naive Neuverwendung von alten, nationalen und durch Ideologisierung und Dekonstruktion sinnentleerten Mythen, bei „Breiviks Erklärung“ ist es die Ausstellung der mehrheitsfähigen Ideologie eines Massenmörders, bei den „Moskauer Prozessen“ ist es das freiwillige Aufeinandertreffen von Todfeinden im künstlichen Gerichtssaal, bei den „Zürcher Prozessen“ ist es das öffentliche Aufführen eines zentralen, aber kollektiv verinnerlichten und im Ressentiment stillgelegten Diskurses. Die wichtigsten Mittel dieses neuen Realismus von Milo Rau sind akribische Recherchen, detailversessene Nachstellungen, permanente Aktionsbereitschaft, Ergebnisoffenheit bis zum Schluss und anstelle des Zitats ein funktionaler bis totalisierender Zugriff auf die Tradition. Hinzu kommt der biografische, gleichsam existenzielle Zugang bei der Wahl der Themen und vor allem

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der künstlerische Anspruch, wirklich in die kollektiven Bilder einzudringen und sich nicht hinter einem Als-ob zu verstecken. Wir danken dem Amt für Kultur von Kanton und Stadt St. Gallen, dem Institute for the Performing Arts and Film (IPF) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), deren Unterstützung das Erscheinen dieses Buches ermöglicht haben. Ebenso danken wir allen Autoren und Autorinnen für ihre Beiträge und den Verlagen für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.


ROLF BOSSART / MILO RAU

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DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT


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Rolf Bossart Du hast im selben Alter Trotzki und Lenin gelesen, in dem andere Kinder „Die Schatzinsel“ verschlingen. Dann bist du mit 19 Jahren auf Reportage in den lakandonischen Urwald Mexikos zu den Zapatisten und hast deinen ersten Essay („Langues et Langages de la Révolution“) veröffentlicht. Kaum warst du wieder zurück in Europa, hast du begonnen, an der Universität Zürich Großdemonstrationen gegen den damals im Bildungssektor verschärft einsetzenden neoliberalen Rückbau zu organisieren. Hilft dieser Bezug auf die Jugend, um die Dinge, die du jetzt tust, zu verstehen? Was davon ist wichtig geworden? Milo Rau Das meiste. Aus der Perspektive der existenzialistischen Psychoanalyse würde ich sagen, dass man sich in den Teenagerjahren selber entwirft und dass man diesem Entwurf dann auch nicht mehr entkommt. Das ist, neben allem Zufälligen und Fatalen, das Moment der Freiheit im Menschen. Bestimmte Bücher bewusst zu lesen, auch wenn es anstrengend ist; bestimmte Reisen zu unternehmen, auch wenn sie in irgendeinem deprimierenden Militärlager im Urwald oder im Gefängnis enden; den Kampf aufzunehmen, wo man ihn findet. Wobei das ein dialektischer Prozess ist: Ich habe ja mit 16, 17 Jahren nicht nur Lenin gelesen, sondern auch Tarantino geguckt, wie alle, die zu meiner Generation gehören. Ich bin neben meinen offensichtlich politischen Positionen ein geradezu extrem unpolitischer Mensch, ein völlig pedantischer Formalist. Nach meiner Arbeit als Veranstalter von Demonstrationen und Chiapas-Reisender habe ich ein paar Jährchen des L’art pour l’art eingelegt und zum Beispiel eine finanziell verheerende, geradezu lächerlich postmoderne Pynchon-Adaption gedreht („Paranoia Express“, 2002) – doch parallel dazu habe ich ernsthafte Kritiken für die „Neue Zürcher Zeitung“


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geschrieben und Soziologie studiert. Auch später ist es irgendwie immer durcheinandergegangen: Auf „Amnesie“ (2005), eine völlig realistische, wenn auch aktualisierende Gontscharow-Bearbeitung, folgte „Bei Anruf Avantgarde“ (2005), ironischer Meta-Agitprop. Und so ging es weiter bis heute: Direkt nach einer Aktion wie die „City of Change“ (2010/11) kam ein sehr klassisch geschriebenes und inszeniertes Stück wie „Hate Radio“ (2011/12). Es ist eine Art Charakterschwäche von mir, mir ständig selbst in den Rücken zu fallen. Bossart Eine Charakterschwäche, mit der du ja sehr offensiv umgehst. Das Motto auf deinem Blog AlthussersHaende.org ist ein Pasolini-Zitat: „Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.“ Aber was all deine Unternehmungen doch irgendwie auf einen Nenner bringt, ist deine Art des – im Sinne des Ethnologen Clifford Geertz – „dichten Beschreibens“. Du bleibst nie in ästhetischer Halbdistanz, sondern bist immer sehr nah am Gegenstand. Rau „Dichtes Beschreiben“, das gefällt mir. Mich interessiert als Künstler in erster Linie eine völlig praktische, völlig reale Involviertheit, ganz egal, ob sich das auf Gontscharow, ein Videogramm, eine zentralafrikanische Radiostation, eine politische Grundsatzfrage oder auf ein theoretisches Problem bezieht. Seit ich denken kann, war ich geradezu hypnotisiert von dieser Idee, dabei zu sein – in die Dinge, Bücher und Länder, für die ich mich interessiert habe, wirklich einzutauchen, sie tatsächlich zu bearbeiten. Nach der Gontscharow-Adaption habe ich eine Adaption von Euripides' „Bakchen“ („Montana“, 2007) gemacht, die das Original derart vollständig transformiert hat, dass der Zuschauer nicht die geringste Chance hatte, die Vorlage zu erkennen (von der nur ein halber Satz übrig geblie-

Wer hat damals meine Rolle gespielt? Milo Rau Wie alles mit mir losgegangen ist, weiß keiner, am wenigsten natürlich ich selber. Meine Eltern erzählen Geschichten (entweder haltlose Propaganda oder üble Nachrede), die Fotografien zeigen durchaus charmante, aber von der eigenen Erfahrung völlig unabhängige Szenen. Meine Kinderfotos: Das alles ist passiert, als ich woanders war, man kann Kinder so wenig fotografieren wie die Irokesen. War ich je-


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ben war). Ich kann diese Leute, die Texte mit dem Leuchtstift anstreichen und sie dann von ihren Schauspielern in dieser oder jener Verrenkung aufsagen lassen, nicht verstehen. Um auf Lenin zurückzukommen: Als ich dreizehn war, da habe ich mich für Russland interessiert, also habe ich Russisch gelernt, nicht allzu ausdauernd, aber ich wollte jemand sein, der in dieser mythisch-politischen Welt tatsächlich Fuß fassen kann – in diesem „frohlockenden und blutschwitzenden Russland“, wie der Dichter Alexander Blok so hübsch sagt. Und als ich dann 2010 begonnen habe, nach Moskau zu fahren, da habe ich fast zwei Jahre gebraucht, bis ich auf die Idee mit den „Moskauer Prozessen“ gekommen bin. Denn das ist der Nachteil meiner Arbeitsweise: Es ist eine Dialektik von Vorstellen und Begreifen, von Ideen und völlig konkreten Umsetzungen, die sehr langwierig ist. Deshalb gibt es ständig Neukonzeptionen, was das Arbeiten z. B. für meinen Bühnenbildner Anton Lukas sehr anstrengend macht. Und genauso wie bei den „Moskauer Prozessen“ ging es mir mit „Hate Radio“, mit den „Letzten Tagen der Ceauşescus“, aber auch bei Adaptionen von Autoren wie Euripides oder Pynchon. Am Anfang steht immer dieser obsessive Wunsch, in die soziale und materielle, ja: in die phantasmagorische Bedeutungsdichte von etwas einzudringen. Bossart Du brauchst in älteren Interviews ab und zu den Begriff der „sozialen Plastik“, allerdings in einem völlig anderen Sinne als Beuys, oder auch der „sozialen Phantasie“. Wie sind diese Begriffe genau gemeint? Rau Ich gehöre ja zu einer Generation, die von den Ekstasen einer, sagen wir mal, analytischen Phantasie überfüttert wurde. Die einzige Sache, die ich im Gymnasium und dann im Studium immer wieder gelernt habe, ist die, dass man kritisch sein soll: Intelligenz, das hieß, bestehen-

mals ein Jahr alt? Habe ich jemals auf den

der reine Held einer zukünftigen Geschich-

Schultern meines Vaters gesessen? Habe

te, ich war Existenzialist voll und ganz.

ich tatsächlich an der Brust meiner Mut-

Meine Mutter wurde nervös: Ihr Sohn hatte

ter gelegen? Wer hat damals meine Rolle

nur zurückgebliebene Kameraden, kräfti-

gespielt?

ge, treue und unbeschwerte Kinder, deren

Aber von Anfang an erinnere ich mich

Eltern zu allem Übel auch noch rechtsradi-

an die Bücher und an die Dinge, zusammen-

kal waren. Aber was sollte ich machen? Die

hangslos, ich erinnere mich an eine stän-

intelligenten, sanften, bebrillten, nah am

dige Übersteigerung des Ich, an eine Art

Wasser gebauten Kinder, die die Freunde

Heroismus der Erfahrung. Alles war haut-

meiner Eltern mitbrachten, ärgerten mich,

nah, von Kollektivkräften durchzogen, von

sie drosselten das Tempo, sie brachten zu

schmeichelhaften Drohungen und bitteren

viel Persönlichkeit ins Spiel. Hatten sie

Versprechungen umstellt – eine futuristi-

nicht Körper, Hände, Augen? Standen wir

sche Zeit. Mit sieben, acht Jahren war ich

nicht mitten im Gewitter der Atome?


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de Erzählungen, bestehende Wirklichkeitsentwürfe zu analysieren und zu zerlegen – und dann, wurde man Künstler, ein wenig daran zu leiden oder eben je nach ästhetischem Ansatz drüber- oder danebenzustehen. Die soziale Phantasie ist nun das Gegenteil davon: Sie ist aktiv, sie hat einen Realisierungsdrang, sie will die ganze Welt auf einmal umarmen, und vor allem will sie sie verändern. Man kann das sehr gut an der zapatistischen Revolution zeigen, einer großformatigen sozialen Plastik. Sie hat ohne eine ernst zu nehmende Streitmacht, ohne Großmächte im Hintergrund und ohne das Anzapfen bereits vorhandener politischer Bewegungen oder Theorien funktioniert. Man kennt ja von Medienbildern diese Soldaten mit den Holzgewehren: Damit sind die Zapatisten sprichwörtlich aus dem Nichts, versteckt unter Skimasken, am 1. Januar 1994 in San Cristóbal aufgetaucht. Sehr geschickt haben sie sich dann als die Namenund Gesichtslosen inszeniert, die Majas aus dem Urwald, die wahren Mexikaner – und gleichzeitig der Regierung gesagt: Wir sind globalisierter als ihr, urbaner, universeller. Wir sind die Zukunft der Menschheit, nicht ihr! Diese völlig machiavellistische Wendung des postmodernen Eklektizismus, diese kämpferische Form erhöhter sozialer Intelligenz, dieser aggressive Konstruktivismus ist für mich sehr entscheidend geworden. Du kannst tun, was du willst, nur muss es wahr werden, es muss real werden. Analyse allein reicht nicht. Bossart Soziale Phantasie heißt also: Man eignet sich die bestehenden Diskurse an, formatiert sie, radikalisiert sie, führt sie eng und stellt sie in einen Raum, in dem plötzlich wieder völlig offen ist, was sie bedeuten. Rau Genau. Eine soziale Plastik, wie ich sie verstehe, bedeutet „angewandter Surrealismus“, wie der Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums mei-

Seltsam: In meiner Erinnerung ist es

die Helden der Leichtathletik, Fantomas,

immer Sommer, der Sommer ist die ei-

die türkischen Reiterhorden, die Piraten,

gentliche Jahreszeit meiner Kindheit – sein

griechische, germanische und amerikani-

Licht, seine Nächte, seine Vogelrufe, seine

sche Ungeheuer, Trotzki, Allende, Castro,

aufkeimenden Leidenschaften, seine groß-

dazwischen verwirrende weibliche Statu-

zügige Verneigung vor den Ausreden der

en und ganz zuoberst, fast wie ein Fleck,

Taugenichtse, seine Luxusdampferhaftig-

das braun verputzte Reihenhäuschen, in

keit. Auf dem Schnittpunkt von Abenteuer

dem ich wohne. Jeder hat unendlich viel

und Wissenschaft lebe ich, viele Jahre lang,

Zeit, die Leute lungern nächtelang herum,

die ganze Welt liegt wie ein geologischer

zanken und vertragen sich, lachen betrun-

Aufriss vor mir: die Feuer der Erde, die mi-

ken draußen im Garten. Lautlose Abgase

neralischen Zeitalter, die Dinosaurier, die

zerstören die Wälder und schwärzen die

Siedlungen der Pfahlbauer, die römischen

Fassaden der Kirchen. Unbekannte Leute

Thermen, die Schlachten des Mittelalters,

umarmen mich und brechen plötzlich in


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ne „Moskauer Prozesse“ genannt hat. Theater ist nichts anderes als die völlig konkrete Rückbesinnung auf diese ganz simple aristotelische Tatsache: dass alles, was wir für real erachten, nichts anderes ist als eine soziale Verabredung. Klar, das ist eine Erkenntnis aus dem Soziologie-Proseminar. Aber Spielen oder Inszenieren, wie ich es verstehe, bedeutet, die im Normalfall einfach als natürlich und zwingend hingenommene Wirklichkeit nicht analytisch oder ironisch aufzulösen, sondern sie in all ihren Konsequenzen zur Erscheinung zu bringen, sie in Aktion zu zeigen. Das ist ja der Grund, warum Theater überhaupt als Kunstform entwickelt wurde: als Umgang mit dieser zugleich natürlichsten und phantastischsten Fähigkeit des Menschen, nämlich aus dem sozial Imaginären Realität zu schaffen. Wenn mich einige als Dokumentarist bezeichnen, so basiert das auf einem Missverständnis. Denn was man auf einer Bühne tut, ist grundsätzlich das Gegenteil von Dokumentieren – es sei denn, Seiltanz ist dokumentarisch, weil die Erdanziehungskraft dokumentiert wird. Mein Stück „Hate Radio“ zum Beispiel hat mit dem historischen RTLM etwa so viel zu tun wie die bewaffneten „Majas“ der Zapatisten mit den an der Grenze zur totalen Armut lebenden indigenen Kleinbauern Südmexikos, die sich hinter den Skimasken verstecken. Das historische RTLM war, nach heutigem Maßstab, zum Sterben langweilig und langfädig, das waren bis auf einige Momente ziemlich biedere Angestellte des Genozids. Und wenn die Medien berichteten, ich hätte in Moskau den „Pussy Riot“-Prozess nachgespielt, so ist genau das Gegenteil wahr: Meine „Moskauer Prozesse“ führten das auf, was in der russischen Wirklichkeit unmöglich gespielt werden kann.

Verwünschungen aus, als ihnen der Teufel in der Gestalt von Ronald Reagan im Fernsehen erscheint. Tamilische Tiger klingeln an der Tür, Trotzkisten fegen Gläser vom Tisch, die Katzen suchen sich heiße Steine zum Schlafen: das Heerlager einer Revolution, die siegen wird – jeder weiß es … Auszug aus: „Aus der Kindheit des Odysseus“, zuerst erschienen auf www.althussers-haende.org am 27. August 2008.


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 20

Entre engagement et esthétique

quel discours pour quel lieu ? Comment

René Solis

donner forme à un rassemblement de 10 000 personnes ?“

La politique, Milo Rau est tombé dedans

Entre engagement et esthétique, Milo

très jeune via un beau-père militant actif

Rau n’a jamais fait la différence. Etudiant

de la IVe Internationale et musicien de jazz.

à Paris après avoir passé une bonne partie

A 12 ans, Milo lisait „La Jeunesse de Lénine“

de ses études à Zurich, il suit les cours

et „Ma Vie“, de Trotski. Six ans plus tard, il

de Pierre Bourdieu. A 22 ans, il part pour

participe à Zurich et Genève aux premières

Berlin continuer ses études de sociologie à

manifestations du mouvement altermondi-

la Freie Universität et commence à publier

aliste. „C’est là que j’ai fait mes débuts dans

des critiques de théâtre, avant d’écrire son

la mise en scène. J’étais chargé d’imaginer

premier projet pour des élèves de l’acadé-

les parcours : pourquoi telle rue plutôt que

mie Ernst-Busch, la préstigieuse école de

telle autre, devant quelle maison s’arrêter,

théâtre. „C’était une adaptation des ‚Bon-


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 21 nes‘ de Genet, avec une mise en scène ins-

sus d’un groupe d’enfants juifs.

pirée de ‚Querelle‘, le film de Fassbinder.“ Mais Rau s’émancipe assez vite des influ­ ences en imaginant par exemple une version de „Oblomov“ avec un amnésique qui oubliait vraiment où il était, ou en montant un music-hall sur des personnes souffrant du syndrome de Tourette. Un autre projet, intitulé „Dial A for Avant-Garde“, passe en revue un certain nombre de figures, de Brecht à Schlingensief, trublion majeur du théâtre allemand des années 90. Une séquence filmée fait grincer des dents : on y voit Brecht réussir un saut à moto au-des-

Auszug aus: „Milo Rau, l’Histoire à la barre“, zuerst erschienen in: „Libération“, 4. Juli 2013.


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 22

Besteht hier nicht die Gefahr der Beliebigkeit, ja der Geschichtsfälschung? Rau Absolut. Ich glaube aber, gerade weil es keine dokumentarische Wahrheit gibt, jedenfalls nicht im wirklichen Leben, braucht es die Kunst – die so etwas wie eine künstlerische Wahrheit schaffen kann. Wie ich ja öfters in anderen Interviews erzählt habe, sprechen meine Figuren in „Hate Radio“ unter anderem mit den Worten des heutigen ruandischen Oberbefehlshabers. Ganze Dialoge und Charaktere habe ich erfunden, und dass im RTLM tatsächlich Nirvana gespielt wurde wie in meinem „Hate Radio“, ist ungefähr genauso unwahrscheinlich und übrigens unnötig, wie dass Madame Bovary tatsächlich in Frankreich gelebt hat. Darum geht es in der Kunst nicht. Worum es geht, ist, dass man bereit ist, dafür den Preis zu zahlen. Ich kann dir sagen, meine Schauspieler und ich, wir haben Blut geschwitzt vor der Uraufführung in Kigali; und wir waren natürlich extrem erleichtert, als die ruandischen Zuschauer sagten: „Genau so war es!“ – obwohl wir nicht ganz verstanden haben, was sie damit meinten, denn „genau so“ war es ja gerade nicht gewesen. Und das unterscheidet eben das, was ich zu tun versuche, von allen Formen der Beliebigkeit, die sich in diesem grässlich bequemen Theaterbegriff des „Probierens“ gehalten hat. Man soll nicht probieren in der Kunst, man soll wetten. Einige der Zapatisten wurden erschossen, als sie Revolution spielten. Die Schauspieler in „Hate Radio“ mussten sehr, wirklich sehr lange „üben“, um über den Tod einer Million Menschen lachen zu können – aus innerstem Herzen. Und als wir nach Ruanda flogen, um im ehemaligen Sendestudio on air zum Massenmord aufzurufen, da hatten wir solche Angst, als gingen wir sprichwörtlich aufs Schlachtfeld. Bossart

So ist der Mensch Maxi Leinkauf / Milo Rau Maxi Leinkauf Sie

provozieren gezielt: Das

Stück „Breiviks Erklärung“ wurde sogar verboten. Milo Rau „Hören

wir uns doch mal an, was

Breivik sagt“ – das ist die Haltung meiner Inszenierung. Wenn die Wirklichkeit provoziert, dann ist eben die Wirklichkeit ein Skandal. Kunst darf nicht politisch korrekt sein. Leinkauf

Seit Schlingensief hält sich doch je-

der Theatermacher für einen Provokateur.


Wen soll das noch aufregen? Rau

Ach, das beginnt ja nicht mit Schlingen-

ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 23

Das erinnert mich an die Grundvoraussetzung für die psychoanalytische Suche nach dem realen Ding, die Wilfred Bion nennt: „no memory, no desire, no understanding“. Kannst du in Bezug auf deine Arbeit die Differenz zwischen dem bloß Realität vorspielenden und dem Realität bildenden Als-ob noch etwas spezifizieren? Rau Kürzlich war ich auf der Premiere eines Stücks, das auf Interviews basierte, die die Künstler mit Leuten auf der Straße geführt hatten. Es war eine typische zeitgenössische Regie-Arbeit, der Text hätte auch von Ibsen oder Sarah Kane sein können: Es gab ein Bühnenkonzept, das schauspielerisch als eine Art Hindernislauf funktionierte, es gab ironische und ernste, stille und laute Momente, irgendwann wurde ein Lied gesungen, das Licht änderte sich ab und zu und am Ende versuchte einer der Schauspieler, sich mit einem Seil in den Bühnenhimmel zu ziehen. Worauf ich damit hinauswill: Normalerweise ist Theaterkunst eine mehr oder weniger gut funktionierende Gemeinschaft von Handwerkern. Die einen können Texte variabel sprechen, andere können sie zusammenmontieren, und die Dritten wissen, wie man das Ganze beleuchtet – und der Regisseur übernimmt eben irgendwie die Verantwortung und versucht, seine drei, vier Zauberkunststücke, seinen idiosynkratischen Stil unterzubringen. Aber Theater muss ein Akt sein, es muss eine Schwierigkeit darin bestehen, ihn zu vollführen – keine technische, sondern eine reale, eine existenzielle. Theater heißt, wie ich es verstehe: eine Situation der Entscheidung herzustellen. Wenn Anna Stawickaja, die Verteidigerin der Künstler in den historischen Vorbild-Prozessen, in meinen „Moskauer Prozessen“ die Verfahren, die sie allesamt verloren hat, noch einmal verhandelt, dann weiß sie, dass ihre Karriere vorbei ist, wenn sie wieder Bossart

mir gar nicht klar. Ich habe sie einfach als Menschen gezeigt. „Hate Radio“, ein anderes Stück von

sief, das ist das Wesen der Kunst in einer

Leinkauf

medialen Gesellschaft. Meine sogenannten

Ihnen, spielt in Ruanda während des Geno-

Provokationen waren im Grunde interes-

zids. Das ist für uns sehr weit weg.

sante Missverständnisse – und die Reak-

Rau

tionen darauf. Kunst ist eine öffentliche

herausholen und über meine Generation

Arbeit, ohne Reaktionen existiert sie nicht.

erzählen: über Männer, die in den neun-

Leinkauf Rau

Welche haben Sie denn erlebt?

In Rumänien oder in Russland sagten

Ich will diese Geschichte aus Afrika

ziger Jahren Teenager waren. Ich war 1994 gerade 17, ein junger Mann, so wie 90

mir Leute, die meinen Film „Die letzten

Prozent der Mörder in Ruanda. In „Hate Ra-

Tage der Ceauşescus“ gesehen hatten: Wir

dio“ zeige ich, wie in „Breiviks Erklärung“,

haben nie verstanden, warum du das Ehe-

keine Extremisten, sondern eine völlig

paar so positiv dargestellt hast. Das war

normale Jugend, die in einem historischen


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT

verliert. Das Ehepaar Ceauşescu in den „Letzten Tagen der Ceauşescus“ eben nicht ironisch zu spielen, sich in „Hate Radio“ vor die Überlebenden eines Genozids zu stellen und ihnen noch einmal willentlich diesen unerträglichen, unverständlichen Schmerz zuzufügen – das ist eine fast untragbare Verantwortung für einen Künstler. Und ich sage nicht, hör zu, ich bin der Regisseur, wir werden jetzt zusammen einen Dreh suchen, dass es für niemanden mehr ein Problem ist; du sprichst das jetzt ein wenig augenzwinkernd. Nein, mein Verständnis von sozialer Plastik ist es, den Künstlern, mit denen ich arbeite, einen öffentlichen Ort zu verschaffen, an dem sie gezwungen sind, die volle Verantwortung für das, was sie da tun, zu übernehmen. Einen tragischen Ort, um es etwas altertümlich zu formulieren. Bossart Ein anderer Begriff, den du gern verwendest, ist die „heroische Öffentlichkeit“ – eine Öffentlichkeit, in der der Künstler nicht bloß privat oder als Profi, sondern tatsächlich als Mensch, völlig real und politisch im Jetzt gefordert ist. In „Hate Radio“ wurde das besonders deutlich, weil es bei den ruandischen Schauspielern starke Interferenzen gab zwischen ihrer Biografie, ihrem Selbstverständnis als Schauspieler und der Art, wie die Medien damit umgegangen sind. Rau Ja, am Anfang haben viele Kritiker von „Laien“ oder „Experten“ gesprochen. Dabei ist allein schon mein Text, den sie memorieren müssen, derart komplex, dass das für eine nicht ausgebildete Person nie zu schaffen wäre. Aber dass ein Schwarzer, der auch noch einen Massenmord überlebt hat, also quasi das prototypische postkoloniale Opfer – dass so ein Mensch den unfassbar schwierigen dialektischen Drahtseilakt schafft, als Darsteller eines Täters und als Überlebender eines Genozids

24

Moment tötet. Es ist, das mag ein wenig ab-

Rau

surd klingen, auch eine Studie über meine

übergangslos in den Genozid über. Meine

Jugend und Männlichkeit.

Schauspieler schilderten mir das Leben in

Leinkauf Wo

Ruanda vor dem Genozid als großen Karne-

Rau

sind die Schnittpunkte?

Ich gehöre zur ersten Generation, die

Ja, aber dort ging diese Slackerhaltung

val, einen Ausnahmezustand – die Studen-

nach ’89 erwachsen geworden ist, zu einer

ten liefen mit Parkas rum, wuschen sich

politisch nihilistischen Generation, also

nicht mehr, machten Witze über den Tod.

nicht so wie bei Sartre und seinem Existen-

Im Bürgerkrieg wurde alles zum Scherz.

zialismus: ich und das Absurde und mein

Und eine Woche später vergewaltigten sie

schwarzer Rollkragenpullover. Der Nihi-

ihre Kommilitoninnen, folterten sie, brach-

lismus der Neunziger war leerer, banaler.

ten sie um ...

Man hörte Nirvana und kümmerte sich

Leinkauf

einen Dreck um Ideologien.

Schweizer Jugend gleichsetzen?

Leinkauf

Das gilt auch für Zentralafrika?

Rau

Kann man Ruanda so einfach mit

Es war mir und den Schauspielern wich-


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 25

auf der Bühne zu stehen, und das Ganze völlig entspannt gewissermaßen, also ohne dazwischen gesampelte Übersprungshandlungen: Das war einfach nicht zu verstehen. Bossart Die Schwierigkeit, oder besser: Der Akt war für sie, zugleich als die, die sie fatalerweise sind, und die, die etwas ganz anderes tun, auf der Bühne zu stehen? Rau Absolut richtig, und zwar ohne sich das anmerken zu lassen. Das klassische Angebot in der mitteleuropäischen Erinnerungskultur wäre die Überhöhung der Tatsache, ein Übriggebliebener zu sein, was jede künstlerische Distanzierung zum selber Erlebten obsolet machen würde. Oder man ist Profi und steht in feiner ironischer Distanz neben dem, was man nun mal ist (oder was man glaubt zu sein), man bringt die eigene Biografie in analytische Schwingung. Das alles ist für mich erledigt, überholt, ja, ich glaube nicht, dass das tatsächlich noch jemanden interessiert. Ich war letzthin mit „Hate Radio“ auf dem Festival d'Avignon, das 2013 einen Afrikaschwerpunkt hatte. Ich habe mir dort mit Nancy Nkusi, der weiblichen Hauptdarstellerin, ein schreckliches Stück angeguckt, in dem kongolesische Künstler auf eine sehr seltsame Weise „Kongolesen“ spielten: sie tanzten, waren poetisch und leidenschaftlich – und gleichzeitig haben sie sich über diesen völlig fatalen Congolese Touch lustig gemacht. Meine Darstellerin, eine geborene Ruanderin, sagte nur leise: „Warum tun die das? Was, verdammt noch mal, ist mit diesen Leuten bloß los?“ Und tatsächlich: Warum tun wir das alle, warum spielen wir uns was vor? Übrigens kenne ich das als Schweizer sehr gut, denn ebenso, wie es ein kongolesisches Theater gibt, gibt es auch ein schweizerisches, ein polnisches, ein russisches undsofort. Dieser pseudokritische, völlig folgenlo-

tig, diese Grausamkeiten nicht als „afrika-

So ist der Mensch, so ist die Menschheit

nische“ zu verhandeln. Aber vergleichen

– was jetzt? Als ich das erste Mal in einen

heißt nicht gleichsetzen. Die Inszenierung

Arthousefilm ging, mit 18, war das zufällig

hält sich eng an die tatsächlichen Zustände

„Die 120 Tage von Sodom“ von Pasolini.

im damaligen Ruanda, die natürlich anders

Das ist eine Gewaltorgie, noch dazu sehr

waren als in der Schweiz. Der Wechsel nach

zynisch. Der Film hat auf mich aber total

1989 war für Zentral-Afrika noch radikaler

reinigend gewirkt. Mir wurde da etwas

als für Europa. Da wurde ein Betondeckel

über das tatsächliche Leiden der Menschen

weggeschoben, und es brach eine Freiheit

bewusst – dass Macht und Unterwerfung

aus, die im neonationalistischen Nihilismus

real sind, und dass man sich dagegen weh-

endete.

ren muss.

Leinkauf Rau

Und Sie machen daraus Theater.

Ich suche dieses altertümliche kathar-

sische Moment, die sinnliche Erkenntnis:

Leinkauf Wollten Sie immer Regisseur werden? Rau

Ich hatte als Jugendlicher drei Wunsch-

berufe. Philosoph oder Soziologe, deswe-


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 26

se Authentizitäts- und Ironie-Marathon: Die Schwierigkeit besteht darin, sich dem zu entziehen, ohne zynisch zu werden. Und das kann eben nur mit ganzem Einsatz gelingen: Wenn man mit der Gewissheit auf der Bühne steht, dass die eigenen Spielakte den Diskurs, die symbolische Ordnung oder auch die Geschichte der Menschheit irgendwie verschieben können. Wenn man wirklich die Verantwortung übernimmt. Als ich für „Die letzten Tage der Ceauşescus“ in Rumänien gecastet habe, habe ich mich ganz bewusst für die in Rumänien bekanntesten Fernseh- und Filmschauspieler entschieden. Also für Leute, die gewaltige Übung darin hatten, „den Ceauşescu“ zu spielen – und für die es eine Herausforderung, ein berufliches Risiko und rein schauspieltechnisch fast eine Unmöglichkeit war, ihm (und ihren eigenen Erinnerungen an ihn) noch einmal neu zu begegnen. Bossart Man könnte in einem bestimmten Jargon das, was du tust, auch als Erinnerungsarbeit bezeichnen. Es gibt aber diesen Satz von dir, ich glaube, das war in einem der Gespräche, die du mit Friedrich Kittler für „Die letzten Tage der Ceauşescus“ geführt hast: Erinnerung ist nicht möglich … Rau Ja, die sogenannte Erinnerung ist immer schon erledigt, immer schon von jemand oder von etwas verwertet. Ich nehme deshalb in meinen Stücken grundsätzlich Vorgänge, Bilder und Problemstellungen auf, die medial derart überschrieben sind, dass Authentizität gar nicht mehr zur Debatte steht. Nehmen wir die Erschießung der Ceauşescus: Jeder kennt diese Bilder, ohne sie überhaupt gesehen zu haben. Konkret zu erinnern gibt es da nichts, nur eine Leere. Was ich also versuche, ist ein Paradox: die Herstellung einer absolut konkreten Konzentration auf das tausendfach Gesehene, auf das maximal Unkonkrete. Denn es reicht nicht, ein

gen wollte ich bei Pierre Bourdieu studieren, weil der mich so fasziniert hat. Dann Künstler, weil das in unserer Gesellschaft die Position ist, in der man die Dinge einfach mal ausprobieren kann, ohne Ethik- und Verwaltungsrat. Und der dritte war Kriegsreporter: jemand, der irgendwo hingeht und sich die Dinge von Nahem anschaut. Ich habe dann glücklicherweise einen Beruf gefunden, der diese drei Dinge überblendet. Auszug aus: „Mann der Tat“, zuerst erschienen in: „Der Freitag“, 30.November 2012.


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 27

Bild einfach ein bisschen zu dekonstruieren und dann irgendwie dahinter zu gucken, wie die postmoderne Vernunft sich das vorstellt. Es reicht auch nicht, ein Bild einfach abzubilden oder einige Leute zu befragen oder auftreten zu lassen, die dabei waren, als dieses Bild entstanden ist. Nein: Realismus, wie ich ihn verstehe, beschreibt jene spezifische Spannung, die es einem erlaubt, in ein Bild einzutreten wie in einen Wachtraum – also obwohl man weiß, dass es sich eben nur um ein Bild handelt. Es ist ein dialektischer Vorgang, eine schauspielerische Praxis, die genauso viel mit Phantasie wie mit Genauigkeit zu tun hat. „Hate Radio“ zum Beispiel haben wir geprobt, indem wir die Arbeit gemacht haben, die man in einem Radiostudio eben machen muss: das Sprechen in die Mikrofone, die Kommunikation mit Anrufern, überhaupt das Kommunizieren mit Kopfhörern. Das alles ist sehr schwierig, braucht sehr viel Übung. Gleichzeitig haben wir Filme von Sonic Youth und Nirvana geguckt, dieses katatonisch-hysterische Neo-Punk-Getue, das Aufspringen und Zusammensacken, dieser müde, wütende Zynismus der frühen neunziger Jahre. Und so sind wir, über den Umweg der Radiotechnik und einer Jugendbewegung, an einen ganz anderen Ort gelangt … Bossart Bleiben wir noch einen Moment bei den theoretischen Voraussetzungen. Es gibt auf deiner Homepage AlthussersHaende.org einen ironischen und trotzdem sehr interessanten Essay von dir mit dem Titel „Nachmittag eines Linksfaschisten“. Du beschreibst dort – als Antwort auf einen Kommentar – mit der Geste des melancholischen Historikers die Systemtheorie von Niklas Luhmann als das theoretische Gegenstück einer verlorenen Welt der funktionalen Beschaulichkeit. Ich selber, nur wenige Jahre älter als du, habe mit einem Freund noch zur Jahrtausend-

Stählern musste man werden Milo Rau Wir redeten noch eine Weile so weiter, bis wir beide unabhängig voneinander merkten, dass es an der Zeit sei, damit aufzuhören. Wir verabschiedeten uns, indem wir uns versprachen, uns demnächst anzurufen, um uns zu verabreden, und ich las wieder Luhmann. „Man muss darauf gefasst sein“, schrieb Luhmann in seinem unnachahmlich verkrampften Stil, „dass es in absehbarer Zeit zu atomaren Explosionen kommen wird, die den Erdball verwüsten.


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT

wende die Performance „Luhmann in den Bergen“ veranstaltet, wo wir im Föhnsturm Luhmann-Zitate gelesen haben, um diese anschließend mit einem Katapult über die Felswand in die Tiefe zu schleudern. Was ist der Grund deiner Abgeklärtheit angesichts dieser so bestimmenden Theorie der neunziger und nuller Jahre? Rau Luhmann war ein Genie, aber er war auch ein Beamter, ein Organisationstechniker. Eine Art Wiedergänger von Hegel, der einfach den Begriff „Geist“ durch den etwas moderner anmutenden Begriff „System“ ersetzt hat – wie er selbst in einem Interview gesagt hat. In seiner Theorie ist immer alles schon vorhanden, und alles, was neu dazukommt, wird sofort integriert. Das ist – rein phänomenologisch betrachtet – ganz offensichtlich die gefrorene, unwandelbare Welt der Blöcke. Aber 1989 war ich zwölf, und da war diese Welt, der objektive Grund der Luhmannschen Theorie, schon passé, obwohl diese Theorie natürlich, ähnlich dem Existenzialismus, erst mit etwa zehn bis fünfzehn Jahren Verspätung zur vollen gesellschaftlichen Entfaltung gekommen ist. Nach all dem Frankfurter-Schule-Jargon und dem ganzen Poststrukturalismus war das für meine Generation wie eine reinigende Epidemie, ein Stahlbad objektiver Unbeteiligtheit: In den neunziger und nuller Jahren haben fast alle meiner Freunde an der Uni im Luhmannschen Jargon ihre Arbeiten geschrieben – man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen. Und daher erfüllt mich das mit einer doppelten Melancholie, als persönliche Jugenderinnerung und als gewissermaßen historische Erinnerung an den intellektuellen Sound einer Epoche. Bossart Also in keiner Weise mehr die Welt, aus der deine Projekte stammen.

28 Das wäre zweifellos ein markantes, ein-

muskeln und richteten die Zehenspitzen

schneidendes, epochenwirksames Ereignis.

himmelwärts.

Vorher und Nachher ließe sich deutlich unterscheiden.“

Wie ein Süchtiger griff ich nach Meineckes „Mode & Verzweiflung“ und las sein

Als ich diese Sätze las und sich vor

berühmtes Pamphlet, mit dem er – ohne es

meinem inneren Auge Atompilze türm-

damals selber zu wissen – im Jahr 1981 das

ten, packte mich ein unwiderstehliches

glorreiche kybernetische Jahrzehnt eröff-

Verlangen nach den 80er Jahren. Ich hatte

net hatte: „Nur die dümmsten und also

seit 1989 nicht mehr an die Atombombe

die meisten unserer Generationsgenossen

gedacht, und da war ich gerade zwölf Jahre

machen uns immer wieder den Vorwurf,

alt gewesen. Helligkeit, Wut und eine kraft-

Faschisten oder Kommunisten zu sein.

volle Traurigkeit um die Welt durchtosten

Während diese dümmsten und dennoch

mich. Datenströme rasten mein Rückgrat

bemerkenswerten Generationsgenossen

hinunter, verkrampften die Unterschenkel-

ihr endgültiges Weltbild schnell erreicht


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 29

Rau Absolut nicht. Ab und zu sagt ein Dramaturg, so, Milo, mein Lieber, wir machen jetzt eine Spielzeit, die heißt „Die Stadt als Maschine“ oder „Utopia“, was fällt dir dazu ein? Und da denke ich dann immer, schöne Idee für die zwanziger oder von mir aus achtziger Jahre. Ich selber lebe eher in einem milizionären Zustand, ich lebe im Gefühl, es ist alles total am Zerfallen, es gibt überhaupt keine Großsysteme mehr. Und daher vielleicht auch mein leicht totalitärer Zug in Projekten wie „City of Change“, weil ich immer denke, man muss doch die Dinge zusammenfassen unter einer neuen Fahne, unter einer neuen kollektiven Symbolik. Man muss den Massen wieder eine Form geben, eine neue Klasse, ein neues Bewusstsein schaffen. Für mich ist die Postmoderne vorbei, es gibt keinen Zustand, es gibt überhaupt nichts mehr, was dekonstruiert werden muss mit irgendwelchen Derrida- oder Adornotricks. Es hat sich auskritisiert, es hat sich ausdekonstruiert. Vielmehr muss etwas konstruiert werden aus dem ideologischen Trümmerfeld, vor dem wir stehen. Das ist der Zugriff, der mich interessiert. Bossart Im Titel des erwähnten Essays nennst du dich, ebenfalls halb ironisch, einen „Linksfaschisten“. Du ziehst die Verbindung zu einem alten Zitat von Thomas Meinecke, in dem er „Härte für die Sensibelsten“ fordert. Und nun hat kürzlich bei deinen „Moskauer Prozessen“ der rechtsnationale Ankläger und TV-Moderator Maxim Schewtschenko den Begriff Liberalfaschist gegen „Pussy Riot“ in Stellung gebracht. Gibt es da einen Zusammenhang? Rau Den gibt es. Ja, man sollte gerade den Sensibelsten das Härteste zumuten. Denn ohne jetzt alte Floskeln wiederholen zu wollen, so will ich doch gern darauf hinweisen, dass wir in einer Welt leben, in der alles, und zwar

haben, überprüfen wir Kybernetiker unse-

chen. „Linksfaschist“, zischte ich. Und noch

re Denk- und Handelsweisen durch ihre An-

einmal: „Linksfaschist.“ Ich hatte dieses

wendbarkeit auf die Moderne Welt, welche

lustige Wort noch nie laut gesagt. Aber

ja ihrerseits in permanentem Wandel ist;

Meinecke hatte alles völlig richtig formu-

und so müssen wir unsere Wachsamkeit in

liert. Wieso sollten die Sensiblen nicht mal

Spiel und Revolte der ständig veränderten

hart sein? Wieso sollten immer nur die

Situation anpassen: Heute Disco, morgen

Unsensiblen hart sein? Wem war eigentlich

Umsturz, übermorgen Landpartie. Dies

damit gedient? Ich erinnerte mich an einen

nennen wir Freiwillige Selbstkontrolle. Es

kleinen Urlaub, den ich vor zehn Jahren in

gilt, gerade die Sensibelsten Westeuropas

der Bretagne gemacht hatte, im westlichs-

für die Revolte zu gewinnen. Die Schwie-

ten Dorf Europas: Le Conquêt. Dort warf

rigkeit ist nur, von den Sensibelsten das

ich mich mit einem Taucheranzug ins Meer,

Härteste zu fordern.“

denn ich war irgendwie zur Überzeugung

An dieser Stelle musste ich kurz aufla-

gekommen, dass Europa große Verände-


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 30

wirklich alles, kapitalistisch organisiert und je nach Geschmack mit populistischen oder neoliberalen Begriffen dekoriert ist: unsere Arbeit, unsere Herzen, unser Bewusstsein. Wir sollten lernen, das als Schicksal, als Fatum zu begreifen, gegen das man mit völlig antiken Mitteln ankämpfen muss. Das meine ich mit einem Post-Luhmannianischen Zustand: Die Rationalität, das Menschliche schützt sich nicht irgendwie von selbst, wir sind nicht entspannte Beobachter einer völlig befriedeten Welt, so wie das vielleicht in den Achtzigern der Fall gewesen sein mag. Nein, Zivilisation im Hegelschen Sinn ist menschheitsgeschichtlich der Ausnahmezustand, Anerkennung und Humanität müssen ständig von Neuem kollektiv erworben werden. In einem solchen Zusammenhang erhält das Schimpfwort des Liberal- oder Linksfaschismus plötzlich seinen positiven Sinn – denn in Wahrheit steht die aufklärerische Linke doch immer, wo sie leninistisch auftritt, an der Grenze zum Linksfaschismus. Anders formuliert ist Linksfaschismus einfach die Erscheinungsform des Willens zur Gegenmacht. So antwortet zum Beispiel der bewusst auf Leni Riefenstahls Theorie der „heroischen Reportage“ anspielende Begriff der „heroischen Öffentlichkeit“, von dem wir vorher kurz sprachen, auf die sogenannte „kritische Öffentlichkeit“: die nörgelnd und besserwisserisch im Abseits steht, anstatt konsequent und diszipliniert einzugreifen ins Getriebe der Wirklichkeit. Bossart Nicht zufällig erlebt eine Sache wie Disziplin in der Linken aktuell eine Renaissance. Der Philosoph Alain Badiou sieht in der Disziplin das Einzige, was die verarmten und marginalisierten Massen haben. Oder der marxistische Religionsphilosoph Ton Veerkamp prägte jüngst das Wort von der „Disziplin der Freiheit“ als Schlüsselbegriff für die Bewah-

rungen bevorstanden. Stählern musste

Großvater. Unter perfekter Verwendung

man werden. Bereit musste man sein.

des Konjunktivs sagte ich: „Hitler hätte

Tagsüber las ich, abends trank ich mit ein

ihn erschießen lassen, wenn er nicht nach

paar deutschfeindlichen Meeresbiologen

Stalingrad gegangen wäre.“

Wein und Schnaps. Um sie zu provozieren,

Mein richtiger Großvater war, als mein

behauptete ich, mein Großvater sei bei Sta-

erfundener von einer russischen Kugel

lingrad gefallen. Sie brausten auf, sie tob-

getroffen wurde, damit beschäftigt, vom

ten, aber einer stellte sich auf meine Seite

Amriswiler Kirchturm aus die Bombardie-

und sagte: „Sein Großvater hatte nicht die

rung Friedrichshafens zu beobachten.

Wahl.“ Ich nickte heftig, leibhaftig sah ich meinen imaginären Großvater vor mir, wie

Auszug aus: „Nachmittag eines Linksfaschis-

er nach Osten marschierte. Mir traten die

ten“, zuerst erschienen auf www.althussers-

Tränen in die Augen, wie ich so allein im

haende.org am 28. September 2008.

Gewühl dieser Meeresbiologen stand, ohne


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 31

rung der zivilisatorischen Errungenschaften wie Rechtsstaat und Gerechtigkeit seit der Zeit des alten Israel. Rau Ich merke gerade, dass ich Badiou und ähnliche Philosophen immer in Südfrankreich gelesen habe. Und ich glaube, wir sollten eine Philosophie entwickeln, die gewissermaßen unter dem Himmel des Südens, in Aktionen entsteht und nicht in den Seminarräumen der FU. Das ist, glaube ich, die Grundproblematik der aktuellen deutschen Philosophie, die gerade dabei ist, mit einem Vierteljahrhundert Verspätung Badiou und Rancière zu rezipieren: Sie lesen diese Texte, die auf völlig konkrete Probleme der achtziger und neunziger Jahre antworten – auf den Untergang des kommunistischen Experiments und die Kleingeistigkeit der Nouveaux Philosophes zum Beispiel – und machen daraus eine rein philologische Seminarübung! Denken wir dagegen an unsere Gymnasialzeit zurück, denken wir an Typen wie Camus, so besteht der Charme seiner Schriften ja gerade im Versuch, die Dinge auf einer metaphysischen Ebene zu ordnen und sie gleichzeitig völlig existenziell auszulegen. Die Philosophie, oder besser: die philosophische Ästhetik, die mich persönlich interessiert, verkoppelt universalistische Ansprüche mit einer Art Aktionismus im Angesicht des Objekts, mit einfachsten Vorgängen und Verrichtungen. Es geht mir nicht um den Wunsch nach kommunitaristischer Übersichtlichkeit: Aber was macht es im globalen Kapitalismus für einen Sinn, beispielsweise das indische Kastenwesen oder die postpolitische Lobby-Demokratie zu dekonstruieren, wenn man die sexuelle und lohnmäßige Ausbeutung der indischen Näherin oder die Impotenz des westeuropäischen Wutbürgers aufheben will? Das primäre Problem ist hier nicht das Kastenwesen oder die Demokratie, sondern die konkrete Ver-

Das Innerste, was dieser Mensch hat Friedrich Kittler / Milo Rau Milo Rau

Mich hat erstaunt, dass bei all den

Gesprächen, die ich bei den Recherchen zum Ceauşescu-Projekt geführt habe, das mediale Gedächtnis das individuelle in gewisser Hinsicht überschrieben hat in den letzten zwanzig Jahren. Friedrich Kittler Rau

Ja.

Alles, was auf Video ist – und jeder weiß

sehr gut, was dokumentiert ist und was nicht – ist gewissermaßen … da ist immer


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT

kopplung dieser Systeme mit dem Kapitalismus. Das war die Innovation der Zapatisten, die sich sagten: Okay, indigener Traditionalismus schön und gut, aber wir verweigern uns jetzt mal der touristischen Folklore, zu der die kapitalistische Logik uns zwingt. Wir verkoppeln das mal mit was anderem, mit den Luftsprüngen einer postmodernen Symbolpolitik, mit der Idee einer territorialen Sezession … Bossart Lass mich noch mal auf die Paranoia zurückkommen, die dein erster Film „Paranoia Express“ im Titel trug. Paranoia ist ja so ungefähr das Gegenteil von Realismus. Wie bist du von der Paranoia zum Realen gekommen? Rau Wie gesagt, dieser Film war künstlerisch und finanziell ein absoluter Reinfall. Ich war zu jener Zeit ein mehr oder weniger bewusstloser Vertreter der letzten postmodernen Generation. Einer dieser bedauernswerten Tarantino-Klone, die zu viele Filme gesehen haben und jetzt eben auch einen machen wollen. Und wenn es geklappt hätte, hätte ich vielleicht sogar weitergemacht oder ich hätte mich dann später in die Berliner Schule flüchten müssen, um einen Kontrapunkt zu setzen. Wie auch immer, das ist alles nicht passiert. Aber was an meiner Arbeit haften geblieben ist, ist diese postmoderne Assemblage-Logik: Dass ich mir zum Beispiel für die „Zürcher Prozesse“ Leute zusammengesucht habe, die in alle Winde verstreut sind, um mit ihnen unter dem Vorwand eines Prozesses eine „Schweiz“ zusammenzubauen, die in dieser Verdichtung unmöglich ist, die nicht existiert – die also, interessanterweise, um ein Vielfaches realer ist, als sie es in der Wirklichkeit, in der freien Wildbahn je sein könnte. Im Grunde ist also meine Art, auf der Bühne Realität zu erzeugen, durch und durch postmodern. Denn dass man die junge Muslima, den verbohrten

32

ein Durcheinander von Dingen, die sie nur

dichte, atmosphärische Erinnerung, in der

aus dem Fernsehen wissen können und an-

diese Figur mit einem Pferd einen Pass

deren, die sie selber erlebt haben. Und das

überquert. Naja, es ist eben so eine Claude-

gleicht sich dann irgendwie ab, das nähert

Simon­-Situation, aber dieses Ereignis, die-

sich an.

ses Pferd und der Pass sind das Innerste,

Kittler

Das kennt wohl jeder von sich selbst:

was dieser Mensch hat. Alles, was er später

Urlaube, die man mit der Kamera aufge-

erlebt, hängt irgendwie damit zusammen,

nommen hat, sind irgendwo anders, irgend-

mit dem unterschwelligen Heroismus in

wie entfremdet. Man sollte da vermutlich

diesem Bild. Sein ganzes Leben ist davon

ein bisschen aufpassen.

motiviert. Und dann stößt er auf einen

Rau

Es gibt eine sehr schöne Stelle bei

Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert. Die-

Claude Simon: Eine Figur erinnert sich

ser Kupferstich zeigt genau diese Situation:

ihr ganzes Leben lang an eine bestimmte

Pferd und Reiter, die einen Pass überque-

Situation. Es handelt sich um eine sehr

ren. Und da versteht diese Figur, dass sein


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 33

alten protestantischen Pfarrer, den zynischen Redakteur, den linken Intellektuellen, den Rechtsprofessor und die Beamtin vom Sozialamt in einen Topf schmeißt und als Regisseur total wertfrei agieren lässt: Das ist ja mehr oder weniger das Gegenteil von dem, was man instinktiv als engagiertes, politisches Theater bezeichnen würde. Bossart Wie meinst du das? Rau Zum einen handelt es sich natürlich um eine Inszenierungsstrategie: Mit einer klaren Werthaltung würden meine Sachen nicht funktionieren. Die Leute würden mir nicht glauben. Sie vertrauen mir zu Recht nur, weil sie sehen, dass es mich wirklich interessiert, und zwar ohne bestimmte Vorstellung und ohne Vorurteil. Wie funktioniert ein Massenmord? Was denkt sich dieser Breivik eigentlich? Wie funktioniert die Schweiz? Ich gehe im Grund immer noch genauso an meine Projekte heran wie bei „Paranoia Express“ mit all den dort auftretenden Agenten, den Pistolengefechten und alpinen Liebesnächten. Ich denke mir das Ganze anfangs immer als großes chaotisches Spektakel, und nach jedem Schritt wird es dann klarer und einfacher, bis am Schluss eine nahezu klassizistische Kühle herrscht. Ich recherchiere ja immer sehr lange und sehr ausführlich vor Ort, spreche mit sehr vielen Leuten. Aber nicht, um irgendwelche Dokumente zu finden, die ich dann abbilden oder verfremden könnte: Nein, um ein Gefühl zu bekommen, eine Legitimation dafür, im Anschluss völlig frei zu assoziieren. Das Schreiben eines Stücktexts dauert bei mir deshalb immer sehr lange und ist äußerst mühsam, denn das ist der Übergang von den Tatsachen, von den Erzählungen zu etwas wie einer realen Situation, die von sich aus spricht. Und während Castorf das dann so inszenieren würde, dass du ständig merkst, dass hier asso-

Allerpersönlichstes die Erinnerung an

rungsmaschine in Bewegung. Von hier aus

einen Kupferstich ist …

entfalten sich die Situationen und Erzähl-

Kittler

… den er vielleicht als Kind mal gese-

weisen. Aber am Anfang ist das Bild …

hen hat … Rau

Ja. Gewissermaßen ist das sehr ähnlich

Auszug aus: „So wird man Historiker“, zuerst

dem, was wir gemacht haben: auszuge-

erschienen in: „Die letzten Tage der Ceauşes-

hen von Bildern, von diesem Überschrie-

cus. Materialien, Dokumente, Theorie“, Berlin

bensein, von diesem medialen Nukleus in

2010.

unseren Köpfen, dieser eigentlich organischen Realität der Videogramme. Ich wusste schon als 12-Jähriger, als ich die Ceauşescus an ihrem Tischchen sah, dass ich irgendwann etwas daraus machen würde. Und von da an setzt sich die Erinne-


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ziiert wird, so ist das bei mir gerade das, was ich ausschalte, was mich nicht interessiert: Ich liebe die Strenge, die Kühle, den gleichsam traumatisierten, gefrorenen Blick. Ich bin ein Postmoderner ohne postmodernen Gestus. Bossart Ich würde sagen, was du machst, ist die Kolonisierung der Postmoderne. Der Trick dabei ist, sich gegenüber der Postmoderne so zu verhalten, als wäre sie eine rückständige, aber an Rohstoffen reiche Kultur, die nicht durch Zähmung, sondern vielmehr durch Unterdrückung und konsequente Ausbeutung kolonisiert werden muss, zu ihrem und zu unserem Nutzen. Aber ich habe noch eine letzte Frage: Wir waren vor einiger Zeit zusammen in einer Gesprächsrunde mit angehenden Schauspielern. Und du wurdest nach den Motiven der Menschen gefragt, die bei deinen Projekten mitmachen, weil sie sich darin ja existenziell involvieren und aussetzen, weil sie sich zuweilen auch in Gefahr begeben: Auf viele deiner Projekte folgten Prozesse, Medienkampagnen und Morddrohungen. Du hast geantwortet, dass diese Menschen bei deinen Projekten mitmachen, weil sie etwas mit sich selber klären wollen, weil sie sich einer Sache stellen, weil sie ein Statement machen wollen. Du erwähntest das Beispiel der Schauspielerin Sascha Soydan, die in „Breiviks Erklärung“ die Gerichtsrede des Massenmörders Breivik verliest und von sich aus immer wieder sagt: Komm, lass uns das noch mal aufführen! Rau Jaja, das ist so. Wir werden „Breiviks Erklärung“ übrigens bald auch in Brüssel im EU-Parlament und in Oslo spielen, wo die Performance ja eigentlich hingehört. Denn wie Sascha Soydan ebenfalls mal gesagt hat: Die Züge fahren auch dann ab, wenn wir nicht zum Bahnhof gehen; wir können uns die Breiviks anhören oder nicht, jedenfalls hören sie nicht


ROLF BOSSART / MILO RAU DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT 35

auf zu sprechen, wenn wir es nicht tun. Aber wenn ich zum Schluss noch etwas pathetisch werden darf, so würde ich sagen, dass es bei dieser Entscheidung, von der wir ja nun in allen Varianten gesprochen haben, um zwei menschliche Grundprobleme geht, neben denen alles andere völlig irrelevant wird. Das eine ist, dass man am Ende alleine sterben muss, dass man als Subjekt für immer verschwindet. Dass wir alle einsam und zum Tode verurteilt sind, wie Michel Houellebecq es ausdrückt. Das andere Problem, gewissermaßen die Folge aus dieser unerfreulichen Situation, ist, dass wir, solange wir leben, in der Unwahrheit leben. Denn es gibt keine Entsprechung zu diesem einsamen Tod, es gibt einfach nichts, wofür sich dieses schreckliche Ende lohnt. Das Einzige, was uns bleibt, ist das „Trotzdem“: Diese momenthaften, euphorischen Akte der Erkenntnis, der Wahrheit, von denen man nachher sagen kann, ich habe es getan, ich habe es versucht. Ich habe diesen Menschen geliebt, in dieser Sache habe ich Klarheit erreicht. Und auch wenn das Ergebnis fragwürdig sein mag, so hat es sich gelohnt. Das meine ich mit Realismus: der existenziellen Realität des Lebens auf Augenhöhe zu begegnen. Dem Tod gewissermaßen zu sagen: Ich bin so stark wie du, hier stehe ich – und genau das machen die Schauspieler in „Hate Radio“ und überhaupt, wenn sie auf der Bühne stehen. Ja, das ist es, was der Mensch will. Und das ist eben auch der Grund, warum es die Kunst gibt, glaube ich.

Au théâtre, nous ne sommes jamais dans un rêve: nous sommes toujours réveillés

le travail quotidien des animateurs et jour-

Jean-François Perrier / Milo Rau

lent hors du studio. Le théâtre permet de

nalistes. On les voit s’amuser et boire une bière, tandis que les cadavres s’amoncelmontrer la face cachée. Par ailleurs, il per-

Selon vous, qu’est-ce que le

met de s’adresser à chacun. Car au théâtre,

théâtre peut apporter de plus, par rapport

nous ne sommes jamais dans un rêve: nous

aux films documentaires et aux témoi­

sommes toujours réveillés.

Jean-François Perrier

gnages enregistrés? Milo Rau

Ce qui m’intéresse, c’est de montrer

Auszug aus: „Entretien avec Milo Rau“, zuerst

ce que personne ne voit vraiment. Avec

erschienen in: Programmheft des Festival

„Hate Radio“ par exemple, c’était le studio

d’Avignon, Juli 2013.

et le quotidien des animateurs. Il s’agissait de révéler la banalité du génocide à travers


SANDRA UMATHUM

DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

36

ÜBERLEGUNGEN ZU MILO RAUS „DIE LETZTEN TAGE DER CEAUCESCUS“ UND „HATE RADIO“


37


SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

Bis die ganze Szenerie sichtbar wird, dauert es eine Weile. Die Zuschauer nehmen ihre Plätze dies- und jenseits der Bühne vor den beiden Längsseiten eines rechteckigen Containers ein. Sein Inneres verhüllen heruntergelassene Jalousien; die vierte Wand des Theaters ist in Form einer undurchsichtigen Fassade präsent. Mit dem Anfang der Aufführung verwandelt sich diese Fassade in eine Projektionsfläche, auf der zuerst einige Informationen zum Völkermord in Ruanda und danach sukzessive die großformatigen vorproduzierten Videobilder von zwei Frauen und drei Männern erscheinen. In ihrer Gemachtheit erinnern sie an die Filmporträts über Ost- und Westdeutsche, mit denen Fiona Tan bei der documenta 11 vertreten war, nur dass hier bei „Hate Radio“ die gezeigten Personen weder in schwarz-weiß aufgenommen noch stumm sind. Ihre Oberkörper und Gesichter frontal zur Kamera hin ausgerichtet, geben sie Erfahrungen von Menschen zu Protokoll, die 1994 im Zuge der Ermordung von etwa einer Million Angehörigen der Tutsi-Minderheit und Tausenden gemäßigter Hutu zu Opfern, Mittätern, Beobachtern wurden. Die Personen, die von der Leinwand aus das Publikum adressieren, erzählen die Geschichten aus der Perspektive der jeweils Betroffenen. Durch wiederholte Identitätswechsel wird jedoch bald deutlich, dass die Vortragenden als Stellvertreter fungieren. Sie sprechen die Texte von Anderen: von Georges Ruggiu oder Valérie Bemeriki, den ehemaligen Moderatoren des propagandistischen Radiosenders RTLM; von einer Überlebenden, die mit ihrer Schwester dabei zusehen musste, wie ein Mann ihre Mutter mit einer Lanze durchbohrte; von einer Journalistin, die kurz vor Beginn des Genozids nach Ruanda geflogen war, um über den Friedensprozess zu

38

Zwischen subjektivem Erzählen und objektivem Verhängnis Heinz Bude / Milo Rau Heinz Bude

Wir suchen ja nach der Wahrheit

des historischen Augenblicks. Deshalb müssen alle diese subjektiven zersplitterten Intensitäten einen Anschluss haben an die Verhängnisstruktur des historischen Moments. Und dann, nur dann sind wir als Zuschauer beeindruckt, glaube ich. Und das wäre tatsächlich eine Rückkehr zu den Griechen. Milo Rau

Wenn sie nun zum Schluss versu-


39

SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

berichten, der im Herbst 1993 durch das Abkommen von Arusha eingeleitet schien, oder von einem Überlebenden, der mit seiner Familie an einem Ort des Mordens und der Folter Unterschlupf fand, nachdem RTLM die Adresse seines Hauses bekannt gegeben und die Hörer dazu aufgerufen hatte, sich um die „Kakerlaken“ (so das Wort der Hutu für die Tutsi) zu kümmern. Der Völkermord in Ruanda wird auf diese Weise der Sphäre des Abstrakten und Unpersönlichen enthoben. Da diese individuellen Erlebnisse von Schauspielern vorgetragen werden, die ihrerseits Überlebende des Genozids sind, löst sich das Individuelle zugleich vom jeweiligen Individuum ab. Es begegnet als ein charakteristisches Erlebnis, als repräsentativer Partikel einer in ihrer Ganzheit nie repräsentierbaren kollektiven Katastrophe. Als anschließend die Jalousie nach oben fährt, wird mit dem Innern des Containers der Nachbau des Studios einsehbar, in dem der Radiosender RTLM auf Sendung ging. Ihren alleinigen Auftritt erhalten nun also diejenigen, die sich maßgeblich zu Beteiligten am Genozid machten, indem sie einen Großteil des Hasses schürten, der Schicksale und Erfahrungen wie jene aus den vorangegangenen Schilderungen nach sich gezogen hat. Drei der Schauspieler, die bereits auf den Videobildern zu sehen waren, sitzen jetzt in der Bühneninstallation und zeigen die Moderatoren Bemeriki, Ruggiu und Kantano Habimana „bei der Arbeit“. Sie zeigen, wie sie um einen runden Tisch versammelt mal im Plauderton, mal beschwörend ihre Texte in die Mikrofone feuern, wie sie mit den Radiohörern telefonieren und diese öffentlich, on air, zu Folter und Mord anstacheln, wie sie rauchen und trinken, wild mit den Händen gestikulie-

chen, ein Porträt des Porträtisten zu geben,

die Logik des Geschichtlichen deutlich zu

dieses Mannes oder dieser Frau – nein,

machen. Durch Menschen, durch Stimmen,

dieser Inszenierung eigentlich, die auf der

durch Räume, durch Bilder – was sie wol-

Schattenlinie zwischen subjektivem Erzäh-

len. Ohne dass er geschichtsphilosophisch

len und objektivem Verhängnis wandelt, im

schon wüsste, was die Geschichte ist. Ich

Versuch, weder auf die eine noch auf die

würde sagen: Dieser Autor sucht nach einer

andere Seite zu fallen … was geschieht da?

Logik des Geschichtlichen jenseits geschichts-

Wie schreitet diese Inszenierung, dieser

philosophischer Gewissheit. Und das kann er

Autor voran?

nur in einer experimentellen Situation. Er ist

Bude

Dieser Autor ist kein auktorialer

also, wenn sie so wollen, ein Experimentator

Erzähler, sondern einer, der sich in einer

in der Logik des Historischen.

Experimentalsituation befindet. Und in die-

Rau

ser experimentellen Situation – in diesem

bringt, ist die Geschichte selbst am Beispiel

Text, dieser Re-Inszenierung – versucht er

eines Ereignisses. Er ist unterwegs auf der

Und was er eigentlich zur Erscheinung


SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN! 40

ren oder gelangweilt den Kopf in die Hände stützen. In einer Ecke kippelt unterdessen ein unbeteiligt wirkender Mann auf seinem Stuhl. Bisweilen erhebt er sich und geht unmotiviert durch den Raum, während in einem kleinen Nebenzimmer eine fünfte Person als DJ Joseph lässig am Pult herumhantiert und in regelmäßigen Abständen Musik auflegt: „Rape me“ von Nirvana, „Le dernier slow“ von Joe Dassin oder „I like to move it“, den internationalen Chart-Hit der damaligen Zeit von Reel 2 Real. Dazwischen dann ein Song des extremistischen ruandischen Sängers Simon Bikindi, der wie Bemeriki und Ruggiu wegen Anstiftung zum Genozid bis heute im Gefängnis sitzt. Nur Habimana lebt nicht mehr; einige Jahre nach seiner Verurteilung ist er 2009 im Congo gestorben. Was hier vor sich geht, ist eine Wiedergabe der Abläufe, die sich bei RTLM so und in Variation über Wochen und Monate abgespielt haben. Als hätte man eine Replay-Taste gedrückt, kehrt mit den Moderatoren, mit ihrer zynischen Coolness und ihrem saloppen Rassismus ein alltäglicher Ausschnitt aus der ruandischen Medienrealität im Jahr 1994 zurück. Kein Wort ist erfunden, kein Dialog das Produkt eines fremden Autors. Das in einer bedrängenden Atmosphäre sich verdichtende Bühnengeschehen ist der Wirklichkeit selbst entnommen. Es wiederholt, was im Nebeneinander von populärer Unterhaltungskultur und massenwirksamer Beihilfe zum Völkermord tatsächlich so gesagt, getan und bis in den letzten Winkel des Landes auch noch diejenigen erreichte, die weder einen Fernseher besaßen noch Zeitungen lesen konnten. Mit „Hate Radio“ verlässt das Theater das weite Feld der fiktiven Geschichten und Rollenfiguren. Stattdessen wird die Bühne zu einem Raum der szenischen Rekon-

Suche nach dem geschichtlichen Gefühl … Bude

Sehen Sie: Wir leben in einer Gesell-

Auszug aus: „Das geschichliche Gefühl“, zuerst erschienen in: „Die letzten Tage der Ceauşes-

schaft, der die Idee für historische Totaler-

cus. Materialien, Dokumente, Theorie“, Berlin

eignisse abhandengekommen ist. Aber alle

2010.

wissen, dass es diesen Raum trotzdem gibt. Rau

Ja.

Bude

Wir alle wissen es. Diesen Raum auszu-

messen ist eine immense Herausforderung. Es gibt ein Subsystem, das dafür eigentlich verantwortlich ist, für diese Art von Vermessung: Das ist die Politik. Deshalb ist dieser Autor im methodologischen, im streng methodologischen Sinn ein politischer Autor.


41

SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

struktion, der möglichst genauen Annäherung an reale Handlungen und deren faktische Konsequenzen. Sprechen und Handeln als Akte des Erinnerns zu entwerfen, ist eine Praxis, die seit den 1990er Jahren wieder verstärkt ins Zentrum künstlerischer Auseinandersetzungen geraten ist, wenn es darum geht, historische Begebenheiten mit den Mitteln des Theaters aufzubereiten. Anders als bei den dokumentarischen Theaterformen, die in den 1960er Jahren u. a. Peter Weiss oder Rolf Hochhuth initiierten, sind dabei gegenwärtig vor allem die so genannten Experten des Alltags gefragt. Mit der Thematisierung ihrer persönlichen Schicksale betreten sie die Bühnen, um zu bewahren, was, so hat es Gerald Siegmund ausgedrückt, „vergessen zu werden droht, weil es gesellschaftlich landläufig als unspektakulär, mithin als nicht medienwirksam und damit als nicht erinnerungswürdig gilt“1. Doch dies ist nur die eine Seite des Interesses an nicht-professionellen Akteuren. Für viele Regisseure und Künstlerkollektive gründet der ganz besondere Reiz von Menschen, die in ihrem Alltagsleben Experten in allen erdenklichen Bereichen, nicht aber Experten in der Kunst des Schauspiels sind, nicht zuletzt in den imperfekten und kontingenten Facetten ihrer Darstellungsfähigkeit. Zwar sprechen sie nur für sich selbst und vertreten nur ihre eigenen Erlebnisse. Da sie im Theater aber an einem Ort agieren, der ihnen fremd ist und der zudem jede noch so wahre Begebenheit und jedes noch so echte Schicksal mit dem Vorzeichen der potenziellen Fiktion versieht, können sich beabsichtigte Authentizitätseffekte nicht selten in ihr Gegenteil verkehren.

Die tieferen Schichten der Wahrheit

im Gefängnis sitzt. Es sind viele Interviews,

Christoph Fellmann

häuft sich viel zu viel Material an. Trotz-

und es sind viele Akten, und natürlich dem führt Milo Rau die Recherchen so

Also arbeitet das IIPM in zwei Phasen. Die

lange fort, „bis ich absolut sicher bin, dass

erste gilt der Recherche. Dann steigen die

die Erzählung, die ich suche, die Realität

Theaterleute in die Archive und sichten das

zwar extrem verdichtet, aber trotzdem der

gelagerte Material. Sie besuchen in Targo-

Wahrheit entspricht“. Dass zum Beispiel

viste bei Bukarest die Baracken, in deren

das Generationenbild richtig ist, das „Hate

Hinterhof die Ceauşescus erschossen wur-

Radio“ über das Ruanda von 1994 vermit-

den, und in Kigali das ehemalige Studio von

telt: „Es ist ein Irrtum, dass die realisti-

RTLM. Sie sprechen mit den Soldaten, die

sche Geste in der Wiederholung von etwas

auf das Diktatorenpaar geschossen haben,

besteht, das es so schon gegeben hat. RTLM

und mit Valérie Bemeriki, die immer noch

war nicht genau so, wie wir es zeigen. Aber


SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN! 42 in der Universalaussage ist das Stück ex­

Die Stücke des IIPM sind an ihrer Ober-

trem wahr, wie uns auch Zeitzeugen immer

fläche geradezu hyperrealistisch. Sie klin-

wieder versichert haben.“ Milo Rau erklärt

gen „richtig“, sehen „richtig“ aus. Mit dem

die theatrale Arbeit, die auf die Recherche

Effekt, dass man als Zuschauer davor sitzt

folgt, mit einem Rückgriff auf die frühe

wie vor einem realen Geschehen – ohne

Kunstgeschichte: „Als die Höhlenbewoh-

Chance, die kleinen Kunstgriffe der Regie

ner von Lascaux die ersten Theaterszenen

mitzukriegen: die Tatsache zum Beispiel,

an die Wand malten, ging es ihnen nicht

dass Nicolae Ceauşescu in Wirklichkeit

darum, ein Tier möglichst genau so zu

sehr stark mit den Händen gestikulierte,

zeigen, wie es war. Es ging ihnen darum,

was bei den Proben, so Milo Rau, „nur

sich selbst in einem dramatischen Verhält-

lächerlich“ gewirkt habe. Oder die Farben

nis zum Tier zu zeigen, also zum Beispiel

der Bühne, die nicht die gleichen sind wie

in einer Jagdszene. Das ist der Kern jeder

in den Baracken von Targoviste, sondern

realistischen Kunst.“

wie in den Videomitschnitten, die vom


43

SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN! Schauprozess kursieren. Zum „perfekten“

Auszug aus: „Brutalstmögliche Aufklärung

Look der Stücke tragen ganz wesentlich die

oder das Ende aller Illusionen auf der Bühne“,

Schauspieler aus den jeweiligen Ländern

zuerst erschienen in: „DU. Die Zeitschrift der

bei, die nicht nur die richtigen Kleider

Kultur“, Nr. 826 (2012).

tragen, sondern auch die richtigen Dialekte sprechen. Sie sind es aber auch, die das Publikum mitnehmen in die tieferen Schichten der Wahrheit, wie sie aus „Die letzten Tage der Ceauşescus“ oder „Hate Radio“ spricht.


SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

Dass im postdramatischen Theater diese Momente des Scheiterns und des Unvorhersehbaren keineswegs als Manko, sondern durchaus als Qualität begriffen werden, ist nicht verwunderlich, hat doch das postdramatische Theater zu einer seiner wichtigsten Aufgaben die Erkundung dessen erklärt, was im Jenseits des geltenden Paradigmas Drama möglich ist. Diese Erkundungen haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Inszenierungen hervorgebracht, die trotz aller inhaltlichen und ästhetischen Differenzen darin vergleichbar sind, dass sie das Theater zum Ort und Gegenstand der künstlerischen Forschung machen. So beleuchten sie die genuinen Entstehungs- und Seinsbedingungen dieser Kunstform und ihrer Konventionen, indem sie mit Laien arbeiten, indem sie Hänger, Pannen und Lücken in den Verläufen konzeptuell miteinplanen, indem sie Vorgänge, wie das Regieführen oder das Soufflieren, die normalerweise vor dem Publikum diskret verborgen werden, auf der Bühne ausstellen oder indem sie die Besucher als Mitspielende integrieren. Innerhalb dieser Tendenz behauptet „Hate Radio“ zweifellos eine Ausnahmeposition. In „Hate Radio“ geht es weder um eine reflexive Wendung des Theaters auf sich selbst noch um innovative theaterhistorische Setzungen oder vermeintlich nicht erinnerungswürdige Geschehnisse. Mit der Rekonstruktion des RTLM-Studios und dem Vorgehen seiner Protagonisten rückt ein Vorhaben in den Vordergrund, das sich bis zu einem gewissen Grad gegen die Kontingenzen, die jeder Aufführung immer schon eignen und die gegenwärtig so häufig mit Nachdruck forciert werden, sogar notwendig abschirmen muss, wenn es nicht seinen eigenen Anspruch unterlaufen will. Die Möglichkeit des situativen Experiments

44

Situationismus rückwärts

reinszeniert als Allegorie auf den Sieg des

Vera Ryser / Milo Rau

Proletariats, dann hat das mit der peniblen Art und Weise, wie Romuald Karmakar das

Vera Ryser

Milo Rau, was kennzeichnet das

Reenactment als distinktes Format? Milo Rau

„Reenactment“ ist ein weiter Be-

Format zum Beispiel in „Der Totmacher“ verwendet und schließlich den komödiantischen Reenactment-Szenen in „Be Kind

griff, und jeder verwendet ihn anders. Das

Rewind“ von Michel Gondry fast gar nichts

geht von einem eher aktionistisch-politi-

zu tun. Ja, dieses Format ist so weit und

schen Verständnis des Formats über iro-

undefiniert, dass die Frage eher ist, ob es

nisch-postmoderne Mimikry-Formate bis

überhaupt eine sinnhafte künstlerische

zu einer technisch-reproduktiven Vorstel-

Geste gibt, die nicht in irgendeiner Weise

lung, in der „historische Korrektheit“ eine

ein „Reenactment“ ist.

große Rolle spielt. Wenn Nikolai Evreinov

Ryser

1920 den „Sturm auf den Winterpalast“

gesagt, ein Reenactment sei wie Situationis-

Sie haben in einem Interview einmal


45

SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

wird deshalb nicht beansprucht, der Inhalt nicht ästhetischen Bedürfnissen unterworfen. Die Bezugssituation ist die Vorlage, an der sich alles orientiert. Sie gibt die Spielregeln vor und fungiert im Sinne einer regiehaften Anleitung für das Wie der Bühnengestaltung und Darstellung. Am zeitgenössischen Theater geschulte Zuschauer mag diese Praxis irritieren, denn auf der Strecke bleibt hier Vieles von dem, was in Kunst und Theorie als Errungenschaft der Avantgarden gepriesen und von deren Erben bis heute weiterentwickelt wird. Mit „Hate Radio“ gehen Milo Rau und sein Ensemble in eine andere Richtung und konfrontieren mit einem szenischen Ablauf, der nicht auf Überraschungen setzt. Spontane Improvisationen sind nicht vorgesehen. In ihrem Tun halten sich die Darsteller an die Instruktionen und haften an Texten, die anders als bei den Experten des Alltags nicht ihre persönlichen Erlebnisse wiedergeben, die dafür aber, weil sie von professionellen Schauspielern vorgetragen werden, das Publikum mit der erforderlichen Präzision erreichen. Alles ist sorgfältig einstudiert und minutiös geprobt. Die Explizierung einer Meta-Ebene findet nicht statt. Im Unterschied zu Arbeiten wie „Poor Theatre“ (2004) oder „Hamlet“ (2007), in denen die Wooster Group die Hürden und Fallstricke theatraler Rekonstruktionen gleich mitverhandelt, verzichtet „Hate Radio“ sogar auf die Thematisierung der Problematiken, die der Versuch einer exakten Annäherung an die Handlungen und das Sprechen anderer Personen mit sich bringen kann. Was sich derart präsentiert, mutet hinsichtlich der performativen Potenziale von Aufführungen an wie Theater am Nullpunkt. Ein Exempel in der Kunst der Abkehr oder Vermeidung von künstlerischen Risiken

mus rückwärts. Können Sie das erläutern?

seltsam untote Weise wirksam geblieben

Das ist ein Wortspiel, das zwei Din-

sind, „nicht verarbeitet wurden“, wie man

ge zusammenbringt, die für mich sehr

so sagt. Was bei einem Reenactment zählt,

zentral sind: Erstens, dass Reenactments

ist der Akt der Vergegenwärtigung, die

Situationen herstellen, also keine toten

Herstellung einer solchen, im besten Sinn:

Abbilder oder Reproduktionen sind, wie

revisionistischen Situation. Das historische

es das platonische Vorurteil will, sondern

Wissen, das dabei herausspringt, ist nur

Rau

szenische Entscheidungszusammenhänge,

Mehrwert.

die politischen und, was widersprüchlich

Ryser

wirken mag, durchaus auch utopischen

Abbildung von wichtigen geschichtlichen

Gehalt haben können. Und zweitens, dass

Ereignissen ist immer auch eine politische.

Reenactments wie Walter Benjamins Engel

Wie verbinden Sie den künstlerischen und

der Geschichte in die Vergangenheit schau-

den politischen Anspruch an Ihre Produk-

en, nach rückwärts, auf Ereignisse, die auf

tionen?

Die Arbeit an der detailgetreuen


SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

und Nebenwirkungen. Wer geneigt ist, darin ein Desiderat zu erkennen, mag sich mit „Hate Radio“ schwer tun. Denn dessen Signifikanz manifestiert sich nicht im Ausloten der Bedingungen und Grenzen des theatral Machbaren, sondern in der Wiedereröffnung einer Situation, die in ihrer spezifischen Gemachtheit eine Vorstellung von der abgründigen Ungeheuerlichkeit zu vermitteln vermag, mit der sich drei Radio-Moderatoren in den Dienst eines Genozids stellten. Die Szene im nachgebauten RTLM-Studio leistet auf den ersten Blick nicht viel nicht mehr als eine Geste des Zeigens. Sie bietet ein Drama ohne dramaturgischen Spannungsbogen und ohne kritische Haltung. Das Moment der Distanznahme bringt sich allein in der Rahmung dieser Szene, in den ihr vorangestellten Informationen und Videobildern zur Geltung. Gerade aber in der Entfaltung dieser Szene, die den Ausschnitt einer historisch gewordenen Wirklichkeit in eine Realität zweiter Ordnung überführt, in der Entfaltung einer Szene also, die zeigt und im selben Maß verhüllt bzw. überschreibt, tritt die Bedeutsamkeit von „Hate Radio“ in den Vordergrund. Was zu vergessen werden droht, was ausgeblendet oder nie gewusst wurde, verwebt sich auf der Bühne zum Ineinander von An- und Abwesenheit. Weder lenkt das Anwesende dabei jedoch die Aufmerksamkeit nur auf das Abwesende, noch verkommt das Zeichen zum bloßen Anlass für die Erinnerung an, Rückbesinnung auf oder Erkenntnis über das Bezeichnete. Vielmehr treten Erinnerung, Rückbesinnung oder Erkenntnis ihrerseits als in der Zeit sich entfaltende Akte in den Brennpunkt. Die Prozessualität sowohl dieser Szene als auch dieser Akte generiert ein Bild, das

46 Rau

Diese beiden Aspekte verbinden sich

Warum trägt die Massenmörderin, die man

von allein, im Angesicht der Inszenierung,

in „Hate Radio“ auf der Bühne sieht, ein

könnte man sagen – nämlich in der Reak­

Nelson-Mandela-T-Shirt? Warum sind diese

tion des Publikums, der Öffentlichkeit. Auf

tropischen Faschisten alle so entspannt,

letztlich nicht planbare Weise werden die

und warum hassen sie Hitler so sehr? Und

Zuschauer selbst zu Akteuren, und zwar

wieso führen die postkolonialen linkslibe-

nicht, indem ich ihnen irgendein konkre-

ralen Vorurteile, die doch alle eigentlich

tes Angebot mache, sondern indem ich

super sind, direkt in den Massenmord?

eine ausreichend komplexe künstlerische

Kurz gesagt: Wo die Kunst das Durcheinan-

Situation schaffe, zu der sie sich verhalten

der des Realen nicht schön brav dokumen-

müssen. Letztlich geht es um eine Art der

tarisch auseinandersortiert, sondern en

Anschlussfähigkeit, die sich selbst verbirgt,

bloc und im Gewusel aufmarschieren lässt,

um eine Entordnung des Dokumentari-

wird es automatisch verwirrend und damit

schen in einer scheinbar realen Situation.

politisch.


47

SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

eine Vorstellung entstehen lässt und Zugang bietet zum Vergessenen, Verdrängten, Versäumten. „Um zu wissen, muss man sich etwas vorstellen“2, schreibt Georges Didi-Huberman in „Bilder trotz allem“, in jenem Buch, das er dem Vermögen von Bildern widmete, ein Entsetzen, wie es die Shoah war, zwar nicht in seiner Totalität zu offenbaren, von diesem Entsetzen aber, trotz allem, eine Vorstellung zu vermitteln. „Um zu wissen (d. h. um diese eine bestimmte Geschichte in unserer heutigen Situation und aus unserer aktuellen Gegenwart heraus zu erkennen), muss man sich etwas vorstellen, muss man sich ein Bild machen (s’imaginer)“3. „Bilder trotz allem“ ist ein Text, den Didi-Huberman ursprünglich für den Katalog zu der Ausstellung „Mémoire des camps“ verfasst hatte, in deren Rahmen vier Fotografien aus Birkenau präsentiert wurden. Einige Jahre später und als Replik auf die Angriffe, die diesem Text folgten, erweiterte er ihn zu einem Buch mit demselben Titel. In zahlreichen argumentativen Schleifen verteidigt Didi-Huberman seine Überzeugung gegen jede Kritik und insbesondere gegen die Einwände derer, die, wie Claude Lanzmann, Elisabeth Pagnoux und Gérard Wajcman, gegen den Wert dieser Bilder polemisch ihre Stimme erhoben haben. „Bilder trotz allem“ ist insofern ein Plädoyer, das die Ansicht zurückweist, die Unvorstellbarkeit ebenso wie die Undarstellbarkeit der Shoah ließen jedes Bild nicht nur obsolet werden, sondern geradewegs obszön erscheinen. Die Überlegungen Didi-Hubermans sind exemplarischer Natur. Sie sind auf jede kollektive Katastrophe, letztlich sogar auf alle historischen

Ryser

Ihre Projekte entstehen in Zusammen-

lerisch eigentlich meint. Vielleicht kennen

arbeit mit dem von Ihnen gegründeten und

Sie diesen Witz: Eine Blondine geht zum

geleiteten International Institute of Politi-

Friseur. Der Friseur bittet sie, den Walk-

cal Murder, einer Produktionsgesellschaft

man abzunehmen, damit er ihr die Haare

aus künstlerisch und forschend tätigen Mit-

schneiden kann, doch die Blondine weigert

arbeitern. Was ermöglicht diese Mischung

sich. Wie es bei Witzen der Fall ist, fragt

aus Praxis und Theorie?

er dreimal, und die Blondine sagt dreimal

Rau

Meine praktische Arbeit ist immer the-

Nein, sie wolle den Walkman aufbehalten.

oretisch und vice versa. Ich denke, dass die

Schließlich verliert der Friseur die Nerven,

Trennung zwischen dem sogenannten „the-

schnappt sich den Walkman und schleu-

oretischen“ und dem sogenannt „prakti-

dert ihn in die Ecke. Nach wenigen Sekun-

schen“ Feld der Beschäftigung mit der Welt

den bricht die Blondine tot zusammen.

an einer zutreffenden Beschreibung dessen

Der Friseur will jetzt natürlich wissen,

vorbeigeht, was „In-der-Welt-Sein“ künst-

was sich seine Kundin da Lebenswichtiges


SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN! 48 angehört hat, und setzt sich die Kopfhö-

theoretische Kennerschaft an, sondern

rer auf: „Einatmen, ausatmen, einatmen,

von Bereichen, die für Theater und Film

ausatmen …“ Worauf ich damit hinauswill:

relevant sind.

Das „praktische Tun“ und das „theoreti-

Ryser

sche Wissen“ als distinkte Funktionen gibt

ternational Institute of Political Murder

es nur in Blondinen-Witzen und in streng

erinnert in seiner Aufteilung in ein „Execu-

schulischen Kontexten. Das IIPM beendet

tive Committee“, „Departments“ und „Am-

also eine – übrigens geistesgeschichtlich

bassadors“ an eine Mischung aus einem

sehr junge – Unterscheidung oder, um Ihr

wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und

schönes Wort aufzunehmen, eine willkürli-

diplomatischen Unternehmen. Können Sie

che Ent-Mischung von Theorie und Praxis,

das kommentieren?

von Vor-Sagen und Nach-Machen. Natürlich

Rau

spreche ich hier nicht von Kernphysik oder

rein rechtlich eine GbR, also eine „wirt-

Elektrotechnik, da maße ich mir keine

schaftliche“ Produktionsgesellschaft für

Die Personalstruktur des IIPM – In-

Das IIPM ist etwas von alldem. Es ist


49

SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN! meine Projekte. Gleichzeitig ist das IIPM

„Theorie“) zu transzendieren, sowohl in

aber auch mehr, zum Beispiel ein „diplo-

der Form der Arbeit wie auch in ihren kon-

matisches“ Institut in der Internationalität

kreten Ergebnissen. Sie haben Anfang 2009 das Manifest

der Produktionsstrukturen, der Themen

Ryser

und des Publikums. Projekte wie „Hate Ra-

„Was ist Unst“ in der „NZZ“ veröffentlicht

dio“ oder die „Moskauer Prozesse“ müssen

und platzieren dieses auch sehr promi-

vor Ort vorbereitet werden, da geht es um

nent auf der Internetseite des IIPM. Mich

eine sehr reale Form von Diplomatie, sonst

interessiert Ihre formale Orientierung an

kommt man nicht an die entscheidenden

avantgardistischen Manifesten der Moder-

Gesprächspartner ran, von einem Casting

ne sowie Ihre Distanzierung dazu.

oder einer Aufführung ganz zu schweigen.

Rau

Und ein „wissenschaftliches“ Institut ist

und auch in den anderen, weniger ver-

das IIPM im Versuch, institutionelle Gren-

breiteten Manifesten des IIPM bewusst an

zen (wie etwa die zwischen „Praxis“ und

der Moderne. Die große, die ganze Welt

Ich orientiere mich in „Was ist Unst?“


SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

Ereignisse übertragbar, die, obgleich sie nie in Bildern zur Gänze repräsentiert werden können, dennoch auf diese Bilder angewiesen sind, um überhaupt, in welcher defizitären Weise auch immer, denkbar bleiben zu können. Mit „Hate Radio“, aber auch mit seiner bereits einige Jahre zuvor entstandenen Arbeit „Die letzten Tage der Ceauşescus“ tut Milo Rau im Grunde genommen genau dies: Er sucht nach Bildern für das Unvorstellbare und Undarstellbare bzw. entwirft auf der Basis von Fotografien und Videogrammen, trotz allem, Szenen, die unsere Vorstellungskraft herauszufordern und somit eben jenen Zweck zu erfüllen vermögen, um den es für Didi-Huberman im Kern geht. Sich ein Bild machen – in Milo Raus Theater berührt dieses Unternehmen indes mehrere Ebenen zugleich. Die Bilder, die er in den Videos und szenischen Prozessen kreiert und die wiederum die Zuschauer dazu anregen, sich ihre eigenen Bilder, ihre eigenen Vorstellungen zu machen, verweisen nämlich ihrerseits darauf, dass ein historisches Faktum, wie das Wort bereits sagt, immer schon etwas Gemachtes und stets aufs Neue zu Machendes ist. Der Genozid in Ruanda ist nicht nur gemacht in dem Sinne, dass er vollzogen wurde. Gemacht ist er (und wird er auch weiterhin) durch die Fotografien, Filme und Zeugenberichte, die über ihn Auskunft geben und den individuellen wie kollektiven Gedächtnissen neue Informationen hinzufügen. Milo Raus Inszenierungen sind aber nicht nur wieder-holende Rekonstruktionen des selbst schon Konstruierten. Sie sind ebenfalls ein neu Gemachtes und neu Machendes, die ihre Teilhabe an der fortwährenden (Re-)Konstruktion des historischen Bezugsereignisses auf der Bühne ausstellen und zur Verhandlung freige-

50 einschließende Gestikulation der Genera-

nicht wissen, wie mein Wohnungsnachbar

tion um Eisenstein, Marinetti, Majakowski

sich gefühlt hat, als er sich von seinem

entspricht mir mehr als dieses pseudokriti-

letzten Freund oder seiner letzten Freun-

sche Suchen nach dem Minimaldissens, wie

din getrennt hat. Die futuristische Idee,

es in der späten Postmoderne praktiziert

dass der Künstler zugleich Politiker und

wurde. Ich bin ja in den neunziger und

Wissenschaftler ist, der die Nerd-Brille des

frühen nuller Jahren erwachsen geworden,

kleinbürgerlichen Intellektuellen gegen die

und damals hatte man die Wahl zwischen

Arbeitskleidung des Ingenieurs vertauscht,

übertriebener Authentizität oder hysteri-

entspricht mir da eher.

scher Ironie, was beides nicht sehr befriedigend war. Dieses Aufblühen des postmo-

Auszug aus: „Diese große, die ganze Welt

dernen Egos in irgendwelchen minoritären

einschließende Gestikulation“, zuerst erschie-

Differenz- und Authentizitäts-Orgien hat

nen in: „ZETT-Magazin“ 2/2012.

mich immer total gelangweilt, ich will


51

SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

ben. Existierende Bilder oder Situationen, die eigentlich dazu bestimmt sind, die Vergangenheit zu indizieren, avancieren so zu Vorlagen für eine in die Vergangenheit und zugleich die Zukunft gewendete Geste. Die Reden der Zeugen und die mediengemachten Bilder oder Texte werden dabei nie gegeneinander ausgespielt. Die in ihrer Repräsentation nie das Ganze repräsentierenden Fotos und Fernsehbilder werden nicht abgeurteilt und nicht, wie in Claude Lanzmanns monumentalem Film „Shoah“, zugunsten der Beschränkung allein auf die Reden von Zeugen ausgespart. Ihren Einbezug hat Lanzmann aus ideologischen Gründen unterlassen. Er hat sich gegen das abbildende Bild entschieden, weil es Betrug sei, sofern es den Anspruch erhebe, einen Schlüssel zum Verständnis des Ganzen zu liefern (und ist dabei, wie Jacques Rancière luzid herausgestellt hat, geflissentlich über die Sachlage hinweggegangen, dass auch in seinem Film die Reden der Zeugen in den Vorgang einer medialen Bildherstellung eingebettet sind). „Hate Radio“ und „Die letzten Tage der Ceauşescus“ vereinen beide Formen der Darstellung. In diesen Arbeiten erscheinen sie nicht als Antipoden und werden nicht als Gegenspieler, sondern in ihrer Aufeinanderbezogenheit, in ihrer gegenseitigen Bedingtheit zur Anschauung gebracht. Wenn die Aufführung von „Die letzten Tage der Ceauşescus“ zuende geht, wenn die Nachstellung der Gerichtsverhandlung gegen das rumänische Diktatorenehepaar Ceauşescu abgeschlossen ist, bleibt man, genau wie bei „Hate Radio“, mit neuen Bildern von historischen Momenten zurück. Diese Bilder, die in theatralen Szenen konstruiert und rekonstruiert wurden, werden sich in den individuellen und kollektiven Gedächt-

Man selber lebt ja im Pop Klaus Theweleit Heute sind alle technischen Medien verbunden mit dem, was wir seit den fünfziger Jahren die Errungenschaften der Popkultur nennen. Die ganze Welt sendet die gleichen Songs, sieht dieselben Filme, verfügt über die gleiche Elektronik. Also ist die politische Macht heute gezwungen, sich bei ihrer Durchsetzung mit Teilen dieses Popimperiums zu verbinden. Das geht natürlich am besten mit Leuten, die ihr Pop-Sein gar nicht mal simulieren müssen;


SANDRA UMATHUM DU SOLLST DIR EIN BILD MACHEN!

nissen der Zuschauer sedimentieren. Sie werden sich dort eingliedern und ihren Nachhall finden. Und aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie die Erinnerungen an, Vorstellungen von und das Wissen über den Genozid in Ruanda oder die Revolution in Rumänien nicht nur verändert haben, sondern an den künftigen Konstruktionen und Rekonstruktionen dieser Ereignisse Anteil haben. 1

Gerald Siegmund: „Die Kunst des Erinnerns. Fiktion als Verführung zur Realität“, in: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 182 – 205, hier: S. 184.

2

Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München 2007, S. 226.

3

Ebd., S. 227.

Gekürzte Fassung von: „Du sollst Dir ein Bild machen! Überlegungen zu Milo Raus ‚Die letzten Tage der Ceauşescus‘ und ‚Hate Radio‘“.

52 die vielmehr selber kiffen, ihr Bier trin-

was solche vier Leute in so einem Studio

ken am Mikrofon, die lustigen DJ’s spielen,

anrichten können. Die sich da als Popfigu-

Witze machen, Events ankündigen, und

ren gerieren, gut drauf sind, ihr Bier trin-

zwischendrin immer reinstreuen: „Bringt

ken und immer auf den Knopf des Killings

die Kakerlaken um, wie viele Tutsi hast du

drücken. Das ist nicht nur ungeheuerlich,

heute geschafft?“ In dieser Mixtur. Diese

wie man so leicht sagt; das ist hochgradig

Mixtur haut viel stärker rein beim Hörer,

unheimlich. Man selber lebt ja im Pop; und

ist viel unabwehrbarer als die Stimme

hier wird Pop Mord.

eines politischen Führers, die demagogisch herumkräht und vorschreibt: Ihr sollt

Auszug aus: „Milo Rau: Radio-Télévision Libre

jetzt das und das machen. Milo Raus „Hate

des Mille Collines und der Genozid in Ruanda“

Radio“ ist genau deswegen so toll, weil man

(Hörspiel), zuerst ausgestrahlt auf: „Deutsch-

diese vier Figuren da in ihrem Sendekäfig

landradio“, 27. März 2012.

sitzen sieht und komprimiert mitbekommt,


53


SYLVIA SASSE / MILO RAU

54

DAS REALE DES SIMULACRUMS


55

Sylvia Sasse Auf der Homepage des International Institute of Political Murder schreibst du, dass es dir darum geht, mithilfe von Reenactments geschichtliche, künstlerische, popkulturelle Ereignisse künstlerisch und theoretisch zu reflektieren. Für welche Art von Ereignissen interessierst du dich? Oder anders gefragt, was müssen diese Ereignisse von sich aus mitbringen, damit sie für dich künstlerisch interessant sind? Milo Rau Ich interessiere mich ganz bewusst nicht für private, sondern ausschließlich für historisch gewordene Ereignisse. Die Hinrichtung der Ceauşescus etwa ist ein Kardinalereignis der Fernsehgeschichte. Die Bilder des Ehepaars an dem Tischchen im Gerichtssaal oder dann die Bilder ihrer Leichen vor der Erschießungsmauer haben sich geradezu als Ikonen ins kollektive Unbewusste gebrannt. Dies hat letztlich wenig mit ihrer konkreten Bedeutung zu tun – denn weder hatte die rumänische Revolution einen Einfluss auf die Weltgeschichte (die „Wende“ war zu dem Zeitpunkt bereits vollzogen), noch ist der Prozess gegen die Ceauşescus im klassischen Sinne dramatisch. Aber es ist etwas an diesen Bildern, das mir, als ich sie zum ersten Mal im Fernsehen sah, sofort das Gefühl gab: Hier geschieht Geschichte – und viel wichtiger noch: Es gibt also Geschichte! Es ist sehr schwierig zu beschreiben, warum das so ist, dass es einige (und es sind nicht viele) Ereignisse, „Nachrichten“ gibt, von denen jeder weiß, wo und wann er von ihnen erreicht worden ist. Und mit „erreicht“ meine ich vielleicht ungefähr das, was Althusser mit „Anrufung“ meint, wenn er sagt: „Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an.“ Man ist als Einzelner „gemeint“ von diesen völlig objektiven Ereignissen, die keinen Zusammenhang mit der eigenen Lebensgeschichte haben – von der Mondlandung, vom Fall der Türme, vom Tod Kennedys. Man ist


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 56

„gemeint“ von der Geschichte, von diesen beiden Diktatoren, von ihrem Schicksal in einem öden, ländlichen Gerichtssaal in einem fremden Land. Ja, man ist gemeint von etwas völlig Abstraktem und erkennt sich darin ganz körperlich als historisches Subjekt. Neben diesen eher emotionalen Vorbedingungen oder Qualitäten, die ein Ereignis für unsere Arbeit interessant machen, gibt es natürlich auch rein faktische: Es muss relativ gut dokumentiert sein, denn sonst ist ja eine Reinszenierung nicht möglich. Wobei auch diese Ebene – die einer Genauigkeit oder Detailtreue – eher eine der möglichen Intensität als eine wissenschaftliche ist. Es geht nicht um Wahrheit im technischen, sondern um Wahrheit, um Wieder-Holung im Kierkegaardschen Sinn. Es geht um die Wiederherstellung einer Situation, einer Ergriffenheit, nicht eines korrekten Bedeutungszusammenhangs. Und deshalb kann es sein, dass eine einzige Zeugenaussage, ein unscharfer Schnappschuss mehr dazu beiträgt, um ein historisches Groß­ereignis zu reenacten, als ein gewaltiges dokumentarisches Archiv. Sasse Dann interessiert dich weniger das historische Ereignis selbst, als vielmehr die Frage, wie dieses Ereignis als medial Vermitteltes in Erscheinung getreten ist? Also als mediales Ereignis, als Bild, als Kameraeinstellung, als Bildmontage, als Appell oder Anrufung? Geht es – als Ausgangspunkt – um das sekundäre, medial vermittelte Erleben, dem eine eigene Aura zukommt? Rau Das stimmt, der Ausgangspunkt dieser ganzen Arbeit war eine private Fernseh-Ergriffenheit: die eines 12-jährigen Jungen, der Ende der 1980er Jahre an Weihnachten vor dem Fernseher sitzt. Diese quasi-mythologische Erfahrung hat dann auch 18 Jahre später die theatrale Wunschmaschine überhaupt erst in Gang gesetzt. Und als ich das erste Exposé zu


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 57

„Ceauşescu“ geschrieben habe, da ging es mir nur um die möglichst genaue Evokation genau dieser einen Erfahrung. Ich wollte dieses Tele­Tribunal, diesen medial vermittelten Vorgang so zwingend und überwältigend real werden lassen, wie er mir damals in meinem kindlichen Gemüt erschienen ist. Sobald aber die Recherchen beginnen, also der praktische Vorgang des Wieder-Holens eines Ereignisses, etabliert sich eine Interferenz zwischen beiden Bereichen, dem realen Ereignis (der Spur) und seiner medialen Abbildung und der damit verbundenen Ergriffenheit (der Aura). Gemeint ist damit die Interferenz zwischen der „historischen Wahrheit“, die sich durch eine technische Untersuchung des Videos, durch Zeugenaussagen, durch Ortsbegehungen und logische Schlussfolgerungen annäherungsweise ermitteln lässt, und dem, was Robbe-Grillet in seinem Roman „Die Wiederholung“ die „objektive Wahrheit“ nennt, die Wahrheit der Erfahrung eines 12-Jährigen – letztlich also jener Generation, die die politische Wende im Fernsehen zu einem Zeitpunkt mitverfolgt hat, als sie von Kindern zu Erwachsenen wurden. Was deshalb sicherlich am Anfang aller für „Die letzten Tage der Ceauşescus“ gemachten Anstrengungen steht und zugleich ihr Ziel ausmacht, das ist die Aura, nicht die korrekte Wiederholung eines Ereignisses. Es geht um die szenische Rekonstruktion eines Paradoxes, um die künstlerisch hergestellte „Erscheinung einer Ferne“, wie Walter Benjamin den Begriff Aura definiert. Das Erleben einer solchen Ferne ist zwingend sekundär, also „medial“ im weitesten Sinn, aber ich denke, dass das Spektrum der Medien, ihrer Erfahrungsweisen und damit der formalen Ansprüche an die Evokation sehr weit ist.


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 58

DER FEHLENDE APPLAUS Wie hast du versucht, die Aura der Fern-Seh-Erfahrung von 1989 in dein Reenactment, das ja eher eine Nah-Seh-Erfahrung ist, einzubringen? Hast du dir also auch Gedanken gemacht über die Rolle der Zuschauer eures Reenactments? Als was/wen wolltest du die Zuschauer ansprechen? Rau In Rumänien, später auch in Berlin und der Schweiz ist mir mit „Die letzten Tage der Ceauşescus“ etwas Seltsames passiert: Das Publikum hat nicht geklatscht – in Bukarest überhaupt nicht, und in Westeuropa sehr spät, also erst nach zwei, drei Minuten Stille. Einerseits hängt das natürlich mit dem Thema und der Dramaturgie des Abends zusammen. Andererseits hat es etwas mit dem performativen Status eines Reenactments zu tun, einer Form, die die Zuschauer zu intimen Zeugen einer Situation macht, die völlig verbürgt ist, kurz: Was man sieht, ist im allerschlichtesten Wortsinn wahr und tatsächlich so passiert. Jede Möglichkeit der Distanzierung wird von der schieren Realität der Aufführung erbeutet, und die Zuschauer müssen ihre „Rolle“ nach dem Ende des Stücks erst wieder finden, sie müssen sich gewissermaßen erinnern, was nun zu tun ist – nämlich klatschen. Und an diesem Klatschen ist etwas substanziell Schuldhaftes: Denn wie kann man einen Mord beklatschen, auch wenn er noch so verdient ist? Um ehrlich zu sein, waren mir diese beiden Umstände während der Inszenierung nicht bewusst – nämlich, dass wir die Zuschauer gewissermaßen gezwungen haben, Stellung zu nehmen zu etwas, das viel zu widersprüchlich ist, um sich irgendwie dazu zu positionieren. Das rumänische Publikum war sehr sensibel für dieses unmoralische Angebot, das ihnen „Die letzten Tage der Ceaucescus“ machte, und Sasse

Da wird nachgedreht Alexander Kluge / Milo Rau Alexander Kluge

Und dann wird ein Gericht

zusammengerufen, und die Anklagepunkte lauten: Ceauşescu hat das Volk verlassen. Er hat die Nation an den Rand des Verderbens geführt. Also sehr allgemeine Dinge. Helfen Sie mir auf die Sprünge: Gab es auch konkrete Vorwürfe? Dass er jemanden getötet hat? Milo Rau

Ja. Der Verteidigungsminister bringt

sich in der Nacht vor Ceauşescus Flucht aus Bukarest um – und da wird ihm natür-


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 59

die bleierne Stille nach der Inszenierung, die Verwirrung und Verweigerung des Publikums war Gegenstand vieler Kritiken. Diese übertriebene, fast verbrecherische Zeugenschaft war auch im Westen einigen Leuten so unangenehm, dass wir schließlich dazu übergegangen sind, ihnen zu „helfen“: Wir haben in Berlin und der Schweiz nach einer Minute Dunkelheit ein klassisch interpretiertes Volkslied eingespielt, eine (wie viele Volkslieder) sehr einfache und berührende Musik. So als würde sich ein Fenster auftun im dunklen Himmel des Geschichtspessimismus der „Letzten Tage“, als hätte der Theaterabend in einem höheren Sinn einen guten Ausgang gehabt, als sei eine alte Geschichte erzählt worden und nun alles wieder in Ordnung. Leider ist es uns nicht gelungen, diese sehr starke und sehr brutale Wirkung des Abends in der Aufzeichnung zu konservieren – aber das gelingt ja nie. Sasse Geht es nicht eher um das Problem, nicht zu wissen, was man beklatscht? Das historische Ereignis oder dein Reenactment, wobei das Re-­ enactment sein Theatersein zwar nicht ganz leugnet, aber doch zumindest soweit herunterfährt, dass das historische Ereignis nicht überblendet wird. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich in dem Moment eigentlich beklatsche, und mir womöglich Gedanken darüber gemacht, man könnte meinen, ich beklatsche den Mord an den Ceauşescus oder die Dramaturgen ihres Tribunals. In Moskau hat vor ein paar Jahren eine Künstlergruppe einen „Schauprozess“ veranstaltet im Kunstkontext. Die Zuschauer dachten, sie nehmen an einer Performance teil und beklatschten die „Nähe“ zur Rhetorik der Schauprozesse. Dabei handelte es sich aber um den Ausschluss eines Mitglieds der Künstlergruppe aus der Gruppe, also nicht um Kunst. Aber ich will noch mal in eine ganz andere Richtung fra-

lich vorgeworfen, er habe ihn umbringen

er einsitzt wegen der Demonstranten, die

lassen. Das kann er aber leicht von sich

er kurz vor dem Verrat an Ceauşescu in

weisen. Lustigerweise wird ihm auch

Temeswar hat erschießen lassen … Aber

vorgeworfen, er sei ein Feigling, er habe

wie auch immer: Der vorwurfsvolle Gestus

nicht mit dem Volk reden wollen. Das kann

des Gerichts, das Ad-personam-Element ist

er aber ebenfalls leicht widerlegen: Es sei

viel stärker bei Elena Ceauşescu. Sie ist als

ja General Stanculescu gewesen, der den

Mensch viel verhasster als ihr Ehemann.

Fluchthubschrauber habe rufen lassen.

Ceauşescu hat sich durch den Personenkult

Stanculescu sei der eigentliche Verräter …

gleichsam verflüchtigt, und als seine Rede,

Kluge

Der General, der im historischen Pro-

diese berühmte letzte Rede dann live im

zess im Gerichtssaal und in Ihrer Inszenie-

Fernsehen von Geschrei unterbrochen wird

rung dann im Publikum sitzt …

und das Bild ausfällt, am 21. Dezember, am

Rau

Ja, wir haben ihn für die Bukarester

Premiere aus dem Gefängnis geholt, wo

Abend vor der Flucht der Ceauşescus aus Bukarest – da ist er symbolisch erledigt.


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 60

gen. Dein Film zeigt, im Unterschied zum Reenactment im Theater, mehr historische Einbettung, viele Originalaufnahmen, die dann kontrastiert werden mit der Reinszenierung im Theater in Bukarest. Warum hast du den Film gemacht? Rau Diese Beobachtung zur Einbettung stimmt, und das ist wohl auch der Grund, warum die Wirkung des Films eine sehr andere als die des Theaterabends ist – eigentlich die gegenteilige. Während das Stück auf eine möglichst deckungsgleiche Überblendung von Ereignis und Wiederholung setzt, was bei den Zuschauern den von dir beobachteten Effekt hervorruft („Wofür klatsche ich eigentlich?“), ist im Film die Selbstbefragung des Zuschauers schon in der Montage präsent, was eine sehr große emotionale Entlastung mit sich bringt. Der Film kommentiert sich selbst, er ist sehr viel klassischer, sehr viel „dokumentarischer“ oder eben analytischer als das Stück; weniger monumental, menschlicher. Das hat damit zu tun, dass wir den Film fürs Fernsehen gemacht haben, wo es ja so etwas wie das „dokumentarische Genre“ gibt und die Sache auch irgendwie interessant und vor allem selbsterklärend sein muss. Sasse Dienen deine Reenactments auch einer Art Entlarvung eines Begehrens, z. B. Teil von historischen Ereignissen sein zu wollen und sei es nur als Zuschauer? Rau Das ist eine sehr schwierige Frage – nicht theoretisch, sondern praktisch gesehen. Für die deutsche Kunst ist ja seit der faschistischen Wirkungsästhetik (und ihren Folgen) unkritische Immersion oder gar Überwältigung eigentlich der verbotene Apfel überhaupt, und das zu Recht. Vom sozialpsychologischen Standpunkt aus bin ich wie jeder klar denkende Mensch für Entlarvung und gegen Immersion. Die einzige Leh-

Man muss ihn nicht mehr fertigmachen. Kluge

Ja, es ist im Prozess Elena, der persön-

Kluge

Was ich mich bei Ihrem Stück gefragt

habe: Sind diese Verteidiger von Ceauşescu

liche Dinge vorgeworfen werden: Du hältst

Juristen? Oder sind es Offiziere?

dein Geburtsdatum geheim, du hast deine

Rau

Doktorarbeit nicht selber verfasst, du bist

Zivilisten wie wir …

Pflichtverteidiger aus Bukarest, zwei Und diese Verteidiger verwandeln sich

Analphabetin … Aber das sind ja alles keine

Kluge

todeswürdigen Delikte.

im Lauf des Prozesses in Ankläger, nach

Rau

Absolut nicht … Es gibt natürlich auch

der Logik: Ich bin ja eigentlich gegen die

todeswürdige Delikte, zum Beispiel Ge-

Todesstrafe – aber in diesem Fall ist sie

nozid. Die Richter schätzen da: Wie viele

gerechtfertigt.

Leute sind durch Geburtenkontrolle gestor-

Rau

ben, wie viele Leute wurden in Temeswar

diesem Prozess, wie dysfunktional er ist im

getötet, und kommen auf die absurde Zahl

Vergleich zu seinem großen Vorbild: den

von 40 000 Menschen.

Moskauer Prozessen.

Und das ist eben das Interessante an


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 61

re aus der Gewaltgeschichte der letzten hundert Jahre ist es, dass der Mensch genauso sadistisch ist, wie es ihm das Gesetz bzw. die jeweilige Situation erlaubt, oder anders ausgedrückt: Sobald die Bühne eines Gerichts bereitet ist, sind die Henker nicht weit. Sasse Kannst du das erläutern? Rau Dazu kann ich gern ein Beispiel aus meinem privaten Leben geben: Vor ein paar Monaten wurde in einigen schweizerischen Medien (zuerst in Boulevardblättern wie „20minuten“ oder „Blick“, dann aber auch in der „NZZ“, dem Schweizer Fernsehen etc.) irrtümlich behauptet, ich würde ein Theaterstück über die Leiden einer armen Witwe vorbereiten und dies aus reinem Profitinteresse, worauf ich, das Theater und meine ganze Familie im Lauf weniger Tage über hundert Drohbriefe erhielten, inklusive Morddrohungen. Meine Eltern mussten zeitweise den Wohnort wechseln, das Theaterprojekt (das einen komplett anderen Inhalt als den behaupteten hätte haben sollen) musste abgesagt werden. Was mich an den Artikeln, Leserbriefen und Mails am meisten erschreckt hat, war die lustvolle Selbstverständlichkeit, mit der die Illusion einer „Gefährdung“ des gesellschaftlichen Lebens konstruiert, jede Rücksichtnahme fallen gelassen und jede Richtigstellung als zusätzliche Frechheit gewertet wurde. Das Begehren, rechtschaffener Teil eines Strafgerichts zu sein, ist stärker als jede Diskussionskultur, und Roland Barthes hat in seinen „Mythen des Alltags“ behauptet, die „Philosophie des Heimzahlens und der Abrechnung“ sei überhaupt die einzige Dialektik, die der Durchschnittsbürger verstehen würde. Nun ist das Anprangern dieses bedauerlicherweise normalsten menschlichen Verhaltens das eine, das Herstellen einer kat-

Kluge

Es ist eine Karikatur der Moskauer

Prozesse. Rau

Genau. Schon durch die historische

dann werden sie unverzüglich erschossen. Rau

Ja, und das erstaunt sogar die Beisitzer

dieses Gerichts, die tatsächlich mit einer

Lage, in der er stattfindet, nämlich wäh-

Appellation usw. gerechnet hatten. Das

rend der Wende: Es gibt diesen geschlos-

wird alles derart außer Acht gelassen, dass

senen kommunistischen Kosmos nicht

sogar der Kameramann keine Zeit findet,

mehr, in dem der Angeklagte sich schuldig

einen Akku einzusetzen – weil er ja die

bekennen würde, so wie das bei Bucharin

Kamera ausstecken muss, um zur Erschie-

der Fall gewesen war. Es ist eine Komödie,

ßungsmauer zu gelangen. Als er den Akku

mit Geschrei, mit Beleidigungen, mit einem

gefunden hat, hört er bereits die Schüsse

völlig uneinsichtigen Angeklagten.

und kann nur noch hinterherrennen. Und

Kluge

So wie es bei Marx heißt: beim ersten

dann wird die Hinrichtung noch einmal

Mal als Tragödie, beim zweiten Mal als Far-

inszeniert. Man sieht das gut auf den

ce … Eineinviertel Stunden dauert das und

berühmten Bildern, auf denen die Leichen


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS

hartischen Situation, also der schuldhaften Verstrickung des Zuschauers in ein Bühnengeschehen, etwas völlig anderes.

62

SCHULD UND ÜBERIDENTIFIKATION Sasse Glaubst du wirklich an Katharsis? Rau Der Zuschauer muss sich selbst als Täter erlebt haben, er muss von der Handlung im Althusserschen Sinn gemeint sein, er muss sich tatsächlich fragen, warum er nicht anders (oder überhaupt) gehandelt hat, und diese Selbstbefragung muss schmerzhaft, bohrend sein. Ich will dazu noch einmal ein Beispiel geben: Vor einigen Wochen war ich in der Volksbühne, und in einem slowenischen Stück wurde, nachdem darüber abgestimmt worden war, ein Messer gewetzt und ein Huhn geschlachtet. Etwa fünf Zuschauer verließen den Saal, die anderen (unter anderem ich selbst) blieben wie versteinert sitzen, kicherten hysterisch und versicherten sich gegenseitig, dass „überhaupt nichts“ geschehen würde. Dann starb das Huhn, das Licht ging an und eine Art generelles Schuldig-­ Geworden-Sein legte sich über die Zuschauer. Die normalen Entlastungsreaktionen traten ein: Die einen zweifelten an der Realität der Schlachtung (obwohl alle den Leichnam des Huhns gesehen hatten). Die anderen richteten Vorwürfe an die slowenische Künstlergruppe, die ihnen das zugemutet hatte (obwohl sie selbst für den Tod des Tiers gestimmt hatten). Die Dritten flüchteten sich in die altbekannte Argumentation, dass man, da Fleischesser, ohnehin tagtäglich mitschuldig an soundso vielen Morden würde (die man aber nie zu Gesicht bekommt). Und einige Unentwegte versuchten sogar, hinter die Bühne zu gelangen, um dort ein lebendes Huhn anzutreffen oder mit den slowenischen Künstlern eine

auf dem Boden liegen: Das Maschinengewehrfeuer geht vor den toten Diktatoren in den Boden, damit etwas Staub aufgewirbelt wird, damit es nach Aktion aussieht. Kluge Rau

Da wird nachgedreht. (lacht)

Ja, da wird nachgedreht. (lacht)

Auszug aus: „Bekanntmachung“. Gesprächsfilm, zuerst ausgestrahlt auf: „RTL“, 9. Mai 2011.


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS

Der Kinderwagen auf Eisensteins Treppe

und Wagenkolonnen, ich sah die Mauer

Milo Rau

wandten mit germanischer Jovialität in

63

Prügelei anzufangen. Die Formel lautet also: Ohne Überwältigung keine Entlarvung. Sasse Žižek hatte ein ähnliches Verfahren bei der slowenischen Musikgruppe Laibach und der NSK (Künstlerkollektiv: Neue Slowenische Kunst) als „Überidentifikation“ beschrieben. D. h. die Aktionen oder Performances waren so angelegt, dass die Zuschauer oder Teilnehmer sich zunächst mit dem Geschehen identifizieren sollten, um später diese Identifika­ tion zu reflektieren. Bei einem Gerichtsprozess findet noch etwas anderes statt, da identifizieren sich die Zuschauer mit der Rolle, die ihnen im Gerichts­prozess zugewiesen wird, und zwar zuzuschauen. Sie genießen diese Rolle, genießen auch den kathartischen Effekt des stellvertretenden Erlebens des Verbrechens und werden sich dann am Schluss ihres Genusses bewusst. Schwebt dir so etwas vor, wenn du Reenactments macht? Rau Ja, wobei ich denke, dass das vielleicht jedem Künstler und auch jedem Theoretiker oder Politiker vorschwebt – eine Rezeptionssituation zu schaffen, in der das Verhandelte so intensiv erlebt wird, dass die Barriere zwischen passivem Zuschauen und aktivem Nachvollzug überschritten wird, in der der Zuschauer mitschuldig wird an etwas, in das er rein faktisch betrachtet nicht direkt verwickelt ist. Ich habe vor einiger Zeit einen albernen, aber sehr eindrücklichen Horrorfilm gesehen, „The Gather­ ing“, in dem es um genau diese Thematik geht: um das Schuldigwerden durch Schaulust, durch den Genuss am Leiden anderer. Konkret handelt „The Gathering“ von der ewigen Verdammnis der Seelen jener Leute, die bei der Kreuzigung Jesu zugeschaut haben und deshalb über die Jahrtausende hinweg gezwungen sind, immer wieder bei Katastrophen dabei-

fallen und die Westdeutschen ihre Ostverdie Arme schließen. Täglich erfuhr ich von

Meine Recherchen zu „Die letzten Tage der

neuen Völkern, die wie die Kaninchen aus

Ceauşescus“ begannen am zweiten Weih-

dem Hut des sowjetischen Imperiums her-

nachtstag 1989, als das Jahr der europä-

vorkamen – Weißrussen, Esten, Georgier,

ischen Gefühle zu Ende ging. Die ganze

Banater, Tschetschenen, Ukrainer. Wie

Wende über habe ich vor dem Fernseher

ein Gesang lag die sanfte Stimme Gorbats-

gesessen, ein neunmalkluges Kind, das

chows über dieser Zeit, die Wörter „Peres-

einen Eistee in der Hand hielt und sich

troika“ und „Glasnost“ standen gleichsam

Notizen machte. Ich sah Reagan, Genscher,

als Wasserzeichen am Himmel, und einige,

Kohl, ich sah die stolze polnische Gewerk-

die diesen großartigen Abstraktionen

schaftsbewegung, ich sah die Feuerwerke

Glauben zu schenken beschlossen hatten,


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 64

zusein, immer wieder Sterbende, Leidende zu sehen, bis ihnen der Genuss am Zuschauen im christlichsten Wortsinn ausgetrieben ist. Doch ich weiß nicht, ob das ausgetrieben, oder, wie man in der Psychoanalyse sagen würde, sublimiert werden kann, auch wenn man eine Seele (oder ein Augenpaar) 2000 Jahre nicht zur Ruhe kommen lässt. Als Kind sah ich in einer Ausgabe der „NZZ“ ein postkartengroßes Bild, das ich ausgeschnitten und immer wieder angeschaut habe. Es war in den späten 1930ern aufgenommen worden, nach der Besetzung Chinas durch Japan, und zeigte eine Art Krater oder Graben, an dessen Rand gefesselte, seltsam gleichmütige chinesische Soldaten standen. Unten lagen ein paar von ihnen am Boden, und vor dem Leichenberg stand in Angriffsstellung ein japanischer Soldat mit einem Bajonett. Der Untertitel des Bilds lautete: „Die japanische Armee erprobt ein neues Bajonett“. Und das war eine zwanghafte Erfahrung: Ich musste immer wieder in die Augen und die Gesichter der wartenden chinesischen Soldaten und des Manns mit dem Bajonett schauen. Es war eine Art Genuss, aber ein sehr schrecklicher, klarer. Ich hatte, wenn ich dieses Bild hervorholte, immer das Gefühl, dass ich, könnte ich etwas über diesen Genuss in Erfahrung bringen, auch etwas über den Tod lernen würde (und natürlich das Töten, das mich noch viel mehr interessierte). Ich erinnere mich sehr genau, wie ich jedes Mal dachte: Diesmal werde ich es begreifen – und mir dann das Bild konzen­triert vor die Augen hielt wie jene Suchbilder, die man nur ein paar Sekunden anschauen darf und dem Doktor dann möglichst viele der gezeigten Gegenstände nennen muss. Was ich damit sagen will: Es war eine sehr kühle, analytische, und zugleich eine absolut auf Genuss, auf Angst und Triumph ausgerichtete, ja sadistische Aktion,

sprachen bereits vom Ende der Geschichte. Dann, am 26. Dezember, wurde der Prozess gegen die Ceauşescus ausgestrahlt. Die Bilder prägten sich mir ein, wie sich mir

beschimpfen. Und dann würden die beiden erschossen werden, hektisch, fast beiläufig, mit insgesamt neunzig Kugeln. Dies eine Bild – eigentlich eine Folge von

später nur noch der Fall der Türme einprä-

Stills, denn der integrale Prozessmitschnitt

gen sollte: zwei alte Leute an einem Tisch,

sollte erst im folgenden Frühjahr ausge-

zwei böse Engel der Geschichte, eingehüllt

strahlt werden – war für mich, ich weiß

in Zobelmäntel, von ihrem Volk verlassen

nicht warum, der Kinderwagen auf Eisen-

und von den eigenen Kadern verraten.

steins Treppe. Es war dieser kurze Moment

Noch redeten sie, aber gleich würden ihnen

grausamer Schönheit auf der langen Nei-

die Hände gebunden werden. Drei Solda-

gung, auf der Osteuropa und halb Asien in

ten würden sie an eine Mauer irgendwo

ihre Zukunft schlitterten, es war dies eine,

in Rumänien führen. Nicolae würde die

so klare und so einfache Bild, das mir von

Internationale singen, Elena die Soldaten

der Wende blieb: zwei alte Leute an einem


Tisch, zwei böse Engel der Geschichte, kraftlos, besiegt, todgeweiht. Nicht der Fall der Mauer, nicht die Öffnung der ungarischen Grenze: die Ceauşescus. Auszug aus: „Du côté de chez Ceauşescu“, zuerst erschienen in: „Saiten“, April 2009.

SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 65

wenn das Kind, das ich damals war, auf diese längst schon toten Chinesen und Japaner starrte. Es war ja ein Bild, also musste ich es verstehen können. Und doch verstand ich es nicht. Es gab keinen Lösungsweg, aber ich hatte das Gefühl, die Lösung stehe ganz bildlich vor mir. Obwohl ich das Bild verloren habe, schaue ich es heute noch an, innerlich, ein Vierteljahrhundert später. Sasse Was machst du mit dieser Kindheitserkenntnis im Theater? Rau Fürs Theater oder die Kunst konkret heißt das, dass man Situationen schaffen muss, in denen diese Zerrissenheit zur Erfahrung wird: diese Mischung aus Überidentifikation, also dem Genuss des stellvertretenden Lebens, des stellvertretenden Tötens und Sterbens, und dem Nicht-Verstehen, also der Beschreibung des Abstands, der immer da ist zwischen sich selbst und einem Bild, einem Schauspiel, einem anderen – und in dem sich eben auch so etwas wie „Schuld“, „Haltung“ oder „Katharsis“, also all diese Formen emotionaler oder moralischer Analyse entwickeln können. Wonach ich als Kind auf der Suche war, wenn ich mir die Bajonettierung dieser Menschen anschaute, war tatsächlich eine „Auflösung“, das plötzliche Aufbrechen einer Distanz, eines Sinns in der ganzen unverständlichen Krassheit, in die diese Erwachsenen vor so vielen Jahren und so weit entfernt verwickelt gewesen waren (und von der ich ausging, dass ich es später auch sein würde). Kunst – und Theater im Speziellen – ist ja nicht nur deshalb auf eine geradezu renitente Art und Weise „krass“, weil das einer avantgardistischen Verabredung oder der Selbsterfahrung der Schauspieler zuträglich wäre, sondern weil das situative Verstehen erst in einer ganz bestimmten Überspanntheit zu funktionieren beginnt. Gerade wo Theater oder Kunst allgemein am „künstlichsten“ ist, funktioniert sie


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS

am besten, und ich habe mich deshalb immer gewundert, dass viele Kritiker, wenn es um das geht, was sie „dokumentarisch“ nennen (und auch Reenactments werden, der Einfachheit halber, noch zum „Dokumentarischen“ gezählt), von einer Thematik sprechen, die „interessant“ oder eben „langweilig“ sei, „nachvollziehbar“. Aber was ist denn nachvollziehbar, interessant oder langweilig an dem, was dort in China im Graben geschah? Was beschreiben denn diese Wörter überhaupt von dem, wonach ich in meinem kindlichen Sadismus auf der Suche war? Was hätte mir dabei irgendein Hintergrundwissen über den japanisch-chinesischen Krieg geholfen? Denn das Interessante an solchen Szenen, an solchen Bildern ist ja, dass man sie nicht verstehen muss, um still zu sitzen und mitgerissen zu sein. Letztlich funktioniert hier das berühmte psychoanalytische „Je sais bien, mais quand même …“, also die Grundfigur des Menschenverstands: „Das alles ist ja nur ein Bild, ein Schauspiel, und ich bin nur ein Betrachter. Aber trotzdem …“ INFIZIERT VON REALITÄT Ein bisschen wie Schlingensiefs „Tötet Helmut Kohl“, wo er dann immer zur Beruhigung derer, die an das Theater als Theater glauben, sagte, aber das ist doch alles nur Theater … Woraus besteht dann das „Trotzdem“? Rau Dieses „Trotzdem“ ist natürlich die Unwiderruflichlichkeit, das So-Sein des REALEN (im Sinn Lacans): dass diese Spielfiguren, diese Japaner und Chinesen, diese 1930er-Jahre-Menschen nicht wieder aufgestellt werden, dass ein Wesen leidet und zugrunde geht, dass jemand zusticht mit einer bestimmten Geschwindigkeit und einer bestimmten Kraftanstrengung Sasse

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SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 67

und einem wirren Empfinden, es also Positionen in diesem „Spiel“ gibt, die REAL sind, die aus der allgemeinen symbolischen Verabredung herausfallen. Und bei guten, das heißt, funktionierenden Kunstwerken, wie jenes Bild eines war, wird man von dieser REALITÄT selbst infiziert. Man wird von ihr nicht nur belästigt, analysiert, abgestoßen oder hysterisiert, verpestet oder gereinigt, sondern gleichsam unheilbar verwirrt und zerrüttet, man hört einen Ruf, den man nicht versteht, obwohl er verdammt laut ist. Sasse Und was bedeutet das alles für das Reenactment? Rau Ein Reenactment, glaube ich, tut nun genau dies: In die völlig offengelegte Verabredung, dass alles nur ein Spiel, ein Bild, eine Reproduktion, eine Wiederholung ist, die REALITÄT selbst hereinzutragen, also die beiden alten geschichtsphilosophischen Widersacher auf die Bühne zu zerren – den objektiven Sinn und das subjektive Leiden, das „Wir wissen, dass dies ein Bild ist“ und das „Es ist so geschehen, Wirklichkeit“. Ein funktionierendes Reenactment und überhaupt ein funktionierendes Kunstwerk reaktiviert also im Zuschauer die Historizität seines Empfindens, seinen körperlichen, mimetischen Drang, das Schrecklichste mitzuerleben und seinen Wunsch nach Gewissheit, es zu verstehen, eben einen Sinn daraus zu ziehen. Ich würde hier gern mit einer allgemeinen Betrachtung schließen: Wir haben über ein halbes Jahrhundert verschärfter Repräsentationskritik hinter uns, bei der man davon ausging, dass man es dem REALEN und den Wächtern der GEWISSHEIT schon irgendwie zeigen würde (der Geschichte, dem Totalitarismus, dem Subjekt, dem Geschlecht, dem Tod), dass am Schluss alles zum fröhlichen Spiel der immateriellen Simulacren und zur demokratischen Collage irgend-

Genau so und nicht anders Milo Rau Die Handlung von „Die letzten Tage der Ceauşescus“ ist die kollektive Anwesenheit in einem jedermann bekannten, mythischen Ereignis – und letztlich ist dieses Ereignis als historisches nur noch ein Vorbild, ein Vorwand. Der innerste Widerspruch des Realismus seit Flaubert, die unauflösbare Spannung zwischen Referenzialität und Darstellungspräsenz, zwischen kulturell tradiertem Vorbild und auf der Bühne (oder im Buch oder im Film) erschei-


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS 68

welcher Diskurse würde und sogar die Toten irgendwo zwischengelagert und bei Bedarf wieder auf die Bühne geholt werden könnten, während die Lebenden sich wie kleine Hündchen gegenseitig Zitate zuwerfen. Im Vergleich dazu ist man heute, glaube ich, einiges ernster geworden, oder, wenn man so will, ‚realistischer‘. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es ist so. Sasse Aber sind Reenactments nicht Simulacren schlechthin? Rau Ja, das stimmt, wobei es natürlich zweierlei Arten gibt, wie der Begriff „Simulacrum“ verstanden werden kann: Der eine wurde von Barthes in den frühen 1960ern in die Diskussion eingeführt, der andere wurde durch Baudrillard etwa dreißig Jahre später populär. Für Barthes war das Herstellen von Simulacren der eigentliche Kern der theoretischen Praxis, quasi ihr inszenatorisches Prinzip: Der Theoretiker stellt ein (künstliches) Double her, um im Auseinanderbauen und Wiederzusammenfügen der Einzelteile einer Vorlage (etwa der verschiedenen Bildelemente einer Werbefotografie oder der syntaktischen Elemente eines Satzes von Flaubert) ihr Funktionieren zu verstehen. Wie man weiß, begann sich Barthes dann etwas später vor allem für jene Teile zu interessieren, die eben gerade nicht „funktionierten“, die „überflüssig“ waren und deshalb, wie er schrieb, „nichts anderes als die Realität selbst meinten“. Barthes‘ Simulacrum-Begriff bezeichnet damit die paradoxe oder unmögliche Arbeit einer repräsentativen Verdoppelung, das unauflösbare Hier- und Dortsein eines Reenactments, der unabweisbare Realitätsgehalt einer Abbildung, dieser ständige „Überfluss“ des Realen. Baudrillard dagegen kappt diese Beziehung – etwa in seinen Untersuchungen zu den „dokumentarischen“ Bildern aus dem Irak-Krieg – und kommt damit zu einem ganz anderen

nendem Abbild als Abfolge praktischer und

diesen Schweigsamkeiten, in genau dieser

materieller Details, macht die „Handlung“

Länge und mit genau diesem Ende – genau

dieses Stückes aus. Was „Die letzten Tage

so und nicht anders.

der Ceauşescus“ – unfertig vielleicht und bloß experimentell – postulieren, ist eine

Auszug aus: „Genau so“, zuerst erschienen in:

Kunst nach der Kunst, ist eine Ausdehnung

„Authentizität und Wiederholung“, Berlin 2013.

des Wirklichkeitseffekts auf die Gesellschaft der Dinge und der Menschen überhaupt. Es ist, um Rancière zu zitieren, die Erprobung einer „Stimme, die eine Vielzahl von Stimmen und Erfahrungsweisen in sich aufnimmt“ – aber genau hier und genau jetzt, an diesem Ort und nirgendwo sonst. Mit genau dieser Lautstärke und genau


SYLVIA SASSE / MILO RAU DAS REALE DES SIMULACRUMS

Simulacrum-Begriff. Das Baudrillardsche Simulacrum meint eine unabhängige, künstliche Zeichen-Welt ohne Referenten, ohne Körper und vor allem ohne Geschichte. Für Baudrillard hat der Irak-Krieg, den wir ja nur aus Bildern kennen, „nicht stattgefunden“, und zweifellos hätte er, hätte ich ihn zu den Ceauşescus befragt, darauf beharrt, dass auch die rumänische Revolution eine reine „Tele-Revolution“ war. Aber wie auch immer – und das mag wie gesagt spitzfindig erscheinen: Ich finde den Begriff „Simulacrum“ für Reenactments sehr zutreffend, nur würde ich ihn gern altmodisch verstanden wissen, also im Sinn von Barthes. Denn Reenactments sind, in erster Linie, kein Produkt, sondern eine Praktologie, also der Versuch, eine Kunstpraxis zu finden, die sich der Unmöglichkeit der Darstellung von Wirklichkeit ganz aussetzt – und zwar, indem der ursprünglichste Kunstakt überhaupt, also das Darstellen von Etwas, das geschehen ist, wiederholt und in Szene gesetzt wird.

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Auszug aus: „Das Reale des Simulacrums“, zuerst erschienen auf www. novinki.de am 7. Januar 2011.


NICOLE GRONEMEYER

BANALITÄT UND SCHRECKEN

70

DAS REALISTISCHE EXPERIMENT DES REENACTMENTS


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Zwanzig Jahre nach den historischen Ereignissen rekonstruiert Milo Rau im Jahr 2009 in Bukarester Theatrul Odeon mit rumänischen Schauspielern den Prozess und die Hinrichtung der Ceauşescus. Monatelange Recherchen sind diesem vom Regisseur selbst „Reenactment“ genannten Theaterabend vorangegangen. Was den Zuschauern gezeigt wird, ist die präzise Rekonstruktion dessen, was mittels Fernsehbildern Weihnachten 1989 um die Welt ging und sich tief in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat – die knappe Stunde des Prozesses und die anschließende sofortige Erschießung. Rau bringt diesen Prozess in einer historischen Rahmung auf die Bühne: vorausgehende Videobotschaften, in denen dieselben Schauspieler, die anschließend die historischen Figuren spielen, stark fiktionalisierte Monologe von sechs Rumänen sprechen, die am Sturz und an der Hinrichtung beteiligt waren und aus der Rückschau darüber berichten. Für das folgende Reenactment des Prozesses nutzt er dann aber allein die Realität der Bühne in ihrer klassisch dramatischen Form: Einheit von Ort, Zeit und Handlung, vierte Wand, kein Einsatz von Film oder anderen Dokumenten. Bis es schließlich zur Erschießung kommt, die dann im Dunkel der leeren Bühne nur noch zu hören ist. Milo Rau begreift, und das soll im Folgenden gezeigt werden, das Reenactment als Behauptung des Es-ist-so-Gewesen, um es mithilfe darstellerischer und szenischer Mittel in eine theatrale Form umzudeuten, mit der dem Theater ein neuer Zugang zum Realismus eröffnet wird. Anders als im populärkulturellen Reenactment stehen in „Die letzten Tage der Ceauşescus“ keine Laien bzw. unmittelbar in die historischen Ereignisse involvierte Menschen auf der Bühne. Die Schauspieler, die hier in den Rollen von Nicolae und Elena Ceauşescu und denen der ande-


NICOLE GRONEMEYER BANALITÄT UND SCHRECKEN 72

Diese unheimliche Verdoppelung

ge Produkt. Zuerst haben wir deshalb ver-

Anton Lukas / Silvie Naunheim

sucht, Dinge oder Dimensionen, die nicht im Raum sind, in ihn hereinzubringen. Wir ha-

Das Reizvolle war erstmal, einen realen

ben die Wände auf 4,50 Meter Höhe gezogen,

Raum noch ein bisschen zu überhöhen,

um die Enge im Raum noch zu verstärken.

sprich: ihn surreal zu gestalten. Dieser

Davon sind wir dann aber wieder abgekom-

eigentlich umgedrehte Prozess fiel uns

men, da es interessanter war, ganz nah am

schon beim Modellbau auf. Wenn wir nor-

Original zu bleiben. Trotzdem mussten wir

malerweise ein Modell fürs Theater bauen,

an vielen Stellen lügen, um den Eindruck

machen wir erstmal eine Entwurfsphase

des Déjà-Vus zu verstärken und den Raum

durch. Hier hatten wir das Gefühl, dass der

auch für die Bühne einigermaßen praktika-

Entwurf bereits steht. Das Modell war also

bel zu machen. Unser Raum ist zum Beispiel

kein Hilfsmittel mehr für den späteren Büh-

einen Meter tiefer und einen Meter breiter

nenraum, sondern es war bereits das ferti-

als der Raum in Targoviste. Wobei man von


NICOLE GRONEMEYER BANALITÄT UND SCHRECKEN 73 „Lügen“ nicht sprechen kann, denn es han-

noch überhöhen. Sprich: Man kann Patina

delt sich bei all dem ja eigentlich nicht um

so anbringen, dass man die Roststellen an

Erfindungen, sondern eher um den Versuch,

den Tischbeinen tatsächlich sieht, dass man

ein Arrangement zu finden, das eine Re-Vi-

sie empfindet, dass diese Roststellen gewis-

sion der historischen Ereignisse ermöglicht.

sermaßen bewusst sind. Oder man kann

Wir haben also versucht, aus all den

die Maße der Tische so verändern, dass

Informationen vom historischen Video und

dieser Eindruck, dass die Ceauşescus und

den Fotos, die ihr in Targoviste gemacht

die Beisitzer äußerst eng sitzen, noch ver-

habt, eine Art Schnittmenge zu bilden – eine

stärkt wird. Kurzum, wir hatten den Ehr-

Schnittmenge von surreal wirkendem Rea-

geiz, die Realität dieses Raums noch rea-

dy-Made und dem Eindruck spröd-objekti-

ler zu machen, also nicht eigentlich nur den

ver Dokumentation. Wenn man beispiels-

Raum selbst, sondern die Atmosphäre die-

weise einen Tisch nachbaut, dann kann man

ses Raums nachzubauen: dass die Figuren

die Dinge, die dieser Tisch können muss,

in diesen Brauntönen, die sich auch in den


NICOLE GRONEMEYER BANALITÄT UND SCHRECKEN 74

ren Prozessbeteiligten zu sehen sind, sind dem Bukarester Publikum aus dem Fernsehen oder dem Theater vertraut. Sie versuchen, die von ihnen verkörperten Personen zur größtmöglichen Übereinstimmung mit den bekannten Bildern zu bringen. Um eine möglichst glaubwürdige Verkörperung der dargestellten Figur zu erreichen, spielen sie so, dass für den Zuschauer die Differenz zwischen Darsteller und Figur zum Verschwinden gebracht wird. Dies ermöglicht eine spezifische Art der Wahrnehmung: Ein Wiedererkennen, das im konkreten Moment der Bühne gleichzeitig als fremd erlebt wird. Dadurch wird die Möglichkeit einer kritischen Distanz zeitweise absichtlich und bewusst aufgeschoben, damit sie dann umso plötzlicher hereinbrechen kann. Wenn Milo Rau also die Spielweise des psychologischen Realismus in experimenteller Weise nutzt, um den Zuschauer die letzte Stunde des Diktatorenpaars glaubwürdig miterleben zu lassen, dann unterscheidet er sich damit deutlich von Formen des zeigenössischen dokumentarischen Theaters, die in erster Linie einen vermittelnden, die Hintergründe und Zusammenhänge erklärenden Ansatz verfolgen: wenn etwa Rimini Protokoll die Beteiligten eines Ereignisses aus ihrer biografischen Erfahrung heraus selber berichten lassen, oder wenn Hans-Werner Kroesinger historische Sachverhalte aufarbeitet, nicht, indem er sie zur Darstellung bringt, sondern indem er in moderierender Spielweise die Fundstücke seiner Recherchen vorführt und dadurch verstehbar machen will. Während hier die Haltung des Zuschauers eine distanzierte ist, setzt Milo Rau auf die Affektion. Erst durch die emotionale Aufladung des Spiels findet der Schock seine volle Entfaltung, der auch die historische Erfahrung der Fernsehbilder war: das Erschrecken angesichts des plötzlichen Endes des

Kostümen spiegeln, dass diese Figuren in

her gekannt hätten, wenn wir tatsächlich

diesen Braun- und Grautönen untergehen;

in Targoviste gewesen wären. So haben

oder dass dieser Raum etwas Solitärhaf-

wir uns von Fotos und Videos leiten las-

tes hat, dass er aussieht wie ein gelandetes

sen, die zweidimensional sind und jeweils

Ufo, eben etwas, das aus einer Militärka-

nur Ausschnitte des Raums zeigen, die man

serne und aus einer anderen Zeit heraus-

sich dann im Kopf zusammensetzen muss.

geschnitten ist, so wie man ein Stück aus

Wären wir hingefahren, so hätten wir den

einem Poster herausschneidet. All das

Weg dorthin mitbekommen, die Außenge-

haben wir versucht zu überhöhen. Was wir

bäude, überhaupt das ganze Drumherum.

also nachgebaut haben, war nicht der Raum

Schwierig zu sagen, ob das besser gewesen

selbst, sondern gewissermaßen die Idee des

wäre, aber es wäre ein anderes Arbeiten

Raums.

gewesen. Und es wäre vor allem ein ande-

Sicher wäre es ein anderes Arbeiten

rer Raum geworden. Wir hätten sicher viel

gewesen, wenn wir den Prozessraum vor-

mehr Details einfließen lassen, die heute in


NICOLE GRONEMEYER BANALITÄT UND SCHRECKEN 75

Prozesses und der sofortigen Erschießung der Ceauşescus. Gerade weil Milo Rau auf ein mimetisches Schauspiel zurückgreift, kann er die historische Erfahrung des schockhaften Einbruchs des Realen wachrufen. Flankiert wird der Realismus des Spiels durch einen Hypernaturalismus der Darstellung, der das gezeigte Milieu bis ins kleinste Detail nachzeichnet. Dialoge, Gesten, zeitliche Abläufe, Raumanordnung und Ausstattung – alles zeugt von einer Wirklichkeitswut, dem die Form des Reenactments entgegenkommt. In monatelangen Recherchen vor Ort wurde jedes Detail des historischen Ereignisses akribisch rekonstruiert. So gewinnt Milo Rau aus ihnen ein Realitätsversprechen, das er in einen ins Extrem getriebenen Milieunaturalismus der theatralen Darstellung übersetzt. Aus ihm bezieht die Inszenierung ihre Kraft, mit der sie die Tiefe der Tragödie sichtbar machen kann: Das elende und demütigende Ende der „Führer“ der Nation lässt sich an dem dargestellten Milieu in seiner ganzen Armseligkeit ablesen. Sie müssen, in Mäntel gekleidet, nebeneinander an viel zu kleinen Bänken sitzen und erleben, wie ihnen in aller Hast und Ungeschicklichkeit der kurze Prozess gemacht wird. Dem Diktator wird kein „Untergang“ gegönnt, sondern er wird wie ein Schuljunge abgekanzelt. Milo Raus Aufarbeitung der Geschichte in Form der detaillierten Recherche führt zu einer Ausgestaltung des Milieus, das in seiner Fülle und in seiner Banalität eine verstehbare Realität behauptet, durch die der plötzliche Umschlag in den Schrecken umso nachdrücklicher verstört. Die demütigende Schulstunde endet mit der sofortigen Erschießung. An den „Letzten Tage der Ceauşescus“ lassen sich zwei künstlerische Botschaften ablesen: Es gibt eine Realität, und sie ist darstellbar. Um zu

diesem Raum sind – 20 Jahre später. Jetzt

nicht auf den Zentimeter genau. Alles ist

haben wir eher eine Art Summe davon her-

etwas gestreckt, wegen der Richtigkeit des

gestellt, wie er 1989, also auf den Videos,

Raumgefühls, aber natürlich auch wegen

und wie er jetzt, also auf euren Fotos aus-

der Sichtlinien für die Zuschauer. Wären

sieht. Das ist eine gute Kombination, denn

wir dort gewesen und hätten den Raum

so bringt man die Beschwörung des Vergan-

vermessen, so wäre wohl ein falscher Ehr-

genen mit dem Gefühl der verflossenen Zeit

geiz entstanden – nämlich den Raum tat-

zusammen. Man ist völlig dort und trotz-

sächlich 1:1 abzubilden. Aber das ist nicht

dem völlig hier und jetzt, und das ist es ja,

unbedingt nötig, das ist in gewisser Hinsicht

diese unheimliche Verdoppelung, um die es

sogar falsch. Selbstverständlich sind wir

bei einem Reenactment geht.

auch jetzt bis in die Details gegangen, aber

Wie gesagt: Was wir gebaut haben, ist

wir haben uns dabei immer an der Idee

eine Idee. Die Paneele sind etwas niedriger

des Raums orientiert. Indem die dritte und

als im Original, die Türabmaße stimmen

vierte Wand bloß durch eine filigrane Kon-


NICOLE GRONEMEYER BANALITÄT UND SCHRECKEN 76

einer neuen Form der realistischen Darstellung zu kommen, führt Milo Rau experimentell die geschilderten Mittel des neorealistischen Spiels und des hypernaturalistischen Milieus in das Reenactment ein: Er überführt diese besondere Form des Laienspiels, für die das Selbsterleben des Darstellers im gemeinsamen Nachspielen eines historischen Ereignisses kennzeichnend ist, in eine theatrale Darstellungsform, die auf das Miterleben des Zuschauers ausgerichtet ist. Und diese zweite Realität der Bühne ist die entscheidende: Er nimmt auch bewusste Geschichtsfälschungen in Kauf, um damit die theatrale Wirkung zu erzielen, etwa, wenn er den Darsteller Nicolae Ceauşescus anders als in den bekannten Videobildern nicht permanent mit den Händen wedeln lässt, da das für den Zuschauer nur lächerlich gewirkt hätte. Durch diesen theatralen Blick auf das historische Ereignis überführt er den historischen Moment des authentischen Schreckens in einen artifiziellen, um ihn damit emotional und intellektuell anders erlebbar zu machen. In der Dialektik von emotionaler Verstrickung und intellektueller Verstörung liegt nicht nur das Wahrheitsmoment, sondern zugleich auch das kathartische Moment für den Zuschauer. Das Verstörende, das Unbändigbare, der traumatische Kern des historischen Ereignisses wird fiktionalisiert und in die andere Wirklichkeit des Theaters überführt. Erst durch diese Überführung in die Theatralisierung, durch die Reinszenierung des verstörenden Moments wird das kollektive Trauma nacherlebbar und zugleich zum Teil der Kultur. Natürlich: Sich als Regisseur scheinbar blind zu machen für die im zeitgenössischen Theater gängige Repräsentationskritik, wie Milo Rau es in „Die letzten Tage der Ceauşescus“ mit unerhörter Konsequenz tut,

struktion, eine Art Zeichnung der fehlen-

Karton gemacht. Es ist ein Raum, der nicht

den Gegenstände in Stahl angedeutet sind,

sonnig ist, der keine schöne Patina hat, son-

wird dieses abstrakte Moment des Raumge-

dern eher was Deprimierendes, Unglückli-

fühls noch intensiver – dieses Rausgeschnit-

ches, Klaustrophobisches. Gleichzeitig ist

tene, Verpflanzte. Wie wenn man auf eine

alles an diesem Raum provisorisch: die Vor-

isometrische Zeichnung guckt, ist der Blick

hänge, die zusammengewürfelten Stühle,

des Zuschauers so gleichzeitig distanzierter

die eilig zusammengeschobenen Tische.

und genauer, gebannter, wissender.

Dies alles bildet eine Einheit, ist einge-

Aber die Frage bleibt: Was ist das, die

taucht in die Hektik und die Angst jenes

Idee dieses Prozessraums? Was uns wie

25. Dezember 1989. Wären wir bloß doku-

gesagt zuerst aufgefallen ist, ist diese Sym-

mentarisch vorgegangen, hätte sich uns das

phonie von Braun- und Ockertönen, dieses

entzogen, es wäre uns entgangen. Als wir

unbewusste Farbkonzept. Das Parkett ist

den Film vielleicht zum hundertsten Mal

braun, die Wände sind angegilbt, sogar die

angeschaut haben, ist uns auf einmal ein

Verdunkelung der Fenster ist mit braunem

kleines Türschloss aufgefallen, ein Sicher-


NICOLE GRONEMEYER BANALITÄT UND SCHRECKEN 77

war zur Zeit der Uraufführung ein riskantes Experiment. Leicht konnte diese neue Form des Realismus verwechselt werden mit einem undialektischen Realismus, den man als Technik der Illusionsbildung aus dem Kino oder aus dem traditionellen Naturalismus kennt. Milo Rau markiert diese Differenz durch die eingangs beschriebene Rahmung deutlich, um zu einem dialektischen Verständnis der Wirklichkeit des Kunstwerks zu finden. Er setzt das Theater damit frei und macht es wieder zu einem Ort, an dem eine gemeinsame existenzielle Erfahrung im kollektiven Körper des Publikums möglich wird.

heitsschloss, das wir vorher nie gesehen

Zuerst erschienen in: „Die letzten Tage der

haben. Wir haben bewusst darauf verzich-

Ceauşescus. Materialien, Dokumente, Theorie“,

tet, es noch ins Bühnenbild mit aufzuneh-

Berlin 2010.

men. Dieses Türschloss ist nicht wichtig. Die Tür, durch die die Ceauşescus an die Mauer gebracht werden, sieht echter aus, realer, ohne dieses Schloss. Wenn du hundert Mal einen Baum nach Vorlage malst, und am Ende gehst du nach Hause und malst den Baum nur aus der Erinnerung, dann hast du gewissermaßen eine Kombination aus all diesen Beobachtungen. Dann hast du die Idee dieses Baums, die Re-Vision. Und so sind wir auch bei der Rekonstruktion des Prozessraums vorgegangen.


ROLF BOSSART

SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT

78

THESEN ZUR POLITISCHEN WIRKSAMKEIT VON MILO RAUS THEATERARBEIT


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ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT 80

Aus Anlass des Richard-Wagner-Jubiläumsjahres 2013 gab es im Festsaal des geschichtsträchtigen Hotel Waldhaus in Sils-Maria/Schweiz eine Gesprächsrunde zum „Genie Wagners“, an der auch der Regisseur Milo Rau teilnahm. Der Musikwissenschaftler Stefan Wirth vertrat die Ansicht, das musikalische Genie Wagner sei zu trennen von seinen Schriften und Interventionen, mit denen er die Welt „besser verschont hätte“. Dagegen wehrte sich die Wagner-Biografin Kerstin Decker vehement und zitierte emphatisch Nietzsches Wort von Wagner als dem „vollsten Menschen“. Dies wiederum fand Ted Gaier, Musiker bei der Hamburger Band „Die goldenen Zitronen“, völlig verfehlt, seien doch Begriffe wie Genie, Gesamtkunstwerk und dergleichen für alle Zeiten durch den grauenvollen Heroenkult in der deutschen Geschichte obsolet. Die Vorstellung, dass ein einzelner Mensch oder ein einzelnes Werk es reißen könne, produziere nur immer von Neuem totalitäre Exzesse. In komprimierter Form war in diesen drei Statements die deutsche Geistesgeschichte der letzten zweihundert Jahre und ihre Ausweg­ losigkeit zu besichtigen. Auf die bürgerlich-rationale Wissenschaft, die ihren Harmonieglauben durch Trennen und Verdrängen aufrechterhält (Wirth), folgt als Gegenbewegung die romantisch verklärende Affirmation des Ganzen (Decker), worauf als einzige Position nur noch die allgemeine Negation als Verweigerung, als Fragment oder als Dekonstruktion übrigzubleiben scheint (Gaier). Es war in dieser Diskussion Milo Rau vorbehalten, mit einer quasi hegelianischen Geste der Aufhebung den gordischen Knoten zu zerschlagen. Die postmoderne Kritik an den Begriffen bewirke wenig, sagte Rau, denn sie vertreibe nicht den Grund, der sie hervorgetrieben habe. Das Interessante an der künstlerischen Haltung

Mit den Augen eines Kindes oder eines Kriegsfotografen

Kopf das Bild Tschetschenien interessant

Milo Rau

Suche nach Authentizität, was natürlich

geworden ist. Manche Leute nennen es die falsch ist, da es nicht authentisch ist, einen

Ich bin letztlich ein Pedant, jemand, der an

Text auswendig zu lernen und ihn dann so

die Atmosphäre von Dingen herankommen

darzubieten, als wäre es einem gerade ein-

muss, indem er sich mit Menschen, Dingen

gefallen. Ich würde eher sagen, ich suche

oder Landschaften beschäftigt, die wirklich

letztlich in einer maximalen Künstlichkeit

etwas damit zu tun haben. Wenn ich etwas

eine maximale Banalität.

über Tschetschenien mache, dann fahre

Es gibt Überbietungskünstler wie bei-

ich nach Tschetschenien, um mir das genau

spielsweise Frank Castorf oder James Joyce,

anzusehen. Und nachher spielt es vielleicht

die viel Material aufeinanderhäufen, das

gar nicht dort, aber es wird einen Geruch

disparat ist. Mein Ansatz ist eher, und das

von Tschetschenien haben, weil in meinem

hat mir bei Schlingensief immer gefal-


ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT

DER SYMBOLISIERUNGSAKT IM KULTISCHEN SINN Raus Arbeiten sind Symbolisierungsakte im kultischen Sinn. Sie stehen damit im Kontrast zur heutigen Symbolpraxis, wonach ein Symbol meist die spezifische Eigenschaft hat, selber nichts Reales zu sein, sondern nur hinzuweisen auf eine nicht mehr wirklich begreifbare bzw. angreifbare Realität. Es verweist auf seine eigene Unwirklichkeit. Der Gebrauch von Symbolen hat keinen anderen Boden mehr als den des Unwirklichen, er

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Wagners sei doch, dass er sich für alles zuständig gefühlt habe und das Allgemeinste im vermeintlich Privatesten entdeckte, in der Affirmation die Kritik. Konzepte wie das des Genies, so Rau, müssen deshalb nicht historisiert oder verabschiedet, sondern ganz im Gegenteil neu brauchbar gemacht werden. In dieser Antwort steckt ein wichtiger Kern von Milo Raus künstlerischer Haltung. Um zu sehen, worin die spezifische Kraft seiner Arbeiten liegt, kann man sich folgende Fragen stellen: Wie kann – jenseits der postmodernen Repräsentationskritik – Realität dargestellt werden, ohne ihre Widersprüchlichkeit durch einen rationalen oder moralischen Imperativ zu verdrängen? Wie kann man heute an einem emphatischen Begriff von Wahrheit festhalten ohne romantische Identifikationen, die hinter die modernen Methoden der Distanzierung zurückfallen? Als Antwort darauf möchte ich im Folgenden zwei Thesen ausführen. Erstens, dass Raus künstlerischer Zugriff auf die Realität bestimmt ist durch Symbolisierungsakte im kultischen Sinn. Und zweitens, dass er einen Anspruch erhebt, der aufs Ganze zielt, oder anders gesagt, dass der Charakter seiner Arbeiten hegemonial ist.

len, dass man etwas möglichst Einfaches

kann. Er erinnert es nur als Szene, die von

tun muss, das so vieldeutig wie möglich

A bis Z einfach abläuft, ohne dass er sie

ist, wo jeder damit machen kann, was er

verändern könnte, eine Art Erinnerungs-

will. Du arbeitest so lange, bis du einen

schock. Und ich glaube, dass ich versuche,

Akt hast, der banal erscheint, sich in der

diesen traumatischen Blick zu imitieren

Wirkung aber sehr vieldeutig zeigt, ohne

auf der Bühne, Szenen zu zeigen, in die

diese Vieldeutigkeit zu Markte zu tragen.

man nicht eingreifen kann und in die auch

Was mir gefällt, ist die Unberührtheit, dass

der Regisseur scheinbar nicht eingegriffen

der Blick des Betrachters scheinbar nichts

hat, in die auch die Schauspieler auf eine

hinzufügt. Michael Haneke ist für mich der

gespensterhafte Weise nicht eingreifen

beste Regisseur in dieser Hinsicht.

können. Mich hat immer realistische Kunst

Wie zeigt man ein traumatisches Ereig-

interessiert, aber nicht in der Form, dass

nis? Das Problem daran ist, dass der, der

da alles beweisbar ist, sondern dass es

sich daran erinnert, nie darin eingreifen

diese spezifische Form des Blicks hat. Es


ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT 82

hat die Funktion der kollektiven Beschwichtigung. (Es ist ja „nur“ symbolisch gemeint.) Insofern hat heute ein ernst gemeinter Umgang mit Symbolen immer etwas den Geruch der intellektuellen Unredlichkeit oder der Demagogie. Vor diesem Hintergrund entwickelt Milo Rau in seinen Projekten eine sehr fein ausgearbeitete Symbolpraxis. Raus Interesse richtet sich in erster Linie auf den Prozess der Symbolisierung und nicht auf die Symbole selbst. Dabei agiert er im kultischen Sinn, wonach der symbolische Akt eine heroische Vorbildhandlung ist, die eine ebenso „heroische Öffentlichkeit“ (Milo Rau) erzeugt. Der Akt der kultischen Symbolisierung soll die Transformation einer tendenziell unbewussten in eine hochbewusste Öffentlichkeit bewirken, die heroisch zur Neubearbeitung der verhandelten Sache bereit ist. Die Symbolisierung ist eine Vorbildhandlung, die versucht, die Dinge wieder als die Außergewöhnlichen zu zeigen, die sie vor den Gewöhnungs- und Verdrängungsprozessen des kollektiven Bewusstseins einmal waren. Im kultischen Geschehen, so der Religionsphilosoph Klaus Heinrich, ist die Symbolhandlung eine kontrollierte Vorführung von traumatischen oder faszinierenden und daher fesselnden Vorgängen in der Realität. „Seht her“, ruft derjenige, der die Symbolhandlung ausführt, „so ist die Realität, so grauenvoll, so großartig, so problematisch. Was ich tue, ist der Realität abgerungen. Ich extrapoliere den Schrecken oder das Faszinosum und banne es durch Wiederholung.“ Es geschieht nochmals, doch jetzt geplant und arrangiert. Die Schlachtung des Tieres ist zwar ritualisiert und inszeniert, aber sie ist echt, weil sie nicht auf einen Schrecken verweisen will, sondern ihn bannen muss. Die Gerichtsverhandlung bei den „Moskauer Prozessen“ ist arrangiert und exemplarisch

gibt zum Beispiel hervorragende russische

können die Menschen daran glauben, oder

Kriegsfilme, wo die Verbrechen der Wehr-

konnten es immerhin in gläubigen Zeit-

macht in Russland komplett kalt gedreht

altern. Und das eben ist die Kraft dieser

sind. Du siehst alles mit den Augen eines

Form: In der maximalen Künstlichkeit eine

Kindes oder eines Kriegsfotografen. Es

maximale Präsenz zu erzeugen.

ist eigentlich dokumentarisch, aber es ist perfekt inszeniert für Millionen von Rubel.

Auszug aus: „Milo Rau sucht die maximale

Das „Trotzdem“ ist für mich unheimlich

Banalität“, zuerst ausgestrahlt auf: „ARTE

wichtig: Dass das Theater extrem künstlich

creative“ am 8. Juli 2013.

ist, und trotzdem gerät man ins Geschehen. Das ist das Ritualhafte. Man weiß, dass die Oblate, die einem der Pfarrer gibt, nicht Leib Christi ist, dass der Wein nicht Blut Christi ist. Aber innerhalb des Rituals


DER HEGEMONIALE ANSPRUCH Milo Raus Projekte haben eine universale Triebkraft. Es geht ihm, um es philosophisch auszudrücken, um das konkrete Allgemeine. Die Idee der Universalität braucht hegemoniale Konzepte. Das Anstreben von

ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT 83

aufgebaut, doch sie nimmt ihren offenen Verlauf, weil Rau nicht auf eine andere Gerichtsverhandlung verweisen, sondern die reale Verhandlung will. Die kultische Symbolhandlung bewirkt folgende Verschiebung: Es ist noch Realität, aber keine schicksalshafte mehr, sondern eine, die selbst gemacht ist. Denn niemals geht die symbolische Handlung in reiner Symbolik auf. Ohne den realen Akt oder zumindest die Möglichkeit zu einem solchen ist sie nur eine leere Verweisungsakrobatik. Milo Rau führt in seinem Theater die Leute wieder an jenen Punkt, wo „es“ getan wird. Die Erschießung der Ceauşescus, das Hate Radio RTLM in Kigali, der Prozess um die Beleidigung der religiösen Gefühle in Moskau oder der Kampf der Meinungen zwischen einer national-konservativen und einer linksliberalen Publizistik in Zürich, sie alle sind zu besichtigen als akribisch gebaute und sorgfältig arrangierte Kunstwerke. Rau arbeitet an den realen Orten des Geschehens und mit Personen, deren Spiel aus den verschiedensten Gründen nicht in reinem Spiel aufgeht. Was dadurch entsteht, nennt Rau eine „soziale Plastik“. Sie ist eine Form von gesellschaftlicher Selbstbehauptung, indem sie eine erneute Reflexion des vermeintlich Gewöhnlichen und Verständlichen provoziert. Die soziale Plastik zielt auf die konservierte oder verdrängte Emotion, um den kollektiven Prozess des Verstehens und der Gewöhnung von Neuem in Gang zu bringen.


ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT 84

Hegemonie verlangt eine schöpferische Bearbeitung dessen, was Antonio Gramsci den „Alltagsverstand“ nennt. Man kann sagen, dass Raus Aktionen eine Philosophie beziehungsweise Kunst der Praxis im Sinne Gramscis zugrunde liegt: „Die Philosophie der Praxis kann wegen ihres tendenziellen Charakters einer Massenphilosophie nicht anders als in polemischer Form, der des fortwährenden Kampfes, aufgefasst werden. Jedoch muss der Ausgangspunkt immer der Alltagsverstand sein, der spontan die Philosophie der Volksmengen ist, die es ideologisch homogen zu machen gilt.“ Interessant ist hier die Verknüpfung zwischen dem „permanenten, polemischen Kampf“ und der „ideologischen Homogenität“, auf die man schließlich mit jeder politischen Praxis abzielt. Ein gewisses Paradox besteht darin, dass einerseits jeder Kampf um eine neue Deutungshoheit die Gegensätze scharf akzentuieren muss und man andererseits nur mittels einer homogenen Ideologie eine kräftige soziale Phantasie entwickeln kann. Beides – die Akzentuierung der Gegensätze wie das Ziel der Einheitlichkeit – findet sich in Raus Arbeiten. Ersteres vor allem inhaltlich, Letzteres in der formalen Gestaltung. Der eigentliche Schlüssel zur politisch-hegemonialen Praxis von Milo Rau liegt aber in seiner polemischen Wende gegen den Ästhetizismus. Die Grundlage des Ästhetizismus lässt sich in der Behauptung zusammenfassen, dass Kunst und Philosophie nichts anderes als nachgebesserter und veredelter Alltagsverstand seien. Auf dieser Grundlage sind sie bloß entfremdete Produkte, die ihren Ursprung entweder herabsetzen zum Ort des Zurückgebliebenen oder verklären zum Ort der einzigen Wahrheit, von dem alles kommt. Also werden Kunst und Philosophie ihren so verstandenen Ursprung entweder verachten und elitär, oder sie werden sich

Ein Theater für alle Milo Rau Hinter der seit vielen Jahren betriebenen, feinsinnigen Kunstübung der Repräsentationskritik erheben die gesellschaftlichen Realitäten selbst ihr Haupt und fordern ihr demokratisches Recht. Die Frage ist nicht mehr, ob man dieses oder jenes Theater, diese oder jene Partikularregelung befürwortet, sondern ganz schlicht folgende: ob man immer mehr Menschen gegen ihren Willen und gegen die Verfassung in eine Zweiklassengesellschaft und ihre über-


ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT 85

ihm, als dem scheinbar Eigentlichen, mit dem schlechten Gewissen des Falschmünzers wieder zuwenden. In beiden Fällen wird der Ursprung in seinem Zustand belassen. Platons Höhle, der Ort des Alltagsverstands und der Volkstümlichkeit, wird durch Kunst und Philosophie nicht behelligt. Er bleibt unerhellt. Die durch die ästhetische Erfahrung Verwandelten kommen nicht zurück, um zu verwandeln. Ästhetische Erkenntnis erzeugt in diesem Sinne höchstens „fromme Scheu“ vor den Massen. Es ist die Angst vor dem aufgeklärten Volk, wie sie Schiller in seiner wirkmächtigen Ballade „Die Glocke“ beschwört: „Weh denen, die den Ewigblinden des Lichtes Himmelsfackel leihn.“ Wenn Karl Marx dagegen den Kommunismus die wirkliche Bewegung nennt, die die jetzigen Zustände aufhebt, dann ist diese Bewegung im Kern jene Rückkehrbewegung zum Alltagsverstand der Menschen, die der Ästhetizismus unterlässt. Kunst und Philosophie emanzipieren sich erst in einer solchen Rückkehrbewegung von ihrer Ursprungsbindung, indem sie, die Entsprungenen, den Ursprung in einen Ort des Entspringens verwandeln. Der Prototyp der leninistischen Avantgarde ist der Rückkehrer aus dem Exil, der die Zurückgebliebenen, die archaischen Verhältnisse oder den festgefügten Alltagsverstand zum Tanzen bringt. Er bringt seine Erfahrung der Entfremdung als unerbetenes Geschenk an die Heimischen zurück. Er ist eine Art Wiedergänger, der dem Alltagsverstand das Totgeglaubte wieder aufdrängt. Oder anders gesagt: Es wird weder etwas angeboten noch ausgestellt, sondern es wird heimgezahlt. Die Methode von Milo Rau lässt sich als eine solch antiplatonische, mühsame, aber, wo sie gelingt, effektive Rückkehrbewegung beschreiben. Immer auf der Suche nach dem Ding, das sich in die „wirkliche

holten Mythen integrieren oder die Demo-

einem neuen Kanon tritt damit die grund-

kratie und mit ihr die reale Schweiz zur

sätzliche Forderung nach einer Rückbesin-

Entfaltung bringen will. Ob man gegen die

nung des Theaters auf sich selbst.

oder mit der Bevölkerung Kunst, Theater,

Vergessen wir nicht, dass es das The-

Politik machen will. Und wie eine heutige

ater war, das im 18. Jahrhundert gegen

demokratische Kunst und Politikpraxis

alle Widerstände eine ästhetische (damals

überhaupt aussehen kann. Neben den not-

bürgerliche) Öffentlichkeit behauptete,

wendigen Marsch durch die Institutionen

dass es das Theater war, das sich über

(und ihren konsequenten Umbau, wie ihn

scheinbar eherne künstlerische Gesetze

Mark Terkessidis in seinem Konzept der

und die damit verbundenen Vorurteile ra-

„Interkultur“ vorschlägt), neben die Frage

dikal hinwegsetzte. Es war das Theater, das

nach Quoten, der Öffnung des Theaters für

auf ihr So-Sein reduzierte Minderheiten zu

die unzähligen interkulturellen Projekte

Menschen, zu gleichberechtigten Bürgern

und schließlich nach neuen Archiven und

und aus dem Geist der Aufklärung eine ak-


ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT 86

Bewegung“ verwickeln lässt, zielt sie auf politische Wirkung. Denn der Alltagsverstand, so Antonio Gramsci in seiner Analyse solcher Vorgänge, ist „auf bornierte Weise neuerungsfeindlich und konservativ“, aber „es geschafft zu haben, eine neue Wahrheit in ihn eindringen zu lassen, ist Beweis, dass diese Wahrheit eine beachtliche Kraft der Expansion und Evidenz hat.“ Der Imperativ von Raus Theater der letzten fünf Jahre lautet daher: Du sollst deine erstarrten Bilder verändern! Ein allen bekanntes TV-Bild („Die letzten Tage der Ceauşescus“), Generationen prägende Songs („Hate Radio“), ein demokratisches Selbstverständnis („City of Change“), ein Schauprozess („Moskauer Prozesse“). Dabei muss das Alte skandalisiert und schließlich durch etwas Neues ersetzt werden, das nur dann akzeptiert wird, wenn es allen plausibel erscheint. Dies gelingt gegen den unbeweglichen Alltagsverstand, indem das Neue in seiner schärfsten konservativen Form, nämlich als bereits herrschende Logik, als das, was alle zwar wissen, aber nicht zu sagen wagen, präsentiert wird. Ich möchte die oben gemachten Überlegungen zu Symbolpolitik sowie zu Hegemonie und Alltagsverstand am Beispiel der „City of Change“, die Rau 2011 am Theater St. Gallen realisiert hat, konkretisieren. Die „City of Change“ ging aus von der These, dass in der Ostschweizer Kleinstadt St. Gallen die Ausländer-Integrationspolitik stark geprägt war von der Ermordung eines beliebten Schweizer Lehrers durch einen Kosovaren. Eine erste Projekt-Version unter dem Arbeitstitel „Der St. Galler Lehrermord“ wurde nach einem Proteststurm unter dem Vorwand des Persönlichkeitsschutzes der Hinterbliebenen inklusive Morddrohungen gegen Theaterleitung und Familie von Milo Rau abgesagt. Die „City

tive Denk- und Lebenspraxis machte. Denn

Auszug aus: „Ein Theater für alle“, zuerst

erst, was gezeigt wird – auf der Bühne, im

erschienen in: „WOZ“, 3. Februar 2011 im Lauf

öffentlichen Raum –, ist auch vorstellbar.

des Projekts „City of Change“.

Und erst das, was vorstellbar ist, wird möglich. Die „Schweiz“ und damit ihre „Kultur“ selbst demokratisch zur Disposition zu stellen; die Energieströme zwischen dem, was ist, und dem, was auf unseren Bühnen zur Erscheinung gebracht wird, wieder freizulegen; das Imaginäre konsequent am gesellschaftlich Realen zu messen und bei Bedarf umzugestalten: Das ist die Aufgabe, vor der das Theater steht, will es nicht blind werden für die Wirklichkeit.


ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT 87

of Change“ fokussierte als Nachfolgeprojekt auf den utopischen Gehalt einer interkulturellen Gesellschaft. Die Botschaft, die über Flugblatt und TV verbreitet wurde, lautete: Die direkte Demokratie, dieses Herzstück des schweizerischen Selbstverständnisses, sei ohne die reale Integration der ausländischen Wohnbevölkerung in die politischen Rechte im Zerfall begriffen. Das stolze Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger der Stadt St. Gallen, im Besitze einer der ältesten und gerechtesten Demokratien der Welt zu sein, wurde durch die „City of Change“ durch den Satz irritiert, dass es ebenfalls gerecht und demokratisch sei, die bisher ausgeschlossenen dreißig Prozent Ausländer ins Wahlrecht zu inte­ grieren. Die „City“ berief ein utopisches Schattenkabinett und verknüpfte ihre klassisch progressive Forderung in all ihren Auftritten und Verlautbarungen mit der Ästhetik und den Begriffen des konservativ-nationalen Lagers, um so einerseits die bekannten Symbole umzudeuten und mit ihnen andererseits die neue Botschaft als alte zu präsentieren. Für die Einwohner ohne Stimmrecht lancierte die „City of Change“ eine Unterschriftensammlung, die am Schluss des Projektes beim Kantonsratspräsidenten eingereicht wurde. Die Thematik wurde begleitend in kontrovers besetzten Demokratiekonferenzen erörtert. Die „Kraft der Expansion und der Evidenz“, wie Gramsci sagt, steckte in diesem paradoxen Vorgehen und konnte sich entfalten, indem die „City of Change“ es geschafft hat, den allen zur Selbstverständlichkeit gewordenen Ausschluss der Ausländer aus dem demokratischen System zu skandalisieren, oder, anders gesagt, indem die gewohnte Differenz zum ungewohnten Antagonismus wurde. Dies wurde noch verschärft mit einer Polemik gegen beide politische Lager, die auch beide

Dass man sich wehrt, Täter zu werden

doch gar keine Ausländer. Warum beschäf-

Robert Pfaller / Milo Rau

diese Leute keine Rechte haben? Was ist

tigt ihr euch jetzt mit der Problematik, dass das für ein Gedankengang und wie kann

Milo Rau

Es gab im Projekt „City of Change“

man darauf antworten? Ich halte das zunächst für diese

den Vorwurf, ihr müsst euch eigentlich

Robert Pfaller

nicht um die Probleme anderer und der

trügerische narzisstische Figur des Opfer-

Ausländer kümmern. Man kennt das von

gedankens: Da gibt es ein Opfer und nur

der Einführung des Frauenstimmrechts,

das Opfer kann richtig über sich selber

wo Männer gesagt haben, wir brauchen

sprechen. Als ob wir nicht aus der Ge-

jetzt das Frauenstimmrecht, und darauf

schichte wüssten, dass die, die die größten

geantwortet wurde, dass die das doch sel-

Opfer waren, eben deshalb oft auch die

ber machen sollen, ich bin gar nicht in der

verkehrtesten Gedanken über ihre eigene

Situation! Bei uns wurde gesagt: Ihr seid

Stellung hatten. Man muss diese Haltung


ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT

zu Kritik an der künstlerischen Form provozierte. Die Gegner des Ausländerstimmrechts sahen sich gezwungen, die schamlose Einmischung der Kunst in die politische Sphäre durch Unterschriftensammlung und politische Propaganda abzulehnen. Die Befürworter monierten die Ästhetisierung eines politischen Themas und bezeichneten die „unkritische Verwendung“ der nationalen Symbole der politischen Rechten als „zynisches Spiel“. Hinzu kam der Ärger darüber, dass die „City“ so tat, als sei das Ausländerstimmrecht nicht schon lange ein Thema der Linken, sondern gerade erst neu von ihr entdeckt worden. Die Rechnung der „City“ ist aufgegangen. Denn es ist genau diese Mischung von Kritik, die jeweils einer „neutralen Vernünftigkeit“ ihren vermittelnden, mit Gramsci ließe sich sagen, „homogenisierenden“ Auftritt erlaubt. Ihre Methode ist die Verwunderung. Sie fragt: Was haben die Kritiker bloß? Der Künstler tut doch nur so, als würde er polemisieren, seine Provokation ist inszeniert, was er sagt, ist doch ganz harmlos und überhaupt nicht neu. Um diese Position zu plausibilisieren, wird automatisch die vom Künstler skandalisierte und ästhetisierte Sache, in unserem Beispiel das Ausländerstimmrecht, zurückverwandelt in etwas ganz Normales, dem Alltagsverstand schon immer Zugehöriges. Das heißt, es wird zentriert als bereits herrschende Logik und schon lange benötigter Konsens. Tatsächlich war während des Projekts genau diese Bewegung in der Presse zu beobachten. Es erschienen in der lokalen, normalerweise rechtsbürgerlichen Tageszeitung plötzlich Hintergrundartikel, die aufzeigten, wie notwendig und normal das Stimmrecht für die ausländische Wohnbevölkerung doch sei. Und dies bei einem Thema, das bei einer

88 infrage stellen, die einer postmodernen

gemacht werden. Wir sind sozusagen

Empfindung entspricht, dass jeder nur für

gezwungen und ermächtigt, für andere zu

sich selber sprechen und jeder nur sei-

entscheiden, aber wir wollen, dass alle Be-

ne eigene Story erzählen soll. Das ist ein

troffenen selbst entscheiden können. Und

Standpunkt, der jede Story letztendlich zu

das ist meiner Meinung nach ein ganz ent-

einer völlig unverbindlichen Privaterzäh-

scheidender Vorgang von Politisierung. Po-

lung macht. Das ist eine Entpolitisierung.

litisierung entsteht nicht nur dadurch, dass

Wichtiger erscheint mir in diesem Fall

man sich dagegen wehrt, Opfer zu werden;

aber noch, dass wir hier eben gerade nicht

sondern sie entsteht auch dadurch, dass

für andere sprechen. Wenn Sie sagen: Uns

man sich wehrt, Täter zu werden. Man darf

stört das, dass wir als Angehörige einer

nicht übersehen, dass gerade die totalitärs-

Zwei­drittelgruppe der Gesellschaft für

ten Systeme eine sehr raffinierte Logik hat-

die ganze Gesellschaft entscheiden sollen

ten, um noch die letzten Opfer zu Tätern zu

– weil wir dadurch ja eigentlich zu Tätern

machen. Die Nazis haben die ganze Ge-


ROLF BOSSART SYMBOLISIERUNGSAKT UND HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT 89

realen Volksabstimmung im herkömmlichen politischen Rahmen erwartungsgemäß höchstens 25 Prozent Zustimmung ernten würde. So lässt sich zusammenfassend sagen: Hegemonie ist darauf aus, den Alltagsverstand zu verändern. Dies gelingt nur, indem man ihm in verwandelter Form wieder aufdrängt, was man ihm entnommen hat. Die sogenannte postmoderne Bescheidenheit der meisten ästhetischen und philosophischen Projekte, deren Anspruch selten über das Anbieten einer neuen Perspektive oder die spielerische Variation eines Themas hinausgeht, hat einen wichtigen Grund darin, dass sie aus dem Alltagsverstand nichts gewinnen wollen beziehungsweise mit ihm nichts anfangen können. Um eine bestimmte Transformation des Alltäglichen „expansiv und evident“, kurz hegemonial werden zu lassen, braucht es eine Kunst der Praxis, die sich mit dem Alltagsverstand verbündet, um ihn mit seinem eigenen Material über sich hinauszutreiben. Was schließlich nichts anderes bedeutet, als den realen Schrecken im Alltäglichen durch streng geplante und durchgeführte Fiktionalisierungsprozesse zu humanisieren. Dies eben ist die – um es mit einem Wort des Religionsphilosophen Klaus Heinrich zu sagen – „realitätsmächtige“ Praxis des Theaters von Milo Rau.

sellschaft zu Tätern gemacht, und das bis

Auszug aus einem Videogespräch im Rahmen

hinunter zu den totalen Opfern in den KZs,

der „City of Change“.

da haben sie noch Tätergruppen eingeführt – die Kapos und die Aufseher usw. Man muss das als Ansatz für Politisierung in der emanzipatorischen Politik sehen: Da kämpfen nicht nur Opfer oder potentielle Opfer gegen die Opferrolle, sondern da kämpfen auch potentielle Täter gegen ihre Täterrolle. Und deswegen sind Sie vollkommen im Recht, wenn Sie aus eigenem Interesse sprechen, weil Sie nicht wollen, dass Sie in diese Rolle geraten.


CHRISTINE WAHL

DAS AGORA-PRINZIP

90

MILO RAUS PROZESSTHEATER IN MOSKAU UND ZÃœRICH


91

Im blütenweißen Hemd tritt Alex Baur, geschätzter Endfünfziger mit optischem Mid-Ager-Appeal, nach drei Prozesstagen in den Zeugenstand, um stellvertretend das „letzte Wort der Angeklagten“ zu sprechen. Die Tatverdächtige ist Baurs Arbeitgeberin, die Schweizer „Weltwoche“ – bekanntermaßen ein Blatt, das Minarette, Kopftücher, Homosexuelle und andere traditionell eher SVP-ferne Phänomene zu seinen Lieblingsfeindbildern zählt. Als die „Weltwoche“ 2012 auf ihrem Cover das Foto eines kleinen Roma-Jungen druckte, der – mit einer Pistole in der Hand – direkt auf den Betrachter zielte, und das Ganze mit der Schlagzeile „Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz“ garnierte, wurden verschiedentlich erfolglos Klagen angestrengt. Tatsächlich war das Bild auf einer Mülldeponie im Kosovo entstanden, wo ein Kleinkind stolz das einzige Spielzeug in die Kamera gehalten hatte, das es weit und breit finden konnten: eine Plastikpistole. Den Prozess gegen die „Weltwoche“, der realiter also nie stattfand, aber mental permanent im öffentlichen Erregungsraum steht, inszenierte nun der Schweizer Regisseur Milo Rau als fiktive Theater-Debatte – allerdings mit realen Betroffenen, tatsächlichen Diskursführern und juristischen Profis. Die Anklage (wegen „Schreckung der Bevölkerung, Rassendiskriminierung und Gefährdung der verfassungsmäßigen Ordnung“) übernahm mit dem Zürcher Rechtsanwalt Marc Spescha ein handverlesener Migrationsrechtsexperte. Als Verteidiger schritt der intellektuell höchst charismatische Glatzkopf Valentin Landmann auf der Gerichtsbühne im Zürcher Neumarkt-Theater auf und ab: Landmann war – nachdem er sämtliche Stufen der rechtswissenschaftlichen Karriereleiter vorfristig „summa cum laude“ absolviert hatte – als Milieuanwalt zu


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 92

Es gibt keinen Ort, der sich schlechter für Moral eignet

der Gesellschaft hingestellt wurden. Mich

Julia Reichert / Milo Rau

warum auch immer. Als ich also vor zwei

hat das seit meiner Kindheit fasziniert, Jahren von der Stiftung „Memorial“ und

Julia Reichert

Sie wollen in Zürich einen Schau-

prozess führen. Warum? Milo Rau

Wenn der historische Kommu-

dem Deutschen Nationaltheater Weimar angefragt wurde, ob ich was zu den stalinistischen Verbrechen machen will, entschied

nismus ein ästhetisches Format für die

ich mich sofort für die „Moskauer Prozesse“

Ewigkeit hervorgebracht hat, so ist es das

aus den Jahren 1937/38, in denen Stalin

Format des Schauprozesses: bis ins letzte

dieses Format zur Perfektion getrieben

inszenierte, natürlich absolut verbreche-

hat. Bei den Recherchen stieß ich dann auf

rische Medien-Spektakel, wo sogar die

die Prozesse der nuller Jahre, die Putin

Zwischenrufe abgesprochen waren und

im Lauf der Konsolidierung seiner Macht

die Verurteilten als Schädlinge, als Feinde

gegen Gegner aus Wirtschaft, Politik und


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 93 Kunst führen ließ – meist aufgrund völlig

würde geschehen, wenn man nicht, wie ich

absurder und konstruierter Vorwürfe,

es bei den „Letzten Tagen der Ceauşescus“

etwa Gotteslästerung, die aber viel über

gemacht habe, einen historischen Prozess

das heutige Russland aussagen. Da vor

reinszeniert – sondern einen neuen Prozess

ca. zwei Jahren ein ähnlicher, wenn auch

auf die Bühne bringt, mit offenem Ausgang?

medialer Schauprozess gegen eine geplante

Reichert

Ausstellung von mir geführt wurde („Der

Schuldiger und Schuldspruch nicht schon

Stehen bei einem Schauprozess

St. Galler Lehrermord“), der zu Morddro-

vorher fest?

hungen und schließlich zur Absetzung des

Rau

Projekts führte, habe ich mich natürlich

Hauptangeklagte beim 3. Moskauer Prozess

noch stärker für diese Entfesselung öffent-

1937, oder dass die Ceauşescus 1989 am

licher Leidenschaften in Schauprozess-­

Ende erschossen wurden, war allen von

artigen Zusammenhängen zu interessieren

Anfang an klar, das war ja Sinn und Zweck

begonnen. Und ich habe mich gefragt: Was

der Sache. Bei den „Zürcher Prozessen“

Das stimmt: dass Bucharin, der


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 94

einer Art Nationalstar avanciert und verteidigte die Hells Angels ebenso wie Prostituierte, Neonazis oder SVP-Kantonsräte. Der weiß behemdete Alex Baur schließlich, der den Blick bei seinem „letzten Wort der Angeklagten“ bedeutungsschwer über den Glaskasten schweifen lässt, in dem die Neumarkt-Dramaturgin Julia Reichert den Prozess für Mundart-Legastheniker simultan vom Schweizer- ins Hochdeutsch übersetzt, verfasst für die „Weltwoche“ Artikelserien über ausländische Sozialleistungsbezügler. Reicherts „Glaskabäuschen“, sinniert Baur allen Ernstes ins Mikrofon, erinnere ihn an den Eichmann-Prozess und seine Beobachterin Hannah Arendt, über die zunächst auch „eine Art Shitstorm“ hereingebrochen sei, nachdem sie ihre Analyse von der „Banalität des Bösen“ veröffentlicht habe. Er, Baur, verehre Arendt zutiefst und betrachte sich in aller Bescheidenheit als ihren geistigen Erben. Das Publikum quittiert die mehrfach metaphernschiefe Volte mit Hohngelächter. Dass Milo Raus Justiztheater-Format auch über immense Unterhaltungsqualitäten verfügt, steht außer Zweifel – wobei die Tatsache, dass der Rahmen fiktiv, Baurs Blamage aber real ist, den Reiz des Unterfangens durchaus erhöht. In erster Linie allerdings eignet Raus Idee, dem uralten Gerichtsdrama qua Wendung ins Performative neues Bühnenleben einzuhauchen, natürlich ein gewisses utopisches Potenzial. Im Unterschied zu seinen früheren Arbeiten sind die „Prozesse“ ja keine Reenactments nach festgelegtem Skript, sondern – innerhalb ihrer starken formalen Setzung – tatsächlich Improvisationsformate. Die realen Diskurs-Player, Funktions- und Entscheidungsträger, die hier – zumeist direkt in der Rolle, mindestens aber mit der politischen Haltung ihrer

wird das nicht so sein. Nein, der Ausgang

wie einen Schauprozess mit einem Anlie-

der Prozesse wird unklar sein, nicht nur

gen an Legitimität oder Gerechtigkeit zu

faktisch, sondern auch moralisch, d. h., ich

verknüpfen ist doch total widersprüchlich?

werde kein Thema wählen, keinen Streit-

Rau

fall, bei dem sich ohnehin alle von Anfang

zess“ unter Stalin (wie ja auch der sozia­

an einig sind, und damit meine ich auch

listische Realismus insgesamt) völlig

mich selbst. Das Ganze ist als Spiel konzi-

degeneriert ist, in der Anfangsphase der

piert, das aber ernst gemeint ist: Es wird

russischen Revolution bereits den Versuch,

richtige Anwälte und richtige Zeugen und

inszenierte Prozesse als diskursives Format

ein richtiges Urteil geben. Und es kann gut

zu verwenden: Schauspielertruppen zogen

sein, dass ich mit dem Urteil nicht einver-

übers Land, casteten aus der Bevölkerung

standen sein werde und in Revision gehen

Zeugen und Schöffen und ließen sie Fälle

muss.

von lokalem Interesse verhandeln. Da ging

Reichert

Ein in Diktaturen erprobtes Mittel

Es gab, bevor das Format „Schaupro-

es natürlich nicht um die großen Polit-Fra-


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 95

selbst – argumentativ gegeneinander antreten, agieren praktisch auf der ur-demokratischen Agora-Folie; Fallhöhe durchaus einkalkuliert: Rau schafft einen Kunst-Rahmen, in dem medial und/oder politisch aufgeheizte Konflikte analytisch heruntergekocht und zumindest theoretisch vom kollektiven Erregungs- in den Vernunftzustand überführt werden könnten. Die Antipoden bekommen exakt die gleichen Redezeiten und dürfen – in Vertretung der klassischen Gerichtszeugen – eine identische Anzahl Sachverständiger benennen, die den Zankapfel dann im Kreuzverhör zwischen Anklage und Verteidigung aus allen erdenklichen Per­ spektiven beleuchten. Was die Beteiligten aus dieser Möglichkeit tatsächlich machen, steht nicht nur auf einem anderen Blatt, sondern gehört sogar zu den effektivsten Entlarvungsleistungen des Rau-Theaters. Anfang März 2013 hatte der Regisseur die dramatische Diskurstauglichkeit des Formats bereits mit den „Moskauer Prozessen“ erprobt, dem Vorgänger zum Zürcher „Weltwoche“-Verfahren im Sacharow-Zentrum für Menschenrechte der russischen Hauptstadt. Im Unterschied zur Schweiz rollte Rau dort drei Prozesse gegen Künstler neu auf, die in den nuller bzw. zehner Jahren tatsächlich stattgefunden und sämtlich mit einem Schuldspruch wegen „Schürens von religiösem Hass“ geendet hatten; darunter auch das Strafverfahren gegen die Punkband Pussy Riot. Rau habe in Moskau eine Debatte inszeniert, jubelte seinerzeit nicht nur die Russland-Korrespondentin der „Welt“, Julia Smirnova, „die in keinem russischen Gericht möglich wäre.“ Im Gegenzug war allerdings auch „Der Spiegel“ nicht der einzige (externe) Sachverständige, der bei Milo Rau vielmehr eine Tendenz zur „Anmaßung“ vermutete: „Womöglich glaubt er wirklich“, schrieb der Kul-

gen, sondern um Dinge wie gerechte Land-

Gerechtigkeit zu sprechen.

verteilung, Bildung und so fort. In dieser

Reichert

Tradition sehe ich die „Zürcher Prozesse“,

Anstalt werden?

und natürlich auch in der Tradition der

Rau

amerikanischen Gerichtsfilme. Und wie

ter für Moral eignet, als das Theater.

gesagt: Der Ausgang ist offen. Wenn wir

Dieses Moral-Ding geht nach hinten los,

aber mit dem Bühnenbild die heutigen

das funktioniert auf der Bühne einfach

russischen und ukrainischen Schaupro-

nicht, jedenfalls ist das meine Erfahrung.

zesse zitieren (wo der Angeklagte oder die

Aufklärerische Filme können super sein,

Angeklagten in einem Käfig sitzen und die

das sogenannt „Gute“ funktioniert sogar

Prozesse tatsächlich in Theatern oder in

manchmal in der Wirklichkeit, im Theater

Stadien stattfinden), so ist das natürlich ein

aber nie. Zynismus ist natürlich auch keine

ganz bewusster Hinweis auf den Wider-

Lösung. So bleibt mir nur, die Augen aufzu-

spruch, der darin liegt, auf einer Bühne

sperren und zu zeigen, was der Fall ist, was

Soll das Theater wieder moralische

Es gibt keinen Ort, der sich schlech-


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP

turjournalist Wolfgang Höbel in einem Vorbericht zu den „Moskauer Prozessen“, „dass seine Kunstgerichtsbarkeit schlauer und gerechter ist als jede reale Rechtsprechung.“ Sitzt man allerdings tatsächlich in Raus Justiz-Szenarien, wird glücklicherweise schnell klar, dass dem Regisseur die Hegelsche Tragödientheorie geistig wesentlich näher ist als jedwedes selbstgerechte Agitationstheater, das ja auch hierzulande gern mal mit einem politischen Diskursangebot verwechselt wird. Der erste Anhaltspunkt für Raus Denk-Lust an der Kollision strukturell gleichberechtigter Prinzipien – mithin an der allseits ressentimentfreien Analyse – findet sich bereits im Casting: Sowohl in Moskau als auch in Zürich ist die beim klassischen Theaterpublikum moralisch unterlegene Seite IQ- wie performancetechnisch brillant besetzt. Der Moskauer Künstler- und Kuratoren-Ankläger Maxim Schewtschenko – als Journalist des Staatsfernsehens eine Art ultrakonservative Speerspitze der Putin-Doktrin – tänzelt bei allem streckenweise hanebüchenen Argumentationsaufkommen intellektuell derart schlagfertig in seinem schwarzen Samtanzug vorm Zeugenstand im Sacharow-Zentrum auf und ab, dass man sogar dann noch geneigt ist, seinen Hang zum gemeinen Herrenwitz als verrutschtes Entertainment durchgehen zu lassen, als er einem Zeugen mal eben spielerisch empfiehlt, die unliebsame Expertin der Verteidigung zu vergewaltigen. Schewtschenkos Zürcher Gegenstück wiederum, der „Weltwoche“-Verteidiger Valentin Landmann, erweckt mit aufreizend beiläufiger Intellektual-Noblesse tatsächlich den Eindruck, an klugen Experten im Zeugenstand – völlig ungeachtet seiner strategischen Belange – echtes Erkenntnisinteresse zu haben. Falls das gespielt

96 hinwiederum als amoralisch gilt. Meine

lisch“ betrachteten, dass er überhaupt als

Ausstellung „Der St. Galler Lehrermord“,

Mensch (und nicht als Monster) zu sehen

die den Schweizer Ausländerdiskurs hätte

war. Sogar der scheinbar absolut idiotensi-

abbilden sollen, wurde aus „moralischen“

chere Einfall, mit der „City of Change“ das

Gründen abgesagt, meine Inszenierung

längst überfällige Ausländerstimmrecht

„Hate Radio“ wurde von einigen Zu-

einzuführen und damit endlich als der Mo-

schauern und Kritikern als „amoralisch“

ralist, der ich bin, erkannt zu werden, fand

bezeichnet, da ich dort unkommentiert

eine ganze Partei und sogar ein Teil der

eine ultra-rassistische Radiostation auf die

linken Kräfte „amoralisch“. Vielleicht habe

Bühne stelle. Ceauşescus Sohn, ein Rumä-

ich ja in Zürich mehr Glück.

ne, fand mich ebenfalls „amoralisch“, da er seinen Vater in den „Letzten Tagen“ zu

Auszug aus: „Unser aller Leben ist ein Schau-

negativ dargestellt fand, während andere

prozess“, zuerst erschienen in: Spielzeitheft des

Rumänen es hinwiederum als „amora-

Theater Neumarkt Zürich (Saison 2012/13).


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP Der Kosak Ataman Kurtschenko zu einer deutschen Journalistin:

97

„Wir finden, dass Pussy Riot noch ganz schön Glück hatten.“

Politische Kunst gibt es nicht Alexandra Kedves / Milo Rau Alexandra Kedves

Herr Rau, der Staat scheint

sich vor Ihrem Projekt gefürchtet zu haben. Milo Rau Das

machte mich wirklich fassungs-

los. Eben hatte unser Staatsanwalt die Pussy-Riot-Vertreterin nach den Motiven für ihre Performance in der Kirche gefragt, sie sprach von eingeschränkter Kunstfreiheit, und ta-da, marschierten Beamte der Migrationsbehörde herein und behaupteten, ich hätte kein gültiges Visum. Es kam


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 98

Bild: Cecilia Bozzoli

zum Hickhack zwischen meinen Anwälten

kommen sie nur zum Sacharow-Zentrum,

– die waren ja da – und den Beamten. Ich

um etwas zu demolieren. Und nun sehen

sah schon meinen engen Terminplan mit

sie ihren Helden, den religiösen Rechtsau-

Dreharbeiten platzen, aber nach zwei Stun-

ßen-Journalisten und Fernsehguru Maxim

den zogen sie wieder ab.

Schewtschenko, in der ersten Reihe mit-

Kedves

Das blieb nicht der einzige Zwischen-

fall. Waren Sie geschockt? Rau

Im Gegenteil: Allein für das, was als

machen! Als Staatsanwalt! Sie wirkten, als hätte sie ein Bus gestreift. Schewtschenko beruhigte sie dann. Doch diese tiefe Ver-

Nächstes geschah, haben sich die „Mos-

wirrung, diese sichtbare Implosion ganzer

kauer Prozesse“ gelohnt! Da stürmte eine

Weltbilder: Das war völlig irre. Das wün-

Horde orthodoxer Kosaken vor den Saal

sche ich mir von Kunst.

und eine kleine Abordnung kam herein. Sie

Kedves

wollten randalieren, explodierten schier

Rau

vor Gewaltbereitschaft. Normalerweise

wenigen. Ich vermute mal: 80 Prozent der

Trafen Sie in Russland einen Nerv?

Ganz ehrlich? Vermutlich nur bei sehr


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 99 Bevölkerung hätten Pussy Riot verurteilt;

wohl nicht freigesprochen worden. Und

wer den Glauben oder die Nation beleidigt

hätten wir als Schöffen nicht einige aufge-

oder anscheinend beleidigt, begeht eine

klärte Städter gehabt, Unternehmensbera-

Straftat, basta. 99,9 Prozent geht es sowie-

ter, Fotografen und dergleichen, hätte die

so am Allerwertesten vorbei. Das ist wie

Sache anders ausfallen können. Außerdem

bei uns in der Schweiz: Solche Versuche

war eine hochkomplexe Frage zu beant-

interessieren nur ein paar Politiker und

worten, nicht bloß „Hat die Kunst Gefühle

Feuilletonisten.

verletzt und zu Hass aufgerufen?“, sondern

Kedves

Immerhin gab es in Moskau auch

Jubel über die Freisprüche. Rau

Dieses Urteil hat auch Schwachpunkte:

auch: „Ist das willentlich geschehen?“ Das Prinzip der Intentionalität auf die Kunst anzuwenden, geht fast nicht. Was Kunst

Hätte man den Fall Pussy Riot beispiels-

„will“, lässt sich nicht beweisen wie ein

weise nicht mit den anderen beiden Fällen

Mordplan. Schon weil Kunst gar nichts

zwangsverknüpft, wären die Sängerinnen

„will“ im engen Sinn.


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 100 Kedves

war, müsste man Herrn Landmann umgehend an eine First-Class-Bühne empfehlen. Das moraltheatralische Risikopotenzial von Figuren wie Schewtschenko oder Landmann bestätigt sich bei der Urteilsverkündung prompt: Am Ende entscheiden – hier übt sich der Agora-Appeal quasi im Schulterschluss mit dem sozialdarwinistischen Wettbewerbsprinzip – sieben nach bestem statistischen Gewissen aus der Lokalbevölkerung gecastete Geschworene über Sieg und Niederlage; vom orthodoxen Bienenzüchter bis zum pro-westlichen Fotostudiobesitzer in Moskau; von der Pflegefachfrau bis zur schweizerisch-türkischen Islamwissenschaftlerin in Zürich. Und während sich die Jury in Russland noch auf die moralisch überlegene Seite geschlagen und die Künstler – anders als bei den realen Prozessen – denkbar knapp freigesprochen hatte, lassen die Züricher Geschworenen die „Weltwoche“ symbolisch ungestraft davonkommen: Freispruch in allen Punkten. Grundsätzlich entfaltet sich die Erkenntnisdramaturgie von Raus Synapsen stimulierendem Selbstdenker-Theater in einer Art Dreischritt. In erster Instanz – an der bloßen Ereignisoberfläche – bietet es einen diskursiven Landeskunde-Service, der in der Experten-Theater-Tradition seit Rimini Protokoll prinzipiell zwar nicht neu ist, aber dank Raus außergewöhnlichem Talent zum Koryphäen-Casting qualitativ ihresgleichen sucht: Wer in Moskau klugen Kulturtheoretikern wie Michail Ryklin beziehungsweise Dissidentinnen wie dem Pussy-Riot-Mitglied Jekaterina Samuzewitsch zuhört oder in Zürich die rhetorischen Ausweichmanöver des mit sechzehn Jahren zum Islam konvertierten Präsidenten des Islamischen Zentralrates Schweiz Nicolas Blancho verfolgt – von der „Welt-

Dieser Prozess funktionierte fast wie

vor der Richterin, einer Fernsehmoderato-

der kaukasische Kreidekreis bei Brecht:

rin: so die Pussy-Riot-Sängerin Jekaterina

als ein Raum außerhalb der Historie, in

Samuzewitsch, die auf Bewährung frei ist,

dem es nur für eine kurze Phase des Glücks

der verurteilte Kurator von „Verbotene

Gerechtigkeit gibt.

Kunst“, Andrei Jerofeew, und seine Vertei-

Rau

Der Leiter des Sacharow-Zentrums,

digerin. Auch 18 Zeugen von damals traten

der bei mir den Gerichtsschreiber machte,

auf. Als liberale Experten sprachen etwa

meinte: „Es ist wie ein Wachtraum.“ Statt

die Kulturwissenschaftlerin Elena Wolko-

in einem hyperrealistischen Reenactment

wa und der Philosoph Michail Ryklin. Der

bewegten wir uns in einer surrealen Kunst-

Orthodoxie-Prophet Dmitri Enteo und der

welt, in der aber das Engagement echt war

neo­stalinistische, hochdekorierte Staats-

und nicht „gespielt“.

künstler Alexei Beljaew-Gintowt standen

Kedves Rau

Vor allem wegen der Besetzung.

Absolut. Da standen Akteure von damals

aufseiten der Intoleranz-Berserker. Die Spannung war mit Händen zu greifen: Das


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 101

woche“ auch „Bin Laden von Biel“ genannt –, erfährt im Zweifelsfall mehr über den diskursiven Status quo eines Landes, als ihm lieb sein kann. Am interessantesten wird das natürlich, wenn Rau vorsätzlich Diskursgrößen aufbietet, die jene vermeintlich eindeutigen Frontlinien, auf die gesellschaftspolitische Konflikte im öffentlichen Bewusstsein gemeinhin reduziert werden, plausibel aushebeln. Der mitteljunge Mann mit dem strengen Scheitel und den dunklen Stiefeln beispielsweise, der als Experte im Moskauer Zeugenstand von den „so genannten Künstlern“ als einer von den USA gesteuerten „Sekte“ spricht, ist kein Geringerer als der russische Künstler des Jahres 2008, der Kandinsky-Preisträger Alexei Beljaew-Gintowt, einst Mitglied der neofaschistischen Jugendorganisation der „Eurasier“ und bis heute Beschwörer einer stalinistischen Zukunft. Im Gegenzug verortet sein Vorgänger – der langhaarige, wuschelköpfige Kandinsky-Preisträger des Jahres 2007, Anatoli Osmolowski, die PussyRiot-Aktion unaufgeregt im zeitgenössischen Aktionismus. Und auf der anderen Seite wechseln sich der junge orthodoxe Fanatiker, der diverse Aktionen gegen die Punk-Aktivistinnen initiiert hat, weil er in ihnen die Reinkarnation des „Teufels“ sieht, und der an biografischen Brüchen überreiche orthodoxe Gläubige im Zeugenstand ab, der die Kunst- und Meinungsfreiheit für das höchste gesellschaftliche Gut hält. Logisch, dass sich in zweiter Instanz – um auf den erkenntnisdramaturgischen Dreischritt zurückzukommen – im Laufe der drei Prozess-Tage aufschlussreiche rhetorische Dauerfiguren herauskristallisieren. Während man sich in Moskau zielsicher am analytisch aussichtsarmen Punkt der „Intentionalität“ von Kunst und Künstlern festbeißt, feiert sich in Zürich einmal mehr der rechtspopulistische Topos vom mutigen Under-

war schwer auszuhalten. Da wurde erbit-

Es gab bei den Schöffen drei „schuldig“-Vo-

tert und komplett unironisch gekämpft. Mit

ten, drei „unschuldig“ und eine Enthaltung.

Theater hatte das nur wenig zu tun.

Da galt „in dubio pro reo“. Aber eigentlich

Kedves

Wirklich? Aber das Urteil hat doch

keinerlei Konsequenzen. Rau

Schon allein der Prozess hat einen Rie-

interessiert mich das nicht, denn es hat sich ja um keine politische Aktion gehandelt. Politische Kunst gibt es überhaupt

senwirbel ausgelöst. Viele Zeugen konnten

nicht.

erstmals ihre Aussagen so machen, wie sie

Kedves

es für richtig hielten. Und die Verteidigerin

Rau

sagte, dass sie einen Prozess zum ersten

politische Haltung – eine neoleninistische.

Mal gerade nicht als Theater erlebte.

(lacht) Klar, dass ich für die Freisprüche

Teilweise schien sie das beinahe zu über-

bin. Aber als Moderator bringe ich meine

fordern; sie trat nicht immer stark auf. Das

Haltung nicht ein, auch wenn ich dafür

Urteil selbst fiel auch denkbar knapp aus:

scharf kritisiert worden bin: Man muss die

Es gibt keine politische Kunst?

Ich persönlich habe natürlich eine


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 102 Ebenen auseinanderhalten. Ich stelle die

ist genau das, was Theater kann und soll:

Figuren auf die Bühne, den Staatsanwalt,

diese schillernde Mehrschichtigkeit, wo

die Richterin, den Fanatiker und so weiter,

keiner mehr weiß, was unten und oben ist,

und räume jeder einen Platz ein. Das ist

und alle sich auf Augenhöhe begegnen. So

wie bei Shakespeare: Jede Rolle zählt. Ohne

ein totales und befreiendes Durcheinander

Bösewichte gibt es keine Shakespeare-­

schafft nur die Kunst.

Dramen. Würde ich eingreifen, wäre es

Kedves

Theaterpädagogik, Therapie oder Politik.

ausgerichteten Medien sehen Ihr Theater-

Das ist nicht mein Ding. Aber es war schon

projekt als Befreiungsschlag, derweil die

sehr kräftezehrend, diese Gegner, die ein-

gleichgeschalteten Medien in Russland Sie

ander nicht mal die Hand reichen, gemein-

als Agent provocateur und Brecher von

Die meisten westlichen und westlich

sam auftreten zu lassen. Ich bin erstaunt,

Migrationsgesetzen darstellen.

dass die alle mitgemacht haben. Und ich

Rau

korrigiere mich: Das ist doch Theater! Es

behörde erwäge ich, eine Klage einzurei-

Beides ist falsch. Gegen die Migrations­


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 103 chen. Und ich mache auch keine „Pro Pussy

übte sich in der Moral der Kunst. Das ist die

Riot“-Kunst, auch wenn Jekaterina eine

Moral, an die ich glaube.

sehr gute Freundin von mir ist. Ich bin allen freundlich begegnet, und das hat man

Auszug aus: „Ohne Bösewichte gibt es keine

mir auch angekreidet. Gintowt beispiels-

Dramen“, zuerst erschienen in: „Tages-Anzei-

weise ist nett und ein toller Künstler, aber

ger“, 3. März 2013.

eben auch ein Stalin-Fan und Faschist. Man muss für so ein Projekt ein weites Herz haben und vor allem trennen können. Ich wurde als „reaktionärer Schlingensief“ bezeichnet, was Quatsch ist. Er überschritt auch die Grenzen der bürgerlichen Moral, arbeitete mit Neonazis, hielt Schilder hoch, auf denen „Ausländer raus!“ stand – und


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 104

dog, der dem Establishment unliebsame Wahrheiten ins Gesicht schreit und nun zum Schaden der Öffentlichkeit angeblich in seiner Presseund Meinungsfreiheit beschnitten werden soll: Die Sarrazin-Debatte lässt grüßen. Dass all das nicht neu ist, sondern durch den Bühnen-V-Effekt lediglich wie unter einem Brennglas zusammenschnurrt, gehört – Stichwort Agora – ebenso zu den Erkenntniswerten des Formats wie die Einsicht, dass die moralisch überlegene Seite offenbar grundsätzlich Schwierigkeiten hat, ihre Überlegenheit analytisch zu untermauern. Dass die Zürcher Anklage etwa mehrere Gelegenheiten verstreichen lässt, Landmanns abenteuerlich sich selbst unterbietende Behauptung auszuhebeln, das „Roma-Cover“ illustriere in aller Redlichkeit die bedauernswerten Lebensbedingungen der Roma-Kinder, ist auf interessante Weise symptomatisch. Die dritte erkenntnisdramaturgische Ebene schließlich betrifft eine externe Mitspielerin, die ihre großzügig freigehaltene Planstelle bis dato stets übereifrig ausgefüllt hat: Sowohl in Moskau als auch in Zürich ist es der viel zitierten Wirklichkeit tatsächlich gelungen, sich geradezu idealtypisch selbst vorzuführen. Als Beamte der russischen Migrationsbehörde – den Real-Auftritt der Herren in den weinroten Westen hätte wirklich kein Theaterdramaturg mustergültiger in Szene zu setzen geschafft – die „Moskauer Prozesse“ am dritten Tag in der Hoffnung stören, Rau ein Visumsvergehen nachweisen zu können, spricht der in sämtliche auf ihn gerichteten Mikrofone, er habe diese Machtdemonstration des Staates schon viel früher erwartet. Nachdem die Dissidenten-Verteidigerin Anna Stawitskaja, die die Angeklagten in zwei der drei von Rau wiederaufgerollten Verfahren realiter verteidigt hatte und sich in den „Mos-

Nennen wir es Schaujournalismus Rico Bandle / Roger Köppel / Milo Rau Rico Bandle/ Roger Köppel

Ihre „Moskauer Prozes-

se“ sollten das undemokratische Machtsystem Putins entlarven. Was ist die Botschaft, wenn Sie im demokratischen Rechtsstaat Schweiz eine Zeitung, die Teil eines pluralistischen Meinungsspektrums ist, vor Gericht stellen? Milo Rau

Ganz so einfach ist das nicht. Der

Putin­-Diskurs, den ich sehr genau studiert habe, ist ja sehr ähnlich wie der „Weltwoche“-Diskurs: Es geht um die Nation, um


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP

Minderheiten, Schwule, Frauen und so

Bild“ zu tun, es ging um die nachweisliche

weiter.

Tatsache, dass kriminelle Roma-Clans

Bandle/Köppel Wer

in der Schweiz solche The-

men anspricht muss vor den Richter? Rau

Bei allen meinen Projekten interessiert

105

kauer Prozessen“ also selbst spielt, die Behörde mit juristischen Spitzfindigkeiten zum Abzug gezwungen hat, marschiert die nächste betroffene Interessensgruppe ins Sacharow-Zentrum ein: eine kleine Abordnung orthodoxer Bilderbuch-Kosaken in Witterung religiöser Gefühlsverletzung. Diesmal ist es vor allem der Hauptankläger Maxim Schewtschenko, der deeskalierend wirkt: Es dauert keine Stunde, bis die Veranstaltung – ohne Kosaken – fortgesetzt werden kann. Dass der politische (und moralische) Gegner eine oppositionelle Veranstaltung qua schirmherrischer Vereinnahmung quasi ad absurdum führt, ist natürlich ein höchst ambivalenter Vorgang – den man nichtsdestotrotz als erhellenden Vorführeffekt in einem Debatten-Spiel werten kann, in dem sich Personen und Rollen, künstlerische und politische Inszenierungsstrategien längst heillos – sprich: aufs Aufschlussreichste – ineinander verknäuelt haben. Dieses komplexe Geflecht interferierender Performances, das dem Status quo zeitgenössischer gesellschaftlicher Rollenspiele sicher wesentlich näher kommt als das Gros anderer (dokumentar-)theatralischer Versuche, beginnt schon beim stark ritualisierten – mithin per se theateraffinen – Gerichtsformat im Allgemeinen und stößt sich im Falle der „Moskauer Prozesse“ natürlich zusätzlich komplexitätssteigernd von der Folie historischer Schauprozesse ab, die für die Verschwisterung von Politik und Theater ja allgemein bekannt sind. Den Inszenierungscharakter des realen Strafverfahrens gegen die Kuratoren der Ausstellung „Verbotene Kunst“, auf dem Raus Gerichtsshow unter anderem basiert, haben die Künstlerin Wiktoria Lomasko und der Journalist Anton Nikolajew in ihrer originellen Gerichtsreportage „Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung“ eindrücklich dokumentiert:

sogar Kinder für kriminelle Zwecke missbrauchen. Ist es ein Verbrechen, dies auszusprechen und zu dokumentieren? Wenn dabei unzulässig generalisiert

mich: Wie wird ein nationales Bild konst­

Rau

ruiert? Und was passiert mit jenen Leuten,

wird, ist das durchaus strafrechtlich und

die nicht ins Bild passen? Bei der „Weltwo-

auch moralisch relevant. Ich sehe mich

che“ sind das die Roma, die subventionier-

ja auch als Vertreter der wahren Idee der

ten Künstler und so weiter, die nicht ins

Schweiz. Wie die „Weltwoche“ wahrschein-

Bild passen und entsprechend abgekanzelt

lich auch.

werden. Bandle/Köppel Das

Bandle/Köppel

sagen Sie. Die Roma-Recher-

che hatte nichts mit einem „nationalen

Haben Sie grundsätzlich ein Pro-

blem mit Meinungsvielfalt, wenn nicht alle Meinungen links sind?


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 106 Rau

Ach was. Ich bin ja in den Wochen der

haben. Historisch waren die Moskauer

Vorbereitung der „Zürcher Prozesse“ fast

Bandle/Köppel

zum Anwalt der „Weltwoche“ geworden.

Prozesse zwischen 1936 und 1938 schlimme

Viele linke Kritiker möchten das Blatt am

Schauprozesse des Stalinismus mit Folter,

liebsten totschweigen. Ich hingegen finde,

gefälschten Beweisen, Konzentrationslager,

man sollte sich ernsthaft mit der „Welt-

Ermordungen. Wie kamen Sie auf die Idee,

woche“ auseinandersetzen. Vielleicht hat

sich ausgerechnet an diesem historischen

sie ja recht. (lacht) Dasselbe war auch bei

Vorbild zu orientieren?

meiner Inszenierung „Breiviks Erklärung“

Rau

Ausgangspunkt: Was ist, wenn Breiviks

schen Sinn ist missverständlich, darum

Prophezeiung eintritt und in hundert Jah-

geht es nicht. Bei mir dauert der Prozess

ren unsere Kultur tatsächlich am Ende ist?

vierzehn Stunden, es wird eine langwierige

Als Künstler gehe ich immer so vor, dass

Sache. Ein Schauprozess würde bedeuten:

ich sage: Die Gegenseite könnte auch recht

Das Resultat steht von Anfang an fest, man

Das Wort Schauprozess im stalinisti-


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 107 macht eine kurze Show mit erzwungenen

klar ist, wie es ausgeht. Wer schuldig ist,

Geständnissen und dann ab ins Lager. Bei

steht von Anfang an fest und dann ab an

uns muss niemand eine bestimmte Rolle

den Pranger. Das finde ich ja okay als Stra-

spielen, alle können sagen, was sie denken.

tegie, vorausgesetzt, dass die Artikel gut

Wenn Sie heute in Moskau einen

recherchiert sind. Aber dieses Vorgehen

Bandle/Köppel

Schauprozess veranstalten, wollen Sie den

will ich debattiert haben.

„Unrechtsstaat Putins“ entlarven. Was

Bandle/Köppel

entlarven Sie, wenn Sie im Rechtsstaat

ernsthaft mit den Praktiken der stalinisti-

Schweiz einen Schauprozess inszenieren?

schen Schauprozesse?

Rau

Wenn man Ihre Art des Journalismus

Rau

Sie vergleichen die „Weltwoche“

Nennen wir es Schaujournalismus.

anschaut, so reihen Sie in der „Weltwoche“

Roma, Sozialhilfebezüger, Muslime, alle

quasi einen Schauprozess an den nächsten.

kommen bei der „Weltwoche“ dran, und

Ihre Artikel sind ja sehr oft eine Beweis-

das ist die Diskussion, die wir in den drei

führung für etwas, von dem ohnehin schon

Tagen der „Zürcher Prozesse“ führen wol-


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 108

Via Aufruf wurden für den von der ultrakonservativen Organisation „Volkskirche“ initiierten Prozess „Zeugen“ gecastet, die die betreffende Ausstellung zwar nicht gesehen hatten, aber dennoch freimütig gegen sie aussagen konnten, weil orthodoxe Extremisten ihnen vor Ort im Gerichtsgebäude rasch Spickzettel mit den zu tätigenden Äußerungen in die Hände drückten. Die meisten „Zeugen“ griffen auf diese Zettel selbst noch direkt im Zeugenstand schamfrei zurück: Abgelesene – und einander logischerweise bis aufs Haar gleichende – Aussagen waren an der Prozesstagesordnung. Die Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin Sandra Frimmel ist nicht die Einzige, die solcherart juristische Sitzungen – wie sie im Nachwort zu Lomaskos und Nikolajews Gerichtscomic schreibt – „mehr an einzelne Akte eines Theaterstücks als an einen rechtsstaatlichen Gerichts­prozess“ erinnern und die hier „einige Parallelen formaler Art“ zu den großen stalinistischen Schauprozesse der 1930er Jahre sieht, von denen sich Raus Format ja qua Titel abstößt. Getreu dem Diktum des früheren sowjetischen Außenministers, Generalstaatsanwalts und Chef­anklägers der Moskauer Prozesse 1936 bis 1938, Andrei Wyschinski, – „Wenn wir jemanden verhaftet haben, müssen wir auch seine Schuld beweisen, das ist Ehrensache“ – waren die Verfahrensverläufe bis hin zum (meist tödlichen) Urteil bekanntermaßen gleichsam vorab geskriptet. Rau öffnet also – indem der Titel seines Moskauer Gerichtstheaters jene historische Folie evoziert (mitnichten analogisiert!) – zwischen den Großkoordinaten Politik und Performance ein ziemlich komplexes Bezie-

len. Deshalb finde ich es auch schade, dass

wenn sie verurteilt worden wären, da

Sie, Herr Köppel, nicht mitmachen und als

einige Künstler in der realen Welt tatsäch-

Experte in eigener Sache auftreten wollen.

lich noch im Lager sitzen. Beim „Weltwo-

Bandle/Köppel

Der echte Roger Köppel kann

che“-Prozess ist es weniger existenziell, wie

nicht vor ein falsches Gericht stehen. Aber

er ausgeht. Hier ist die Verhandlung zen­

ist es nicht absurd, wenn ein Künstler, für

tral, was debattiert wird. Aber es ist schon

den die Meinungsäußerungsfreiheit heilig

so, dass viele Leute ein großes Problem mit

ist, am Ende ein Organ der Meinungsäuße-

dem Pranger-Journalismus der „Weltwo-

rungsfreiheit vor Gericht stellt?

che“ haben.

Rau

In meinen „Moskauer Prozessen“ stan-

Bandle/Köppel

Deshalb fühlen Sie sich berech-

den die angeklagten Künstler kurz davor,

tigt, die „Weltwoche“ an den Pranger zu

als schuldig verurteilt zu werden. Der Frei-

stellen?

spruch kam nur knapp zustande. Für mich

Rau

wäre es ein moralisches Problem gewesen,

anprangern wollte, dann müsste ich ein

Wenn ich die „Weltwoche“ wirklich


anderes Format wählen. Bei einem Prozess kommt die angeklagte Seite sehr ausgiebig zu Wort. Auszug aus: „Und dann ab an den Pranger“, zuerst erschienen in: „Die Weltwoche“, 2. Mai 2013.

CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 109

hungsfeld, das in wohltuend didaktikfreier Beiläufigkeit herzlich zu allerlei eigenständigen Reflexionen einlädt; auch über den Charakter und die seismografischen Qualitäten realer wie theatraler Prozessformate bezüglich des jeweiligen gesellschaftspolitischen Status quo. So rücken in Raus ja gerade nicht reenacteten, sondern mit offenem Ausgang neu aufgerollten Prozessen entsprechend andere theatrale Modi in den Blickpunkt; beispielsweise die Selbstinszenierung naturgemäß (und also auch im Theater) gewinnwilliger Diskursgrößen beziehungsweise die rhetorischen Inszenierungsmuster ihrer jeweiligen Positionen – von der staatlichen Macht-Inszenierung in Gestalt der Moskauer Einwanderungsbehörde einmal abgesehen. Im Zürcher Showprozess wiederum, in dem – wie Gerichtsexperten während der drei Tage verschiedentlich betont hatten – die „Weltwoche“ nur stellvertretend für den Geschmacks- und Respektgrenzen überschreitenden „Prangerjournalismus“ an sich auf der Anklagebank saß, trat als Äquivalent zu der besagten Moskauer Behörde (und den Kosaken) natürlich der Journalismus selbst als externe Mitspielerin in Erscheinung: Roger Köppel, der Chefredakteur der „Weltwoche“, hatte zwar nach langen Überlegungen auf einen eigenen Prozess-Auftritt verzichtet, weil „der echte Roger Köppel nicht vor einem falschen Gericht stehen“ könne, dafür aber immerhin mal seine Frau im „Weltwoche“-T-Shirt im Neumarkt-Theater vorbeigeschickt und die „Zürcher Prozesse“ im Übrigen vor- wie nachbereitend vorbildlich gefeatured: Vom Essay des Regisseurs himself übers höfliche Streitgespräch zwischen Rau und Köppel bis zur wohlwollenden Theaterrezensionen fehlte in der „Weltwoche“ kein


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP

journalistisches Genre zum Sujet. Das Schweizer Fernsehen srf übertrug die Prozesse komplett per Livestream und ließ sich auch mit flankierenden Sondersendungen, Zwischenbilanzen und Themenschwerpunkten nicht lumpen. Kein Wunder, dass man Milo Rau in den Prozesspausen vor dem Neumarkt-Theater auf Schritt und Tritt freundlich in Kameras nicken und in Mikros sprechen sah: Clevere Strategie, einen fiktiven Medienprozess V-effektiv in die Medien selbst hinein zu verlängern. Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien in „Theater heute“, Nr. 06/2013.

Katja Samuzewitsch (Pussy Riot) im Kreuzverhör: „Ist es normal, in der Kirche für Gay-Paraden zu demonstrieren?“ „Ja.“

110

Eine Art geschichtsschreibende Dokumentation

Stichwortgeber. Ein sehr interessanter,

Julia Bendlin / Milo Rau

nien klar. Sagen wir so: „Die Weltwoche“ ist

finde ich, denn hier werden die Konfliktliein Vorwand, um über die Schweiz nachzu-

Julia Bendlin

Milo Rau, Sie inszenieren einen

denken.

dreitägigen Gerichtsprozess gegen „Die

Bendlin

Weltwoche“. Was steckt dahinter?

Rau

Milo Rau

Ich sehe die Zürcher Prozesse als

Was ist ihre persönliche Haltung?

Ich bin klar links. In einem solchen

Projekt geht es aber um etwas anderes als

eine Art geschichtsschreibende Dokumen-

meine persönliche politische Einstellung.

tation. Sie sind der Versuch, die zentralen

Ich nehme da immer das Beispiel von

Konfliktlinien unserer Gesellschaft in den

Gustave Flauberts Roman „Madame Bo-

letzten zehn Jahren aufzuzeigen. Mit einem

vary“. Flaubert hat sich nicht für Madame

möglichst breiten Spektrum an Akteuren.

Bovarys Ehebruch interessiert – sein Buch

Insofern ist „Die Weltwoche“ eher ein

war damals deshalb ein Skandal – sondern


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 111 für eine gesellschaftliche Situation, die sich

direkten Demokratie zu einer Entschei-

anhand der Analyse dieses Ehebruchs zei-

dungsfindung? Welchen Zugriff haben wir

gen lässt. So ist es auch bei meiner Ausein-

auf unser Land, um es zu beurteilen, es zu

andersetzung mit der „Weltwoche“. Diese

verändern, es zu regieren? Und was ist da-

Zeitschrift betreibt seit vielen Jahren Mei-

bei der Einfluss der Medien? Das sind nur

nungsbildung von einer rechtsnationalen

die wichtigsten Fragen. Andere sind zum

Seite aus, das interessiert mich als Phäno-

Beispiel: Wie reagieren wir auf einen Wahl-

men. Auch die journalistischen Strategien

kampf, wie funktioniert unsere Migrations-

finde ich sehr interessant, wenn es da nicht

gesellschaft? Das sind sehr viele komplexe

diese Minderheitenproblematik gäbe.

Fragen, die wir unter die Lupe nehmen

Bendlin

Letzten Endes geht es Ihnen also um

viel mehr, als nur um „Die Weltwoche“? Rau

Die Fragen, die ich mit diesem Projekt

stelle, sind: Wie kommen wir in einer

möchten. Der Prozess ist dabei ein Mittel der Vereinfachung, der Kanalisierung. Bendlin

Was sagen Sie zu dem Vorwurf – vor

allem von linker Seite – dass der Weltwo-


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 112 che mit diesem Projekt eine Bühne gegeben

was soll das überhaupt heissen, dass etwas

würde?

verschwindet? Andere Meinungen können

Rau

Der Vorwurf stimmt: Wir geben der

nicht einfach „verschwinden“, solange sie

„Weltwoche“ eine Bühne. Aber gleichzei-

eine demokratische Basis haben. Es ist

tig auch vielen anderen Leuten. Es sind

in der Schweiz nicht so, dass wir einfach

insgesamt 35 Teilnehmer auf der Bühne in

etwas verschweigen können, und plötzlich

den drei Tagen, davon sind zwei oder drei

ist es dann weg. Das ist eine skurrile und

von der „Weltwoche“. Diese Zeitschrift ist

auch gefährliche pädagogische Wunschvor-

wirklich nur ein Anlass, wenn auch ein

stellung.

guter. Und ausserdem muss ich einfach sagen: Ja gut, geben wir ihr doch mal eine

Auszug aus: „Milo Rau über die Zürcher Pro-

Bühne! Ich finde diese „wenn man sich

zesse“, zuerst erschienen: auf www.srf.ch am

nicht damit beschäftigt, dann wird es ver-

30. April 2013.

schwinden“-Strategie ein wenig naiv. Denn


113

CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 114

Die Gründe können Sie sich googeln

reise verweigert?

Wolfgang Höbel / Milo Rau

nicht mehr nach Russland hineinzulassen.

Milo Rau

Es ist ein krasses Statement, mich

Ich hätte nicht gedacht, dass die Beamten Wolfgang Höbel

Herr Rau, Sie haben im März in

und Politiker in Moskau so extrem reagie-

Ihrem dreitägigem Spektakel „Die Moskau-

ren. Ich werde es natürlich auch in meinem

er Prozesse“ in der russischen Hauptstadt

Film zum Thema machen.

unter anderem die Verurteilung der Punk-

Höbel

band Pussy Riot von Experten und Betrof-

teilt, dass Sie in Russland nicht erwünscht

In welcher Form hat man Ihnen mitge-

fenen auf die Bühne geholt und wollten

sind?

nun für eine Filmversion der dokumentari-

Rau

schen Theater-Aktion abermals in Moskau

lat anfragte, hieß es, mein Name stehe auf

drehen. Waren Sie überrascht, dass das

einer Liste von Personen, die nicht nach

russische Generalkonsulat Ihnen eine Ein-

Russland einreisen dürfen. Ich habe dann

Als der Visumsservice im Generalkonsu-


CHRISTINE WAHL DAS AGORA-PRINZIP 115 an das russische Generalkonsulat zwei

mindestens drei Jahre nicht mehr in Russ-

Anfragen gestellt, wie man das begründet.

land einreisen, aber das ist nichts Offiziel-

Aber darauf gab es keine Reaktion. Beim

les. Ich hoffe natürlich, dass die Proteste

Visumsservice sagte man mir: „Die Gründe

und Reaktionen auf diese Entscheidung

für das Verbot können Sie googeln, indem

dafür sorgen, dass das Verbot wieder aufge-

Sie Ihren Namen eingeben.“

hoben wird.

Höbel

Nach dem Bekanntwerden des Einrei-

severbots gegen Sie haben diverse russi-

Auszug aus: „Die Gründe kann ich mir goo-

sche Künstler und Oppositionelle protes-

geln“, zuerst erschienen in: „Der Spiegel“ vom

tiert, die Pussy-Riot-Aktivistin Jekaterina

21. September 2013.

Samuzewitsch nannte die Entscheidung eine „Schande“. Wissen Sie, für wie lange das Verbot gelten soll? Rau

Nein. Manche sagen mir, ich dürfe nun


verbotene CD International für eine ausls Leiter eines Berichte und Festnahmen, atische Behinen tibetischen praktisch zur seit dem Ende hrgenommen. end, dass die gen Aufstände tlichen Ändeeinstige trotz Nebeneinander en Autonomen ten, mehrheitn einem Klima

erhin nicht unbiet berichten, angrenzenden ldungen kaum n. Chinesische n, nicht länger lfsorganisatio-

n der Tibet-Podie Gespräche vember ergebRhetorik gegen orden. Mit eirwachung des er verstärkten n hartem Aufnifestation von m 50. Mal jähamas aus Tibet

nutzen wir den Radiergummi und gelangen zur Unst. Begegnet uns ein Künstler, so bekehren wir ihn durch ein einziges Wort. Denn die Unst ist die Wörtlichkeit. Und die Liebhaber der Unst sind die Ünstler.

Was begeistert den Ünstler? Der Ünstler ruft ausser sich: „Süsse Schönheit!“, wenn das Mikrofon des Diktators rauscht, wenn der Kies unter den Füssen des Zeugen knirscht, wenn ein Flugzeug ein verlassenes Braunkohlegebiet überfliegt, wenn der Scherz dem Erzähler entgleitet, wenn die Quellen sich widersprechen, wenn der Dezember für Klarheit sorgt, wenn ein Berg ein Echo wirft, wenn ein Unbekannter einen Einkaufszettel schreibt. Denn das alles ist Unst, und die Unst ist das ureigene Gebiet des Ünstlers.

Warum feiert die Unst das Leben? Die Unst feiert das Leben nicht, weil es widersprüchlich ist (aber auch). Die Unst feiert das Leben nicht, weil es lustig ist (aber auch). Die Unst feiert nicht das Tragische, nicht das Wahre, nicht die Geschichte, nicht die Revolution, nicht die Melancholie, nicht das fremde Geschlecht und nicht die Naivität (aber manchmal schon). Die Unst verkündet nicht die Lehre der Hysterie, der Poesie oder des Understatement (nur ab und zu). Die Unst gründet seine Belehrungen nicht auf die Armut oder den Reichtum, die Jugend oder das Greisenalter, die Bildung oder den Pop, die Linke oder die Rechte, die Tradition oder die Revolution, Hollywood oder den Iran, das Rätselhafte oder das Klare (all das zwischendurch). Die Unst ist weder elitär noch mittelständisch, weder gründlich noch oberflächlich, weder dramatisch noch episch, weder poetisch noch kalt (höchstens zum Spass). FRAGE: Für welche Qualität aber feiert die Unst das Leben? ANTWORT: Die Unst feiert das Leben, weil es GENAU SO ist. Die Unst liebt den Iran, das logische Rätsel, den Dezember und die Revolution, weil sie GENAU SO sind. Die Unst erforscht die Geschichte, die Hysterie, das Lustige und das Wahre, weil all das GENAU SO ist. Die Unst liebt sogar die Zukunft, weil sie GENAU SO ist. FRAGE: Was also ist die Unst? ANTWORT: Die Unst ist die Betrachtung des GENAU SO.

Ünstlers über das GENAU SO der Jetztzeit zugleich eine Handlungsanweisung für eine ebenfalls völlig gleichzeitig sich ereignende Nachzeit. FRAGE: Die Gegenwart des Ünstlers ist also eine Handlungsanweisung an die Zukunft? ANTWORT: Richtig. Unter der Voraussetzung natürlich, dass diese Anweisung nicht in irgendeiner übertragenen Weise, sondern ausschliesslich GENAU SO, also FÜR DEN GEGEBENEN MOMENT, also WÖRTLICH gemeint ist. Aber ein Ünstler spricht immer wörtlich, sonst wäre er kein Ünstler. FRAGE: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden durch die Arbeit des Ünstlers ein und dasselbe? ANTWORT: Natürlich. FRAGE: Produziert ein Ünstler also Nachzeit? ANTWORT: Selbstverständlich. Jeder Ünstler ist eine völlig objektive Weisungsagentur der Nachzeit. FRAGE: Der Ünstler kennt die Zukunft? ANTWORT: Richtig. Aber nur für den jeweils gegebenen Moment. Nur innerhalb der jeweiligen Recherche. Nur wörtlich. FRAGE: Was also liefert der Ünstler der Gesellschaft? ANTWORT: Der Ünstler liefert: eine völlig wörtliche Wiederholung der Gegenwart durch die Vergangenheit für die Zukunft.

Fragen der Methode I.

116

Der Ünstler unterscheidet sich vom Künstler durch seinen wissenschaftlichen Eifer und seine vollkommene Objektivität. Für den Ünstler ist jeder Augenblick seiner privaten Arbeit ein Teil der grossen Arbeit am Welt-Objekt, welches wiederum bloss Voraussetzung des Augenblicks ist. Schauspiel, Beleuchtung, Sprache, Musik. Der Blick der Zuschauer, der Diktatoren, ihrer Verräter, der Statisten, der Kameras. Die Kleinschreibung, die Grossschreibung, das Exposé, die Recherche, die Kritik, der Absatz und die Abweichung. Die Kosten des Schauspiels, die künstlerische Wahrheit, das Husten im Publikum. Das Gerede, die Urteile, die Benachrichtigungen, die Plötzlichkeit, die Montage. Die Komik, die Unsicherheit, die Wut, das Missverständnis und die Absicht. Die Glut des Dokuments, des Augenblicks und der Zukunft. Die Gerechtigkeit, die Ironie und das Geld. Die drei Akte, die Übergänge und das Fragment. Die Dramaturgie, die Geschichte, die Zeugnisse und der Zufall. Alle Stimmen, alle Reisen, alle Fahrpläne, das

GEGEBENEN MOMENT, der die Lehrsätze der Kybernetik, des Variétés, der Kriminologie, der Evolutionstheorie, der Quantenphysik, der Gesprächsanalyse, der Mystik, der Autobiographie undsofort bis ans Ende der Wissenschaften in sich vereinigt. Der Ünstler handelt wie jener Weise, der das Fleisch nicht teilt, indem er es schneidet - sondern das Messer dort ansetzt, wo das Gewebe sich WIE VON ALLEINE teilt. FRAGE: Aber woher nimmt der Ünstler dieses Messer, welches WIE VON ALLEINE teilt? ANTWORT: Jeder Moment enthält das Messer, mit dem er vom Ünstler WIE VON ALLEINE geteilt werden kann. FRAGE: Wie erkenne ich das Messer? ANTWORT: Das Messer zeigt sich erst in der ünstlerischen Teilung. FRAGE: Es geht also darum, das Messer, das den Moment WIE VON ALLEINE teilt, in diesem selben Moment zu finden, indem er sich dank des Messers teilt? ANTWORT: Natürlich. FRAGE: Und wie komme ich zu diesem Moment? ANTWORT: Wie von alleine. Das ist die Objektivität der Unst.

Genau dies.

Was ist in einem Wort das Ziel der Unst? Was ist der Lebenszweck des Ünstlers? Sich zu erheben Zu hören Und zu sehen. Was? Alles, aber nur DIES. Wann? Immer, aber nur in DIESEM Moment. Wie? Auf alle Arten, aber nur GENAU SO. Wo? Überall, aber nur HIER. Denn GENAU DIES Ist das Ziel.

Das Manifest „Was ist Unst?“ ist das wichtigste der zahlreichen Manifeste, die die Arbeit des europäischen Künstlerkollektivs „IIPM – International Institute of Political Murder“ begleiten. Weitere Texte zur Arbeit des Instituts und ein ausführliches Interview S. 13-18.

De Hoop Scheffe Zudem werde es im Bündnis bese

We

Die von Präsiden digte Nato-Rück Ablehnung, bei d extremen Rechte Gipfel Anfang Ap Bestehens der A von Fortschritte teidigung abhän Anzeige

Frankreich ist zw 1949 gegründete Aufstieg zur Ato Charles de Gaull on zurück. Erst s im Nato-Militära

Bis heute ist Par gungsplanungsa ren Planungsgru damit zwar ohne Atomstreitmach aber im Bündnis Vollmitglieder.

Gemäss Diploma erhalten, die Füh zur Reform der A Virginia zu über Regionalkomma bekommen.

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117

von Milo Rau (IIPM) Wie löst die Unst das Zeitproblem?

Samstag, 20. Februar 2009 • Nr. 38

Wir wiederholen (um der Wiederholung willen): Die Arbeit des Ünstlers ist niemals subjektiv, sondern immer völlig objektiv. Denn der Ünstler vertraut auf den GEGEBENEN MOMENT, der die Lehrsätze der Kybernetik, des Variétés, der Kriminologie, der Evolutionstheorie, der Quantenphysik, der Gesprächsanalyse, der Mystik, der Autobiographie undsofort bis ans Ende der Wissenschaften in sich vereinigt. Der Ünstler handelt

Fragen der Methode II.

Frühstück, der tiefere Sinn, die Tugend, die Witterung und die Geometrie. Der aktuelle Krieg und der persische, der Nebensatz, die Dialektik, die Erdanziehung, die Pause, der Schlaf. All das ist Teil der grossen Arbeit des Ünstlers. All das gehört zur Methode der Unst. Die Hilfsmittel des Ünstlers sind also zahllos in ihrer Art und unendlich in ihrer Wirksamkeit.

Was ist Unst? Die Unst bevölkert die Gesellschaft und schlägt ihr Gedächtnis auf. Die Unst sammelt, kopiert, zeigt. Die Unst ist der Resteverwalter jener Wirklichkeit, die im Vorwissen der Kunst vergessen gegangen ist. Die Unst ist die reine Wiederholung. Denn wir haben begriffen, dass die Kunst sich loswerden muss, um wieder eine zu werden.

Was bedeutet Unst? Die Unst ist ein Wort. Es schreibt sich wie Kunst, nur ohne K: Unst. Sagt jemand: „Kunst“, so antworten wir ihm wörtlich: „Unst“. Schreibt jemand: „Kunst“, so benutzen wir den Radiergummi und gelangen zur Unst. Begegnet uns ein Künstler, so bekehren wir ihn durch ein einziges Wort. Denn die Unst ist die Wörtlichkeit. Und die Liebhaber der Unst sind die Ünstler.

FRAGE: Wie steht die Unst zur Jetztzeit, zur Geschichte und zu den Problemen der Zukunft? ANTWORT: Die Unst ist die Analyse des GENAU SO der Jetztzeit, welche aber im Augenblick ihrer Betrachtung bereits eine vergangene, also eine Vorzeit ist. FRAGE: Die Jetztzeit ist eine Vorzeit? ANTWORT: Oder umgekehrt. FRAGE: Und weiter? ANTWORT: Gegeben das gestische Voranschreiten der Unst im jeweils gegebenen Moment in beide Richtungen der Vor- und der Nachzeit, ist jede Erkenntnis des Ünstlers über das GENAU SO der Jetztzeit zugleich eine Handlungsanweisung für eine ebenfalls völlig gleichzeitig sich ereignende Nachzeit. FRAGE: Die Gegenwart des Ünstlers ist also eine Handlungsanweisung an die Zukunft?

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MILO RAU

THE REALM OF THE REAL 118


119

I created my production company IIPM on 2007 as a working title for one of my neo-futurist phantasies at that time: to reenact on the large campus of the Festspielhaus Hellerau in Dresden (a big festival-area constructed in the beginning of the last century as an anti-center to Bayreuth and after the second world war one of the general bases of the red army in Germany), a diptyche of the two most known attempted assassinations of Hitler, both bomb attacks: The one in 1939 in the Bürgerbräukeller in Munich which Hitler survived because he finished his speech 13 minutes earlier than scheduled (the air was foggy and Hitler instead of flying back to Berlin as announced took the train). The other one in 1944 in the Wolfsschanze, known as the „Stauffenberg-Attentat“ or the „Attentat of the 20th of july“ – failed, because Hitler in the moment of the explosion leaned over a thick oak table who saved him like an armour plate. Stauffenberg – and with him the whole group of conspirators – was shot or hanged. Even if this diptyche-installation wasn’t realised, the planning of it was the birth of the IIPM. Half a year before, in automne 2006, when I was working on a more classical project at the State Theatre of Dresden – „Pornografia“, a quite free adaptation of Witold Gombrowicz novel –, the idea of making the two attacks against Hitler came across my mind when I discussed with the then-dramatic advisor of the State Theatre another adaptation – an adaptation of the post-apocalyptic documentary-novel „The world without us“ by Alan Weisman which describes the collapse of infrastructure after the sudden and over-night disappearance of human kind as a slow motion „roman de choses“.


MILO RAU THE REALM OF THE REAL 120

The idea was to adapt this posthuman drama for the city of Dresden as a long-term-project in recently deserted apartment houses, and the working title was – not very inventive – „Dresden without us“. For understanding that, you should know that the eastern part of Germany since 1989 has lost more than two millions of its citizens – not by political murder, but by exodus. The urbanists resolve this problem with the so-called „Rückbau“ – the naturalization, the un-building – of deserted accommodations to prevent their slow decay, for the simple reason that the costs of abandoned quarters are much bigger than their total destruction. As a result of this, hundreds and thousands of prefabricated houses (the typical GDR-„Plattenbauten“) disappear every year and with them the memories of their former residents. So, at one hand, the very simple purpose of „Dresden without us“ and of the re-enactment of the two „rooms“ of resistance against Hitler was to counteract the neoliberal logic of destroying the past and to re-awake the romantic, middle-European landscapes of ruins. We know this kind of „memory space“ – which by the way disappeared very quickly after the foundation of the German Reich on 1871 – for example from the paintings of Caspar David Friedrich. But the reason for my ruin-plans were certainly different: Unlike than in Caspar David Friedrich’s paintings, „Dresden without us“ was not planned as a spiritual allegory of the unification of the human mind with nature in a posthistoire ecstasy (as, by the way, the most of post apocalyptical narratives). And even if these fragmentary projects – „Dresden without us“ and the double monument of resistance against Hitler were stopped after their conceptual state – were driven by a romantic interest


MILO RAU THE REALM OF THE REAL 121

for the monotonous work of time (after their controlled explosion, the second Bürgerbräukeller and the second Wolfsschanze would have been left on the place of the performance, exposed to sun, rain, snow and the desperate youth of Dresden): What I wanted to invoke by these performances was not some private or political heroism lurking behind the veil of passing time, it was not a strange variety of „Ostalgia“ or hero wor­ ship, but only the attempt to denoting as concretely as possible this simple fact: that something happened and someone was there. That history cannot be erased and that the notion of „history“ isn’t just a narrative (as postmodernist historians are used to say), but in the most positive and naive sense of the word: a fact. The aim of these performances was also a materialistic one in the classical sense in which Diderot uses the term: Can art talk about the reality? Can history, can the real be denoted? Not in a dramatically closed, but in a totally open context. And not in a formalistic set-design, but in the banality of real time and real space – in the banality of Dresden. The words time and space, these two popular „emblems“ of science (at least since Einstein), lead us to another point. As the expression „Institute“ in „International Institute of Political Murder“ implies, the problem of a real-time performance like the explosion of the barrack in the Wolfsschanze or „Die letzten Tage der Ceauşescus“ is not only a question of the sense or non-sense of a hardboiled realism, but it’s first of all a practical one. This has, paradoxically, got to do with the imaginary power of images like the one of the Ceauşescus in the trial-room: Its phantasmagorical energy is so overwhelming, that the first step of re-enacting an event, an image like this (according to the „Time


MILO RAU THE REALM OF THE REAL 122

Magazine“ one of the five best-known television-pictures in TV-history, together with the assassination of JFK and the first man on the moon) is a work of archaeology – of the re-founding of the body of the event as such under the magma of collective memory and political or just paranoiac imagination. Who says „Stauffenberg“, thinks of Tom Cruise; who says „Ceauşescu“, thinks of a crazy mixture of Stalinist platitudes and absurd gestures, especially if he knows the Romanian theatre. When Andy Warhol – to take a famous and very different example of dealing with this problem: the power of images and collective narratives –, when Warhol repeats or rather copies popular media-pictures of disastrous events as in his serigraphs „Plane Crash“ or „Pink Car Crash“, he insists in the post-heroic and machine-like coolness of this gesture of repeating. So, „Plane Crash“ or „Pink Car Crash“ – authentic reproductions of the image of the event – are decidedly anti-authentic and tell us nothing about its concrete reality, about its spacial and material scenery – but in exchange a lot about popular imagination, the making of modern fairy tales, the functioning of the media, the intruder-like experience of „disaster“ in a peaceful consumer society and so on. I mention „Plane Crash“ and „Pink Car Crash“, because these works are like an ironic abstract of the unsolvable problem of a real repetition: You can reproduce me 1000 times, says „Pink Car Crash“, but you will never look behind the pictures and their narratives. You will never see the real Car Crash. For that reason, the re-enactments of my production-company „IIPM“ are, compared to Warhol, in the first place resolutely naive – naive in the sense that the aim is not a meditation about the absence, about the

The End of Postmodernism Konrad Petrovszky / Milo Rau Konrad Petrovszky

What does „truth“ mean in

case of the reenactment of the Ceauşescu process? Milo Rau

I think that a revolution can’t be

adequately narrated. The documentaries I know always get tangled with some conspiracy theory because when you try to create a linear presentation of facts, you allow for paranoid interpretations. I realized that the inconsistencies have to be shown as what they are – conflicting truths. My


Therefore, before rehearsing and staging „Die letzten Tage der Ceauşescus“, the first and biggest part of my work was not an artistic, but a journalistic one: to meet the specialists of the Romanian revolution, to find and interview the soldiers who shot the Ceauşescus, to interview the law­ yers who defended, the general who betrayed, the judge who judged, the revolutionaries who decided to execute them, and finally visit personally and literally the last scene of the drama: the barracks of Targoviste, a dirty and depressing townlet in the north of Bucharest. So, making „Die letzten Tage der Ceauşescus“ was, in the first one and a half year of the production, a pure investigative task, as for instance:

MILO RAU THE REALM OF THE REAL

What really happened on the 7th of july 1944? What really happened on the 25th of december 1989?

– the fabrication of a complete transcript (because in fact, the well- known video only shows a little section of the trial room and the offvoices are often incomprehensible or difficult to attribute) – the locating of the different stations of the getaway of the Ceauşescus (from the Central Committee to their graves – if they are really in-there) – the collection of the historical properties and costumes (for taking

123

disappearance, about the poor and unhappy real eaten by the simulacra and so on, but about its concrete shape. Who wants to produce a re-enactment, has first of all to ask the good old childish question: How was it really?

inquiry can be explained with the help of

of the images instead. On a practical level

a simple semiotic model of interpretation;

this meant meticulous, almost religious,

neither the material nor the referential

attention to details. This is precisely where

level interest me in this case but rather the

my interest in this ultimately primitive art

third level, that of the evocative power.

form of reenactment resides.

Mean­ing that certain factor that tells us

Petrovszky

„this is an iconic image,“ „this is an allego-

contradictory theories regarding what a

ry,“ „this is a revolution.“ It speaks to us,

reenactment should effectuate. It seems

calls us to something. The truth that I stri-

to not only be about simply reconstructing

ve at consists only of the density of appeals

an event, but also rather enabling a retro­

and evocations created at the moment

spective reaction, a chance to go through it

I saw these images as a child. I decided

again. Nevertheless, I think it’s a somewhat

against a documentary or a feature film,

questionable search in terms of fidelity.

and for dramatizing the momentousness

Rau

As far as I know, there are quite

Our reenactment is of course an avatar


MILO RAU THE REALM OF THE REAL

an example: the soldiers where part of a special elite paratroopers unit created three months before the revolution and dissolved shortly after it) – and the measurement of the trial-room itself (today a military zone) and the scenery of the trial: the yellowish and brownish colours, the anxious nervousness and the hibernal cold, the number and the names of the „dramatis personae“, their biographies, their characters and so on.

124

After this journalistic or scientific work (by the way, the performances of the two bomb attacks against Hitler and the „Dresden without us“-project would have been reconstructed in the same meticulous way: with the help of specialists and witnesses, professionals of disaster and decay), after one and a half year of research in Romania, all details were collected, and the basic and essential question came up again: What do we mean, when we say that something „really was like this“? What is this thing, this object called reality or event or, if I may say so, History? With these questions we come obviously to the innermost problem of all re-enactments (or realism itself): How the real can be denoted by art? And how can it be repeated in the same time concretely (as a fact) and as a narrative – as a living memory? Because as I mentioned before, the problem of re-enacting History (with a big „H“) is to do it without ‚inflecting’ it in the one or the other side: not to be mesmerized on the one hand by what Adorno calls disdainful „facticity“, by the complex, ruin-like status of the past and its (from a neo-

of sorts, which means, according to Plato –

certain seriousness that wouldn’t have

and we’re all Platonists – a lie. The Ceauşes­

been there a decade ago. Meticulousness or

cu process was in many ways a „pretty lie“

an obsession with materiality that’s essen-

and we’re retelling it. It’s fascinating to see

tially a little ludicrous.

how the actors play it, and how we or the

Petrovszky

people we’re talking to about the events re-

„end of postmodernism“ – to use post-

act. Unlike other reenactment artists like,

modernist jargon. When I look at Jeremy

for example, Jeanne Faust from Hamburg,

Deller’s project „The Battle of Orgreave“

who works with small intimate scenes, we

for example, it seems to have a thera-

decided to handle a big image. However,

peutic intent: let’s do the whole thing all

we’re not trying to put something into

over again with as many of the original

perspective like Jeremy Deller does. Seeing

participants as possible, in order to shed a

our project, one is immediately aware that

different light on this important event that

postmodernism is over, because it has a

has been completely distorted by the BBC,

I also had the impression of the


MILO RAU THE REALM OF THE REAL 125

liberal point of view) depressing uselessness – and on the other hand not to be seduced by what we can observe in popular re-enactments: this monotone and pseudo-authentic happiness of „being there“. So, when I staged the trial against the Ceauşescus, I had to crossfade constantly two actions: Reconstructing all the details and gestures, than freeing the scenery from it in order to get at what’s crafted from the images’ internal energy – and then back again, in circles. I was confront­ed to a paradoxically duplicated reality, a strangely doubled and inversed genealogy of what happened on the 25th of December 1989 and what we can see reproduced on the historical video-tape: These images document undeniably something that really took place, in an actual room and in real time – and that’s what is re-constructible until the smallest detail, like a clockwork made out of gestures, tables, words, sounds, light and space. On the other hand, there’s the second reality of the historical images, shaped from day to day anew by their path through the collective imaginary and their different interpretations: the morbid tragedy of a democracy founded on the cadavers of two confused dictators killed by their former collaborators and present oligarchs. As a consequence, the performances were the constant experiment to blend these two levels of time into one event – not to say: to realize the event in both meanings of the word – and to present it as what I call­ed previously „memory space“: hermetic and closed on its own rules, a capsule from long ago, ruined by the bygone time and despite open to actual interpretations. Perhaps this doubled „reality“, this mimicry in exclusive honour of the event is what Lacan calls simply and shortly „the Real“: the shocking and distant being-there, the horrifying undead exis-

and give people the chance to process it

war era. The experiment takes this myth

one more time and talk about it. Does your

and implements it in a real process taking

project serve any therapeutic and informa-

place on stage, without narration. I see it

tive purposes?

as similar to how theater in ancient Greece

Rau

I intend to do the opposite of Deller.

dramatized its mythological stories: four

I’m thinking more about Rod Dickinson’s

hour staging of a narrative everyone in the

reenactment of the „Milgram Experiment“.

audience knows – including its conclusion.

His over-four-hour film reenacting the

This affects an entirely different catharsis

famous socio-psychological experiment

than Jeremy Deller’s project. Whether this

possesses an incredible power, because the

is also therapeutic depends on the impact

question it centers on, namely how could

of the reenactment itself, I believe.

the Holocaust happen, how normal people

Petrovszky

could turn into mass murderers, belongs to

at least affect a process of ratiocination.

the biggest sociological myths of the post-

Deller’s reenactment took place because of

I’m certain that a reenactment can


MILO RAU THE REALM OF THE REAL 126

tence of the past, disturbing the sleep of history. „This one hour of performance“, wrote a newspaper after the premiere of „Die letzten Tage der Ceauşescus“, „contains all what has gone wrong in Romania since 20 years“ – and perhaps it was only consequent, that the Romanian performances were followed by a lawsuit carried on by the last son of the Ceauşescus against the Teatrul Odeon and my production company, the IIPM. Instead of a conclusion, I would like to touch finally two questions which raised in the morning lectures yesterday, the one in the context of the film “Catastrofa“ from Artur Zmijewski, the other in the discussion about the “Katyn“ reenactment: first the problem of irony (or the possibility of a non-ironic point of view), than the problem of historical truth, both absolutely crucial for the art of re-enactment. The problem of irony is obviously connected directly to the method as such, because performative repetition (with another word: mimicry) is as well the most naive gesture of irony as the first state of a reenact­ment. A schoolboy who wants to make fun of his teacher “re-enacts“ him, and the hole tradition of Ceauşescu-performances in the Romanian theatre is one of a (more or less intelligent) aping of the former dictator (by the way in Germany the same tradition exists relating to Hitler). So mimicry not only shows, but discredits the real, in both meanings of the word: as a gesture of freeing („Look at this idiot, he’s only an analphabetic.“) and, what’s obviously more negative, as a gesture of suppression („It’s just a play, it wasn’t that bad“, what means in last consequence: „It wasn’t real.“)

the misinformation that circulated in the

intertwine. It’s all the more challenging

media. In Romania, however, the media

consider­ing that any attempt at doing

coverage itself was an integral part of the

educational work on the revolution that is

progress of the revolution and its broad

not based on the video recordings simply

impact. The fact that it was recorded, that

doesn’t function, whereas the tapes them-

people saw it, and that the regimechange

selves are the crux of the problem!

was consummated if not in reality at least

Rau

on the screen – all these factors are what

because of its magnitude, its meaningful-

made up the event itself. The complexity

ness and its prominence. It is, in fact, a

of the revolution in Romania is that, unlike

canonical medial event. Reenactments are

in Deller’s case, it demonstrated that an

popular in the performance scene these

enact­ment and authenticity don’t necessa-

days, but what I’m interested in is taking a

rily have to constitute binary oppositions.

key scene in which objective and subjective

The challenging moments are when they

histories interconnect; everyone saw these

Yes, and I chose this event precisely


MILO RAU THE REALM OF THE REAL 127

Behind both actions lies cynicism and finally the oblivion of the past. The art of re-enactment thus consists in a – as mentioned before – con­ stant shift between a „being here“ and a „being there“, a total and nearly grotesque concreteness of gestures and a awaken sensibility for their actual (what means: scenic) tightness, their political, and if I daresay: utopian meaningfulness. So a re-enactment is the paradoxical gesture of a remembering forwards, as Kierkegaard expresses it in his novel „The Repetition“: „Repetition and memory are the same movement, just in opposed directions. That what you remember has happened and will be repeated backwards, whereas the actual repetition is a memory forward.“ This leads us to the other problem: the one of historical truth and, in the worst case, the annihilating of the event and the creation of an avatar. As we know, the modern history of re-enactments starts with a lie, with a false re-enactment: the one created by Nicolai Evreinov in 1927 on the occasion of the 10th birthday of the October Revolution in St. Petersburg with 100 000 extras, the so-called „Storming of the Winter Palace“. The overwhelming show that Evreinov performed (and which a couple of years later was re-enacted again by Eisenstein in his pseudo-­ documentary „Ten Days in October“) had nothing to do with the event in October 1917 which consisted in an obscure coup d’état of a small and elitist group of extremists – but the pictures which are remembered (and which we can find in the history books) are those of Evreinov and Eisenstein. We can notice this strange process of „exchange“ between the „real“ event and its double in a lot of reenactments. Since Marina Abramović

images and having seen them is immedi-

ment the art of reenactment in its purest

ately connotated with 1989. For me, this

form in order to restitute a material „body“

was THE historical event of ’89. While the

back to the event, to the very last detail.

fall of the Berlin wall had an opaque and

Petrovszky

vague quality to it, the Romanian revoluti-

presented the project? How was the colla-

How did people react when you

on follow­ed a dramatic structure and was

boration with the actors?

aligned with a Christian holiday on top of

Rau

that. There was an overlapping of a Christi-

which is understandable. Just look at the

an story and a perfectly compatible allego-

debate over the movie „Valkyrie“ in Germa-

rical one. In this case, the reenactment is

ny – Tom Cruise was perceived as inade-

concerned with taking this complex event

quate for portraying Stauffenberg here. But

that’s completely merged in its evocative

the experimental nature of the project and

power and multiple layers, and giving it a

our naïve interest in the different stories

material „body.“ My project seeks to imple-

slowly made people less skeptical. If you’d

The Romanians were a bit suspicious,


MILO RAU THE REALM OF THE REAL

performed her „Seven Easy Pieces“ in the Guggenheim – a series of 7 re-enacted performances (Beuys, Valie Export a. o.), including one of her own –, the historiographie of performance took a strange shift in a new, Abramović-ruled direction. Because most of the historical performances weren’t documented photographically, the press-pictures of Abramović’s re-enactments are now the only ones that „prove“ their existence. And if you search on „Google video“ the word „Ceauşescu“, it could happen that your first hit is not the historical video, but the trailer of the film we watched in the beginning. So „remembering forward“, as Kierkegaard wrote, is a dangerous thing. What’s our present will be the future’s past. And what’s our version of history will probably become truth. Thank you for your attention. On March 2011, Milo Rau was invited to Poland to discuss in the Library of the University of Warsaw with artists and academics (a. o. Yael Bartana, Magdalena Marszalek, Artur Zmijewski) the esthetical concepts of his work. The preceding text is an excerpt of the unpublish­ ed script.

128 tried to do a project about WWII in Germa-

same pattern: flags blowing in the wind, old

ny in the 60s you would have had the same

hymns and flowers in barrels. However,

problem. But it’s slowly changing in Roma-

the revolution was bereft of the joyfulness.

nia, too. The striking thing is that you can

Things weren’t all that peachy. So I can un-

tell exactly who lost and who gained from

derstand your fascination with finding fun-

the revolution. The ones who lost are very

damental dramatic structures in actu. This

stuck and biased, whereas the winners are

is a very different way of approaching the

very open and content.

subject than that which we saw in the 80s

Petrovszky

I remember the Romanian revo-

and early 90s, when the focal points were

lution to really have spoiled the sequence

the elimination of the opposing political

of velvet revolutions. The triumph of the

systems and the onset of an obliviousness

„free world“ that unfolded in front of our

to history.

eyes was speckled with a threatening,

Rau

destabilizing undertone. It followed the

modernist professors who told us this was

Our generation was taught by the post-


MILO RAU THE REALM OF THE REAL 129 the end of history and that from now on,

childhood memories. In most interviews

we’d have to live in an eternal service soci-

I give about this project, I describe the

ety. But in reality, world history took a wild

practical implementation of the play. The

twist during our childhood and youth. It

theme of reenactment is very popular and

left us with experiences and observations,

I talk to west Europeans about repetition,

but with no real theoretical apparatus. I

about Deleuze and so on. But actually, the

detect a certain need amongst our peers

touching thing about it is how hot the topic

to rethink the definition of History, of the

still is in Romania.

objective significance of events. The images of the Romanian revolution are registered

Auszug aus: „The Body of the Event“, zuerst

much stronger in my memory than those of

erschienen in: „Meta Magazine“, Oktober 2009.

the World Trade Center because I experienced the fall of the Eastern Bloc as a child and so it has the mythological character of


nur noch wie eine dunkle Drohung in den Ohren der 2 Millionen Unterdrückten und ihrer 5 Millionen Unterdrücker.

St. Gallerinnen und St. Galler! Schweizerinnen und Schweizer! Euch plagt der Alptraum der Macht. Schüttelt ihn ab! Wacht auf und schüttelt ihn ab! Öffnen wir heute die Tore unserer Herzen, damit morgen der Wind der Freiheit wieder durch unser Land bläst. Damit die Demokratie ihr Haupt wieder erhebt in unserem Land. Damit dieser Alptraum der Ungleichheit endlich endet.

Ich verspreche Euch nicht, dass die Freiheit angenehm sein wird. Nein, sie wird Euch heisse Verwirrung bereiten wie der Fön. Kalt und klar wird sie sein wie das ewige Eis. Sie wird so viele verschiedene Temperaturen haben, dass keine Rüstung Euch vor ihr schützen wird. Die Freiheit wird von allen Himmelsrichtungen über Euch hereinbrechen wie einst unsere Vorfahren über die traurigen Ritter des Mittelalters.

Ich weiss: Ihr fürchtet Euch. Denn das Licht der Demokratie wird Euch blenden. Aber das Zeitalter der Angst ist vorüber. Es endet heute und hier. Nur gemeinsam werden wir wieder lernen zu sehen.

Ich rufe deshalb alle, die die Freiheit lieben. Ich rufe alle, die in Gleichheit leben wollen. Ich rufe die Schweizer, die Europäer, die Asiaten, die Afrikaner, die Bewohner der beiden Amerikas, die Australier und auch die stolzen Kariben: K O M M T I N D I E S C H W E I Z ! Schliesst Euch uns an! Wir brauchen Euch! Lasst uns nicht darauf warten, dass uns neue Herren aus unserem Alptraum wecken und uns wieder einer gegen den anderen hetzen! Lasst uns nicht darauf warten, dass uns jemand sagt, wer wir sind! Lasst uns nicht mehr eins, lasst uns viele werden! Denn wir sind niemand und wir sind alle Menschen. Wir sind uns selbst und jedermann.

Die Ihr diese Rede hört und Ihr, die Ihr sie nicht hört: Kommt! Schliesst Euch uns an! Denn nur gemeinsam werden wir die Sprache der Freiheit neu erfinden, die niemand beherrscht und die jeder versteht. Nur gemeinsam werden wir Gebete finden für einen Gott, der so viele Namen hat wie es Stimmen gibt. Wir werden ein Land bauen, das so viele Baumeister haben wird wie Bewohner. Wir werden neue Schulen bauen und neue Theatersäle, in denen wir einander endlich werden in die Augen sehen können. Wir werden Dinge vollbringen, die die Wissenschaft nicht für möglich hielt. Wenn Ihr wollt, werden wir sogar gemeinsam die Sonne erobern. Und wir werden versuchen, endlich wieder Menschen zu sein.

Ich rufe Euch, die Ihr hier seid und Euch, die Ihr hier sein werdet! Ich rufe alle Anwesenden und alle, die kommen werden! Ich rufe die mit und die ohne Namen! Schliesst Euch uns an! Rettet die Schweiz! Rettet die Schweizer! Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht Ihr?

Ihr 7 Millionen, wacht auf!

Ihr 7 Milliarden, erhebt euch!

Und Demokratie, brich los!

Präsident

der Übergangsregierung der „City of Change“,

Domplatz der Stadt St. Gallen am 1. Mai des Jahres 2011.


Schweiz, erwache!

Und Demokratie, brich los! St. Gallerinnen und St. Galler! Schweizerinnen und Schweizer! Glaubt Ihr, Ihr seid unsichtbar? Glaubt Ihr, niemand sieht die Schweiz? Glaubt Ihr, dass Europa Euch vergessen hat? Ihr irrt Euch. Jeder Tag, der vergeht, erfüllt Europa mit neuer Furcht vor Euch. Denn Ihr, die Ihr fast ein Jahrtausend die Hoffnung der freien Welt wart, seid Ihr Feind geworden. Ihr, die Ihr das Licht in der Finsternis dieses Kontinents wart, seid nun seine tiefste Dunkelheit. Ihr seid der A L P T R A U M E U R O P A S. Der Alptraum.

St. Gallerinnen und St. Galler! Schweizerinnen und Schweizer! Ich trete vor Euch in einem dunklen Augenblick unserer Geschichte. 30 Prozent unserer Landsleute haben keine Rechte mehr. 2 Millionen der Schweizerinnen und Schweizer leben in Rechtlosigkeit und Erniedrigung. Einen Drittel unseres Volks nennen wir fremd. Täglich geschieht so unerträgliches Unrecht im Namen der Schweiz. Ich beschwöre Euch: Denkt an Eure Vorfahren, die G L E I C H W A R E N U N T E R G L E I C H E N ! Kehrt zurück zur wahren Schweiz! Sonst wird unser Land sterben, so wie schon viele Länder gestorben sind.

Ich weiss: Ihr alle seid guten Willens! Ihr alle ehrt unsere Toten, die für die Freiheit gestorben sind! Doch seien wir ehrlich: Unsere Vorfahren haben die fremden Invasionsheere aus Österreich, Deutschland und Spanien nicht nur deshalb vertrieben, weil sie unsere Dörfer und Äcker zerstörten. Sie haben die fremden Herren nicht nur deshalb ermordet, weil sie von uns verlangten, dass wir ihnen dienen sollten. Nein, sie haben sie auch deshalb vertrieben, weil sie fremd waren.

Und auch wenn die Fremden später nicht als Herren, sondern als Diener in unsere Städte und Gemeinden wiederkehrten, so war es uns doch unheimlich, wenn wir ihre unbekannten Sprachen hörten. Es war uns unheimlich, dass sie ihre Lieder nicht vergassen. Und es machte uns schlaflos, dass sie nicht gleich wurden wie wir. Wir sagten: „Geht wieder“, aber sie wollten nicht mehr von ihren Plätzen aufstehen. Denn sie begannen unser Land zu lieben. Und es war ihre Liebe, diese laute, unbändige, fremde Liebe, die uns am meisten bedrückte. Ja: Es war ihre Liebe, die uns am tiefsten traf, da wir sie nicht begreifen, da wir sie nicht verstehen konnten.

Wie erleichtert waren wir deshalb, als endlich einer von ihnen sich gegen uns verging. Wie dankbar waren wir, als endlich einer von ihnen ein Messer zückte. Seht, sagten wir, sie hassen uns. Seht, sagten wir, sie sind undankbar. Ihre Liebe ist falsch. Sie wissen nicht umzugehen mit unserer Freiheit. Und in unsere Herzen zog der Hass ein und die Angst.

Wir verlangten fortan, dass die Fremden höflich und still seien, dass sie sich im Hintergrund hielten, wie es Dienern zu Gesicht steht. Wir verlangten, dass sie nicht mehr unser Land, sondern unsere Gesetze lieben sollten. Wir forderten, dass sie sich verbeugten vor unserer Vergangenheit, so wie einst unsere Vorfahren vor Gesslers Hut. Und schliesslich geschah das Undenkbare: Wir, die Kinder der Freiheit, deren Ahnen einst im Namen Gottes ihre Stimmen gegen ihre Unterdrücker erhoben hatten, verboten den Fremden, Kirchen zu bauen, um zu Gott zu beten. Wir, die wir einst ein Volk der Schwestern und Brüder waren, schufen ein zweites, strengeres Gesetz für sie. Denn sie sollten nicht zu unseren Familien gehören, und ihr Gott sollte nicht unser Gott sein. So wurde aus Liebe Misstrauen, aus Misstrauen Hass, und aus Hass wurde Angst. „Schweiz“, sogar dieses herrlichste Wort klang


TIMON BEYES

DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT

132

DIE „CITY OF CHANGE“ ALS KUNST DES URBANEN


133

In seinem 1968 erschienenen Buch „Le droit á la ville“1, das derzeit Stadtaktivisten als Stichwortgeber fungiert, postuliert der Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre, dass die Zukunft der Kunst urban sei. In Auseinandersetzung mit der städtischen und verstädterten Gesellschaft und dem urbanen Wandel müsse sich Kunst neu erfinden. Abseits von Repräsentation, Ornament und Dekoration gehe es um eine Kunst des Lebens in der Stadt, der praxis und poiesis im Maßstab des Sozialen. Glaubt man den Beobachtern der zeitgenössischen Kunst- und Theaterszenen, so hat der hellsichtige Lefebvre zumindest teilweise Recht behalten. Zwar ist das Feld der Kunst ein enorm heterogenes, doch scheint sich ein Paradigma herausgebildet zu haben, das die Kunsttheoretikerin Rosalyn Deutsche in ihren Studien zu „Art and Spatial Politics“2 als urban-ästhetischen Diskurs bezeichnet. Der Kurator Nicolas Bourriaud3 spricht von einer wachsenden Urbanisierung des künstlerischen Experimentes, und dem Theaterwissenschaftler Nicolas Whybrow zufolge ist das urbane Leben von zunehmender Bedeutung für die künstlerische Arbeit – „both in the art artists endeavour to make and in that which is held to come with­in the province of art“4. Dabei verfließen die Grenzen zwischen einer Theaterpraxis, die den Theatersaal verlässt oder Stadtleben auf die Bühne bringt und dabei mit alternativen künstlerischen Medien experimentiert, und einer bildenden Kunst, die in einer Parallelbewegung städtisches Leben in Ausstellungsräume verlagert oder gleich in den Stadtraum einzugreifen versucht – und sich dabei vermehrt performativer oder theatraler Elemente bedient. So hatte das „City of Change“-Projekt seine institutionelle Heimat im Theater, ließ indes von den Konventionen des Bühnenbetriebs


TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT

nicht viel übrig. Schon die Ursprungsidee sollte mit der dokumentarischen Bearbeitung des St. Galler Lehrermords in Kopplung an Fragen der Migration städtisches Leben und städtische Diskurse auf die Bühne holen. Nach einem veritablen Kunstskandal, der aufgrund öffentlichen Drucks zur Absage des geplanten Stückes führte, lieferte das „City of Change“-Vorhaben die aus Sicht der Urbanisierung der Kunst konsequente Antwort. Es versuchte sich an einem öffentlichen Theater bzw. an einem Theater der Öffentlichkeit, das den Zustand der Schweizer Demokratie und des St. Galler Wahlrechts über verschiedenste künstlerische Medien – und durchaus aufdringlich – zum öffentlichen Thema machte. Zwar kann man bei Idee und Durchführung der „City of Change“ Schlüsselkategorien des Theatralischen wie Inszenierung, Schein und Sein, Authentizität, Exhibitionismus oder Scham am Werk sehen. Doch ist bemerkenswert, welches Spektrum performativer Formen ausprobiert wurde: die Gründung einer Stadtregierung, deren Mitglieder, stets in schwarz gekleidet, auf öffentlichen Kundgebungen und medial vermittelt zur Rettung der Schweizer Demokratie aufriefen; politische Straßenarbeit, Wahlkampf bzw. das Ausrufen eines Wahlverfahrens per Losentscheid, Propaganda und Unterschriftensammlungen; Ernennung von Ministern mit migrantischem Hintergrund; eine Petition zur Rettung der St. Galler Demokratie mit dem Dreh- und Angelpunkt der Einführung eines Ausländerstimmrechts; im Web ausgestrahlte Nachrichtensendungen („Change TV“) sowie eine täglich aktualisierte Homepage; öffentliche Diskussionsveranstaltungen, „Demokratiekonferenzen“ genannt (an einer war der Autor dieser Zeilen zu Gast); ein Spiel mit totalitärer Ikonografie und Symbolik („Schweiz erwache“); das Einspielen einer St. Galler

134

Befreit sind wir nicht, wenn wir alle schwach sind, sondern wenn wir alle stark sind

Jennifer Friedlander hat zwei Kunstskan-

Robert Pfaller / Rolf Bossart

Mord, die mit Hilfe einer Überwachungska-

dale untersucht. Beim einen Fall ging es um eine Kindsentführung mit anschließendem mera geklärt werden konnte. Das betref-

Rolf Bossart

Herr Pfaller, Sie haben sich in

fende Täterfoto ist damals tausendfach um

Ihrem Werk immer wieder mit den Moti-

die halbe Welt gegangen, und der Künstler

ven für schwer nachvollziehbare, mitunter

hat dieses Foto noch einmal verwendet für

auch irrationale Handlungen auseinander-

eine künstlerische Arbeit. Es ist auffällig,

gesetzt. Wie erklären Sie sich eine derar-

dass niemand Anstoß daran genommen

tige Reaktion vieler Leute im Fall dieses

hat, dass dieses Foto in den Zeitungen

Theaterskandals?

veröffentlicht wurde. Und erst zu dem

Robert Pfaller

Auf der ersten Ebene fällt mir

dazu ein ähnlicher Fall aus den USA ein.

Zeitpunkt, wo es auf der Ebene der Kunst auftaucht, hat das eine massenhafte Empö-


rung hervorgerufen. Bossart

Die Parallele passt verblüffend.

TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT 135

Variante des kitschigen „We are the world“-Liedes mit lokalen Musikern; und als dialektische Volte die „Ohne Dreck“-Initiative auf Basis des Originaltextes der Nürnberger Rassengesetze („die Schweiz den Blutschweizern“). Kein Zweifel: Hier wurde städtisches Leben zum Objekt und zum Tummelfeld der Kunst. Die skizzierten Entwicklungen und ein Beispiel wie die „City of Change“ verlangen nach angemessenen Denk- und Beobachtungsformen solcherart urbaner Kunst, wie sie in der Genregrenzen durchquerenden Rede von der performativen oder sozialen Wende der künstlerischen Praxis zum Ausdruck kommen.5 Wenn Stadtraum zur Experimentierzone der Kunst wird, dann können die sozialen und politischen Anliegen dieser Kunst nicht mehr einem außer-ästhetischen Milieu zugerechnet werden, das den ästhetischen Akt bloß legitimiert oder kompromittiert. Die Ausweitung der Kunst- und Theaterzone macht das Soziale und den öffentlichen Raum selbst zum Material und wird dementsprechend auf ihre Folgen für die Organisation und die Prozesse des städtischen Lebens hin beobachtet.6 Um einem aktuell sehr populären Denker das Wort zu geben, folgt daraus ein erweitertes Verständnis des Ästhetischen als Gefüge des Sichtbaren und Sagbaren oder mehr noch: der durch Kunst ausgelösten Verschiebungen dessen, was gesehen, erlebt und gesagt werden kann und wer dabei spricht.7 Es überrascht nicht, dass ein künstlerisches „doing work“ und „serious play“ im Sinne der Auseinandersetzung mit städtischem Leben8 insbesondere im Bereich der bildenden Kunst Streit provoziert. Entlang sattsam bekannter Unterscheidungen muss diese Kunst mit dem Vorwurf der Überbetonung von Lesbarkeit, Verständlichkeit und Funktionalität

Auseinandersetzung führen, Trauerarbeit leisten oder Faszinationsmomente bear-

Studenten der Universität St. Gallen haben

beiten kann. Man müsste aber die Gegner

im „St. Galler Tagblatt“ die Artikel gezählt,

dieses Theaterprojekts fragen, ob es ihnen

die sich in den letzten zehn Jahren mit

denn lieber wäre, wenn die Kunst solche

dem Lehrermord befassten. Sie kamen auf

Sachen ignorierte. Soll die Kunst nur von

einen Durchschnitt von ein bis zwei Artikel

unverbindlichen Themen handeln, die lan-

die Woche. Nie hat sich jemand darüber

ge vergessen oder weit weg sind?

aufgeregt.

Bossart

Pfaller

Ich glaube, dass in diesen Fällen die

In den Leser- und Drohbriefen sind

es vor allem zwei Positionen, die immer

Kunst selbst als ein Medium gesehen wird,

wiederholt werden. Zum einen die Identifi-

das zu Unrecht versucht, sich mit solchen

kation mit der Witwe des Lehrers, der man

Dingen zu befassen. Man sieht die Kunst

so etwas nicht zumuten will, und zum ande-

nicht als ein Terrain, auf dem man eine

ren der Vorwurf an den Künstler, er wolle


TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT 136

auf Kosten der hehren Kriterien der Unlesbarkeit, Unverständlichkeit und Unfunktionalität rechnen. Hier lauert die Gefahr des „Sozialkitsches“, der „Sozialpornografie“ oder der Vereinnahmung der Kunst durch Stadtplanung; adornitisch gesprochen droht die Kapitulation der Autonomie der Kunst vor der kruden Fremdbestimmung durch das immer schon korrumpierte Soziale. In diesem Sinne hat beispielsweise die Kunstkritikerin Claire Bishop9 Arbeiten der so genannten „relationalen Kunst“ einer scharfen Kritik unterzogen, und das ausgerechnet mit Rekurs auf Rancière – als ob es bei diesem nicht um das Hinterfragen der einseitigen Gültigkeit der angeführten Unterscheidungen selbst ginge, und um die Frage, wie Kunst im Einzelfall und unter jeweiligen Bedingungen neue Möglichkeiten des Sichtbaren und Sagbaren eröffnet.10 Doch soll mich diese kunstimmanente Debatte hier nicht kümmern. Wenn Milo Rau und das International Institute of Political Murder „in die Stadt“ gehen und das „City of Change“-Projekt darauf ausgerichtet ist, Reflexionen oder gar Veränderungen sozialer und sozialpolitischer Zusammenhänge anzustoßen, dann gilt es, außerhalb eines im engeren Sinne ästhetischen oder theatertheoretischen Diskurses das Verhältnis von künstlerischem Eingriff und städtischer Öffentlichkeit in den Blick zu nehmen. „City of Change“ – nomen est omen – war genau das: ein ernsthaftes Spiel, ein Eingriff in das Stadtleben und eine Arbeit am stadtpolitischen Diskurs. Vielleicht sogar: der Versuch der Schaffung einer Gegenöffentlichkeit, um einen inzwischen eher unpopulär gewordenen Begriff Alexander Kluges und Oskar Negts aufzugreifen. Michael Warners eindrückliche Studie zu „Publics and Counterpublics“11 versammelt eine Reihe von Befunden, die diesen Begriff der (Gegen-)Öffentlichkeit und

sich mit dem Leid anderer ins Rampenlicht

einer öffentlichen Auseinandersetzung

stellen. Sie haben in Ihrem Buch „Das

wird. Ich glaube, dass dies die postmoderne

schmutzige Heilige und die reine Vernunft“

Konstellation ist im Kampf um Öffentlich-

darauf hingewiesen, dass die einzige Figur,

keit. Da muss man auch sehr achtgeben,

die in einer narzisstischen Gesellschaft

was man da eigentlich den Opfern antut,

einen positiven Status hat, das erniedrigte

ob nicht diese Empfindsamkeit und diese

und wehrlose Opfer ist. Weil nur von ihm

seltsame Empathie ihnen gegenüber der

niemand sich in seiner Position bedroht

schlimmere Gewaltakt ist als das, was man

fühlen muss. Könnte auch hier etwas Ähnli-

ihnen ersparen möchte.

ches vorliegen? Pfaller

Der Eindruck besteht. Wir haben im

Bossart Pfaller

Inwiefern?

Ein typisches Beispiel ist das Verbot,

Moment oft die Situation, wo unter Rück-

über irgendwen böse Witze zu machen.

sichtnahme auf ein betroffenes Opfer ver-

Vor allem die Schwachen sollen davor ge-

hindert wird, dass etwas zum Gegenstand

schützt werden. Aber was macht uns so si-


TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT 137

seinen Bezug zu den St. Galler Zuständen im Sommer 2011 fassbarer machen. Erstens wird eine Öffentlichkeit performativ hervorgebracht; sie entsteht im Handeln und stellt sich selber her. Daraus ergibt sich eine tendenzielle Unplanbarkeit und Nicht-Vorhersehbarkeit der Eingriffe in das Soziale durch urbane Kunst. Ob und in welcher Form in St. Gallen oder sogar darüber hinaus eine öffentliche Debatte entsteht und wie sie verläuft, dürfte zu Beginn des Theaterintervention das große Fragezeichen gewesen sein. Zweitens bedarf die Emergenz einer Öffentlichkeit Beziehungen zwischen Fremden, die wir nicht im Vorhinein kennen. Drittens verläuft die Adressierung durch öffentliche Kommunikation somit sowohl persönlich als auch unpersönlich, sie richtet sich an uns und an andere: „I never speak to you without speaking to a thousand others“12 – man denke an die gebetsmühlenhafte Anrufung der St. Gallerinnen und St. Galler bzw. Schweizerinnen und Schweizer während des „City of Change“-Projektes. Viertens wird eine Öffentlichkeit hergestellt durch ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit durch ihre „Mitglieder“. Fünftens schafft sie einen sozialen Raum über die Zirkulation von Äußerungen, Schriften und Aktivitäten. Wenn mein Eindruck nicht täuschte, dann hat die „City of Change“ während ihrer Laufzeit in beiden Bereichen, der Gewinnung von „Aufmerksamen“ und der kontinuierlichen Verbreitung und Weitergabe von Botschaften, reüssiert. Sechstens hat dieser Zirkulationszusammenhang eine spezifische, „gebundene“ Zeitlichkeit – in diesem Fall: die Dauer der Intervention –, denn die Persistenz einer Öffentlichkeit ist abhängig von ihrer fortlaufenden Aktualisierung. Siebtens ist sie ein poetischer Akt der Welterzeugung mittels Stil, Inszenierung und Bildern.

cher, dass die Schwachen so schwach sind,

Auszug aus: „Die Kunst, den Schrecken zu ban-

dass sie nicht umgekehrt die noch schmut-

nen“, zuerst erschienen in: „Saiten“, Mai 2011.

zigeren Witze über die anderen machen? Eine solche Politik sie ganz im Gegenteil noch schwächer und legt sie darauf fest. Sie dürfen dann gar nicht Stärke zeigen, weil sie sonst Gefahr laufen, das „Privileg“ ihrer Schwäche zu verlieren. Dagegen würde ich festhalten, dass keine emanzipatorische Bewegung auf die Schwächen der Schwachen setzt, sondern darauf, dass sie stärker werden. Befreit sind wir nicht, wenn wir alle schwach sind, sondern wenn wir alle stark sind.


TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT 138

Wie die „City of Change“-Initiative demonstriert hat, geht es also nicht um das Verständnis des öffentlichen Raums als etwas, das immer schon da ist und bloß „gefüllt“ oder „erobert“ werden muss – als handele die urbane Kunst, um die es hier geht, von Verkehrsmanagement oder Stadtmöblierung und dem Abwerfen von „Plumpsskulpturen“. Städtische Öffentlichkeit wird jeweils hergestellt; sie ist das Aufeinandertreffen städtischer Vielfalt und öffentlicher Raum somit ein Ort des Streits und der Auseinandersetzung. Konflikt ist Rosalyn Deutsche zufolge nicht etwas, das einem ursprünglich oder potentiell harmonischen Stadtraum zustößt, sondern Stadtraum entsteht aus Konflikten. Öffentlichkeit, schreibt Oliver Marchart gewissermaßen in Zuspitzung der Thesen War­ ners, „wäre jenes ‚Band der Teilung’, das qua Konflikt verbindet“13. Kunst ist demzufolge nicht öffentlich, wenn sie „draußen“ stattfindet, sondern wenn sich durch sie vermittelt Öffentlichkeit konstituiert. Und der Skandal der Öffentlichkeit bezeichnet somit diese Öffnung und temporäre Neuordnung des Bestehenden, die mit einer Unterbrechung und Neuzusammensetzung der Arten und Weisen des Redens und Handelns einhergeht. Die Fragen, die sich hinsichtlich urbaner Kunst zu stellen lohnt, sind dann: Welche Effekte und Affekte lösen künstlerische Interventionen in der Produktion des Städtischen aus? Welche Ordnungen des Wahrnehmbaren und Sagbaren werden gestützt, konterkariert oder unterlaufen, welche Neuordnungen können entstehen? Gerne wird in solchen Fällen der Topos der künstlerischen Provokation bemüht. Doch „Provokation ist etwas für Doofe“, pflegte Christoph Schlingensief zu sagen. Es mag, siehe den Einsatz des Textes der Nürnberger Rassengesetze bei der „City of Change“, eine künstlerische Stra-


TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT 139

tegie unter anderen sein. Als Selbstzweck indes bleibt die Provokation unter den Möglichkeiten der Kunst, denn das Label erübrigt eine genauere Auseinandersetzung mit ihr. Es stellt eine bequeme Schublade bereit, in die Kunstaktionen abgelegt werden können, ohne dass man sich weiter mit ihnen beschäftigen muss. Solch ein „klassischer“ Aufruhr ergibt einen öffentlichen im Sinne von massenmedial vermittelten Skandal – es ist dann aber kein Skandal der Öffentlichkeit im hier skizzierten Sinne. Demgegenüber stellt das „City of Change“-Projekt, konzipiert als Antwort auf den St. Galler Theaterskandal, einen exemplarischen Fall für die Möglichkeiten urbaner Kunst dar. Es wurde als Irritationsmaschine konstruiert, die einerseits das ernsthafte Anliegen einer neuen demokratischen Verfassung und des Ausländerwahlrechts mit vielleicht sogar pädagogischem Impetus verfolgte. Andererseits wurden künstlerische Strategien der Überidentifikation (z. B. die Reden und das Auftreten der eingesetzten Stadtregierung, die Kitschigkeit der Darstellung), der Provokation (die totalitäre Ikonografie und Symbolik, die „Ohne Dreck“-Umfrage) sowie satirische und selbstironische Verfremdungen der institutionellen Politik eingesetzt. Man sieht hier meiner Lesart zufolge das Bemühen, die Eingriffe der Kunst nicht in den guten Absichten einer bequem gewordenen Linken aufgehen zu lassen, die selbstverständlich für die Ausweitung des Stimmrechts plädiert, ohne sich auf das abschüssige Gelände der von den Theatermachern als „demokratischen Exzess“ bezeichneten, fundamentalen Hinterfragung der etablierten demokratischen Verfahren einzulassen. Der Inhaber des Amts für Theorie der „City of Change“-Regierung, Rolf Bossart, hat in der Schweizer Wochenzeitung „WOZ“ während des Projektes in amtsgemäß hohen Worten darauf hin-

Das Moment der Freiheit

den Blutschweizern“ hinausläuft: Da haben

Daniel Cohn-Bendit

ganz normale Schweizer die Nürnberger Rassegesetze unterzeichnet. Aber diese

Ich glaube, Kunst kann ganz radikal

Mauern können gebrochen werden. Denn

bewusstseinsverändernd wirken. Oder

die gleichen Schweizer können auch dazu

Widersprüche so aufzeigen, dass die Leute

gebracht werden, eine Petition für die Ein-

hellhörig werden. Das glaube ich auf alle

führung des Ausländerstimmrechts zu un-

Fälle – nein, ich bin überzeugt davon. Ich

terstützen. Das ist, glaube ich, das, was die

bin überzeugt, und du hast das ja ganz klar

„City of Change“ gezeigt hat: das Moment

gezeigt mit deinem Projekt, dass die Men-

der Freiheit.

schen nicht in ihre Ideologien eingemauert sind. Sie sind ihnen normalerweise aus-

Auszug aus der Filmfassung von Milo Raus

geliefert, das ist klar, und das war ja das,

Sozialer Plastik „City of Change“.

worauf die Fake-Initiative „Die Schweiz


TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT

gewiesen, dass „die inszenierte Verunsicherung ein Akt der Aufklärung über die wahren Zustände“ ist. Es war so gesehen das Durchhalten der Ambivalenz zwischen politischer Mobilisierung und künstlerischer Irritation, die den Skandal der Öffentlichkeit am Laufen hielt.

140


Henri Lefebvre: „Right to the City“, in Henri Lefebvre: Writings on Cities, Oxford 1996, S. 61 – 183.

2

Rosalyn Deutsche: Evictions. Art and Spatial Politics, Cambridge 1996.

3

Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, Dijon-Quetigny 2002.

4

Nicolas Whybrow: Art and the City, London 2011, S. 26 (Hervorhebung im Original).

5

Vgl. Shannon Jackson: Social Works: Performing Art, Supporting Publics, London 2011.

6

Vgl. Timon Beyes, Sophie-Thérèse Krempl

und

Amelie Deuflhard (Hrsg.): Parcitypate: Art

and Urban Space, Zürich 2009. 7

Vgl. Jacques Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007.

8

Whybrow: Art and the City, a.a.O., S. 35.

9

Claire Bishop: „Antagonism and Relational Aesthetics“, in: „October“ 110 (Fall, 2004),

S. 51 – 79.

10

Vgl. Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, a.a.O.

11

Michael Warner: Publics and Counterpublics, New York 2002.

12

Ebd., S. 105.

13

Oliver Marchart: „There is a crack in everything, Public Art als politische Praxis“, in Christoph Schenker

und

TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT

1

Michael Hiltbrunner (Hrsg.): Kunst und Öffentlichkeit: Kriti-

sche Praxis der Kunst im Stadtraum Zürich, Zürich 2007, S. 235 – 244, hier: S. 240. (Hervorhebung im Original). Rolf Bossart: „Die Demokratie exzessiv betreiben“, in: „Die Wochenzeitung“ Nr. 20 vom 19. Mai 2011

141

14


TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT 142

Voilà, le pouvoir de nouveau innocent!

de la liberté auquel j’ai prêté ma langue;

Milo Rau

humain – ils ont consommés toutes mes

et l’éclat aveuglant d’un futur digne et forces.

St. Galloises et St. Gallois! Citoyens et Citoyennes! Regardez mon visage: il est pâle comme la neige.

Je l’avoue: J’ai douté de vous. Je vous ai criti-

Regardez mes yeux: il sont ternes comme

qué sans avoir bien fait votre connaissance.

le ciel d’automne.

Oui, je n’étais plus sur de l’amour Suisse

Ecoutez ma voix: elle n’a presque plus

pour la démocratie.

de force. Et oui: La lutte pour la démocratie que j’ai

Heureusement, je me suis trompé. Ce

menée pendant un mois; le cri intemporel

printemps 2011, vous avez fait preuve de


TIMON BEYES DER SKANDAL DER ÖFFENTLICHKEIT 143 toutes les vertus de la vraie Suisse: de la

régénérée! Voilà, le pouvoir de nouveau

grandeur de cœur; de la joie de jouer; et de

innocent!

la fraîcheur d’esprit. Gardez-les bien! Et n’oubliez jamais que Mais le temps d’haranguer est fini pour

la Suisse cesse d’exister au même moment

moi. Ma présidence touche à sa fin. Main-

qu’un seul de ses habitants perd sa voix. Et

tenant, le moment est venu de remettre le

que la seule chanson vraiment patriote est

pouvoir dans les mains du peuple. Que le

alors celle qui est chantée par nous tous.

printemps de la liberté soit suivi par son été éternel!

Letzte Rede des Interimspräsidenten der „City of Change“, St. Gallen, 3. Juni 2011.

St. Galloises et St. Gallois! Voilà, le peuple uni! Voilà, la démocratie


JÖRG SCHELLER

STAGE PRESENTS

144

THE DIRECTOR MILO RAU AND HIS THEATRICAL HYPERALLEGORIES


145

It is a truism that parliamentary debates or court proceedings are always also pieces of theatre. Reality theatre groups like Rimini Protokoll and cultural critics like Jean Baudrillard have helped raise awareness, within the cultural sector at least, of the aestheticization of public and private life, and of their gradual blurring. So when the Cologne-based Swiss director, writer and theorist Milo Rau stages or restages court cases with casts including ‚real’ public figures, as he has been doing for several​ years, his aim is certainly not to highlight the grey areas between reality and fiction. He has other concerns: ‚as I understand it, theatre is not an information medium, and it’s not an educational medium, it’s a medium for the present or, rather, for presenting the present.’ Born in Bern in 1977, Rau came to prominence with his reenactments of political events like the fall of the Ceauşescu regime in Romania in 1989 („Die letzten Tage der Ceauşescus“, The Last Days of the Ceauşescus, 2009/10) or a broadcast on the Rwandan Radio-Télévision Libre des Mille Collines whose bizarre hate propaganda helped trigger the genocide of 1994 („Hate Radio“, 2011/12). In March 2013, this was followed by the staging of a court case at the Sakharov Centre in Moscow with participants including Pussy Riot member Yekaterina Samutsevich and staunchly conservative journalist Maxim Shevchenko. The subject of the proceedings was freedom of speech in Putin’s Russia. In all of these performances, Rau’s message is that conflicts are never past. They are endlessly present; eternally returning. When jaded Europeans think they can withdraw to a post-historical comfort zone, they devote themselves to a state once fittingly described by the philosopher Leszek Kołakowski as a ‚culture of analgesics’ in the ‚cosy atmosphere of


JÖRG SCHELLER STAGE PRESENTS 146

Möglicherweise bin ich im Unrecht

Anfang des letzten Jahrhunderts verwen-

Valentin Groebner / Milo Rau

Titel „The Idea of History“ trägt, nimmt

det. In einem Werk, das den hübschen er als Beispiel Cäsars Übergang über den

Milo Rau

Sprechen wir über einen Begriff:

Rubikon. Collingwood unterscheidet dabei

„Reenactment“. Sprechen wir über diese ei-

zwischen einem äußeren, sichtbaren, auf-

gentlich so primitive ästhetische Form, die

findbaren und einem inneren, zeichenhaf-

darin besteht, dass man ein Ereignis ma-

ten Körper dieses Ereignisses. Der äußere

teriell nachbaut, es detektivisch erforscht

Körper, also der Rubikon selbst, ist natür-

und rekonstruiert, um es zu verstehen. In

lich materiell – eine Menge von Wasser, da-

methodologischem Zusammenhang wird,

rin ein Pferd und darauf sitzend ein Mann

soweit ich weiß, der Begriff „Reenactment“

namens Julius Cäsar. Die innere Wahrheit

zum ersten Mal vom britischen Archäo-

dieses Durchgangs durch einen Fluss aber

logen und Historiker R. G. Collingwood

ist unkörperlich, sie ist geistig, wie Colling-


JÖRG SCHELLER STAGE PRESENTS 147 wood sagen würde. Die Überschreitung des

che nach Zeugnissen, nach Überbleibseln,

Rubikon ist eine ungeheure Provokation,

nach Zeugen, deshalb diese so umständli-

die zum Bürgerkrieg und schließlich zum

che und pedantische Rekonstruktion eines

Zusammenbruch der römischen Republik

völlig äußerlichen Vorgangs, dieses Hin-

geführt hat. In einem primitiven semioti-

einversetzen in die Gedanken eines toten

schen Modell könnte man dies die Appel-

Diktators: nicht um Cäsar zu verstehen,

lations-Ebene nennen. Das, was eine Szene

sondern um zu verstehen, wie die römische

hervorruft, als wäre sie selbst ein histori-

Republik zusammengebrochen ist, wie

scher Akteur.

Geschichte funktioniert. Um diese dialekti-

Valentin Groebner Rau

Ja.

Collingwood gibt nun dem Historiker,

sche Überwindung des positiven Materials zu legitimieren, vollführt Collingwood in

der mit der Methode des Reenactments

einem späteren Kapitel von „The Idea of

arbeitet, diese appellative Wahrheit als

History“ eine Art hegelianischen Stunt. Er

eigentliches Ziel vor. Deshalb die ganze Su-

erklärt dort, dass die Aussagen der Zeugen,


JÖRG SCHELLER STAGE PRESENTS 148 dass die bei der Recherche vorgefundenen

Geschichte schreibt sich in ihrem Nachvoll-

Zeugnisse und Spuren überhaupt erst in

zug, im Reenactment.

der Rekonstruktion des Historikers – dieses

Groebner

Detektivs des Vergangenen – ihre innere

aber so, als wäre er selbst immer schon in

Bedeutung entfalten. Denn erstens können

Sicherheit. Er weiß, was jedes Ereignis be-

Zeugen sich irren, sie können lügen. Und

deutet haben wird – und diese Figur eines

zweitens ist vor der Rekonstruktion eines

Historikers ist natürlich ebenfalls Fiktion.

Ereignisses ohnehin unklar, welches die

Wie auch nicht? Es hat ja einen sehr guten

Kontexte sind, in denen die Einzelteile die-

Grund, warum Flussüberquerungen immer

ses Ereignisses nachher Bedeutung erhal-

schon stilisiert worden sind zur Grundform

ten werden. Die Zeichen sind verstreut, wie

historischer Ereignisse und historischer

Derrida gesagt hätte. Oder anders ausge-

Erkenntnis. Collingwoods Rubikon ist

drückt: Die Geschichte hat keinen Autor,

Metapher für den unaufhaltsamen, gleich-

der Autor ist der Historiker selbst. Die

mäßigen Strom der Zeit, der gequert und

Ja, genau. Nun tut Collingwood


JÖRG SCHELLER STAGE PRESENTS

„DIE ZÜRCHER PROZESSE“ In May this year, Rau took on the Swiss magazine „Die Weltwoche“, stag­ ing a show trial at Zurich’s Theater Neumarkt, „Die Zürcher Prozesse“ (The Zurich Process, 2013), on the following charges as listed in Switzerland’s criminal code: §258: scaring the population; §261: racial discrimination; §275: attack on the constitutional order. Since 2001, under editor Roger Köppel, „Die Weltwoche“ has been pursuing a controversial far-right approach, not stopping at the use of demagogical means – in particular its front page images. These have included a Romany child threateningly pointing a pistol into the camera, and a defamation of the (admittedly obscure) Biel-based Islamist Nicolas Blancho as ‚Bin Laden in Biel’. More than 30 public figures from Switzerland and abroad took part in the trial: writers, politicians, lawyers, publishers, academics, ordinary citizens. And Rau’s aim ‚to highlight the central lines of conflict in our society over the past decade’ was actually achieved. As he put it: ‚the Die Weltwoche is a pretext to think about Switzerland’. The cracks in the

149

harmony that always prevails where no one has any concerns’. The target of Rau’s endeavours is precisely the hypocrisy displayed by the advo­ cates of political correctness who ignore centres of conflict until they go up in flames. His choice of theatre to criticize such false harmony makes sense. Hegel called theatre an ‚art of performance’ and a ‚real and present action’ in which ‚execution’ outshines representation. As such, Rau’s productions can be described in terms of ‚creating striking present’ (Martin Seel) or ‚producing events of emergence’ (Hans Ulrich Gumbrecht).

stillgestellt wird von einer einzigen Person.

das Pathos von „The Idea of History“, das

Doch diese berühmten historischen Tab-

lässt uns Collingwoods Wunsch nach der

leaux vivants – Cäsar überschreitet den Rubi-

totalen Rekonstruktion eines historischen

kon, George Washington den Potomac – sind

Tatvorgangs heute schwierig erscheinen.

ihrerseits schon Inszenierungen, das sind

Heutige Historiker sind sehr viel vorsichti-

selbst schon Rekonstruktionen, Nacher-

ger in ihren Urteilen, und das einfach des-

zählungen. Es ist ja der Rhetoriker Cäsar

halb, weil sie ihren Derrida gelesen haben.

selbst, der die Rubikon-Episode nachher

Und auch wenn sie ihn nicht gelesen haben:

herausgreifen, niederschreiben und als

Die Zuschreibung von Bedeutung anhand

Auslöser für Dinge nehmen wird, die später

zugespitzter historischer Ereignisse ist uns

geschehen. Kurzum: Wir kommen aus dem

als narrativer Modus nur allzu vertraut

beweglichen Modus des erzählten Hinter-

geworden. Das Reden über das Historische,

her nicht heraus, ob der Erzähler nun Cä-

über den historischen Moment kommt uns

sar oder Collingwood ist. Und das lässt uns

heute sehr viel problematischer vor, zum


JÖRG SCHELLER STAGE PRESENTS

notion of bucolic ‚Swissness’ were clearly visible. At one point, Blancho compared Köppel with Joseph Goebbels, proving his ability to match „Die Weltwoche“ where populism is concerned. And Daniel Zingg, represent­ ing the Christian lobby group „Gegen die strategische Islamisierung der Schweiz“ (Against the Strategic Islamization of Switzerland), made generous use of platitudes, as when he reduced Christianity to the gospels’ message of love and Islam to bellicose political rhetoric. For the defence, the controversial lawyer Valentin Landmann gave a particularly distinguished performance. For the prosecution, Marc Spescha from the leftwing camp was unable to score many points. And so, unsurprisingly, the jury returned a verdict of not guilty.

150

TO PRESENT THE PRESENT Rau’s mission, then, is to present the present or the recent past whose effects are still being felt. This presenting of the present implies that it is not sufficiently present to us; that it merely passes us by and therefore must be exemplified and explicated. Rau wants to shake up a media culture in which provocation has become a narcotic commodity and in which the injection of the real into art – previously considered avant-garde – has been taken over by the rise of reality TV. This sounds like a classically leftwing position, and in a recent interview Rau described himself as ‚much more left-wing than most on the left in terms of my willingness to fight’. To date, Rau is not known to have engaged in any forms of combat outside the arenas of art and discourse. He may cultivate a gruff image with full beard and leather jacket, he may have founded a production company called International Institute of Political Murder, but his sphere

Beispiel, wenn wir an 1989 denken. Rau

An die „Wende“, diesen einen großen

Bedeutungszusammenhang. Groebner

Ja, die Problematik eines Redens

haben wir dies oder jenes zu verstehen. Da wurden pausenlos Rubikons durchquert, die Bedeutung stand immer schon von vornherein fest. Historisieren, wirkliches

über die „Wende“ und den geschichtlichen

Historisieren dagegen würde heißen, ver-

Moment zeigt uns schon eine kurze Lektüre

schiedene mögliche Ergebnisse eines Ereig-

der „Bild“-Zeitung, dieses großen Organs

nisses – eingeschlossen jene, die niemand

hegelianischer Geschichtsphilosophie. Von

intendiert hat – zu analysieren. Natürlich,

September 1989 bis Februar 1990 wurde in

der hegelianische Historiker sagt: Ich

der „Bild“-Zeitung ständig von dem Histo-

bin auch kein Autor, ich bin auch nur ein

rischen mit ganz großem „H“ geschrieben,

Beobachter. Aber das ist nur ein narrativer

und dies immer in der Optik eingeschränk-

Trick. Woher weiß dieser Historiker denn,

ter Handlungsoptionen: Das alles ist schon

wann ein Zeuge lügt, was eine Spur eigent-

geschehen, in diesem Zusammenhang

lich meint, wann Geschichte gemacht wird


JÖRG SCHELLER STAGE PRESENTS

of action is confined to the sheltered realms of the stage and of discourse. Instead of direct agitation, he privileges procedures that might boldly be termed ‚theatrical hyper-assemblage’ or ‚theatrical hyper-allegory’. Artists like Kurt Schwitters once took found fragments from the totality of everyday reality, mounting them on pictures and thus removing them from their usual contexts of meaning and function. Contrasting it with symbols, which promote unity, Walter Benjamin referred to this principle as ‚allegory’. Rau removes found fragments of contemporary history from their media contexts, dramatizing and focusing them on the stage. This is done not with the aim of attributing new meaning to any given fragment, but, on the contrary, in order to make them accessible again in their specific, contemporary context that is drowned out by the everyday hullabaloo of the media. ‚Where waffle was, discourse there shall be’ to borrow Freud’s addage. Ultimately, Rau’s productions are affirmative forms of what Baudrillard analyzed in negative terms as ‚hyperreality’. Rau seems to believe that to realize reality properly, and especially media reality, it needs to be re-staged.

151

First published in: frieze d/e, Nr. 10, June/August 2013.

und wann nicht? Was die „Bild“-Zeitung

einer vollständigen, einer sinnerfüllten

oder Collingwood ausblenden, ist der eige-

Rekonstruktion, die über alle Kontingenz

ne Standpunkt.

größenwahnsinnig hinweggeht, ist ja eher

Rau

Das stimmt. Aber Collingwood ist ja ehr-

eine Pascalsche Wette. Der Archäologe

lich, er sieht diese Problematik ja auch. Er

Collingwood, dieser gelernte Pedant und

sagt, wenn auch bloß implizit: Möglicher-

Spurensucher, sagt: „Es gibt Geschichte,

weise erzähle ich Blödsinn, möglicherweise

Geschichtsschreibung ist möglich.“ So

bin ich im Unrecht, möglicherweise gibt es

wie der Logiker Pascal gegen alle logische

die Geschichte gar nicht, sondern nur eine

Gewissheit gesagt hat: „Es gibt Gott, die

kontingente Fülle von Überbleibseln und

Erlösung ist möglich.“

Aktivismen. Aber diese Sichtweise scheint ihn, und hier ist er eben Hegelianer, nicht

Auszug aus einem Telefongespräch mit Valen-

zu interessieren. Sein methodologischer

tin Groebner, geführt in Bukarest im Dezember

Stunt des Reenactments, diese Behauptung

2009.


DIRK PILZ

SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR 152

BREIVIKS REDE AUF DER BÃœHNE


KOMMUNIKATIONSLOCH Einen Tag vor der Erstaufführung von „Breiviks Erklärung“ entschied sich das Deutsche Nationaltheater Weimar, diesen Abend nicht im Theater stattfinden zu lassen. Man wolle sich von den Aussagen Breiviks „distanzieren“. Der geschäftsführende Direktor und Interimsintendant Thomas Schmidt erklärte mir am Telefon, er habe nicht gewusst, dass Milo Rau den Breivik-Text auf die Bühne bringe; die Konferenz sei unter dem Titel „Moskauer Prozesse“ angekündigt gewesen. Das ist richtig, denn

153

In Weimar wird die Rede des Massenmörders Breivik auf der Bühne verlesen. Ein Lehrstück über Politik. Vergangenes Wochenende ist es in Weimar zu einem Skandal gekommen. Das ist schön, denn solchen Skandalen ist zu danken, dass mit ihnen kenntlich wird, was man Zeitgeist nennt, nämlich die unausgesprochenen Übereinkünfte, die eine Zeit mit ihren Genossen teilt. Der Regisseur Milo Rau hat am Nationaltheater Weimar einen szenischen Kongress unter dem Titel „Power and Dissent“ kuratiert. In Vorträgen und Gesprächen ging es um die Frage, wie sich staatliche Macht manifestiert, wie sich Kunst und Dissidenz zueinander verhalten und was es heute heißt, politische Strategien in der Ästhetik zu verfolgen. Einen Schwerpunkt bildete der Große Terror unter Stalin in Russland und die jüngsten Prozesse gegen die Punk-Band Pussy Riot. In diesem Rahmen kam es auch zur Uraufführung von „Breiviks Erklärung“, einer Theaterlesung jener Rede des 77-fachen Mörders Anders B. Breivik, die er am 17. April 2012 vor dem Osloer Gericht gehalten hat. Die Schauspielerin Sascha Ö. Soydan sprach den Text.


DIRK PILZ SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR

das Weimarer Wochenende gehört zu einem größeren szenisch-wissenschaftlichen Unterfangen, das in Moskau und Bern fortgeführt wird. Das Vorhaben jedoch, „Breiviks Erklärung“ am ersten Konferenztag im E-Werk, der Außenspielstätte des Nationaltheaters, zu zeigen, ist seit Monaten bekannt. Milo Rau hat vor vier Wochen im Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ ausführlich darüber Auskunft gegeben. Darauf angesprochen, sagte Schmidt am Telefon, es habe ein „Kommunikationsloch“ im Haus gegeben. Das ist entweder schlecht gelogen oder Eingeständnis von Ahnungslosigkeit über den Spielplan am eigenen Haus. Putzig. Skandalös ist aber, dass dieser Interimsleiter glaubt, über einen Theaterabend urteilen zu können, ohne auch nur eine Probe oder die Premiere gesehen zu haben. Dass er den Text schon für das Theater hält. Die Ahnungslosigkeit paart sich hier mit der Angst vor der Kraft, die Breiviks Text auf einer Bühne gewinnen und die Debatte, die das Theater auslösen kann. Nicht von Breivik distanziert man sich damit, sondern von der Kunst. Das ist eine Praxis, die den Älteren in Weimar aus dem vergangenen Jahrhundert bekannt ist: Sie entstammt einer Ideologie, die zu wissen vorgibt, wie gelungene Kunst zu sein und was sie zu dürfen hat. Aus einer Zeit, die nichts so sehr fürchtete wie ergebnisoffene Debatten über ihre politischen Voraussetzungen.

154

KRITISCHE DISTANZ HERSTELLEN Und genau dies geschieht mit „Breiviks Erklärung“. Kurzfristig verlegt in ein benachbartes Kino, war Soydan an einem Pult vor einer Lamellenwand zu erleben, wie sie betont sachlich, mit Pausen, Wasserflasche und

Wir zeigen lieber den „Figaro“ noch mal

früh ist, sich mit ihm als Mensch und mit

Frank Meyer / Milo Rau

immer länger –, es ist aber drängend, sich

seiner Tat zu befassen – das dauert wohl mit seiner Ideologie zu befassen.

Frank Meyer

Sie lassen Breiviks Gerichtsrede

Meyer Und

es gibt diesen Text und sonst

lesen von einer deutsch-türkischen Schau-

nichts, es gibt keine Zusätze, keine Einord-

spielerin, einer Frau, einer Deutsch-Türkin,

nungen, keine anderen Texte? Man könnte

auch um da noch einmal eine Distanzie-

sich ja vieles dazu vorstellen – es gibt nur

rung hineinzubringen?

den nackten Text?

Milo Rau

Genau, zum einen, um eine Distan-

Rau

Bevor es jetzt ins Lichthauskino ver-

zierung hineinzubringen, zum anderen,

schoben wurde, gab es vorher und nachher

weil ich von Breivik weg will, mich inter-

noch Texteinspielungen und es war vom

essiert dieser Mensch in diesem Moment

Sounddesign her vielleicht ein bisschen

nicht. Ich bin der Meinung, dass es noch zu

aufwendiger, aber im Kern ist das tatsäch-


DIRK PILZ SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR

DIE GEWÖHNLICHSTE TÄUSCHUNG Es ist folglich, als wende Rau auf das Theater an, was Hegel als die „gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer“ bezeichnet hat, nämlich „beim Erkennen etwas als bekannt voraus zu setzen, und es sich

lich nur die Verlesung eines Textes. Mehr

Breivik geschrieben, natürlich wurde er

nicht.

bis in den letzten Winkel analysiert, doch

Meyer

Es gab schon am Montag eine An-

155

Kaugummi im Mund, Breiviks Rede verlas. Eine Kamera nahm sie auf, die Leinwand neben ihr zeigte das Gesicht in Großaufnahme. Alles ist überdeutlich darauf angelegt, dass es zu keiner Verwechslung von Soydan mit Breivik kommt. Der Massenmörder wird nicht dämonisiert und nicht erklärt. Dieser Abend nimmt Breivik – anders als vielfach in den Medien – auch nicht als Symptom für eine politische Stimmungslage. Milo Rau stellt nur den Text aus. Aber was heißt schon nur. Es ist in ihm vom „Multikulturalismus als Hass-Ideologie“ die Rede, von „indigenen Ureinwohnern“, die durch das „multikulturelle Projekt in Europa“ verdrängt würden, ohne dass die Menschen gefragt wurden. Breivik spricht vom „verlorenen Glauben an die Demokratie“ und dem Verlust der Meinungsfreiheit. Rasch erkennt man, dass die Argumente des Textes ein geschlossenes Denksystem bedienen, das einer strengen rassistischen Logik folgt. Vieles ist faktisch falsch, vieles verdreht. Aber erst durch diese Theaterlesung wird hörbar, dass der Text ressentimentgeladene Elemente zu einem Konvolut kombiniert, das auf große Zustimmung spekuliert – der Topos von der „Fremdheit im eigenen Land“ etwa ist weit verbreitet, die Rede vom Glaubensverlust an die Demokratie fast Allgemeingut. Erst die Verlegung der Rede auf die Bühne ermöglicht es, zu diesen bekannten Befunden kritische Distanz herzustellen.

indem ein Schauspieler es auf sich nimmt,

ders-Breivik-Premiere in einem anderen

Breiviks Psyche zu erforschen, kommt

Theater in Kopenhagen. Der Regisseur

man dieser Tragödie sehr viel näher, als es

Christian Lollike hat dort Auszüge aus

jede Lektüre je ermöglicht.“ Wenn ich Sie

dem Manifest, diesem über 1000-seitigen

richtig verstanden habe, Milo Rau, wollen

Text von Anders Breivik, auf die Bühne

Sie genau das nicht – Anders Breivik ver-

gebracht. Und warum er, dieser dänische

körpern, irgendwie dem Monster näher-

Regisseur, diese Texte ins Theater bringen

kommen, sondern Sie wollen nur auf seine

wollte, das hat er hier bei uns im Pro-

Ideologie, nur auf seine Ideen schauen.

gramm so begründet: „Auf der Bühne steht

Rau

ein Körper und alles wird extrem kon-

das Gegenteil von Lollike. Im Gegensatz

kret. Natürlich wurde unendlich viel über

zu ihm ist es ja auch keine Dramatisierung

Genau, ich mache in gewisser Hinsicht


DIRK PILZ SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR 156 eines Textes, sondern es ist tatsächlich die

dann würde jedenfalls der Mythos, den sie

Verlesung eines Textes. Das hat damit zu

sich vielleicht um Breivik gebaut haben,

tun, dass ich vielleicht auf was anderes hi-

ziemlich erschüttert werden. Sobald sie

nauswill, mir geht es nicht um die Psycho-

wirklich hören, was er sagt, würde es

logisierung, sondern tatsächlich um eine

schwierig sein, hinterher noch dazu stehen

Analyse. Ich finde Lollikes Ansatz genauso

zu können. Ich wäre daran interessiert,

interessant, es ist aber ein ganz anderer

kann es mir aber kaum vorstellen, weil – in

Zugriff.

gewisser Hinsicht bedauerlicherweise –

Meyer

Und was machen Sie eigentlich, wenn

diese Kreise natürlich total getrennt sind.

jetzt Rechtsextreme in Ihre Vorstellung

Da wären wir eigentlich bei der Frage,

stürmen und da begeistert Beifall klat-

warum plötzlich das Deutsche Nationalthe-

schen würden?

ater sagt, das ist uns zu politisch, uns damit

Rau

Keine Ahnung. Also wenn sie sich dem

aussetzen würden, dieser kompletten Rede,

zu befassen. Wir zeigen lieber den „Figaro“ noch mal.


DIRK PILZ SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR 157 treme mit dem Text befassen?“, zuerst ausge-

Wir sind Körper, durchströmt von Ideologie

strahlt auf „Deutschlandradio“ am 19. Oktober

Rolf Bossart / Milo Rau

Auszug aus: „Warum sollen sich nur Rechtsex-

2012. Rolf Bossart

Die eigentlich verwirrendste Er-

fahrung an Breiviks Erklärung vor Gericht ist ja, dass man sich bewusst wird, dass die Ideologie, die darin vertreten wird, von vielen, von einer Mehrheit geteilt wird. Dass also das, was man in den Kommentaren auf sein 1500-seitiges Manifest als inkonsistentes Copy-Paste-Manöver eines asozialen Internetjunkies und Psychopathen abgetan hat, im Grunde eine ganz rationale und von


DIRK PILZ SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR 158

ebenso gefallen zu lassen“. Milo Rau nimmt den Text Breiviks ernst, nicht, um Breivik, den Menschen, besser zu verstehen, sondern um die Worte Breiviks vom medialen Breivik-Bild zu lösen und so der Kritik zuzuführen. Um zur Widerrede, also zum Denken herauszufordern. Das ist Provokation im Wortsinne: Herausforderung zum Einspruch, zur politischen Auseinandersetzung. Man wird Ideologien wie jene von Breivik nicht los, indem man ihre Anhänger zu Wahnsinnigen erklärt. „Man kann nur dann etwas abarbeiten, wenn man es auch benutzt“, hat Christoph Schlingensief gesagt. Das ist auch Milo Raus Strategie, oder Hoffnung: Abarbeiten durch Auseinandersetzung. Deshalb ist der Kontext dieser Lesung wichtig, die Konferenz. So gewinnt der Abend noch an Sprengkraft. Sie erforschte, wie Politik Ordnungen stiftet, sei’s durch Gewalt oder durch Gesetz. Der russische Philosoph Michail Ryklin sprach etwa davon, dass das System Putin die Fortsetzung des Systems Stalin mit anderen Mitteln sei. Der Sozialpsychologe Harald Welzer wies darauf hin, dass Gewalt Ordnung schafft. Wer sie als Ausgeburt von Verrückten begreift, nicht den historischen Referenzraum einzelner Taten und Texte beachtet, hat ihren politischen Kern verfehlt. Ihre Gefahren, ihre Attraktivität. Das hieße, Moral mit Politik zu verwechseln. Für diese zeitgeistige Verkleinerung des Politischen, die Verwechslung von Moral und Politik, ist der Fall Breivik beispielhaft. Und das macht Breivik gefährlich. Das Theater hat in Weimar deshalb getan, was nur Kunst kann: dem Zeitgeist den Boden unter den Füßen weggezogen. Vielen Dank.

vielen vertretene Weltanschauung ist.

voreingenommenheit schafft und diese 20

Das habe ich bereits am Anfang

Seiten, die Breivik selber für die Gerichts-

Milo Rau

meiner Beschäftigung mit der Figur „Brei-

verhandlung herstellt und dann nochmals

vik“ bemerkt: Es kann nicht darum gehen,

auf 13 Seiten kürzt, einfach vorliest. Denn

den 1001 Versionen von Breivik noch eine

diese 13 Seiten sind nicht unser, sondern

weitere, vielleicht künstlerisch oder intel-

Breiviks Best-of, es ist kein dramatischer

lektuell überzeugendere hinzuzufügen.

Text, sondern ein politischer Akt in Rein-

Es besteht ein Unterschied, ob man einen

form. Es ist die Art und Weise, wie Breivik

dramatischen Menschen bastelt, einen

verstanden, wie er zusammengefasst, wie

eiskalten Himmler, oder einen Breivik

er gehört sein will. Es ist der Breivik aus

mit psychotisch starrem Lächeln und ihn

erster Hand, und es zeigt ihn als einen ganz

der staunenden Menge vorführt – oder ob

rational denkenden Menschen ohne jede

man, wie wir es versuchen, eine neue, eine

Schizophrenie.

natürlich nicht weniger artifizielle Un-

Bossart Es gibt aber auch Widersprüche darin.


DIRK PILZ SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR 159

Der Text erschien im Anschluss an die Uraufführung von „Breiviks Erklärung“ in Weimar in der „Frankfurter Rundschau“ vom 21. Oktober 2012.

Rau

Natürlich. Aber bekanntlich kann man

sches hat. Natürlich sind seine Voraussa-

jede politische Haltung aufgrund ihrer

gen von einem kommenden europäischen

inneren Widersprüche dekonstruieren,

Bürgerkrieg zwischen der islamischen und

indem man sie auf ihr imaginäres Kraftfeld

der christlichen Zivilisation lächerlich.

hin durchsichtig macht. Das machtvolle,

Natürlich lässt sich seine Behauptung, dass

männliche, in sich ruhende Europa, das

der Islam in sich aggressiv ist und unfähig

Breivik „retten“ will, hat nie existiert,

zur friedlichen Koexistenz, problemlos

und falls doch, so kann man natürlich nur

widerlegen. Aber es gibt auch Beispiele,

unendlich dankbar sein, dass es im end-

die dafür sprechen, und weil das, was er

gültigen Verschwinden begriffen ist. Aber

sagt, weder einer gewissen empirischen

es bleibt unter dem Strich doch der Fakt,

Basis noch, was viel entscheidender ist,

dass man seine Rede als politischen Akt

einer gewaltigen öffentlichen Zustimmung

ernst nehmen muss, dass die Dinge, die er

entbehrt, geht seine Rede auch weit über

benennt, real sind, was etwas Traumati-

eine nachträgliche Rechtfertigung hinaus.


DIRK PILZ SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR 160 Wie gesagt: Diese Rede ist common sense,

es der Holocaust oder „nur“ die Toten von

sie ist wie Himmlers Posener Rede nicht

Oslo und Utoya, ist das letztlich verständlich.

die Ausnahme, sondern der Ausdruck der

Rau

„normalen“ Geisteshaltung einer Epoche.

des Bösen verhindert aber die Auseinan-

Wir lauschen hier einer Rhetorik und ei-

dersetzung mit der dahinter verborgenen

nem Argumentarium, mit der zum Beispiel

Ideologie. Die Trumpfkarte des Irrationa-

in der Schweiz jedes Jahr Abstimmungen

lismus sticht natürlich schneller als die

gewonnen werden.

der ernsthaften Auseinandersetzung, die ja

Bossart

Die Verschiebung von rationalen

Die damit verbundene Personalisierung

deshalb so unangenehm ist, weil sie immer

Motiven und Rechtfertigungen ins Psy-

unter der Prämisse stattfinden muss, dass

chopathologische und ins Irrationale ist

der andere auch recht haben könnte.

zumindest seit dem Nationalsozialismus

Bossart

eine übliche Praxis der Abwehr des Bösen.

nach dem Sinn, dem Bösen auf der Bühne

Angesichts des Schreckens der Taten, seien

Raum zu geben, nochmals anders.

Gerade dann stellt sich die Frage


DIRK PILZ SKANDAL UM THEATERLESUNG IN WEIMAR 161 Rau

Ja. Denn „das Böse“ ist nicht dieser

wieder wiederhole, meine ganze Arbeit der

Mensch mit seinem Namen, sondern für

Überwindung der Postmoderne gewidmet

Breivik gilt in natürlich sehr gesteigertem

ist, trifft das einfach zu. Die Struktur ist

Maße, was im Prinzip für uns alle gilt: Wir

vorher da, und das Körperliche, das Psychi-

sind Körper, durchströmt von Ideologie.

sche, das Personale ist nur eine Bedingung

Louis Althusser sagte: „Die Ideologie ruft

dafür, eben Sigmund Freuds Wunderblock,

uns als Individuen an.“ Das bedeutet: Ideo-

in den sich dies oder das einschreiben und

logie ist nichts Abstraktes, sie ist immer

auch wieder ausgelöscht werden kann.

existenziell, d. h., wir werden erst subjektiviert und zu Menschen durch einen Text, in

Auszug aus: „Das offene Geheimnis. Breivik auf

den wir uns einschreiben, eine Argumenta-

der Bühne“, zuerst erschienen auf www.althus-

tionskette, eine „Meinung“ von uns und den

sers-haende.org am 22. August 2012.

anderen. Und obwohl das natürlich albern postmodern klingt und, wie ich ja immer


MILO RAU

162

DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN


163

Im Sommer 1997 reiste ich zwei Monate lang durch die von der „EZLN – Ejército Zapatista de Liberación Nacional“ besetzten Gebiete Südmexikos und sprach dort mit Bauern, Studenten, Rebellen und Soldaten. Eines Nachts brachte uns ein Junge zu Comandante Tacho, einem der Anführer der Zapatisten. Der Comandante saß auf einem kleinen Regiestühlchen in einer Waldlichtung, und wie er so da saß, hätte man ihn für ein ziemlich smoothes Reenactment von VALIE EXPORTs Performance „Aktionshose. Genitalpanik“ halten können: Die Beine nicht breiter geöffnet als nötig, das Maschinengewehr schräg über die Knie gelegt, das Gesicht unter einer pasamontana versteckt und den Kopf leicht vorgeneigt, sagte er mir zur Begrüßung: „Du siehst, die Revolution hat tatsächlich stattgefunden.“ Dann sprachen wir drei Stunden lang über Selbstverwaltung, über medizinische Versorgung, über Kaffeepreise und das Alkoholverbot in den autonomen Gebieten. Plötzlich entschuldigte sich Tacho: Er müsse jetzt los, er würde sonst die Ergebnisse der nordamerikanischen Baseballliga im Radio verpassen. Leicht hinkend verschwand er im lakandonischen Urwald. Auf dieser Reise las ich – wie damals jeder 20-Jährige, der sich in irgendeiner Weise als „Linker“ verstand – die Schriften des Subcomandante Marcos, einem (wie die mexikanische Regierung verbreitete) marxistischen Philosophieprofessor, der in den 1980ern in die Wälder Südmexikos abgetaucht war. Eine eher irreführende Information: Denn der EZLN trug zwar den roten Stern im Banner, doch von professoralem Marxismus war in Marcos' Schriften wenig zu spüren. Es gab kein abstraktes revolutionäres Subjekt, es gab auch keine „objektiven Bedingungen“, sondern nichts als die aktivistisch (und poetisch) zu politischen Forde-


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 164

rungen vergrößerte Alltagsrealität einer sehr partikularen Position: die der indigenas des lakandonischen Urwalds. Ein halbes Jahrzehnt nach dem Untergang des Ostblocks, als niemand mehr bereit war, das Proletariat oder sonst eine Klasse zu spielen, riefen die Zapatisten das basisdemokratische Do-it-yourself aus und ernannten sich selbst zur Elite eines universalen Kampfes gegen die Auswüchse des Kapitalismus – universal gerade wegen der Partikularität, wegen ihrem „Hier stehen wir, wir können nicht anders“. Was mich aber am meisten beeindruckte – so scheint es mir immerhin im Rückblick –, das war die Paarung aus lokaler Realpolitik und medial verstärkter Weltumarmung: das untrügliche Gespür der Zapatisten für Ort, Zeitpunkt und Rhetorik einer gelingenden politischen Intervention. Die militärische Erhebung des EZLN fand nicht zu einem militärisch, sondern einem medial idealen Zeitpunkt statt, nämlich am Tag des Inkrafttretens des nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Die „interga­ laktischen“ Kongresse im Urwald waren immer und vor allem auch eine gute Show. Und die marchas auf Mexico City in den folgenden Jahren weckten nicht nur die mexikanische Zivilgesellschaft aus ihrer neoliberalen Mittagsschläfchen, sondern zitierten (oder, wenn man so will, reenacteten) in sehr vieldeutiger Weise die klassischen Märsche der überlieferten Geschichte: von den Märschen der großen römischen Feldherren auf Rom bis hin zu Martin Luther Kings Marsch auf Washington, ohne dabei (jedenfalls nicht für einen europäischen Beobachter) Mussolini völlig beiseitezulassen. Einige Kommentatoren bezeichneten das als „postmodern“, doch es war letztlich gerade die Authentizitätssehnsucht postmoderner Minoritätenpolitik, die besonders hart rangenommen wurde von

Eine andere Währung des Glücks

kommt Lenin wieder ins Spiel: der volun-

Milo Rau

taristische Lenin von „Was tun?“ (1902) und den „Aprilthesen“ (1917), aber auch

Im Marketing heißt es bekanntlich streng

der Lenin des völlig gegensätzlichen Buchs

nach Hegels „umso schlimmer für die

„Staat und Revolution“, das er im Septem-

Tatsachen“: Eine gute Geschichte darf man

ber 1917 schrieb. Denn genau hier – direkt

sich nie von der Wahrheit kaputt machen

nach Kerenskis Putsch gegen den Zaren, als

lassen. Das Gleiche gilt auch beim politi-

erst mal die Entwicklung der bürgerlichen

schen Denken. Wie hätte sonst der Libera-

Zivilgesellschaft ins Haus zu stehen schien

lismus die Finanzkrise und alle anderen

und nichts auf eine revolutionäre Situation

Krisen des kapitalistischen Systems, wie

hinwies – entsteht der gleichsam doppelte

hätte der Populismus die barbarische

Lenin.

Blamage all seiner Werte im 20. Jahrhundert überstehen können? Und genau hier

In „Was tun?“ und den „Aprilthesen“ singt er das Hohelied einer per Action­


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 165

den Zapatisten. Ein Interview über indigene Schulbildung abzubrechen, weil man die Ergebnisse der amerikanischen Baseballiga nicht verpassen will, das war ein guter Witz, ein ironischer Schlag ins Gesicht einer puristischen Identitätspolitik, die die „stillen Indianer“ (so charakterisierte der „Spiegel“ kurz nach dem Aufstand Comandante Tacho) gern zu edlen Wilden stilisiert hätte. Kurzum: Die Vermischung politischer und ästhetischer Positionen war es, was die Zapatisten derart unwiderstehlich machte. Nicht nur, dass nie ganz klar war, ob eine Handlungsanweisung ernst oder metaphorisch gemeint war und dass sich diese „Indianer“ herausnahmen, bei aller realpolitischen Straightness selbstironisch und manchmal sogar dunkel zu sein in ihren Äußerungen. Hier wurde eine revolutionäre Rhetorik geboren (oder immerhin wiedergeboren), die sich nicht scheute, „Wir“ zu sagen, ohne sich dabei in philosophischen Abstraktionen, populistischem Essentialismus oder minoritären Abgrenzungsorgien zu verirren, nein: Ähnlich einem Gesamtkunstwerk dekonstruierte die zapatistische Fundamentalkritik nicht irgendwelche „herrschenden Diskurse“, zerstörte nicht irgendwelche „großen Erzählungen“, sondern etablierte ihre eigenen. Hatte Aktivismus seit dem Scheitern der Studentenbewegungen nicht viel mehr als das Hinzufügen einer weiteren Solo-Stimme im Soundtrack spätkapitalistischer Subjektivierungen bedeutet – hier der prekäre Kulturarbeiter, dort die Gender-Aktivistin und irgendwann eben auch noch der „stille Indianer“ –, so ging es den Zapatisten wieder ums Ganze: gleichermaßen um die verschütteten Traditionen der Mayas wie um Solidaritäts-Experimente auf internationalem Niveau. Was sie anboten, war eine messianische Geschichtsschreibung, die sie in sym-

analyse mit dem Weltgeist korrespon-

er zerschmettert ihn, er führt aus, was man

dierenden Elite, es sind Manifeste des

mit Alain Badiou eine „Politik der Wahr-

utopischen Ereignisses und der jakobi-

heit“ nennen könnte: das Ende des von

nischen Taktik. Linke Philosophen wie

Wahlhysterien legitimierten Immerweiter,

Alain Badiou und Jacques Rancière, aber

das Ende des Primats der Wirtschaft und

auch Politologen wie Chantal Mouffe oder

überhaupt des „Ökonomismus“, das Ende

Ernesto Laclau stützen sich auf diesen

aller Unterbauten und Sonderregelungen,

Lenin des „find, fix, finish“, der offenen

die den Kapitalismus ein wenig softer

Konfrontation und der Verweigerung aller

machen und wie den Igel im Märchen

demokratischen Ersatzstoffe. Es ist der an-

immer schon am Ziel sein lassen, bevor der

archistische, der Punk-Lenin, der einen be-

Hase Revolution überhaupt losgelaufen

freienden Browning-Geruch verströmt, der

ist. Erziehung der Massen? Klassenkampf?

den Kapitalismus nicht dekonstruiert, um

Fehlanzeige, denn die intellektuelle Avant-

ihn ein wenig fairer zu organisieren. Nein,

garde erledigt die Revolution gleich selbst.


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 166 Von der Hegellektüre direkt an die Macht:

te, so schlage ich als PR-Strategie vor, ein-

Es ist der Lenin des quasi-künstlerischen

fach ein paar Wörter zu postmodernisieren

politischen Akts, der sich in „Was tun?“

und es in Parallele zum „jungen Marx“ als

und später den „Aprilthesen“ zu Wort

utopisches luhmannsches Frühwerk zu

meldet – wofür er in linken Künstler- und

verkaufen. Oder anders gesagt: Wer den

Intellektuellenkreisen besonders verehrt

größtmöglichen Hymnus auf alles, was üb-

wird.

licherweise unter dem Begriff Postpolitik

Einen völlig anderen Ton schlägt Lenin

subsumiert wird, in seinem Bücherregal

einige Monate darauf in „Staat und Re-

stehen haben möchte, muss sich diesen

volution“ an. Das Buch ist, immerhin im

Lenin kaufen, diese aus kybernetischer

zweiten Teil, eine kaum zu übertreffende

Logik, Ökonomie und Old-Style-Humanis-

kybernetische Onaniervorlage, eine Orgie

mus gezimmerte Utopie einer Zukunft. Mit

der organisationsanalytischen Fricklerei.

einer im wortwörtlichsten Sinn selbstlosen

Falls es wieder mal publiziert werden soll-

Hingabe arbeitet er an der Perfektionie-


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 167 rung dessen, was er „die freie Assoziation

vor jeder Revolution, zwei imaginäre For-

der Produzenten“ nennt – einer gewaltigen,

men linker Machtpolitik: eine des radikal

globalen Fertigungs- und Diskussionshalle,

politischen Putschs und eine der völlig

in der jeder Arbeitende ganz bei sich selbst

unpolitischen Bürokratie. Von diesem dop-

ist und das unglückliche Bewusstsein Lo-

pelten Lenin aus entwickeln sich die beiden

kalverbot hat. Ein exzessives Verschwinden

großen Linien modernen kommunistischen

hat eingesetzt: Zuerst sind die politischen

Denkens. Aber nicht (und darum geht es

Repräsentationsapparate verschwunden,

mir) dialektisch, in gegenseitiger Abhängig-

dann der Staat insgesamt und am Ende

keit, als zwei Seiten einer Medaille, son-

auch die Kritik, diese sympathischste aller

dern in einer Art unerklärter Konkurrenz.

kleinbürgerlichen Tugenden. Denn warum

Auf „Was tun?“ wird sich von nun an die

sollte man die Dinge kritisieren, wenn man

terroristisch-dissidente Linie der Akademi-

sie doch viel schneller verändern kann?

ker, Strategen und Kulturarbeiter berufen

Es gibt also bereits im Frühherbst 1917,

– angefangen mit der Theorie der perma-


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN

bolischen und militärischen Aktionen in doppelter Richtung entfalteten: nach rückwärts als Wieder-Holung einer geschichtlichen Situation, der mexikanischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihrer betrogenen sozialen Versprechungen; und um Geschichtsschreibung nach vorwärts als Inszenierung des Geschichte-Machens selbst: das dem Faktischen entgegengeschleuderte „Ya basta“, die Eröffnung eines alternativen gesellschaftlichen Handlungsraums.

168

So war der zapatistische Aufstand eine groß angelegte Demonstration für einen an der guten alten Avantgarde-Forderung nach der Verschmelzung von Kunst und Leben, Symbolpolitik und Alltag orientierten utopischem Aktivismus – immerhin sehe ich das so. Revolutionär zu sein, politische Kunst zu machen, heißt seither nicht mehr, eine abstrakte Vision einer „besseren Gesellschaft“ zu haben und diese durchzusetzen wie zu Zeiten der europäischen Bewegungen von Lenin bis Dutschke. Es heißt auch nicht, die gegebenen schlechten Zustände einer Kritik zu unterziehen, sie sich analytisch oder performativ gemäß der eigenen individuellen Position anzueignen wie zu Zeiten VALIE EXPORTs. Nein, politische Kunst heute ist die Synthese aus diesen beiden Bewegungen und bedeutet schlicht und einfach die konsequente Entfaltung dessen, was ist, und damit dessen, was sein könnte: die Offenlegung des utopischen Als-ob der Gegenwart, der in ihr angelegten, tiefgekühlten Handlungsoptionen. Dazu abschließend zwei Beispiele, oder eher: Ereignisse aus meiner eigenen Arbeit. Als ich, genau zwanzig Jahre nach der Hinrichtung des Ehepaars Ceauşescu, im Dezember 2009 die Gerichtsverhandlung gegen sie auf

nenten Revolution über alle möglichen

vom anderen Flügel immerhin pro forma

Guerilla- und Occupy-Praktiken bis hin zu

einen dialektischen Schlenker zu gönnen,

den akademischen Kritikern der Postpoli-

löste die zweite Postmoderne, die auf den

tik. Von „Staat und Revolution“ gehen die

Untergang des real existierenden Sozi-

meist natürlich ziemlich bürokratischen

alismus folgte, die Beziehung zwischen

Entwürfe der Gewerkschaftsfunktionäre

„Was tun?“ und „Staat und Revolution“,

und Parteipolitiker aus, die von einem

zwischen Revolte und sozialer Gerech-

nachhaltigen Umbau der ökonomischen

tigkeit endgültig auf. Die bürokratische

Ordnung träumen. Was auch immer „links“

Linie verabschiedete sich von jeglichen

zu sein seit Lenin hieß, es bedeutete immer

utopischen Hintergedanken, konzentrierte

auch, eine geheime Grundsatzentschei-

sich fortan auf die Rettung des westlichen

dung für den jeweils einen oder anderen

Wohlfahrtsstaats und schlug sich mit den

Lenin zu treffen. Während es jedoch bis

entnervenden postmodernen Dummheiten

1989 zum guten Ton gehörte, den Kollegen

der Populisten herum. Die anarchistische


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 169

der Bühne des Bukarester Odeon-Theaters wiederholen ließ („Die letzten Tage der Ceauşescus“, 2009/10) – also nichts anderes tat, als diese düstere Urszene der rumänischen Nachwendegesellschaft in voller Länge und mit allen recherchierbaren Einzelheiten zu zeigen –, war die Reaktion im Vorfeld eher verhalten. „Warum tust du das?“, fragte mich Gelu Voican-Voiculescu, der den Schauprozess 1989 organisiert hatte und heute das Institut für Revolutionsstudien leitet. „Das ist doch alles schon bekannt.“ Umso erstaunlicher war die Wirkung des Reenactments: Ausgehend von einem Prozess, den der Sohn Ceauşescus gegen die Inszenierung gleich am Tag nach der Uraufführung anstrengte, fand in Rumänien eine Re-Vision der Revolution statt. Als wäre in der theatralen Wiederholung dieses Gründungsakts der rumänischen Demokratie überhaupt erst völlig bewusst geworden, welche Möglichkeit 1989 gegeben und genauso schnell vergeben war – nämlich die durch die Machtübernahme der ehemaligen mittleren Kader der kommunistischen Partei konterkarierte Chance eines zivilgesellschaftlichen Rumäniens –, wurde die Revolution nun im Gerichtssaal und in den Medien gleichsam ein zweites Mal durchgespielt, aber unter aktuellen Gegebenheiten. Die für den entfesselten rumänischen Kapitalismus symbolische Anklagebegründung (Ceauşescus Sohn hatte sich den Namen „Ceauşescu“ patentieren lassen) führte zu einer derart breiten Front gegen die Diskursherrschaft der alten Kader, dass schließlich sogar die Revolutionsarchive geöffnet werden mussten. Aus den zersplitterten Interessen einer atomisierten Gesellschaft war, immerhin für einen kurzen Moment, ein „Wir“, eine politische Forderung geworden.

Linie dagegen konzentrierte sich auf eine

tarische Demokratie als letzte Heraufkunft

Art Revolutionstheater ohne jede macht-

des Realen begreift, die man möglichst

politische Absicht, die über die Gründung

fair einrichten muss, dort der Situatio-

eines neuen Kulturzentrums oder die Ent-

nist, der realpolitische Anschlussfähigkeit

deckung irgendeiner neuen „minoritären“

und irgendwelche systemischen Ansätze a

oder „queeren“ Stimme pro Saison für den

priori uncool, totalitär und differenzthe-

postmodernen Meinungschor hinausgegan-

oretisch unterkomplex findet. Aus dem

gen wäre.

doppelten Lenin macht die postmoderne

Ja, es ist, als hätte sich eine geheime,

Vernunft so gewissermaßen zwei ungleiche

antidialektische Arbeitsteilung etabliert:

Zwillinge: den besonnenen, etwas hu-

hier die realpolitische Positivität, dort die

morlosen Bruder, der Betriebswirtschaft

anarchistische Negativität. Hier der Tarif-

studiert hat und genauso routiniert, wie

vertrag- und Interkulturbastler, der das

er sich bei Ökostromanbietern und grünen

kapitalistische System und die parlamen-

Lokalpolitikern auskennt, seinen erwirt-


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 170 schafteten Mehrwert nicht in Billigurlaube,

ernste symbolische Legitimationsprobleme

sondern in in jeder Hinsicht nachhaltige

bringen wird.

Bildungsreisen nach Nordafrika investiert.

Meine simple These lautet nun folgen-

Und den irgendwie auf dem Anarcho-Trip

dermaßen: Man kriegt das linke Denken,

hängengebliebenen, manchmal etwas

man kriegt Lenin nur doppelt. Oder mit

panischen Bruder, der auf Demos in holp-

Hegels Begriffen ausgedrückt: Die „Ver-

rigem Spanisch „El pueblo unido, jamas

ständigkeit“ der Realos und die damit im

sera vencido“ skandiert, in einer Band mit

Widerstreit liegende „negative Vernünftig-

ironischem Namen Bass spielt, sich in allen

keit“ der Anarchos muss in einer „speku-

möglichen Kollektiven basisdemokratische

lativen Vernünftigkeit“, einer utopischen

critique-automatique-Gefechte liefert und

Dialektik zusammengeführt werden. Es

überzeugt ist, dass die Besetzung eines

geht nicht mehr darum, entweder realis-

Hamburger Stadtparks oder eines Londo-

tisch oder kritisch zu sein, sondern auf

ner Einkaufszentrums den Kapitalismus in

eine unrealistische Weise realistisch. Denn


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 171 das, was man als Kapitalistischen Rea-

beschleunigt, mit dem es zu Ende geht –

lismus bezeichnen könnte, funktioniert

und trotzdem machen wir weiter, Kritik

selbst völlig spekulativ, gemäß der Logik

natürlich inklusive.

des „Ich weiß, aber trotzdem“. Jeder weiß,

Die Alternative zum Kapitalistischen

dass unsere Zivilisation in absehbarer

Realismus kann also nicht kein Realismus

Zeit untergehen wird, wenn wir nicht eine

oder noch mehr Kritik sein. Nein, sie muss

substanzielle Alternative zur heutigen

ein besserer Realismus sein. Wenn die

Weltordnung finden; jeder weiß, dass ein

postmoderne Vernunft in der Absicht, alle

Großteil der Weltbevölkerung dank Glo-

„großen Erzählungen“ zu vernichten, mit

balisierung und Freihandel in absoluter

dem Postfordismus die beeindruckendste

Armut lebt; alle haben wir längst begriffen,

Großerzählung aller Zeiten erfunden hat

dass eine oberflächlich fairere und damit

– so müssen wir uns jetzt, ob es uns passt

schlicht und einfach noch umfassendere

oder nicht, eine noch bessere ausdenken.

Entfesselung des Kapitals bloß das Tempo

Denn das pseudodemokratische Argument,


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 172

Während ich von der Wirkung des Bukarester Reenactments völlig überrascht wurde, war eines meiner darauf folgenden Projekte – „City of Change“, 2011 – von Anfang an als politische Intervention angelegt und fokussierte den basalsten Mythos der Schweiz, den der „direkten Demokratie“. Auslöser war auch diesmal ein quasi-juristischer Vorgang: Eine gemeinsam mit einem Schweizer Theater geplante theatrale Ausstellung über einen in der Schweizer Interkulturdebatte sprichwörtlich gewordenen Mordfall führte kurz nach der Vorankündigung des Spielplans zu einem nationalen Medienskandal und wurde schließlich per Parlaments­ eingabe verboten. Die Begründung des Verbots (die Thematik sei zu privat und überhaupt sei die Aufarbeitung von Mordfällen Aufgabe der Polizei, nicht der Kunst) zeigte eine für eine postmoderne Mediendemokratie sehr typische Verschränkung von polizeilichen mit emotional-individuellen Kriterien. Die Fragen, auf die wir zu antworten versuchten, waren deshalb folgende: Wie kann ein öffentlicher Raum geschaffen werden, in dem tatsächlich alle Stimmen zu Wort kommen? Wie kann der Mythos einer weder auf Kultur noch auf Abstammung, sondern auf der volonté générale der gesamten Wohnbevölkerung gegründeten Willensnation (so der sicherlich naive, aber auch sehr positive Terminus aus der Helvetischen Revolution von 1848, die den modernen Schweizer Bundesstaat hervorbrachte) realisiert werden? Ähnlich wie in Rumänien entschieden wir uns in der Umsetzung für eine Re-Inszenierung, eine soziale Großplastik mit verdrehter Zeitachse: Wir riefen die Ostschweizer Stadt St. Gallen, in der der Skandal seinen Anfang genommen hatte, zur „City of Change“ aus, zur „ersten befreiten Stadt im Sinn der französischen Revolution“.


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 173

Wir gründeten eine politische Bewegung, schafften die Kantonsflagge (ein Rutenbündel) ab, starteten eine Petitionskampagne zur Einführung des Ausländerstimmrechts und wählten per Losverfahren eine Regierung, die sich fortan in Fernsehsendungen, Manifesten, Happenings und in drei groß angelegten „Demokratiekonferenzen“ an die Bevölkerung wandte. Ähnlich wie die Zapatisten auf den Mythos Zapatas, so stützten wir uns dabei auf die klassischen direktdemokratischen Mythen der Schweiz, d. h. wir dekonstruierten die Schweiz und ihre Mythologie nicht (wie es die intellektuelle Generation vor uns getan hätte), sondern nahmen sie beim Wort. Wir wiederholten sie, holten sie uns wieder und führten ihre Symbole in den Blutkreislauf einer Schweiz ein, die zu knapp dreißig Prozent aus „Ausländern“ besteht. Interessanterweise kam die Kritik an der „City of Change“ nicht nur von den populistischen Mitte-Rechts-Parteien. Nein, die vehementeste Kritik kam von der intellektuellen Linken. Einerseits, wie leicht zu erwarten, zielte diese Kritik auf die affirmative und völlig unkritische Geste ab, mit der wir zu nationalistischen Symbolen gewordene Mythen wie den Rütlischwur für unser Interkulturprojekt verwendeten und den (in natio­ nalen Kreisen äußerst beliebten) Superlativ von der „ältesten Demokratie der Welt“ aufnahmen, kurz: die ganze Rhetorik der liberalen Revolution von 1848 in die heutige Schweiz verpflanzten und sie zudem, um ihre jahrzehntelange Veruntreuung mitsprechen zu lassen, überzeichneten, etwa indem wir einige unserer Pamphlete unter dem Titel „Schweiz erwache!“ und in Fraktur veröffentlichten. „Als kritische Historiker versuchen wir seit vierzig Jahren, diese Bilder zu zerstören“, so ein Historiker und Parlamentarier der Sozialdemokraten, „und die ‚City of Change’


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 174

braucht sie jetzt zum Spaß wieder. Das finde ich gefährlich, das finde ich sehr gefährlich.“ Diese klassisch dekonstruktivistische Kritik verband sich mit einer anderen, nennen wir sie die authentizistische: Bemängelt wurde die Tatsache, dass ein guter Teil des Projektteams nicht aus Ausländern bestand – und dass die beteiligten Ausländer sich zudem völlig verbohrt als „Schweizer“ verstanden (so wie die „stillen Indianer“ des EZLN sich in erster Linie als mexikanische citoyens verstanden). Gemäß der bekannten postmodernen Diskurs-Regel, die sich Aufklärung nur als authentische Wortmeldung eines partikularen Standpunkts vorstellen kann und damit den politischen Raum – dies die Begleiterscheinung – in Ego-Befindlichkeiten zerteilt, war diese Behauptung eines undifferenzierten „Wir“, eben der „Schweiz“, der verbotenste Apfel überhaupt. Der übertriebene Natio­ nalismus, die Pamphlete, Fahnenhissungen und Ansprachen, all dies schmeckte den Schweizer Sozialdemokraten so wenig wie die Uniformen, Patronengurte und intergalaktischen Kongresse der Zapatisten den Salonsozialisten des „Partido Institucional Revolucionar“. Worauf will ich hinaus? Ich denke, dass die Zeit, in der der revolutionäre Gestus automatisch mit dem Gestus der Kritik und damit der Verfremdung oder Differenz in eins fiel, vorbei ist. Es mag nicht sonderlich einfallsreich sein, an Antonio Gramscis Hegemonietheorie zu erinnern, doch muss die Dekonstruktion eines „Sie“ heute immer auch mit der Konstruktion eines „Wir“ einhergehen, der Konstruktion eines lokalen gesellschaftlichen Raums mit realpolitischen Forderungen – und sei es auch nur zum Spiel, denn natürlich ist der Vergleich zwischen einer bewaffneten revolutionären Bewegung mit einem Reenactment und

die Dinge hätten so viel Wert, „wie man

theoretische Lenin beißt dem anarchisti-

selbst ihnen beimisst“, ist falsch. „Den Din-

schen in den Schwanz – und beide gemein-

gen selbst einen Wert beimessen“ ist nichts

sam machen die Revolution. Denn neben

anderes als der esoterisch vergoldete

der ökonomisch als gut und richtig er-

Trostpreis, es ist das Kainsmal aller Ver-

kannten, neben der realpolitischen These,

lierer des Kapitalismus. Was Wert hat und

muss die Antithese der Zerstörung dessen

was wertlos ist, wofür man Anerkennung

stehen, was sie behindert. Und wer auch

kriegt und wofür nicht, was verführerisch

immer diese genauso symbolische wie rea-

ist und was es eben letztlich doch nicht ist,

le Revolution machen wird: Sinnvoll ist sie

bestimmt nicht der pluralistisch aufgetun-

nur, wenn dahinter die Utopie einer grund-

te Individualist. Es bestimmt auch nicht die

sätzlich anderen Währung des Glücks und

coole Peergroup. Es bestimmt der, der das

der Anerkennung steht. Was wir brauchen,

Sagen hat. Es bestimmt das System.

ist ein zugleich radikal dekonstruktiver

Es gilt also: Der totalitäre, der system-

und völlig altmodisch konkreter Realismus,


1

Carlos Widmann: „Die Mayas spielen Zoro“, in: „Der Spiegel“ 7/1995, Ausgabe vom 13.

2

Diedrich Diederichsen: Sexbeat, Köln 2002, S. 179.

MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN

einem Gerichtsprozess oder einer symbolisch aufgetunten Bürgerrechtsbewegung überspannt. „Ich mag weder die, die sagen, sie gehörten keiner Schule oder Partei an, noch habe ich je Spaß daran gehabt, in der Terminologie einer Schule oder Partei zu denken“, schreibt Diedrich Diederichsen im 2002 verfassten Nachwort zu „Sexbeat“2, und genau darum geht es: Sich der Macht und ihrer selbstgerechten Bilder nicht nur zu verweigern, sondern sie gleichsam durchs Feuer des Realen gehen zu lassen und dadurch für eine neue Gesellschaft zu synthetisieren. Oder wie es Robert Pfaller anlässlich einer der „Demokratiekonferenzen“ ausdrückte: „Es ist eine Art Kinderkrankheit der Linken, dass sie glaubt, die Zerstörung älterer Referenzpunkte wäre ausreichende Arbeit. Überhaupt war es ein schwerer Fehler, jemals die Dekonstruktion ins Repertoire linker Denkmuster mit aufzunehmen – als könnte ein so harmloser Zeitvertreib wie die Dekonstruktion irgendwas Revolutionäres an sich haben. Die Dekonstruktion ist wie eine schwache Fussballmannschaft, die immer auf Unentschieden spielt. So kann man nicht gewinnen. Die Linke muss wieder den Mut haben, ‚Wir’ zu sagen.“

Eine Vorabfassung dieses Textes erschien im Band „Demonstrationen: Vom Werden normativer Ordnungen“, Januar 2012.

so humanistisch-totalitär ausgestrichelt wie Lenins Utopie in „Staat und Revoluti-

Auszug aus: „Was tun? Kritik der postmoder-

on“ und so wuterfüllt und hysterisch wie

nen Vernunft“, Zürich 2013.

seine „Aprilthesen“. Denn das eine ohne das andere schafft keinen Widerstand, nicht einmal Analyse, sondern einfach nur eine weitere örtliche Betäubung des gewaltigen utopischen Phantomschmerzes unserer Zeit. Eine weitere engagierte Besprechung des Weltuntergangs oder einfach nur das Smiley hinter der bösartigen SMS, die uns die Philosophie der letzten 50 Jahre zugeschickt hat und in der steht: Mit der Geschichte des Menschen ist es vorbei.

175

Februar 1995, S. 148.


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 176

Es geht nicht um Metaphern Elisabeth Bronfen Ich würde jetzt mal kühn behaupten: Während die Kritik am Realismus in den fünfziger und sechziger Jahren subversiv war – weil man damals den Realismus als herrschenden Code verstanden hat: als das Reale, Wahre, Normale – so leben wir heute in einer Welt, in der es normal ist, ein Bild nur noch als Zeichen wahrzunehmen. Wir vertrauen der Idee des Referenten nicht mehr. Heutzutage ist die normale Einschärfung des Blicks, hinter der


MILO RAU DIE REVOLUTION HAT TATSÄCHLICH STATTGEFUNDEN 177 Oberfläche immer augenblicklich etwas anderes zu wittern und zu sagen: Das ist ja alles verfremdet, das ist ja alles medialisiert, das ist ja alles performt. Und wenn Repräsentationskritik also die Norm ist, so wäre es subversiv, wirklich subversiv, einen neuen Realismus einzuführen und zu sagen: Nein, ich meine es wirklich genau so, wie ich es sage. Es geht nicht um Metaphern. Es geht um genau das, was ich hier benenne. Elisabeth Bronfen in einem Telefongespräch mit Milo Rau, geführt im September 2011 in New York.


ANHANG

178

PROJEKTE 2009 – 2013 (AUSWAHL) / AUTORINNEN UND AUTOREN / BILDNACHWEISE


179


PROJEKTE 2009 – 2013 (AUSWAHL)

DIE LETZTEN TAGE DER CEAUŞESCUS (2009/2010) Theater, Film und Buch UA 11. Dezember 2009, Teatrul Odeon Bukarest Mit Victoria Cocias, Constantin Cojocaru, Constantin Draganescu, Alexandru Mihaescu, Eugen Cristian Motriuc, Mircea Rusu und der Mitwirkung von Cezar Grumazescu, Ionut Moldoveanu, Vlad Chiriac, Hans Jurczyk, Thomas Weppel, Milos Kostic, Kristian Wanzl, Nikolaus Schneider, Robin Kulisch Idee, Buch und Regie Milo Rau Co-Regie Theater Simone Eisenring Co-Regie Film Marcel Bächtiger Produktion und Dramaturgie Jens Dietrich Bühne und Kostüme Anton Lukas und Silvie Naunheim Regieassistenz Andreea Chiselev Bühnenbildassistenz Adrian Cristea Casting Florentina Bratfanof, Paula Redlefsen und Eva-Maria Bertschy Fachberatung Thomas Kunze, Andrei Ujica und Daniel Ursprung Beratung Recherche Florin Sari Kamera Mika Lanz Ton Garip Oezdem Schnitt und Tondesign Marcel Bächtiger Öffentlichkeitsarbeit Yven Augustin

180


PROJEKTE 2009 – 2013 (AUSWAHL) Propagandaministerium Andrea Haller Justizministerium Diana Dengler Interimspräsident Alexande Pelichet In weiteren Rollen Die Bevölkerung der Stadt St. Gallen Künstlerische Leitung Milo Rau und Marcel Bächtiger Amt für Theorie Rolf Bossart Amt für Inhaltliche Koordination Karoline Exner Amt für Bau Peter Nolle Amt für Gestaltung Nina Wolters Amt für Musik Marc Jenny Amt für Gesang Raoul Alain Nagel Zentrale Organisationsstelle Stefan Kraft Gäste Gülcan Akkaya, Timon Beyes, Daniel Binswanger, Daniel Cohn-Bendit, Balthasar Glättli, Philipp Gut, Kurt Imhof, Beda Meier, Karin Keller-Sutter, Vica Mitrovic, Robert Pfaller, Lukas Reimann, Mark Terkessidis, Florian Vetsch, Cédric Wermuth u. a.

181

CITY OF CHANGE (2010/11) Soziale Plastik und Film UA 1. Mai 2011, Theater St. Gallen


PROJEKTE 2009-2013 (AUSWAHL)

HATE RADIO (2011/12) Theater, Ausstellung, Film und Buch UA 1. Dezember 2011, HAU Berlin Mit Afazali Dewaele, Sébastien Foucault, Estelle Marion, Nancy Nkusi, Diogène Ntarindwa, Bwanga Pilipili, Dorcy Rugamba und den Stimmen von Thomas Bading und Sven Tjaben Buch und Regie Milo Rau Dramaturgie und Conceptual Management Jens Dietrich Bühnenbild und Ausstattung Anton Lukas Video Marcel Bächtiger Ton Jens Baudisch Produktionsleitung und dramaturgische Mitarbeit Milena Kipfmüller Recherche Eva-Maria Bertschy Öffentlichkeitsarbeit Yven Augustin Regieassistenz Mascha Eucher-Martinez Beratung Tondesign Peter Göhler Web-Design Jonas Weissbrodt Projektdokumentation Lennart Laberenz (Film) & Daniel Seiffert (Fotografie) Fachberatung Marie-Soleil Frère, Assumpta Mugiraneza & Simone Schlindwein Kamera Marcel Bächtiger und Markus Tomsche Schnitt Marcel Bächtiger Casting Brüssel Sebastiâo Tadzio Casting Kigali Didacienne Nibagwire PR Kigali Flora Kaitesi

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PROJEKTE 2009 – 2013 (AUSWAHL) 183 BREIVIKS ERKLÄRUNG (2012) Öffentlicher Filmdreh UA 19. Oktober 2012, Deutsches Nationaltheater Weimar Mit Sascha Ö. Soydan Konzept und Regie Milo Rau Recherche Tobias Rentzsch Ausstattung Anton Lukas Kamera Markus Tomsche Ton Jens Baudisch Produktionsleitung Mascha Euchner-Martinez Gäste Bazon Brock, Rainer Griesbaum, Boris Groys, Robert Misik, Harald Welzer u. a.


PROJEKTE 2009 – 2013 (AUSWAHL)

THE MOSCOW TRIALS

MOSKAUER

PROZESSE МОСКОВСКИЕ ПРОЦЕССЫ DIE MOSKAUER PROZESSE (2012/13) Kongress, Performance, Ausstellung, Film und Buch UA 1. bis 3. März 2013, Sacharow-Zentrum Moskau

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Mit Alexei Beljaew-Gintowt, Jekaterina Degot, Andrei Jerofejew, Michail Ryklin, Katja Samuzewitsch, Maxim Schewtschenko, Anna Stawitskaja u. a. Konzept, Künstlerische Leitung und Regie Milo Rau Kuration und Produktion Theater Jens Dietrich Produktion Film Arne Birkenstock Kuratorische Mitarbeit Sophie-Thérèse Krempl Bühne Anton Lukas Sound Jens Baudisch Kamera Markus Tomsche Schnitt Lena Rem Öffentlichkeitsarbeit Yven Augustin Fachberatung Sandra Frimmel Produktionsleitung Milena Kipfmüller Regieassistenz Weimar Yanina Kochtova Casting Moskau Anastasia Patlay Web-Programmierung Jonas Weissbrodt


PROJEKTE 2009 – 2013 (AUSWAHL)

Mit Hamed Abdel-Samad, Alex Baur, Nicolas Blancho, Michel Friedman, Robert Misik, Kurt Imhof, Valentin Landmann, Giusep Nay, Marc Spescha, Cédric Wermuth u. a. Konzept, Künstlerische Leitung und Regie Milo Rau Recherche und Casting Eva-Maria Bertschy Dramaturgie Julia Reichert Bühne und Ausstattung Anton Lukas Sound Jens Baudisch Video Markus Tomsche Fachberatung Rolf Bossart und Giusep Nay Web-Programmierung Jonas Weissbrodt

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DIE ZÜRCHER PROZESSE (2013) Theater UA 3. bis 5. Mai 2013, Theater Neumarkt Zürich


AUTORINNEN UND AUTOREN

AUTORINNEN UND AUTOREN Rico Bandle ist Leiter des Ressorts Kultur bei der „Weltwoche“. Zuvor war er unter anderem Ressortleiter Kultur und Gesellschaft bei „Tagesanzeiger.ch/Newsnetz“ und Kulturredakteur beim „Blick“. Julia Bendlin ist Redakteurin der Sendung „Kulturplatz“ bei SRF. Als Autorin und Regisseurin berichete sie u. a. über die Inszenierungen „City of Change“ und „Hate Radio“, als Redakteurin betreute sie die filmische Begleitung der „Zürcher Prozesse“ über mehrere Monate hinweg. Timon Beyes ist ordentlicher Professor für Ästhetik, Design und Innovation an der Copenhagen Business School (CBS) sowie assoziierter Gastprofessor am Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien, Leuphana Universität Lüneburg. Rolf Bossart ist Publizist und Dozent für Philosophie und Psychologie. Er ist Mitarbeiter für Theorie beim International Institute of Political Murder. Zuvor war er Redakteur bei „Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus“. Zuletzt ist von ihm der Band: „Die theologische Lesbarkeit von Literatur. Studien zu einer verdrängten Hermeneutik“ erschienen. Elisabeth Bronfen ist Kulturwissenschaftlerin und Professorin für Anglistik an der Universität Zürich. Sie hat zahlreiche Aufsätze in den Bereichen Gender Studies, Psychoanalyse sowie der Literatur-, Film- und Kulturwissenschaften veröffentlicht. Wichtige Werke sind: „Diva. Eine Kulturgeschichte der Bewunderung“ und „Liebestod und Femme fatale“.

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Heinz Bude, Soziologe, habilitierte sich 1994 mit einer Studie zur Herkunftsgeschichte der 68er-Generation: „Das Altern einer Generation“. Seit 1997 ist er Leiter des Bereichs „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“ am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seit 2000 ist er Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Daniel Cohn-Bendit ist Publizist und Politiker. Er war 1968 einer der prominentesten Sprecher der Studenten in Paris und Mitbegründer der Grünen Partei in Deutschland. Heute ist er Co-Vorsitzender der Fraktion der Grünen im Europaparlament. Christoph Fellmann arbeitet als freier Journalist in Luzern. Seine Texte erscheinen u. a. im „Tagesanzeiger“, der „Neuen Zürcher Zeitung“, der „NZZ am Sonntag“ sowie im „Magazin“. Valentin Groebner ist Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern. Er ist Mitherausgeber der „Zeitschrift für Ideengeschichte“. U. a. ist er Autor der Bücher „Das Mittelalter hört nicht auf“ und „Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter“.


beim Buchverlag Theater der Zeit. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Wolfgang Höbel ist Kulturredakteur und zwischenzeitlicher Leiter der Kulturredaktion beim „Spiegel“. Er war für die „Süddeutsche Zeitung“ sowie das Magazin „Tempo“ als Musik- und Theaterkritiker tätig. Alexandra Kedves ist Kulturredakteurin beim Zürcher „Tagesanzeiger“. Zuvor war sie freie Kulturjournalistin, u. a. für „Die Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sowie Kul-

AUTORINNEN UND AUTOREN

Nicole Gronemeyer ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin und verantwortliche Lektorin

turredakteurin bei der „Neuen Zürcher Zeitung“. Friedrich Kittler (gest. 2011) war Medientheoretiker und Literaturwissenschaftler. Er war Professor für Neugermanistik in Bochum sowie für Ästhetik und Geschichte der Medien in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Band „Die Wahrheit der technischen Welt“. Alexander Kluge ist Filmemacher und Schriftsteller. Er gilt als wichtigster Vertreter des Neuen Deutschen Films und als bedeutender Filmtheoretiker. Sein Werk umfasst zahlreiche Filme und Bücher, unter anderem „Chronik der Gefühle“ oder zusammen mit Oskar Negt „Geschichte und Eigensinn“. Roger Köppel ist Chefredakteur und Herausgeber der „Weltwoche“. Zuvor war er u. a. Kulturredakteur beim „Zürcher Tagesanzeiger“, Chefredakteur des „Tagesanzeiger“-Magazins

Maxi Leinkauf ist Politologin und Redakteurin bei „Freitag“. Als freie Journalistin schrieb sie für den „Tagesspiegel“, die „Süddeutsche Zeitung“, das Magazin „Berlin“ und die „Frankfurter Rundschau“. Victoria Lomasko ist eine Moskauer Zeichnerin. Weltberühmt wurde sie mit ihren Illustrationen aus Gerichtsprozessen, u. a. dem Prozess gegen Pussy Riot. In Milo Raus Inszenierung „Die Moskauer Prozesse“ arbeitete sie als Gerichtszeichnerin, zuletzt erschien von ihr in Deutschland der Band „Verbotene Kunst“. Anton Lukas realisierte Ausstattungen für Produktionen in den Sparten Tanz, Sprech- und Musiktheater sowohl an festen Theaterhäusern als auch in der freien Szene. Anton Lukas ist seit 2009 fester Ausstatter und Bühnenbildner des IIPM. Frank Meyer ist Moderator der auf Deutschlandradio Kultur täglich ausgestrahlten Sendung „Radiofeuilleton“. Silvie Naunheim ist Bühnen- und Kostümbildnerin. Für „Die letzten Tage der Ceauşescus“ war sie gemeinsam mit Anton Lukas für Bühnenbild und Ausstattung zuständig.

187

und „Die Welt“.


AUTORINNEN UND AUTOREN

Jean-François Perrier, ehemaliger Assistent der Sciences Politiques an der Université Paris I - Sorbonne, arbeitete als Schauspieler u. a. mit Robert Altman, Claude Chabrol und Giorgio Strehler. Beim Festival d‘Avignon ist er seit vielen Jahren als Interviewer und Textredakteur für die Künstlergespräche im Programmheft zuständig. Konrad Petrovszky ist Historiker in Berlin und Mitglied des Gießener Zentrums östliches Europa. Zusammen mit Ovidiu Tichindeleanu hat er das Buch „Revolution Televised. Con­ tributions to the Cultural History of Media“ herausgegeben. Robert Pfaller ist Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien. Zuvor war er Professor für Kulturtheorie an der Kunstuniversität Linz. Zuletzt erschien von ihm das Buch: „Zweite Welten und andere Lebenselixiere“. Dirk Pilz ist Redakteur im Feuilleton der „Berliner Zeitung“, daneben schreibt er vor allem für die „Neue Zürcher Zeitung“ und hat Lehraufträge an mehreren Universitäten. Milo Rau studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin, u. a. bei Tzvetan Todorov und Pierre Bourdieu. Ab 1997 erste Reportagereisen (Chiapas, Kuba), ab 2000 tätig als Autor für die „Neue Zürcher Zeitung“, ab 2003 Arbeit als Regisseur und Autor im In- und Ausland, u. a. am Maxim Gorki Theater Berlin, Staatsschauspiel Dresden, HAU Berlin, Theaterhaus Gessnerallee Zürich, Teatrul Odeon Bukarest und Beursschouwburg Brüssel. Milo Rau gründete im Jahr 2007 für die Produktion und Auswertung seiner künstlerischen Arbeiten die Theater- und Filmproduktionsgesellschaft IIPM, die er seitdem leitet. Seine Theaterinszenierungen und Filme wurden zu den wichtigsten nationalen und

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internationalen Festivals eingeladen, u. a. zum „Festival d’Avignon“, zum „Berliner Theatertreffen“, dem „Noorderzon Festival Groningen“, den „Wiener Festwochen“, dem „Kunstenfestival Brüssel“ und zu „Radikal Jung“, wo er mit dem Regie- und Kritikerpreis ausgezeichnet wurde. Neben seiner Arbeit für Bühne und Film ist Milo Rau als Dozent für Regie, Kulturtheorie und soziale Plastik an Universitäten und Kunsthochschulen tätig. Julia Reichert ist Dramaturgin am Zürcher Schauspielhaus. Zuvor war sie tätig an den Münchner Kammerspielen, am Theater und Orchester Heidelberg und am Theater Neumarkt in Zürich, wo sie verantwortliche Dramaturgin für die „Die Zürcher Prozesse“ von Milo Rau war. Vera Ryser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Kulturanalysen und Vermittlung der Zürcher Hochschule der Künste. Sie ist Redakteurin der Plattform Z+. Sylvia Sasse ist Professorin für Slawische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Publikationen u. a. zur Theatertheorie der Avantgarde. Zusammen mit Gertrud Koch ist sie Herausgeberin des Bandes: „Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung“.


Mitarbeiter am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich. René Solis ist Journalist bei der französischen Tageszeitung „Libération“. Er arbeitet auch als Übersetzer und hat unter anderem den Roman „Unbequeme Tote“ von Paco Ignacio Taibo II und Subcomandante Marcos ins Französische übersetzt. Klaus Theweleit ist Literaturwissenschaftler, Kulturtheoretiker und Schriftsteller. Er hat zahlreiche Bücher verfasst, unter anderem „Männerphantasien“ und „Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell“. Sandra Umathum ist Professorin für Theaterwissenschaft und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Christine Wahl ist freie Journalistin und Theaterkritikerin u. a. für den „Tagesspiegel“, „Theater heute“ und „Spiegel online“. Sie war Mitglied in diversen Jurys, u. a. für den Berliner Senat, das Theater Festival Impulse, den Hauptstadtkulturfonds und das Berliner The-

AUTORINNEN UND AUTOREN / BILDNACHWEISE

Jörg Scheller ist Kunsthistoriker, Journalist und Musiker. Er arbeitet als wissenschaftlicher

atertreffen.

BILDNACHWEISE Umschlagfoto: Szenenfoto aus „Hate Radio“, Berliner Theatertreffen 2012, HAU – Hebbel am Ufer, Berlin S. 9: Szenenfoto aus „Die letzten Tage der Ceauşescus“, Voraufführung Teatrul Act in Bukarest am 3. November 2009 (Hauptprobe) S. 10/11: Victoria Lomasko, „Die Moskauer Prozesse“, Gerichtszeichnung (Kreuzverhör Walerij Korowin) S. 12: Szenenfoto aus „Die Zürcher Prozesse“ (die Geschworenen) S. 20/21: Jekaterina Samuzewitsch (Pussy Riot) und Milo Rau bereiten die „Moskauer Prozesse“ vor (Sacharow-Zentrum Moskau, 20. Februar 2013) S. 26: Victoria Cocias und Constantin Cojocaru („Die letzten Tage der Ceauşescus“) in der Umkleide vor einer Aufführung S. 34: Szenenfoto aus „Breiviks Erklärung“, Generalprobe Deutsches Nationaltheater Weimar, 17. Oktober 2012 S. 37: Szenenfoto aus „Hate Radio“, Berliner Theatertreffen 2012, HAU – Hebbel am Ufer, Berlin S. 42/43: Recherchematerial „Hate Radio“ (Schriftliches Geständnis von Georges Ruggiu, Foto Georges Ruggiu); Szenenfoto Uraufführung „Hate Radio“ im ehemaligen Studio des RTLM, Kigali, 18. November 2011 S. 48/49: Szenenfoto aus „Hate Radio“, Berliner Theatertreffen 2012, HAU – Hebbel am Ufer, Berlin

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S. 8: Milo Rau und Marcel Bächtiger beim Dreh von „Die letzten Tage der Ceauşescus“


BILDNACHWEISE

S. 53: Milo Rau im Gespräch mit der ehemaligen RTLM-Moderatorin Valérie Bemeriki, Central Prision Kigali, November 2010 S. 56/57: Filmstills aus „Videogramme einer Revolution“ (historisches Video des Prozesses gegen das Ehepaar Ceauşescu, mit freundlicher Genehmigung der Harun Farocki Filmproduktion) S. 66: Szenenfoto aus „Die letzten Tage der Ceauşescus“, deutsche Erstaufführung, 18. Dezember 2009, HAU – Hebbel am Ufer, Berlin S. 72: Fotoshooting für „Die letzten Tage der Ceauşescus“, Oktober 2009, Bukarest S. 79: Szenenfoto aus „City of Change“ (Druckabnahme Initiativ-Broschüre „I’m Missing You Democracy“ zur Einführung des Ausländerstimmrechts durch Propagandaministerin Andrea Haller), Mai 2011 S. 83: Videostill aus „Change Aktuell“ (TV-Kanal der „City of Change“), Bericht über die „Ohne Dreck“-Initiative zur Wiedereinführung der Nürnberger Rassegesetze in der Schweiz, Sprecherin: Propagandaministerin Andrea Haller S. 92/93: Szenenfoto aus „Die Zürcher Prozesse“ (Eröffnungssitzung, am Rednerpult: Jürg Ramspeck) S. 97: Victoria Lomasko, „Die Moskauer Prozesse“, Gerichtszeichnung (Kosaken im Publikum) S. 98/99: Szenenfoto aus „Die Moskauer Prozesse“ (Ankläger Maxim Schewtschenko spricht zu den Geschworenen) S. 102/103: Cecilia Bozzoli, „Die Zürcher Prozesse“, Gerichtszeichnung (Ankläger Marc Spescha spricht zu den Geschworenen) S. 106/107: Victoria Lomasko, „Die Moskauer Prozesse“, Gerichtszeichnung (Die Geschworenen) S. 111: Victoria Lomasko, „Die Moskauer Prozesse“, Gerichtszeichnung (Katja Samuzewitsch

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im Kreuzverhör) S. 112/113: Anton Lukas, Bühnenplan „Moskauer Prozesse“ (Sacharow-Zentrum); Modell-Fotografie des vorbereitenden Kongresses „Power and Dissent“ (Deutsches Nationaltheater Weimar) S. 114/115: Die russische Ausländerbehörde kontrolliert den Pass von Milo Rau; hinter dem Regisseur stehend: Maxim Schewtschenko, neben dem Regisseur am Tisch: Maxim Krupskij („Moskauer Prozesse“, dritter Verhandlungstag, 3. März 2013) S. 116/117: Manifest-Faksimile „Was ist Unst?“ S. 118-121: Filmstills aus „Videogramme einer Revolution“ (historisches Video des Prozesses gegen das Ehepaar Ceauşescu, mit freundlicher Genehmigung der Harun Farocki Filmproduktion) S. 129: Szenenfoto aus „Die letzten Tage der Ceauşescus“, rumänische Erstaufführung, 9. Dezember 2009, Teatrul Odeon, Bukarest S. 130/131: Manifest-Faksimile „Das St. Galler Manifest“ S. 138: Videostill aus „Change Aktuell“ (TV-Kanal der „City of Change“), Bericht über die „Ohne Dreck“-Initiative zur Wiedereinführung der Nürnberger Rassegesetze in der Schweiz S. 140: Szenenfoto aus „City of Change“ (Interimspräsident Alexandre Pelichet auf einer städtischen Baustelle, links: Justizministerin Diana Dengler, rechts: Propagandaministerin Andrea Haller)


mit jungen Bürgerinnen und Bürgern der Stadt St. Gallen), Mai 2011 S. 142/143: Szenenfoto aus „City of Change“ (Fahnenhissung auf dem Rathaus der Stadt St. Gallen), Mai 2011 S. 146/147: Szenenfoto aus „Die letzten Tage der Ceauşescus“, deutsche Erstaufführung, 18. Dezember 2009, HAU – Hebbel am Ufer, Berlin

BILDNACHWEISE

S. 141: Szenenfoto „City of Change“ (Diana Dengler, Alexandre Pelichet und Andrea Haller

S. 148: Cecilia Bozzoli, „Die Zürcher Prozesse“, Gerichtszeichnung (Nicolas Blancho im Kreuzverhör) S. 156/157: Anton Lukas, Bühnenbildskizze zu „Breiviks Erklärung“ S. 160/161: Szenenfoto aus „Breiviks Erklärung“, Generalprobe Deutsches Nationaltheater Weimar, 17. Oktober 2012 S. 166/167: Szenenfoto aus „Die letzten Tage der Ceauşescus“, deutsche Erstaufführung, 18. Dezember 2009, HAU – Hebbel am Ufer, Berlin S. 170/171: Szenenfoto aus „Die letzten Tage der Ceauşescus“, Fotoshooting, November 2009, Bukarest S. 172/173: Videostills aus „Change Aktuell“ (TV-Kanal der „City of Change“), Bericht über den Skandal um die Verlesung des „St. Galler Manifests“ S. 176/177: Szenenfoto aus „City of Change“ (Domplatz St. Gallen nach der Verlesung des „St. Galler Manifests“) S. 179: Bühnenbildmodell zu „Die letzten Tage der Ceauşescus“ S. 180: Szenenfoto aus „Die letzten Tage der Ceauşescus“, Fotoshooting, November 2009, Bukarest S. 181: Szenenfoto aus „City of Change“ (das Government of Change, von links nach rechts: Stefan Kraft, Andrea Haller, Karoline Exner, Alexandre Pelichet, Rolf Bossart, Diana Dengler, S. 182: Szenenfoto aus „Hate Radio“, Fotoshooting, September 2011, Berlin S. 183: Szenenfoto aus „Breiviks Erklärung“, Generalprobe Deutsches Nationaltheater Weimar, 17. Oktober 2012 S. 184: Logo „Die Moskauer Prozesse“ S. 185: Cecilia Bozzoli, „Die Zürcher Prozesse“, Gerichtszeichnung (Experten, von links nach rechts: Albert Kuhn, Daniel Zingg, Daniel Glaus, Amira Hafner Al-Jabaji, Hamed Abdel-­ Samad, Cédric Wermuth) Marcel Bächtiger: 83, 138, 172, 173 Philipp Baer: 79, 140, 141, 142/143 Cecilia Bozzoli/SRF: 102/103, 148, 185 Jens Dietrich: 42/43, 72/73 Harun Farocki / Andrei Ujica: 56/57, 118-121 IIPM: 179 Karl-Bernd Karwasz: 26/27, 66, 129, 146/147, 166/167 Stefan Kraft: 176/177 Lennart Laberenz: 53 Victoria Lomasko: 10/11, 97, 106/107, 111 Anton Lukas: 8, 9, 112/113, 156/157, 179, Thomas Müller: 34, 160/161, 183 Alexandru Patatics: 170/171, 178 Daniel Seiffert: Umschlagfoto, 37, 48/49, 182 Markus Tomsche: 12/13, 20/21, 92/93, 114/115 Nina Wolters: 116/117, 130/131, 184

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Milo Rau, Marcel Bächtiger)



Milo Rau und das International Institute of Political Murder

„Die Enthüllung des Realen“ entfaltet in

aktuellen europäischen Theaterschaffen eine

Gesprächen, Manifesten und Essays ein

Ausnahmeposition ein. Die Projekte der letz-

offensives und variables Denken, das hinter

ten Jahre reichen von hypernaturalistischen

seinen Projekten steht. Somit enthüllt dieses

Reenactments („Die letzten Tage der Ceauşes-

Buch Stück für Stück den Neuen Realismus

cus“) über kaum mehr Theater zu nennende

von Milo Raus Theater, der nebenbei auch ein

Volksprozesse („Die Zürcher Prozesse“) bis

fröhlicher Abschied von der Postmoderne ist.

zur freien Rekonstruktion eines rassistischen Fun-Radios („Hate Radio“).

DIE ENTHÜLLUNG DES REALEN

Die Arbeitsweise von Milo Rau nimmt im

DIE ENTHÜLLUNG DES REALEN Milo Rau und das International Institute of Political Murder


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